Julia Extra Band 185

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Braut zu verschenken von Susanne McCarthy
Als Ginny auf ihrer Verlobungsparty von Alina erfährt, dass Oliver sie nur heiraten will, um einen Erben zu zeugen, ist sie entsetzt. Liebt er in Wahrheit Alina, die keine Kinder bekommen kann? In ihrer Not flirtet sie heiß mit Mark, der seine Chance übel ausnutzt. Halb entkleidet wird Ginny in seinen Armen entdeckt. Der Skandal ist perfekt...

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  • Erscheinungstag 01.09.2013
  • Bandnummer 0185
  • ISBN / Artikelnummer 9783954460540
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

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SUSANNE McCARTHY

Braut zu verschenken

1. KAPITEL

Ginny Hamiltons schöne grüne Augen blitzten ihn schelmisch an. “Als Graf Dracula, Oliver? Eigentlich ist das hier ein Kostümfest und keine Erkenne-dich-selbst-Veranstaltung.”

Oliver Marsden lächelte kalt zurück. Er hatte seine pechschwarzen Haare zurückgekämmt und sah mit dem langen, schwarzen Umhang tatsächlich wie der sagenhafte Herr der Vampire aus. Und genauso bedrohlich.

“Das könnte ich auch zu dir sagen. Lass mich raten, was du darstellst! Scarlet O’Hara, die gerade Atlanta im Sturm erobert? Und jederzeit für einen Skandal gut ist?”

Ginny lachte und vollführte einen übertriebenen Hofknicks, der den weit schwingenden Rock ihres eng anliegenden Kleids zum Wogen brachte. “Ich muss immerhin meinem Ruf gerecht werden.”

“Das wird dir bestimmt nicht schwerfallen.” Er blickte anerkennend auf ihre zarten Brüste, die der tiefe Ausschnitt des Kleides zur Geltung brachte.

Sie musste wieder lachen. Ein tiefes, fast heiseres Lachen. “Willst du mir nicht erzählen, dass es dich schockiert, mich heute Abend hier zu treffen? Mein Vater ist gerade vor einer Woche beerdigt worden, und ich amüsiere mich auf einer Party.”

“Sollte ich denn schockiert sein?”

“Hast du denn erwartet, mich hier zu treffen? Mein Gott, ich hasse es, wenn ich so leicht zu durchschauen bin.” Sie schmollte spaßhaft.

“Da musst du keine Angst haben. Aber es tut mir leid, dass ich nicht zur Beerdigung kommen konnte. Ich war in Tokio.”

“Schade! Es war eine ausgezeichnete Beerdigung.” Sie lächelte traurig. “Es würde Daddy gefallen haben. Genau die richtige Mischung aus Schwulst und Prunk. Und die Grabrede wurde sogar von einem Bischof gehalten! Irgend so ein Verwandter dritten Grades. Einer dieser alten Knaben, die man nur zu Hochzeiten und Begräbnissen zu Gesicht bekommt. Aber ich fürchte, dass ich für die anderen wieder mal der Schandfleck der Familie war.”

“Hat es dich denn jemals interessiert, was die anderen von dir denken?”

“Nicht im Geringsten!” Sie versuchte, sich so unbeteiligt wie möglich zu benehmen. Nie im Leben hätte sie zugegeben, wie sehr ihr das Gerede hinter ihrem Rücken und die schiefen Blicke zugesetzt hatten. Das Verhältnis zu ihrem Vater war nicht immer einfach gewesen, aber sie hatte ihn vergöttert, so altmodisch und engstirnig er auch gewesen sein mochte.

Oliver gehörte zu den wenigen Menschen, die das nachvollziehen konnten. Sein Vater war mit ihrem Vater seit ihrer gemeinsamen Schulzeit befreundet gewesen. Dummerweise war Oliver Marsden aber auch der letzte Mensch, mit dem sie sich über ihre Gefühle unterhalten mochte. Es war jetzt sechs Jahre her, dass er um ihre Hand angehalten hatte, und sie hatte Ja gesagt. Aber dann war alles gründlich schiefgegangen.

Glücklicherweise hatte sie ihn in den folgenden sechs Jahren nur selten getroffen. Er lebte in New York und arbeitete für eine Großbank an der Wall Street. Vor zwei Monaten hatte sein Vater seinen Rücktritt als Vorsitzender von Marsden Lambert angekündigt, einem der letzten unabhängigen, kleinen Bankinstitute im Familienbesitz in London. Und Oliver sollte sein Nachfolger werden.

Dadurch würden sie sich zwangsläufig wieder häufiger über den Weg laufen. Ginny wusste nicht, was sie davon halten sollte. In der Zwischenzeit hatten sie sich ab und zu getroffen und dabei höflich unterhalten, doch konnte sie sich einer gewissen dunklen Ahnung nicht erwehren. Immerhin hatte sie vor sechs Jahren ihre Verlobung ausgerechnet auf der Verlobungsfeier platzen lassen. Und Oliver Marsden hatte ein gutes Gedächtnis.

Ihr Gesicht verriet jedoch nichts von ihren Gedanken, als sie ihn mit leuchtenden Augen ansah. Sie hatte sich für diese Partys einen bestimmten Augenaufschlag angewöhnt, der von ihren langen Wimpern betont wurde. “Na ja, vielleicht haben sie ja recht. Ich befürchte, dass ich tatsächlich hoffnungslos verdorben und selbstsüchtig bin! Du solltest froh sein, mich nicht geheiratet zu haben.”

“Hättest du mich geheiratet, wärst du nicht verdorben worden.”

Seine Bemerkung versetzte Ginny einen Stich. Etwas in seiner Stimme warnte sie, dass es nur zum Teil scherzhaft gemeint war. Sie nahm sich zusammen und versuchte zu lachen. “Na ja, dann bin jedenfalls ich froh, dich nicht geheiratet zu haben. Ich bin lieber verdorben.”

Bevor Oliver auf ihre Beleidigung antworten konnte, ließ sich eine ruhige, klare Stimme vernehmen, die sie nur allzu gut kannte. “Ginny, meine Liebe, dich hätte ich hier nicht erwartet!” Eine elfenhafte Schneekönigin erschien plötzlich neben Oliver. Sie war groß und gertenschlank, ihr langes, weißblondes Haar voll silbernem Glitter fiel um ihr schön geschnittenes Gesicht. Mit einem selbstsicheren, kühlen Lächeln hakte sie sich bei Oliver ein.

Seine Stiefschwester, so blond, wie er dunkel war, und genauso schön wie hinterhältig.

“Hallo, Alina!” Ginny war die Freundlichkeit in Person. “Ich konnte mir diese Party doch unmöglich entgehen lassen.”

“Ich war sehr betrübt, als ich das von deinem Vater hörte.” Alinas Stimme triefte vor falscher Freundlichkeit. “Das war bestimmt ein großer Schock für dich.”

“Nicht wirklich. Er war ja schon eine ganze Weile sehr krank.”

“Aber natürlich. Und er war auch schon ganz schön alt. Aber dein Kleid ist ja wirklich fantastisch! Ganz schön mutig, diese Farbe zu tragen!”

“Danke!” Ginny hatte nicht die geringste Lust, auf die versteckte Beleidigung einzugehen. “Es war schön, wieder mal mit euch zu plaudern. Wir sehen uns dann später. Bye!”

Mit einem strahlenden Lächeln mischte sie sich unter die restlichen Partygäste, scherzte mit einigen und flirtete mit jedem männlichen Wesen von achtzehn bis achtzig. Ginny Hamilton, das Partygirl. Und obwohl heute Abend auch prominente Künstler und die Creme des Adels anwesend waren, zog sie die meisten Blicke auf sich.

Dabei war sie eigentlich nicht im klassischen Sinne schön. Das Wort, das die meisten benutzten, um sie zu beschreiben, war eindrucksvoll. Sie war groß und geschmeidig, ihr langes Haar glänzte wie poliertes Ebenholz und bildete einen interessanten Kontrast zu ihrer hellen Haut. Aber ihre Nase war einen Tick zu scharf geschnitten und ihr Mund ein kleines bisschen zu breit.

Nur wenige Menschen hatten sie genau genug betrachtet, um die Intelligenz in ihren grünen Augen erkennen zu können, ihre Entschlossenheit und die Verletzlichkeit, die hinter ihrem strahlenden Lächeln verborgen war. Die meisten sahen, was sie sie sehen lassen wollte, das Partygirl, das verzogene, kleine Mädchen, oberflächlich und frivol. Sie spielte ihre Rolle trotz des üblen Klatsches, und dies erfüllte sie mit einem merkwürdigen Stolz. Sie hatte schon vor langer Zeit erkannt, dass dies eine wirksame Tarnung war.

Von denen, die sie jetzt beobachteten, wussten nur die wenigsten, dass sie die treibende Kraft hinter dem Festkomitee war. Und nur aus diesem Grund war sie heute Abend hier und spielte ihre Rolle, obwohl ihr, weiß Gott, nicht danach zumute war.

Denn hierin lag ihre Stärke. Sie besaß ein fast unglaubliches Talent, den Leuten ihr Geld für wohltätige Zwecke aus der Tasche zu ziehen. Und sie hatte die Fähigkeit, die Feste so zu gestalten, dass sich alle Anwesenden wohlfühlten. Und wer sich wohlfühlte, war umso großzügiger.

Am heutigen Abend ging es um die Unterstützung einer Organisation, die sich um Obdachlose kümmerte, von denen viele Alkoholiker oder Drogenabhängige waren. Normalerweise hätten die meisten der Anwesenden von diesen Leuten noch nicht einmal Notiz genommen, wenn sie auf dem Weg zur Oper über sie hinwegsteigen mussten.

Aber Ginny war in Hochform. Charmant plauderte sie noch mit den hochnäsigsten alten Ladys über die Probleme, einen angemessenen Friseur zu finden, oder über ihre Enkelkinder und deren Kinderkrankheiten. Nur ihre engsten Freunde wussten, welche Kraft es sie kostete, diese glitzernde Fassade aufrechtzuerhalten.

Sie hatte diese Art der Verstellung schon in ihrer Kindheit lernen müssen. Sie war gerade neun Jahre alt gewesen, als ihre Mutter starb, und sie hatte bald gemerkt, dass ihr Vater ihre Tränen nicht ertragen konnte. Also hatte sie ihre Trauer hinter einem heiteren Lächeln verborgen, und dies war ihr im Laufe der Zeit zur zweiten Natur geworden.

Es hatte ihr auch vor sechs Jahren geholfen, als Alina ihre romantischen Träumereien zerstört hatte. Alina und ihr eigener kindlicher Stolz, wie sie zugeben musste, hatten dazu geführt, dass sie die Verlobung mit Oliver gelöst hatte.

Der Abend schien ein voller Erfolg zu werden. An die zweihundert Menschen tanzten unter prächtigen Kronleuchtern, widergespiegelt von den goldfarbenen gerahmten Spiegeln, die die ganze Wand bedeckten. Sie genossen es offensichtlich, auf einem Maskenball zu sein und für ein paar Stunden ihrem alltäglichen Leben entfliehen zu können.

Während sie sich umsah, spürte Ginny eine tiefe Zufriedenheit. Ihre Arbeit hatte sich bezahlt gemacht. Wochenlang hatte sie an der Planung gearbeitet, hartherzige Geschäftsleute überredet, in dem Programmheft zu inserieren, und alle in ihrem großen Bekanntenkreis überzeugt, sich eine Eintrittskarte zu kaufen.

Sie gönnte sich eine kleine Verschnaufpause. Sie stellte sich neben die schweren Brokatvorhänge am Ende des Ballsaals, und als sie sich unbeobachtet fühlte, verschwand sie durch die Verandatür.

Draußen lag der kleine Innenhof des Hotels. Tagsüber konnte man hier Kaffee trinken oder ein Eis essen, aber jetzt lag er verlassen da. Von drinnen drangen die Musik und das Lachen der Gäste an ihr Ohr, aber die geschlossenen Vorhänge vermittelten ihr ein Gefühl der Geborgenheit.

Obwohl es erst Mai war, war die Luft nicht kühl. Mit einem leichten Seufzer ließ sie sich an einem der Tische nieder und begann, ihre Schläfen zu massieren. Diese aufgesetzte Freundlichkeit war auf die Dauer sehr anstrengend.

Vielleicht machte sie einfach nur aus falschem Stolz allen vor, dass sie keine Probleme hätte, aber dieser Stolz war auch alles, was ihr geblieben war. Die feine Gesellschaft würde es bald herausfinden. Gerade diejenigen, die sich besonders gern das Maul über sie zerrissen, würden sagen, dass sie nur das bekam, was sie verdiente.

Aber sie konnte sich noch nicht einmal darüber beschweren! Es war ihre eigene Schuld. Sie war der Mittelpunkt des Skandals auf ihrer Verlobungsfeier gewesen und hatte seitdem nichts unternommen, sich wieder ins rechte Licht zu stellen. Es hätte ihr wohl auch niemand geglaubt. Warum auch! Sie hatte ihren Schmerz sehr gut hinter all diesen Lügen verbergen können, einen Schmerz, den sie auch jetzt noch tief in ihrem Inneren spürte.

Vielleicht hätte ich Oliver nicht mit der alten Geschichte reizen sollen, dachte sie und lächelte ironisch. Das Glitzern in seinen dunklen Augen war eine Warnung gewesen, dass die Zeit nicht alle Wunden heilte.

Schon als Neunzehnjährige war ihr aufgefallen, dass sich hinter der Oberfläche des ruhigen, kultivierten Großstädters jemand völlig anderes verbarg. Selbst heute hatte sie unter seinem Smokingjackett den durchtrainierten, muskulösen Körper wahrnehmen können, der eher zu einem Athleten oder Bauarbeiter passte als zu dem Vorsitzenden eines der ältesten Investmentinstitute der Stadt.

Marsden Lambert galt als die traditionellste und konservativste Bank in der ganzen Stadt. Es war fraglich, ob sie das mit Oliver an der Spitze auch bleiben würde. In New York hatte er an der Börse gearbeitet, und nach allem, was sie wusste, war das fast wie ein Glücksspiel. Aber der Erfolg hatte nicht lange auf sich warten lassen.

Wahrscheinlich war es besser so, dass sie damals nicht geheiratet hatten. Was sie für Liebe gehalten hatte, war wohl eher eine jugendliche Schwärmerei gewesen. Außerdem hätte er bald genug von seiner kleinen, naiven Frau gehabt.

Sie fragte sich insgeheim, ob er nicht doch Rachegedanken hegte. Solange ihr Vater lebte, hatte sie sich sicher gefühlt. Oliver hätte nie etwas getan, was den besten Freund seines Vaters verärgern würde. Aber nun …?

“Hi! Ich habe mir schon gedacht, dass ich dich hier finde.”

Ginny drehte sich um und begrüßte ihre beste Freundin Sara mit einem spröden Lächeln. “Ich musste mich mal erholen. Alle Welt starrt mich an und hält mich für ein herzloses Miststück, nur weil ich heute hier bin.”

“Nur die, die dich nicht kennen.”

“Mein Ruf ist jetzt wahrscheinlich völlig zerstört.”

“Sei nicht albern! Das ist doch alles nur leeres Gerede.”

“Kein Rauch ohne Feuer!”

Sara war jetzt wütend geworden. “Du bist selbst daran schuld. Du hast es ja förmlich darauf angelegt.”

“Sicherlich. Jede wäre lieber eine verdorbene Schlampe als das nette Mädchen von nebenan!”

Sie mussten beide lachen, aber Sara ließ nicht locker. “Du hättest heute Abend nicht kommen müssen. Wir hätten deine Arbeit übernehmen können.”

Ginny schüttelte den Kopf und war plötzlich sehr ernst. “Nein, das muss ich schon selber machen. Zu Hause rumzusitzen und Trübsal zu blasen, macht ihn auch nicht wieder lebendig.” Sie zögerte einen Moment, bevor sie mit einem zerknautschten Lächeln fortfuhr: “Außerdem ist dies wahrscheinlich die letzte High Society-Party, auf die ich gehen werde.”

Sara sah sie verdutzt an. “Was soll denn das bedeuten?”

Ginny legte den Kopf in den Nacken und betrachtete den Nachthimmel. Als ihre Mutter gestorben war, hatte sie sich vorgestellt, dass sie nun ein Stern am Himmel sei und über sie wache. Ob ihr Vater nun auch dort oben war? “Erinnerst du dich an die letzte große pleite im Versicherungsgeschäft? Eine ganze Menge Leute haben ihr Vermögen verloren, und mein Vater war einer von ihnen.”

“Oh … mein Gott!”

“Du sagst es.” Diesmal konnte Ginny die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht verbergen. “Ironie des Schicksals. Er war immer so vorsichtig und altmodisch. Und investiert ausgerechnet in eine Firma, die so pleitegegangen ist, dass sie noch nicht einmal jetzt wissen, wie hoch der Verlust überhaupt ist.”

“Das ist ja furchtbar. Hast du noch irgendwas davon retten können?”

“Nichts. Ich hätte mir nur gewünscht, dass er mir etwas davon gesagt hätte. Es hätte wohl nichts geändert, aber ich fühle mich so schuldig, wenn ich daran denke, wie viel Geld ich für Schmuck und Kleider ausgegeben habe, während er ums geschäftliche Überleben gekämpft hat. Trotzdem hat er alle meine Rechnungen bezahlt, als ob nichts geschehen wäre.”

Sara schüttelte den Kopf. “Er wollte dich damit wohl nicht belasten.”

“Ich kann ihn jetzt noch sagen hören: ‘Zerbrich du dir mal nicht dein hübsches Köpfchen darüber!’ Unglücklicherweise kann ich jetzt nichts anderes mehr machen. Ich werde wohl das Haus verkaufen müssen.”

“O nein!” Sara sah ihre Freundin voller Mitgefühl an. “Das ist ja schrecklich. Wo willst du denn wohnen?”

“Ich werde schon was finden.”

“Du könntest zu uns ziehen. Wir haben genug Platz.”

Ginny musste plötzlich lachen. “Ich befürchte, für Peter und mich wäre selbst der Buckingham-Palast zu klein. Warum hast du auch ausgerechnet meinen tumben Vetter geheiratet? Ich habe mir immer Vorwürfe gemacht, euch miteinander bekannt gemacht zu haben.”

Sara kicherte. “Er ist gar nicht tumb, nur etwas vorsichtig. Aber jetzt mal ernsthaft. Was hast du vor?”

“Ich sollte mich wohl nach einem Job umsehen. Dummerweise habe ich überhaupt keine Ausbildung. Armer alter Daddy! Was Frauen und Arbeit anging, hatte er sehr altmodische Vorstellungen. Und ich habe nichts dagegen gemacht. Und nun stehe ich ohne Ausbildung da, wenn man mal von meinen Erfahrungen in französischer Kochkunst absieht. Meine einzige Begabung besteht darin, Feste zu organisieren.” Sie deutete auf den Ballsaal.

“Aber darin bist du spitze! Vielleicht solltest du einen Beruf daraus machen. Es gibt viele Wohltätigkeitsvereine, bei denen du erfolgreich arbeiten könntest.”

Ginny schüttelte den Kopf. “Das klappt nur, weil ich mich in den entsprechenden Kreisen bewege. Und wenn ich kein Geld mehr habe, werde ich mir das nicht mehr leisten können.”

“Na ja, du könntest immer noch einen Millionär heiraten. Heute Abend sind eine ganze Menge da. Ich glaube kaum, dass es dir schwerfallen würde, einen zu finden.”

Ginny schnippte mit den Fingern. “Das ist es! Sara, du bist toll.”

Ihre Freundin sah sie entgeistert an. “Das war ein Witz.”

“Nein, nein! Das ist die Lösung. Ich könnte nicht nur das Haus behalten, es würde auch niemand wissen, dass mein Vater verarmt gestorben ist. Er war immer ein so stolzer Mann. Sein Geheimnis zu hüten ist das Mindeste, was ich tun kann.” Sie stieß ihre Freundin an. “Los, denk nach! Wen kennen wir? Wie wäre es mit Jeremy? Er sieht ganz gut aus und ist auch nett.”

“O nein, er ist zu nett! Er hätte keine Chance gegen dich.”

“Hm … stimmt vielleicht!” Ginny hielt kurz inne. “Ralph?”

“Er riecht nach Pferdestall.”

“Ich mag Pferde. Na gut, vielleicht nicht so sehr! Alastair?”

“Du fandest seine Ohren immer zu groß.”

“Das bedeutet ja nicht, dass er nicht ein guter Ehemann sein könnte.”

“Zu schade, dass das mit Oliver nicht geklappt hat!”, sagte Sara abwesend. “Er ist sehr reich und sieht unverschämt gut aus.”

“Oliver?” Ginny lachte freudlos auf. “Nein, viel zu arrogant. Den würde ich noch nicht einmal heiraten, wenn ich völlig verzweifelt wäre.”

“Ich dachte, du bist völlig verzweifelt?”

“Bin ich auch. Aber ich würde ihn trotzdem nicht heiraten. Ah, es klingt so, als würden sie das Essen auftragen! Lass uns hineingehen!”

Ginny hatte sich früher am Abend überzeugt, dass der Oberkellner alles im Griff hatte. Die Tische waren wunderschön gedeckt, und das Licht der Kronleuchter brach sich in den wertvollen Kristallgläsern.

Während sie Sara an ihren Tisch folgte, ärgerte Ginny sich über sich selbst. Sie hatte nicht daran gedacht, dass Oliver sich zu ihnen setzen würde, da er und Peter sich von der Universität her kannten.

Sie setzte ihr professionelles Lächeln auf und begrüßte ihn erneut. “Du leistest uns beim Essen Gesellschaft?”

“Wenn es keine Einwände gibt?”

“Nicht von mir”, sagte sie übertrieben. Er nahm den Stuhl und rückte ihn ihr zurecht. Jeremy, der eigentlich als ihr Tischherr vorgesehen war, blieb nichts weiter übrig, als sich still neben sie zu setzen. Zum Ausgleich schenkte Ginny ihm ein strahlendes Lächeln, das ihn etwas verlegen machte. Sara hatte wohl recht. Es wäre keine gute Idee, ihn zu heiraten. Er war ein zu leichtes Opfer. Außerdem würde seine linkische Art sie binnen einer Woche wahnsinnig machen.

Ein weiteres befreundetes Paar setzte sich zu ihnen an den Tisch. Lucy, im Kostüm einer Flamencotänzerin, setzte sich sofort neben Oliver. “Du böser Junge, warum hast du dich so selten in London sehen lassen? Du weißt doch, dass wir nicht genug gut aussehende Männer hier haben.”

Oliver lächelte verschmitzt zurück. “Tut mir leid. Es war mir nicht bewusst, dass man meine Abwesenheit überhaupt bemerken würde.”

Lucy überschlug sich vor Lachen. “Wie war es in New York? Es ist so aufregend. Ich liebe es. Um einzukaufen, ist Macy’s nicht zu schlagen. Ich kaufe dort seit Jahren meine Weihnachtsgeschenke.” Sie grinste Ginny unbedarft an. “Waren Sie jemals da?”

“Einmal”, antwortete sie knapp und versuchte, nicht zu Oliver zu schauen.

“Aber ja!” Alina mischte sich mit zuckersüßer Stimme ein. “Zu schade, dass es ein so kurzer Besuch war! In ein paar wenigen Tagen kann man New York gar nicht richtig kennenlernen.”

Ginny hatte nicht vergessen, dass Alina einige Zeit in New York verbracht hatte. Und auch der kurze Blick ihrer eisblauen Augen in Olivers Richtung war ihr nicht entgangen. Glücklicherweise lenkte Lucys Ehemann das Gespräch auf die internationale Finanzwirtschaft, und Ginny konnte sich zurücklehnen.

Oliver schien sich in den letzten sechs Jahren kaum verändert zu haben. Er sah höchstens noch besser aus. Er wirkte erwachsener. Seine Wangenknochen schienen noch härter geschnitten, genauso wie sein Mund, der sie immer so angezogen hatte. Sie konnte sich noch immer an ihren ersten Kuss erinnern …

Oliver merkte, dass sie ihn beobachtete, und vergaß für einen Augenblick die anderen Gäste. Unverhohlen ließ er seinen Blick über ihren Hals und ihre festen Brüste gleiten und lächelte ihr anerkennend zu.

Ein heißer Schauer lief ihr über den Rücken. Vor sechs Jahren war sie noch ein magerer Teenager ohne nennenswerte Kurven gewesen. Niemals hätte sie ein solches Kleid wie heute tragen können. Errötend erwiderte sie sein Lächeln.

Jeremy schenkte ihr ein Glas Wein ein. Ginny nahm ihre Gabel und wandte sich ihrem Teller zu. Obwohl das Essen fantastisch zubereitet war, hatte sie plötzlich keinen Appetit mehr. Als schließlich abgeräumt wurde, fiel ihr auf, dass sie kaum etwas gegessen hatte.

Unwillkürlich sah sie zu Alina hinüber, die sich zu Oliver neigte und ihm etwas ins Ohr flüsterte, was wohl zu privat war, als dass es die anderen am Tisch hören sollten.

Da überkamen sie wieder diese verdammten Gefühle, diese Mischung aus Wut und Eifersucht, die sie für längst überwunden gehalten hatte. Mit neunzehn war sie keine Rivalin für die ältere Frau gewesen, aber nun war auch sie älter geworden und ihr durchaus gewachsen.

Der Abend näherte sich nun seinem Höhepunkt, und das Publikum sah voller Erwartung in die ausliegenden Programme. “Darling, das ist eine wundervolle Idee!” Eine ältere Dame stand neben Ginnys Tisch und puderte sich die Nase. “Ich bin so aufgeregt, ich weiß gar nicht, für wen ich bieten soll.”

Ginny lächelte sie an. “Dann bieten Sie doch für alle, Lady Lulworth! Je mehr Leute mitbieten, desto höher wird der Preis.”

“Oh, natürlich! Und es ist ja auch für einen guten Zweck.”

Ginny rollte mit den Augen, als sie sich wieder ihren Bekannten zuwandte. “Sie weiß überhaupt nicht, wofür wir heute sammeln.”

Die anderen lachten, nur Peter zog die Stirn in Falten. “Ich weiß nicht, ob die Idee so gut ist. Besonders da du einer der Preise bist.”

“Sei nicht so spießig! Das ist doch nur Spaß.”

“Seid ruhig!”, sagte Sara. “Die Versteigerung fängt an.”

Dieser Teil des Festes war Ginnys Trumpfkarte. Sie hatte ihre Freunde und Verwandten nicht nur dazu überredet, ihr Geld zu spenden, sondern auch ihre Zeit. Das Spiel hieß Sklave für einen Tag, und jeder verpflichtete sich, seine besonderen Fähigkeiten dem Meistbietenden für einen Tag zur Verfügung zu stellen.

Der erste Sklave war eine ihrer ältesten Freundinnen, die für ihre Blumenarrangements berühmt war. Die gebotenen Beträge wurden immer höher, und Ginny kreuzte die Finger als Glücksbringer. Jeder einzelne Penny würde der Wohlfahrt zugute kommen.

Als Auktionator hatte sie einen berühmten Komödianten gewinnen können, der auch auf seine Gage verzichtet hatte. Er ermunterte das Publikum, ordentlich mitzubieten, und auch die nächsten Freiwilligen erzielten anständige Preise.

“Und nun, oh! Dieses Angebot wird besonders die Damen interessieren. Wo ist meine Frau gerade? Halte dich bitte zurück! Oliver Marsden! Wo sind Sie, Oliver? Ah …!”

Wie die anderen Sklaven vor ihm stand Oliver auf und verbeugte sich leicht.

“Das ist unser Angebot: Oliver wird den Meistbietenden mit seinem Privatflugzeug zu einem Abendessen bei Kerzenlicht nach Paris fliegen! Meine Damen, wer könnte dieser Offerte widerstehen? Darf ich um Ihre Gebote bitten? Danke, Madam!”

Die Bieterinnen übertrumpften sich unaufhörlich, während Oliver gelassen das Treiben betrachtete. Alina saß neben ihm und sah sich triumphierend um, als hätte sie Anteil daran. In einem Anfall schwarzen Humors wünschte sich Ginny, wieder zehn Jahre alt zu sein und ihr eine Sahnetorte ins Gesicht werfen zu können.

Lady Lulworth bot kräftig mit und heulte jedes Mal entsetzt auf, wenn sie überboten wurde.

“Möchten Sie weiterbieten, Lady Lulworth?”

“Oh … ja! Noch einmal fünfzig Pfund mehr.”

“Bereust du jetzt, mitgemacht zu haben, Oliver?” Ginny zog ihn auf.

“Aber nein.” Oliver wirkte vergnügt.

“Sie wird versuchen, dich mit ihrer Tochter zu verkuppeln”, warnte ihn Jeremy. “Das versucht sie schon seit Jahren.”

“Noch weitere Gebote?” Der Auktionator hob den Hammer. “Verkauft an Lady Lulworth!”

“Wie wunderbar!” Sie sprang auf, küsste den Auktionator auf die Wange und schnappte sich dann Oliver. “Ich kann es kaum erwarten. Oh, wie ich mich darauf freue!”

Als die Lady sich wieder an ihren Tisch gesetzt hatte, ergriff Jeremy das Wort. “Klingt bedrohlich! Nimm dich vor der Tochter in Acht! Letztes Jahr hatte sie sich Edward Chatsby eingefangen. Er hatte sogar schon die Verlobungsringe gekauft. Und dann hat sie sich abgesetzt. Na ja, was erzähl ich dir das! Ich … oh!” Plötzlich lief er rot an, als ihm bewusst wurde, was er gerade gesagt hatte. “Tut mir leid … Ich habe doch glatt vergessen … ich meine, ihr beide …”

Ginny spürte eine innere Unruhe, aber sie schaffte es, in ein herzhaftes Lachen auszubrechen. “Keine Sorge, Jeremy! Das ist schon so lange her. Da können wir doch beide rückblickend nur lachen. Nicht wahr, Oliver?”

Er lächelte freundlich zurück, nur seine Augen schienen etwas anderes auszudrücken. “Aber sicher! Es wäre doch sehr töricht von uns, wenn wir das immer noch übel nehmen würden.”

Er hob sein Weinglas. Ginny griff nach dem ihren. Ihr Mund war wie ausgetrocknet. Es schien ungewöhnlich heiß im Ballsaal zu sein. Sie fächelte sich mit dem Programm Luft zu, aber es half nichts.

Das Publikum beteiligte sich begeistert an der Versteigerung, und Ginny ging die Einnahmen im Kopf durch. Es hatte sich doch gelohnt.

Der Auktionator begann mit seiner letzten Ansprache: “Ladys und Gentlemen, wir kommen nun zum letzten Angebot des Abends. Und ich bin mir sicher, dass es das reizvollste des Abends ist. Unsere einzigartige Ginny! Ginny, komm und verbeuge dich!”

Lachend erhob sich Ginny und machte einen leichten Knicks.

“Ginny bietet ihr einmaliges Talent als Ausrichterin von Partys dem Meistbietenden an. Von den Einladungen bis zum Abwasch. Also, höre ich ein Gebot?”

Die Versteigerung kam schnell in Gang und überbot bald alle gezahlten Summen. Ginny lachte und erkannte ein Paar, das sie seit Jahren kannte. Ihre Tochter würde sich bald verloben, daher wollten sie sie gerne für sich gewinnen.

“Sechshundert Pfund! Kann ich da noch mehr erwarten?” Der Auktionator war begeistert. “Zum Ersten …”

“Eintausend Pfund.” Die Stimme kam von ihrem eigenen Tisch.

Unruhe kam auf. Die Gäste versuchten, den Bieter zu erkennen. Der Betrag war enorm hoch. Oliver! Ginny merkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Warum tat er das?

Sie sah sich nach dem befreundeten Paar um, doch diese schüttelten nur traurig den Kopf.

Der Auktionator hob seinen Hammer, und alle Augen im Raum richteten sich auf Oliver. “Eintausend Pfund sind geboten. Zum Ersten … zum Zweiten …” Der Hammer fiel, und Ginny fühlte einen Stich in ihrem Herzen. “Verkauft an Oliver Marsden!”

2. KAPITEL

Es war schon spät in der Nacht, als sich das Fest schließlich zum Ende neigte. Die meisten Gäste waren nach Hause gegangen, aber einige Unentwegte schienen bis zum nächsten Morgen durchtanzen zu wollen. Ginny entschied, dass sie für heute genug getan hatte und sich ein wenig entspannen konnte. Sie huschte durch die Terrassentür und setzte sich wieder in den Innenhof des Hotels. Die Nachtluft war angenehm kühl. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und massierte ihre Schläfe.

Dieser verdammte Oliver Marsden! Warum hatte er bloß eine solch enorme Summe für sie geboten? Es musste ihm doch klar sein, dass er damit alle Aufmerksamkeit auf sich zog und die Leute wieder an den Skandal von vor sechs Jahren erinnerte. Sechs Jahre! War es wirklich schon so lange her? Manchmal kam es ihr so vor, als sei es erst gestern geschehen, und dann erschien es ihr wieder wie eine Ewigkeit.

Lang verdrängte Erinnerungen kamen zum Vorschein, Erinnerungen an einen sonnigen Tag im Mai, kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag. Obwohl es ihr damals nicht bewusst gewesen war, hatte die ganze Geschichte hier ihren Anfang genommen. Es war der Tag gewesen, an dem er zum ersten Mal ihr Herz hatte höher schlagen lassen.

Oliver hatte ihrem Vater einen Gefallen getan und sie am letzten Schultag vor den Ferien von der Schule abgeholt. Er war kaum vorgefahren, da erweckte er schon das Interesse ihrer Mitschülerinnen, die in dem großen Gemeinschaftsraum versammelt waren.

“Hey! Sieh dir die Räder an!”

“Irre!”

Ein Dutzend gut aussehender Teenager drängelte sich an den Fenstern, um den Neuankömmling zu begutachten. Der Wagen war beeindruckend – ein eleganter Aston Martin, dessen Motor wie ein Löwe unter der Motorhaube röhrte. Als der Wagen schließlich anhielt und der große, dunkelhaarige Mann ausstieg, gab es kein Halten mehr.

“Vergiss die Räder – sieh dir den Typ an!”

“Mm! Der ist ja Zucker!”

“Wer ist das? Und wen holt er ab?”

Ginny sah etwas verwirrt aus dem Fenster. Sie kannte Oliver Marsden von klein auf, aber so hatte sie ihn noch nie wahrgenommen. Immerhin war er fast zehn Jahre älter als sie, und die letzten Jahre hatte sie ihn nicht oft gesehen. Entweder war er in einem Internat, auf der Universität oder, wie in letzter Zeit, in New York gewesen, um für eine langweilige Bank zu arbeiten.

Nie war ihr aufgefallen, wie gut er tatsächlich aussah. Ihre Schulfreundinnen schienen jedenfalls begeistert zu sein. Dass ausgerechnet sie von ihm abgeholt wurde, würde ihr Ansehen steigern. “Oh, das ist nur Oliver! Er ist so etwas wie ein Bruder.”

“Was soll das heißen? Du hast doch gar keinen Bruder!”

“Na ja, sein Vater ist mein Patenonkel, und mein Vater ist sein Patenonkel. Ich kenne ihn schon mein ganzes Leben lang. Egal, ich muss los.” Sie hängte sich ihre Schultasche um die Schulter. “Er hasst es zu warten.”

Als sie die Treppe fast hinuntergelaufen war, vergewisserte sie sich, dass niemand sie beobachtete. Sie kramte in ihrer Schultasche und holte ihre Bürste hervor. Sie strich sich durch das lange Haar und verfluchte die Schulregel, die jede Art von Make-up verbot. Sie zupfte ihren Rock zurecht und schritt lässig durch die Tür. Oliver unterhielt sich gerade mit der Schulleiterin.

“Ah, Virginia, da bist du ja! Schöne Ferien! Und fahrt vorsichtig!”

“Mache ich”, versicherte Oliver. “Spring rein, Gin!”

Ginny schenkte ihm ein Lächeln, von dem sie hoffte, dass es verführerisch und geheimnisvoll wirkte. Langsam und würdevoll schritt sie zur Beifahrertür, die er für sie geöffnet hatte. Er sah sie amüsiert an und startete den Motor.

Sein Blick fiel auf ihre prall gefüllte Schultasche. “Viele Hausaufgaben bekommen?”

“Ein paar.” Es verwirrte sie, dass er sie als Schulmädchen ansprach, wo sie doch versuchte, erwachsen zu wirken.

“Dann fahre ich dich jetzt schnell nach Hause. Je eher wir in London sind, desto eher kannst du dich in die Sonne legen.”

“Ich nehme kein Sonnenbad. Das ist nicht gut für die Haut.”

Sie gab sich alle Mühe, vornehm zu wirken. Ihr Haar fiel über ihre Schulter, ihre schlanken Beine hatte sie übereinander geschlagen. Sie spürte, wie sie von den großen Schulfenstern aus beobachtet wurden, und genoss die neidischen Blicke.

Es ist schon ein paar Jahre her, seit wir uns gesehen haben, überlegte sie, während sie ihn von der Seite betrachtete. Er sah nicht wie ein Bankier aus. Jedenfalls hatte sie noch nie einen Bankier gesehen, der so breite und kräftige Schultern hatte und ein schickes weißes Baumwollhemd trug. Auch seine Hände waren nicht weich und kraftlos, sondern stark, aber auch gefühlvoll. Diese Hände, die mühelos den schnellen Wagen steuerten …

Sie merkte, dass ihr ein heißer Schauer über den Rücken lief, und schaute schnell weg. Ihr Herz schlug schneller. Er wandte sich ihr mit einem kaum sichtbaren Lächeln zu. “Ist es dir zu heiß? Ich könnte die Klimaanlage aufdrehen.”

“Oh … nein danke!”

“Musik?”

Als sie nickte, drückte er einen Knopf, und sie hörte den rauchigen Klang eines Jazzsaxofons. Sie hatte solche Musik noch nie zuvor gehört, aber sie drang in ihren Kopf und löste Gefühle aus, die ihr Blut in Wallung brachten.

Doch dies lag nicht nur an der Musik, auch der Mann neben ihr erregte sie, wie sie sich eingestehen musste. Sie war mit vielen Jungen ausgegangen, aber so hatte sie sich nie dabei gefühlt. Nun ja, es waren Jungen gewesen, und Oliver Marsden war ein Mann – erwachsen und erfahren …

Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es sein würde, wenn er sie küsste, und rückte etwas näher an ihn heran. Sie betrachtete sein etwas arrogant wirkendes Gesicht. Sein Mund drückte Entschlossenheit aus. Wenn er wütend war, würde er bestimmt hart wirken. Aber wenn er lächelte, wirkte er auf eine faszinierende Art sinnlich.

Als die Musik geendet hatte, drehte sie sich zu ihm. “Sehr gute Musik!” Sie versuchte, so abgeklärt zu klingen, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes als Charlie Parker gehört.

Er zog überrascht eine Augenbraue hoch. “Es hat dir gefallen? Ich dachte, die meisten Mädchen deines Alters würden langhaarige Neandertaler bevorzugen, die nur eine Note spielen können.”

“Ich bin nicht wie die meisten Mädchen.”

“Wirklich?” Ein ironisches Lächeln umspielte seine Lippen. “Das muss ich mir merken.”

Verdammt – er nahm sie nicht ernst! Wütend wandte sie sich von ihm ab und starrte auf die vorbeihuschende Landschaft. Es entstand ein peinliches Schweigen. Wenn ihr nur eine geistreiche Bemerkung einfallen würde, um Eindruck auf ihn zu machen! Andererseits wusste er sehr genau, wie alt sie war, und es war unwahrscheinlich, dass er sich von einer Siebzehnjährigen beeindrucken lassen würde.

Bald schon verließen sie die Hauptstraße, und Ginny konnte die viktorianischen Schornsteine der Stadt erkennen. Oliver fuhr durch das große Tor und parkte am Vordereingang.

Etwas niedergeschlagen erkannte Ginny, dass sie nun keine Möglichkeit mehr hatte, ihm mit ihrer Intelligenz und Persönlichkeit zu imponieren. Wenn sie es doch wenigstens versucht hätte! Aber sie hatte den Rest der Fahrt über aus verletzter Eitelkeit geschwiegen. Oliver dachte bestimmt, dass sie das langweiligste weibliche Wesen war, das er je getroffen hatte!

Sie wollte nur noch aus dem Wagen. Sie schnappte sich ihre Tasche, verhedderte sich aber beim Aussteigen mit dem Fuß im Sicherheitsgurt und fiel zu Boden. Benommen stand sie nach einem Moment wieder auf. Sollte er doch lachen!

Aber Oliver lachte nicht. Er lächelte sie an. Er sah so unglaublich sinnlich aus, dass es ihr den Atem raubte. “Ich … äh … danke fürs Mitnehmen!”

“Es war mir ein Vergnügen.” Er beugte sich hinüber, um die Beifahrertür zu schließen. Der ironische Ausdruck in seinen Augen verriet ihr, dass er wusste, warum sie wie ein völliger Trottel in der Einfahrt stand. Er startete und fuhr schwungvoll zum Tor hinaus.

Ginny hatte über ein Jahr Zeit, sich über die verpasste Gelegenheit zu ärgern. Oliver war wieder in New York. Eigentlich hatte sie nicht so häufig an ihn gedacht … Unbewusst hatte sie aber alle Jungen, die etwas von ihr wollten, mit ihm verglichen. Natürlich zu deren Nachteil.

Sie beendete die Schule mit einem guten Abschluss, aber ihr Vater bestand darauf, dass sie nicht arbeitete, sondern einfach heiratete. Sie selbst war zwar nicht erpicht darauf, aber sie hatte auch keine anderen klaren Vorstellungen von ihrer Zukunft. Außerdem hatten die Ärzte bei ihrem Vater mittlerweile eine Herzkrankheit festgestellt, und sie wollte ihn nicht unnötig aufregen. Aus reiner Langeweile nahm sie an einem Kurs für die feine Küche teil, aber sie hätte nicht im Traum daran gedacht, dass dies zu ihrer Lebensaufgabe werden könnte.

Sie sah Oliver erst am Abend ihres neunzehnten Geburtstages wieder. Sie hatte ihn nicht erwartet und war überrascht, als sie ihn mit seinem Vater und seiner Stiefmutter kommen sah. Sie atmete tief ein, um ihren heftigen Pulsschlag zu beruhigen. “Onkel Howard, Tante Margot! Wie schön, dass ihr kommen konntet!”

Ihr Patenonkel küsste sie auf die Wange. “Alles Gute zum Geburtstag! Du siehst so erwachsen aus. Nicht wahr, Oliver?” Dieser blickte sie anerkennend von oben bis unten an. Sie hatte sich für eine eng anliegende Hose und ein kragenloses Top entschieden. Bei ihrer Größe passte sie einfach nicht in die rüschenbesetzten Kleidchen, die gerade in Mode waren.

“Sehr erwachsen”, pflichtete Oliver seinem Vater bei. “Herzlichen Glückwunsch, Ginny!”

Obwohl sie rot anlief, versuchte sie, abgeklärt zu lächeln. Sollte er doch merken, dass sie kein dummes Schulmädchen mehr war.

“Danke! Komm doch herein! Kann ich dir einen Drink anbieten?”

“Einen Scotch, bitte!”

“Mit Soda oder Eis?”

Er verzog das Gesicht in gespieltem Entsetzen und schüttelte den Kopf. “Einen guten Scotch verwässern, niemals!”

“Oh …!” Sie spürte ihr Herz heftig schlagen und konnte ihm nicht in die Augen sehen. Verwirrt über ihre ungewohnte Schüchternheit, winkte sie einen der angestellten Kellner heran und ließ Oliver stehen. Ihre Gäste schienen sich bestens zu unterhalten, und Ginny war die perfekte Gastgeberin. Sie achtete darauf, jeden Einzelnen anzusprechen, stellte die Gäste einander vor und bezog die Zurückhaltenden in das Gespräch mit ein. Ihre Benimmlehrerin wäre stolz auf sie gewesen. Aber die ganze Zeit achtete sie darauf, Abstand zu Oliver zu halten.

Als sie einige Cocktailhäppchen verteilte, stand er auf einmal neben ihr. “Mein Vater sagte mir, ich solle das unbedingt probieren.” Er nahm sich ein Stück Salzgebäck, das mit Avocado und Tomaten belegt war. “Wenn ich das richtig verstanden habe, hast du das selber gemacht?”

“Ja, obwohl ich etwas geschummelt habe. Das Gebäck kommt aus der Tiefkühltruhe.”

Er lächelte. “Das hättest du mir nicht sagen dürfen. Ich hätte es nie bemerkt. Du willst wohl Küchenchefin werden?”

“Das wäre etwas übertrieben.” Ginny war froh, ein neutrales Gesprächsthema gefunden zu haben. “Aber ich habe dabei einige nützliche Dinge gelernt. Welcher Wein zu welchem Gericht passt oder wie man Spargel schält.”

“Man weiß nie, wofür man es brauchen kann.”

“Das stimmt. Wenn ich mal jemanden davon überzeugen muss, mich nicht aus einem Rettungsboot zu werfen, kann ich immerhin sagen, dass ich Spargel schälen kann. Vielleicht rettet es mir das Leben!”

Oliver musste herzlich lachen, und Ginny spürte eine tiefe innere Befriedigung. Dennoch war es ihr plötzlich peinlich. “Ich fürchte, ich muss mich jetzt um meine Gäste kümmern.”

“Du kümmerst dich die ganze Zeit um deine Gäste.” Er nahm ihr das Tablett aus der Hand und stellte es beiseite. “Du hast heute Geburtstag. Lass uns tanzen!”

Er ergriff ihre Hand, und ihr war auf einmal so schwindelig, dass sie Angst hatte, in Ohnmacht zu fallen. Im Garten war eine Überdachung errichtet worden, und die meisten der jüngeren Gäste tanzten darunter. Sie fühlte sich merkwürdig steif, als er sie auf die Tanzfläche führte und in seine Arme schloss.

Aber ihre Erfahrung in gesellschaftlichem Umgang zahlte sich nun aus, und sie war in der Lage, ihm direkt in die Augen zu sehen. “Ich wusste gar nicht, dass du zu Hause bist. Pops hat mir kein Wort gesagt.”

Oliver schien erheitert. “Pops? Weiß dein Vater, dass du ihn so nennst?” Sie zuckte mit den Schultern. Aber innerlich ärgerte sie sich darüber, dass sie wieder in eine jugendliche Ausdrucksweise verfallen war. “Es … macht ihm nichts aus.”

Oliver lachte ironisch. “Ich bin am Donnerstag gekommen. Eigentlich war es als Geschäftsreise geplant, aber ich bin froh, das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden zu können.”

“Wie ist es eigentlich in New York?”

“Laut, hektisch und voller Menschen. Wenn das einem nichts ausmacht, ist es toll. Irgendwas passiert immer, und du findest Tag und Nacht eine offene Bar oder ein Restaurant. Du kannst mich ja mal besuchen kommen.”

“Oh … ja …! Das wäre schön”, sagte sie mit bewegter Stimme. Sie nahm jedoch an, dass die Einladung nur eine höfliche Floskel gewesen war. Aber als sie so mit ihm tanzte, war ihr, als ob alle ihre kindlichen Träumereien wahr geworden wären. Die Tanzfläche war so voll, dass sie sich aneinanderpressen mussten und sich nur noch im Rhythmus wiegten.

Sie nahm alles in sich auf, seine raue Männlichkeit berauschte ihre Sinne. Er hatte die Jacke und seine Krawatte ausgezogen, und unter seiner Kehle lugten vorwitzig dunkle, gekräuselte Haare hervor. Unter seinem makellosen weißen Hemd nahm sie die harten, durchtrainierten Muskeln wahr und den Geruch seiner Haut. Sie war sich sicher, dass es kein After Shave war, obwohl es ganz leicht nach Moschus roch.

Sie fühlte sich wie betäubt, als sie sich endlos zu der Musik drehten. Sie hielt die Augen geschlossen. Sie hatte jeden Kontakt zur Wirklichkeit verloren und spürte nur noch seine Umarmung.

Das Ende der Musik schreckte sie aus ihren Träumen auf. Sie traute sich nicht, ihn anzusehen, so als ob er ihre Gedanken und Gefühle in ihren Augen lesen könnte. Aber er hob ihr Kinn mit einem Finger an, und sein Lächeln war freundlich und voller Wärme.

Die Tanzfläche leerte sich schnell, und die meisten Gäste begaben sich an die Bar. “Ich fürchte, ich muss jetzt gehen.” Olivers Stimme hatte einen weichen Klang. “Ich habe morgen eine sehr langweilige Sitzung und muss mir heute Abend noch einige genauso langweilige Akten durchlesen.” Er fuhr mit dem Daumen über ihre Lippen und zog sie an sich. “Gute Nacht, süße Virginia! Brich heute Abend nicht zu viele Herzen!”

Ginny hatte nie ernsthaft an eine Reise nach New York gedacht, aber ihr Vater bot sie ihr als Belohnung für ihren bestandenen Schulabschluss an. Das war schon eine Überraschung, da ihr Vater sich nie sonderlich für ihre Bildung interessiert hatte. Während sie über den Atlantik flog, hatte sie das unbestimmte Gefühl, dass ihr Vater und Onkel Howard etwas ausgeheckt hatten. Und sie fragte sich, was Oliver dazu sagen würde, eine Woche lang ihren Gastgeber spielen zu müssen.

Die Anweisung zum Anschnallen ließ ihr keine Zeit für weitere Überlegungen. Die riesige Boeing 747 beschrieb eine weite Kurve und begann ihren Landeanflug auf den John F. Kennedy-Airport. Ginny war auf einmal außer sich vor Freude. New York! Es war ihr plötzlich egal, wie Oliver sich verhalten würde, sie nahm sich fest vor, diese Reise zu genießen.

Als sie sich durch den Zoll kämpfen musste, stiegen jedoch Zweifel erneut in ihr auf. Ihr Vater hatte ihr versichert, dass Oliver sie abholen würde, aber um sie herum sah sie nur viele fremde Menschen. Schließlich erblickte sie ihn, und ihr Herz begann wie wild zu klopfen.

Er bahnte sich einen Weg durch das Gedränge und nahm lächelnd ihren Koffer, ohne auf dessen Gewicht zu achten. Seit ihrer Geburtstagsparty hatte sie von ihm geträumt, und nun stand er leibhaftig neben ihr in New York!

“Guten Flug gehabt?”

“Oh …! Ja, danke!” Ginny versuchte, einen Anschein von Haltung zu bewahren.

“Schwierigkeiten mit der Zeitverschiebung?”

“Ein bisschen.”

“Dann sollten wir auf der Stelle in mein Apartment fahren. Wir lassen es ruhig angehen und essen heute Abend zu Hause. Morgen haben wir noch genug Zeit, um uns die Stadt anzuschauen.”

Sie zögerte kurz und schenkte ihm einen bezaubernden Augenaufschlag. “Das ist alles sehr reizend von dir, aber du hast bestimmt sehr viel zu tun. Du musst deine Zeit nicht mit mir verschwenden.”

“Aber es wird mir ein Vergnügen sein. Außerdem habe ich meinem Vater versprochen, mich um dich zu kümmern.”

Genau das hatte sie befürchtet. “Na dann, vielen Dank!”

Die Fahrt über die Queensboro Bridge und durch Manhattan, die Autos, der Lärm, der Geruch von Diesel und die unglaubliche Vielfalt an unterschiedlichen Lokalen, alles umgeben von gewaltigen Klippen aus Glas und Beton, die bis in den Himmel zu reichen schienen, war umwerfend. Genauso wie Olivers champagnerfarbener Rolls-Royce.

Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihn durch gelassene Kultiviertheit zu beeindrucken, aber als der Wagen um die Ecke des Central Park bog, schrie sie vor Entzücken auf. Die Bäume standen in voller Blüte und spendeten dem Gras unter ihnen Schatten vor der heißen Nachmittagssonne – ein kleiner Teil des Paradieses zwischen all den riesigen Bürotürmen und Apartmenthäusern.

Der Wagen hielt vor einem Eingang, der von zwei Lorbeerbäumen flankiert wurde. Der uniformierte Portier kam auf sie zu und öffnete ihnen die Wagentür. “Guten Tag, Mr Marsden! Guten Tag, Miss! Starker Verkehr heute?”

“Allerdings. Kümmern Sie sich bitte um Miss Hamiltons Gepäck?”

“Selbstverständlich, Sir!”

Der Boden der Eingangshalle war aus Marmor, und durch das hohe Glasdach fiel die Sonne auf einen kleinen Springbrunnen, der von kleinen Palmen umsäumt war.

“Oh …!”

Oliver sah sie fragend an. “Was hast du?”

“Das hier!” Sie starrte fasziniert auf das Bild, das sich ihr bot. “Es ist hinreißend.”

“Das ist es allerdings.” Oliver drückte auf den Knopf des altmodischen Fahrstuhls. Sie fuhren bis zum letzten Stockwerk. Auf jeder Seite des Flurs waren zwei große Doppeltüren. Olivers Apartment musste die Hälfte der Etage einnehmen. Eine der Türen wurde geöffnet.

“Ah – Ginny, meine Liebe! Du bist angekommen. Komm doch herein!”

Ginny war überrascht. “Alina?”

Sie sah die ältere Frau etwas unsicher an. Es war bestimmt zehn Jahre her, seit sie Olivers Stiefschwester zum letzten Mal getroffen hatte. Sie hatte einen amerikanischen Geschäftsmann geheiratet und war nach Texas gezogen. Daher hatte Ginny angenommen, dass sie mit Oliver allein sein würde.

Sie kam sich klein und unbedeutend vor. Alina sah aus, als sei sie einer Modezeitschrift entstiegen. Ihr gertenschlanker Körper steckte in einem blauen Seidenkleid, und ihr weißblondes Haar war nach hinten gekämmt, ihre roten Lippen leuchteten makellos.

“Du siehst erschöpft aus, meine Liebe. Ich zeige dir erst einmal dein Zimmer. Ich nehme an, dass du dich vor dem Abendessen etwas frisch machen möchtest.”

“Danke!”

Nach der Hektik der New Yorker Straßen war das Apartment ein Ort der Erholung. Eine kleine Treppe führte in das geräumige Wohnzimmer. Der polierte Holzfußboden war mit chinesischen Teppichen ausgelegt. Durch die großen Fenster blickte man direkt auf den Central Park. Das Zimmer war spärlich, aber erlesen eingerichtet. In der Mitte befanden sich vier große Ledersofas im Viereck um einen Marmortisch angeordnet. Für die Beleuchtung sorgten zwei Art déco-Lampen. Zwei Stufen höher auf einem Podest gab es eine Essecke.

An den Wänden hingen einige große Gemälde. Ihr Vater hätte sie wohl als Schmierereien bezeichnet. Oliver sah ihr zu, wie sie fasziniert die Gemälde betrachtete.

“Gefallen sie dir?”

Sie zögerte ein wenig und legte den Kopf etwas zur Seite, um das eine Bild genauer studieren zu können. “Ich weiß nicht genau. Sie sind etwas … ungewöhnlich.”

Alina lachte hell auf. “Ach Oliver, du kannst doch von dem armen Kind nicht erwarten, dass es über moderne Kunst diskutiert, wo sie gerade erst angekommen ist. Aber wir können ja mit ihr ins Museum für moderne Kunst gehen. Hättest du Lust dazu, Ginny?”

Diese zwang sich zu einem Lächeln. So sehr sie sich auf die Reise gefreut hatte, so wenig konnte sie sich mit der Vorstellung anfreunden, Alina die ganze Zeit um sich zu haben. Alina, die sie die ganze Zeit wie ein unreifes Kind behandelte. Aber sie wollte auch nicht undankbar sein, schließlich versuchte Alina nur, freundlich zu sein.

Die ältere Frau geleitete sie durch das Zimmer auf die andere Seite, wo weitere Räume lagen. “Das ist dein Zimmer. Das Badezimmer ist da drüben. Ist es dir recht, wenn wir in einer Stunde essen?”

“Äh ja! Was immer du sagst.” Der Anblick des Zimmers raubte ihr den Atem. Es hätte für einen Filmstar sein können. Der Raum war bestimmt drei Mal so groß wie ihr Schlafzimmer zu Hause. Die Fenster gaben den Blick auf den Central Park frei und hatten cremefarbene Vorhänge aus Musselin.

Über dem riesigen Bett lag eine Überdecke aus Seide. Ginny traute sich kaum, darauf Platz zu nehmen. Letztlich war es gar nicht so verwunderlich, dass Alina hier war. Immerhin war sie seine Stiefschwester. Trotz ihrer imposanten Erscheinung führte sie kein leichtes Leben. Ihre erste Ehe hatte mit Scheidung geendet, als sie gerade einundzwanzig gewesen war, und nach dem, was sie von Tante Margot gehört hatte, entwickelte sich ihre zweite Ehe in die gleiche Richtung.

Sie hatte eigentlich keinen Grund, eifersüchtig auf sie zu sein. Ganz im Gegenteil, es musste eine sehr traurige Erfahrung gewesen sein, das Scheitern von gleich zwei Ehen zu erleben. Außerdem war es doch schön, dass sie wenigstens ihren Stiefbruder hatte, an den sie sich wenden konnte, wenn es ihr schlecht ging. Besonders da ihre Mutter so weit weg lebte. Warum sollte da noch etwas anderes im Spiel sein?

Ginny gähnte und sah auf ihre Uhr. Sie sollte sich langsam zum Abendessen umziehen. Nur noch ein paar Minuten Ruhe …

Als sie die Augen wieder öffnete, war das Zimmer voller Sonnenschein. Erschrocken fuhr sie hoch und stellte fest, dass sie unter der Decke lag und ihr Nachthemd trug. Ihre Kleider lagen fein säuberlich zusammengefaltet auf einem Stuhl vor dem Fenster. Das musste Alina gewesen sein.

Sie wühlte sich aus dem Bett und bemerkte, dass ihre Koffer bereits ausgepackt waren. Das sah eigentlich nicht nach Alina aus. Allerdings konnte sie sich auch nicht vorstellen, dass Oliver dies getan hatte. Aber ganz sicher hätte Alina auch nicht Mr Honey, ihren alten, abgewetzten Teddybär, so liebevoll auf die Armlehne des einen Sessels gesetzt.

Nachdem sie geduscht hatte, zog sie sich an. Sie hatte sich extra für diese Reise eine rosa Strickjacke aus Jerseywolle, ein anthrazitfarbenes Top und eine leichte Leinenhose gekauft. Schließlich fühlte sie sich in der Lage, den beiden zu begegnen.

Aber Oliver saß allein auf dem Balkon am Frühstückstisch und las die Zeitung. Er trug Freizeitkleidung, und als er sie kommen sah, faltete er die Zeitung zusammen und lächelte sie an. “Guten Morgen, Schlafmütze! Geht es dir besser?”

“Oh, danke! Tut mir leid, dass ich das Abendessen verpasst habe.”

“Mach dir nichts daraus, Süße! Du warst so müde, dass du nicht mal gemerkt hast, dass ich dich ins Bett gebracht habe.” Die Stimme war warm und hatte einen karibischen Einschlag.

Überrascht schaute sich Ginny nach der mütterlichen Frau um, die gerade mit einer großen Kanne Kaffee aus der Küche gekommen war. “Sie … Sie haben mich ins Bett gebracht?”

“Wer denn sonst?” Die Haushälterin kicherte.

“Ginny, darf ich dir Willa vorstellen? Sie hat das Kommando im Haushalt”, sagte Oliver mit einem verschmitzten Lächeln.

“Allerdings! Ich habe noch keinen Mann kennengelernt, der für sich selber sorgen konnte. Börsenkurse zum Frühstück lesen …!” Sie riss ihm die Zeitung aus den Händen. Es war offensichtlich, dass dies ein eingespieltes, morgendliches Ritual zwischen den beiden war. “Wie wollen Sie denn fit für den Tag werden, wenn Sie Ihren Bauch so sträflich vernachlässigen?”

“Wenn du dich noch mehr um deinen Bauch kümmerst, werden wir die Türen vergrößern müssen!”

“Hoho!” Die Haushälterin lachte dermaßen, dass ihr gewaltiges Hinterteil wackelte. “Ich gebe gerne zu, ich bin eine richtige Frau mit richtigen Rundungen! Nun, Schätzchen, was hätten Sie gerne zum Frühstück? Muffins? Toast mit Eiern?”

“Dann hätte ich gerne ein paar Muffins.”

Die Haushälterin strahlte sie an. “Gutes Mädchen! Trinken Sie erst einmal einen Schluck Kaffee, und ich hole Ihnen die Muffins!”

“Danke!” Etwas verwirrt setzte sich Ginny an den Frühstückstisch. Oliver nahm die Kanne und goss beiden eine Tasse Kaffee ein. “Was würdest du heute gerne machen?”

“Musst du nicht zur Arbeit?”

“Heute ist Samstag!”

“Ach … natürlich! Gut, was würdest du vorschlagen?”

“Wir könnten mit dem World Trade Center anfangen, von da aus hat man den besten Überblick über die Stadt. Und ich nehme an, dass du auch die Freiheitsstatue besichtigen willst?”

“O ja! Und ich will einmal die Staten Island-Fähre nehmen.”

Oliver nickte. “Gut! Wir können los, sobald du mit dem Frühstück fertig bist. Das wird ein langer Tag.”

“Kommt … Alina auch mit?” Ginny versuchte, so unbeteiligt wie möglich zu klingen.

“Alina?” Oliver sah sie überrascht an. “Ganz sicher nicht!”

3. KAPITEL

Die folgenden Tage waren sehr aufregend für sie. Sie schauten sich den Central Park genauer an, besuchten das Guggenheim Museum und streiften durch Chinatown. Und jeden Abend aßen sie in einem Lokal einer anderen Nationalität. Ginny hatte sich in ihrem Leben noch nie wohler gefühlt.

Es machte einfach Spaß, mit Oliver die Riesenstadt zu erkunden. Anfangs hatte sie sich noch etwas zurückgehalten, um nicht unreif zu wirken. Aber sie hatte bald herausgefunden, dass Oliver eine gute Portion trockenen Humors besaß und sie über die gleichen Dinge lachen konnten. Es war schon erstaunlich, dass er seine ganze Zeit mit ihr verbrachte und so bereitwillig mit ihr durch die Läden und Touristenattraktionen wanderte.

Sie traute sich nicht, ihn zu fragen, warum er nicht arbeiten musste. Als sie am Donnerstag zum Frühstück kam, war Oliver gerade am Telefonieren. Sie zögerte, aber er bedeutete ihr mit einer Handbewegung, sich hinzusetzen. Also schenkte sie sich Kaffee ein und bestrich einen von Willas selbst gebackenen Muffins mit Butter und Honig. Ein Spatz setzte sich auf die Balkonbrüstung. Ginny warf ihm ein paar Krümel auf den Boden und beobachtete verzückt, wie er sie aufpickte.

Oliver musste noch einige weitere Telefonate erledigen, aber schließlich kam er zu ihr hinaus. “Tut mir leid! Das war wegen der Arbeit.”

“Ja, natürlich! Musst du heute noch ins Büro?”

Er schüttelte den Kopf und streckte sich behaglich auf seinem Korbsessel aus, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. “Ich habe mir die Woche freigenommen. Das habe ich mir aber auch redlich verdient.”

Sie lächelte ihn schüchtern an. “Du musst deine Freizeit nicht damit verschwenden, mir New York zu zeigen.”

“Das ist keine Verschwendung.”

Ihr Herz machte einen Freudensprung. Die Art und Weise, wie er sie ansah … Nein, das bildete sie sich wahrscheinlich nur ein. Sie musste ihre Fantasie unter Kontrolle halten. Um sich abzulenken, fragte sie ihn: “Was machst du eigentlich genau?”

“Es ist eine Art Aktiengeschäft. Sagen wir mal, es geht um Kupfer. Irgendwann wird jemand schon damit handeln. Der überlegt sich dann, dass der Preis für das Metall in der Zukunft hoch oder runter gehen wird. Also geben sie mir den Auftrag, an einem bestimmten Tag eine bestimmte Menge Kupferaktien zu kaufen oder zu verkaufen. Der Trick ist, dass sie nur einen kleinen Teil des Geldes selbst aufbringen müssen.”

“Das heißt also, wenn die Entwicklung so ist, wie sie vermutet haben, streichen sie den Profit ein, ohne selbst zu viel Geld hineingesteckt zu haben?”

“Ganz genau! Und irgendwann ist daraus ein gewaltiger Markt entstanden.”

“Das klingt nach Glücksspiel.”

“Ist es auch. Natürlich musst du dich gut auf dem Weltmarkt auskennen, aber es ist eine Gratwanderung. Man kann dabei auch böse auf die Nase fallen.”

“Es hört sich jedenfalls aufregend an.”

“Möchtest du es dir einmal ansehen?”

“Du meinst, man kann die Börse besichtigen?”

Oliver nickte. “Wenn du zu Ende gefrühstückt hast, lasse ich Devlin den Wagen holen.”

Es war aufregend, die Börse mit jemandem, der dort arbeitete und sich auskannte, zu besuchen. Sie standen auf der Besuchergalerie, und Ginny beobachtete das Treiben.

“Das ist ja ein völliges Chaos. Woher wissen die bloß alle, wo was los ist?”

“Herdeninstinkt! Aber es ist auch nicht mehr das, was es mal war. Der Großteil des Handels wird jetzt von Computern erledigt.”

“Ich möchte hier jedenfalls nicht nachher sauber machen müssen.” Sie schaute beeindruckt auf die riesigen Müllhaufen, die sich auf dem Fußboden türmten.

Oliver lachte, und in einer Geste völliger Unschuld legte er seine Hand auf ihre Schulter, um sie weiter durch die Börse zu geleiten. Zuerst sahen sie sich den Raum an, in dem die offizielle Geschichte des Hauses ausgestellt war. Aber schließlich führte er sie in einen Bereich, der der Öffentlichkeit ansonsten nicht zugänglich war. Er stellte ihr einige seiner Kollegen vor. Doch als sie ihn auf geschäftliche Dinge ansprach, winkte er lachend ab.

“Diese Woche bin ich nur als Tourist hier! Wir gehen jetzt von hier aus schnurstracks zum Battery Park und werden Eiscreme essen und uns die Fähren anschauen.”

Es war fast Mittag, als sie wieder draußen waren, und brütend heiß. Nur von der Bucht wehte eine kühle Brise herüber. Oliver kaufte, wie versprochen, zwei Eis, und sie setzten sich in einem Ausläufer des Central Park ins Gras.

Ginny strahlte Oliver an und kicherte. “Du hast Eiscreme am Kinn.”

“Oh!” Er nahm sein Taschentuch und wischte über sein Kinn. “Besser?”

“Nein.” Ohne nachzudenken, streckte sie ihre Hand aus, um es selber abzuwischen, aber kurz vor der Berührung hielt sie zögernd inne. Er sah sie fragend, aber erheitert an. Als sie in seine dunklen Augen sah, erkannte Ginny, dass sie ihm verfallen war. Und das schien ihm nicht entgangen zu sein.

Sie wischte schnell die Eiscreme ab und wich seinem Blick aus. Für einen Moment schwiegen beide. Das Einzige, was sie hörte, war ihr Atem und ihr klopfendes Herz.

Plötzlich sah sie etwas, was ihre Aufmerksamkeit voll in Anspruch nahm. Ein älterer Mann taumelte herum und fiel schließlich auf den Boden. Sie sprang auf und wunderte sich, dass die anderen Spaziergänger achtlos an ihm vorbeigingen. “Der Mann braucht Hilfe.” Sie lief auf ihn zu.

Oliver war an ihrer Seite. “Vielleicht ist er auch nur betrunken.”

Sie kniete sich neben den Mann und versuchte, seinen Puls zu fühlen.

“Schnell, ruf einen Krankenwagen!”

Sie wusste auch nicht, warum sie sich so sicher war, dass der Mann nicht betrunken war. Vielleicht war es nur eine Trotzreaktion ihrerseits, weil alle anderen im Park ihn für einen alten Säufer zu halten schienen. Aber Ginny fand, dass er nicht wie ein Säufer aussah. Er hatte ein nettes Gesicht und sah eher wie der Großvater von irgendjemandem aus. Oliver sprach schnell und bestimmt in sein Handy und beugte sich dann über den Mann. Er legte ihm die Hand auf die Stirn und roch an seinem Atem. “Du hast recht gehabt. Er ist nicht betrunken. Er hat einen Zuckerschock.”

“Er trägt einen Notfallausweis um seinen Hals. Da stehen bestimmt sein Name und seine Adresse drin.”

“Und seine Versicherung, falls er nicht bei Medicare ist”, fügte Oliver besorgt hinzu.

“Ist das ein Problem?”

“Der Notarzt wird wissen wollen, wer die Rechnung bezahlt, bevor er ihn ins Krankenhaus einweist.”

“Die zahle ich dann”, sagte Ginny, ohne nachzudenken. “Ob er wohl verheiratet ist? Seine Frau wird sich schreckliche Sorgen machen.” In der Ferne konnte sie eine Sirene hören und hob den Kopf. “Hoffentlich ist das der Rettungswagen.”

Es war schon spät, als sie das Krankenhaus verließen. Wie sich herausgestellt hatte, war der Mann Witwer, und seine einzige Tochter lebte in Philadelphia. Also hatte sich Ginny spontan entschlossen, so lange bei ihm zu bleiben, bis seine Tochter eintraf. Zu ihrer Überraschung blieb Oliver bei ihr. Er hatte den Rolls-Royce herbeordert und lächelte sie beim Einsteigen spöttisch an.

“Hast du vergessen, dass wir heute Abend ins Richmond wollten?”

“O ja, glatt vergessen! Tut mir leid. Jetzt sind wir wohl schon zu spät dran?”

“Das hängt davon ab, wie schnell du dich umziehen kannst.”

“Ganz schnell, versprochen.”

Er lachte spontan auf. “Wie oft habe ich dieses Versprechen schon von einer Frau gehört?”

Das war nur so dahingesagt, aber es gab ihr einen Stich. Sie verspürte keine Neigung, an all die Frauen zu denken, mit denen er schon einmal aus gewesen war. Es schien ihr klar, dass die vergangene Woche höchstens ein Zwischenspiel für ihn gewesen war, oder eine lustige, neue Erfahrung. An Oliver Marsden zu denken, wie er im Battery Park sitzt und eine Eiskugel abschleckt? Schwer vorstellbar.

Aber immerhin war es eine Möglichkeit, ihn zu beeindrucken: so schnell wie versprochen umgezogen zu sein und außerdem fantastisch auszusehen. Sie hatte ein spezielles Abendkleid eingepackt, in der vagen Hoffnung, es einmal tragen zu können. Ein Abendessen bei Richmond schien der richtige Anlass zu sein.

Das Kleid war aus schwarzer Seide, einfach, aber elegant geschnitten und trägerlos. Der lange, enge Rock betonte alle ihre Bewegungen. Dazu trug sie offene, schwarze Pumps. Sie steckte ihr Haar hoch und legte den einzigen Schmuck an, den sie hatte, eine Goldkette und dazu passende Ohrringe. Sie blickte in den Spiegel und fand, dass sie sehr erwachsen und kultiviert aussah.

Sie nahm ihre Handtasche und überlegte sich, wie Oliver wohl reagieren würde. Ob er …? Sie atmete einmal tief durch und schritt graziös ins Wohnzimmer.

Oliver war gerade am Telefonieren. Ginny wollte nicht lauschen, aber er bedeutete ihr zu bleiben. “Gut, Alina! Ich bin gleich da. Nein, es macht nichts. Zehn Minuten, okay?”

Ginny fühlte einen Stich in der Herzgegend. Aber als Oliver den Hörer auflegte und sich zu ihr umwandte, unterdrückte sie ihre Enttäuschung und lächelte ihn strahlend an. “Ist was passiert?”

“Ich fürchte ja. Ginny, es tut mir leid, aber so wie es aussieht, müssen wir unser Abendessen bei Richmond verschieben. Ich muss weg, ein Notfall.”

“Oh … ist schon in Ordnung! Wir waren so viel unterwegs, ich könnte einen Abend Ruhe vertragen.” Sie lächelte ihn an und war froh, ihre Gefühle so gut überspielen zu können.

Oliver nickte abwesend. Er zog sein Jackett an und ging zur Tür. “Morgen gehen wir in eins der Lokale in der South Street, in dem sie den Fisch fangfrisch zubereiten. Gute Nacht!”

Die Tür fiel ins Schloss, und Ginny stand allein in ihrem Abendkleid im Wohnzimmer. Durch die Fenster konnte man die glitzernden Lichter Manhattans sehen, aber Ginnys Augen waren voller Tränen.

Was immer es auch gewesen sein mochte, das Oliver so plötzlich zu Alina hatte eilen lassen, es hielt ihn die ganze Nacht auf. Ginny hatte kein Auge zugetan, sondern wach gelegen und versucht, vernünftig nachzudenken.

Immerhin hatte Oliver die ganze Woche mit ihr zusammen verbracht. Außerdem war Alina seine Stiefschwester, und deshalb musste er sich ebenfalls um sie kümmern.

Aber was, wenn sie mehr als nur seine Stiefschwester wäre? Oliver war älter und so viel erfahrener als sie. Nun, er benahm sich ihr gegenüber sehr nett, aber das kam daher, dass er einfach ein anständiger Mensch war. Sie hätte niemals ernsthaft geglaubt, dass er sie als Frau attraktiv finden würde.

Wer war sie im Vergleich mit Alina? Sie konnte sie um ihre kalte, aristokratische Schönheit und ihr kultiviertes Selbstbewusstsein nur beneiden. Einer solchen Person begegnete man normalerweise nur auf den Seiten teurer Modezeitschriften.

Als Olivers Vater Alinas Mutter geheiratet hatte, war sie sechzehn Jahre alt gewesen, ein Jahr älter als Oliver. Aber schon in diesem Alter hatte sie vollständig erwachsen gewirkt. Die sechsjährige Ginny, die eine der Brautjungfern gewesen war, hatte sie bezaubernd gefunden.

Um halb sechs ging die Sonne auf, und Ginny konnte nicht mehr liegen. Sie holte sich ein Glas Orangensaft. Willa hatte frei, und so machte sie sich das Frühstück selber. Aber Oliver kam nicht. Um elf Uhr überlegte sie sich, dass es albern wäre, noch länger auf ihn zu warten. Außerdem wollte sie noch ein Geschenk für ihren Vater kaufen. Also zog sie sich an und begab sich auf einen Streifzug durch die Boutiquen und Galerien Manhattans.

Es war so heiß, dass sie auf der Stelle durchgeschwitzt war. Widerwillig entschloss sie sich, zu dem Apartment zurückzukehren. Am Eingang stand ein anderer Portier als sonst. Sie hatte sich mit dem anderen, der den Rest der Woche Dienst gehabt hatte, ein wenig angefreundet. Sie hatte sich beim Kommen oder Gehen immer ein bisschen mit ihm unterhalten. Der Portier, der nun seinen Dienst tat, war ihr fremd, und sie beließ es bei einem kurzen Kopfnicken.

Es war schon seltsam, so völlig allein in dieser riesigen fremden Stadt zu sein. Sie hatte mit keiner Menschenseele gesprochen, außer unbedeutenden Gesprächen mit Verkäufern wie Ich hätte gerne dieses hier oder Danke schön. Für ihren Vater hatte sie ein silbernes Lesezeichen gekauft, auf dem das amerikanische Wappentier, der Seeadler, eingraviert war. Ihr ganzes Leben war sie noch nie eine so lange Zeit nur für sich gewesen, ohne mit irgendjemandem reden zu können.

Oliver war immer noch nicht da. Das spürte sie instinktiv, schon bevor sie die Wohnung betrat. Sie schaute sich um, ob er zwischenzeitlich da gewesen war und ihr vielleicht eine Nachricht hinterlassen hatte, aber ihre halbherzige Hoffnung wurde enttäuscht. Sie nahm sich eine Tüte voller Popcorn und setzte sich gelangweilt vor den Fernseher.

Es war schon fast Abend, als sie seinen Schlüssel im Schloss hörte. Schnell setzte sie sich in eine gelassene Pose und schaute über ihre Schulter, als er eintrat.

“Hi!” Sie bemühte sich, unberührt zu wirken.

“Hi!” Er sah erschöpft aus. Sein Hemd war zerknittert, den Schlips hatte er abgenommen und seine Jacke über die Schulter geworfen. Er lächelte sie verlegen an. “Tut mir leid. Es hat länger gedauert.”

“Kein Problem, ich habe ferngesehen.”

Voller Erstaunen blickte er auf den Bildschirm. “Lernst du Spanisch?”

Verdammt, sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie den spanischsprachigen Sender angestellt hatte. “Äh, nein, der eine Film war gerade zu Ende, und da habe ich etwas herumgezappt! Hey, ist das nicht dieser Schauspieler, den wir neulich gesehen haben?”

Oliver musste lachen. “Ich habe keine Ahnung. Hast du heute noch etwas anderes gemacht als ferngesehen?”

“Aber ja! Ich habe einen Einkaufsbummel gemacht auf dem Columbus Square und nach einem Geschenk für Pops gesucht.”

Geistesabwesend nickte er. Er entledigte sich seiner Jacke und streckte sich auf einem der Sofas aus. Für einen Moment schloss er die Augen.

Ginny betrachtete ihn, und ihr Herz schlug bis zum Hals. Wenn er glücklich ausgesehen hätte, wäre sie Alina trotz ihrer Eifersucht sogar noch dankbar gewesen. Es hätte ihr gereicht, dass es ihm gut ging. Aber er sah völlig erschöpft aus. Was war bloß geschehen? Welchen magischen Zauber übte Alina über diesen Mann aus, dass er alles stehen und liegen ließ, um bei ihr zu sein? Und völlig ausgelaugt zurückzukommen?

So etwas würde sie ihm niemals antun. Sie wollte ihn nur lieben, seine Augen küssen, ihn mit ihrem Körper wärmen. Sie würde ihm alles geben, wenn er sie nur lassen …

Er öffnete die Augen, und Ginny verdrängte diese schamlosen Gedanken. Sie lächelte ihn nur an.

“Wo wollen wir heute Abend essen? Wir können ja versuchen, ob wir noch einen Tisch im Richmond kriegen.”

“Ich weiß nicht. Ich würde heute Abend lieber nicht mehr ausgehen. Ich will noch meinen Koffer packen und muss morgen früh aufstehen. Können wir nicht ausnahmsweise hier essen?”

Oliver wirkte erleichtert. “Wenn du willst! Wir können uns etwas kommen lassen.”

“Nein, nein. Ich könnte ja etwas kochen, als Dankeschön sozusagen. Das heißt, wenn Willa nichts dagegen hat, dass ich ihre Küche benutze.”

Sein Lächeln entschädigte sie für das lange Warten und besänftigte ihre Eifersucht. “Na gut! Ein Dankeschön, das klingt gut.”

Ginny stand auf, um in die Küche zu gehen, aber Oliver fügte hinzu: “Und Ginny, zieh doch das schwarze Samtkleid an, das du gestern getragen hast! Hat mir gut gefallen.”

Ihr Kleid war ihm aufgefallen. Tief gerührt nickte sie stumm. Die Küche war ausgezeichnet ausgestattet, und Ginny entschied sich für ein einfaches Gericht. Als Vorspeise gab es eine Maissuppe, zum Hauptgericht bereitete sie Schinken mit Gemüse zu und wählte Kokosnusscreme mit Kiwischeiben als Dessert.

Sie schaffte es sogar, zwischen den einzelnen Gängen zu duschen. Sie nahm ihr Samtkleid aus dem Schrank und legte es bereit. Kaum zu glauben, dass es gerade erst vierundzwanzig Stunden her war, dass sie dieses Kleid zum ersten Mal angezogen hatte. Sie fühlte sich jetzt älter und gereifter.

Und ihm war ihr Kleid aufgefallen!

Sie beschloss, ihr Haar nicht hochzustecken. Das kam ihr übertrieben vor, da sie ja nicht ausgingen. Also bürstete sie es so lange, bis es glänzte. Es fiel über ihre Schultern und reichte fast bis zu ihren Hüften. Sie legte eine Spur Lippenstift auf, ebenso einen Hauch Lidschatten und einen Tropfen Wimperntusche.

Ins Wohnzimmer zurückgekehrt, stellte sie fest, dass auch Oliver sich umgezogen hatte. Außerdem hatte er den Tisch gedeckt, Kerzen aufgestellt und war gerade dabei, eine Flasche Wein zu öffnen. Als sie eintrat, sah er zu ihr auf und ließ seinen Blick über sie schweifen. Sie versuchte, ruhig zu atmen, obwohl ihr Herz raste. Oliver sagte kein Wort, sondern nickte nur anerkennend.

“Ich serviere jetzt die Suppe.” Ginny hoffte, dass er das Zittern in ihrer Stimme nicht bemerkte.

Selbst das Richmond hätte nicht romantischer sein können. Der Kerzenschein spiegelte sich in den großen Fenstern, vermischte sich mit den glitzernden Lichtern Manhattans und den Sternen. Sie aßen schweigend. Vielleicht würde ja morgen das Flughafenpersonal streiken, und sie müsste noch länger bleiben …

Nach dem Essen bestand Oliver darauf, das Geschirr selber in die Küche zu bringen. Er steckte es in den Geschirrspüler und kehrte mit Kaffee zurück. Ginny sah ihm zu, wie er ein wenig Milch in seine Tasse träufelte. Dachte er etwa an Alina?

“Das Essen war ausgezeichnet. Besser wäre es im Richmond bestimmt nicht gewesen.”

Wie immer, wenn er sie anlächelte, erhöhte sich ihr Pulsschlag, und sie lächelte zurück. “Danke!”

Oliver lehnte sich entspannt zurück und trank einen Schluck Kaffee. “Nun, hat es dir in New York gefallen?”

“Es war fantastisch. Und vielen Dank, dass du dir so viel Zeit für mich genommen hast!” Nachdenklich rührte sie ihren Kaffee um und senkte den Blick. “Ich vermute, dein Vater hat dich in die Rolle des Gastgebers gedrängt.” Sie lächelte ihn schüchtern an.

Oliver lachte trocken. “Das stimmt schon. Es war seine Idee. Seine und die deines Vaters. Und ich glaube, das ist noch nicht alles.”

Ihr blieb fast das Herz stehen, und sie sah ihn verwirrt an. “Ich nehme sogar an, dass sie uns gerne verheiraten würden”, fügte er geheimnisvoll hinzu.

“Wie … albern!” Ginny errötete und rang nach Atem.

“Meinst du?” Er ergriff ihre Hand und streichelte sie zärtlich. “Meine liebe Virginia! Ich denke eigentlich, dass es eine ausgezeichnete Idee ist.”

4. KAPITEL

“Versteckst du dich? Das ist doch sonst nicht deine Art, Ginny.”

Olivers Stimme riss sie aus ihren Gedanken, und Ginny verbarg die schmerzhaften Erinnerungen hinter ihrem gewohnten Lächeln. “Nur eine kleine Pause! Es ist schrecklich heiß im Saal.”

“Du warst der Mittelpunkt der Party, wie immer. Du hast scheinbar mit jedem Mann im Saal getanzt, außer mit mir. Möchtest du diese kleine Unaufmerksamkeit nicht ausbessern?”

Ginny lachte heiter auf, obwohl es wie ein Stich ihre Brust durchbohrte. “Nachdem du so viel Geld für mich ausgegeben hast, kann ich mich schlecht weigern.”

Sein Blick schweifte über ihre festen Brüste, die vorteilhaft von dem Mieder ihres Kostümes betont wurden. “Dafür bekomme ich sicherlich mehr als nur einen Tanz.”

Ginny reckte das Kinn hervor, um ihm zu zeigen, dass sie nicht auf seinen rauen Charme hereinfiel. Das war ihr einmal passiert, als sie noch sehr jung war, aber sie hatte in den letzten Jahren viel gelernt. Also verbarg sie ihre Abneigung hinter einem strahlenden Lächeln und wollte in den Saal gehen, aber Oliver hielt sie zurück.

“Du hast recht. Drinnen ist es viel zu heiß. Hier draußen kann man die Musik genauso gut hören.”

Er nahm sie in seine Arme, und sie spürte, wie sie sich unwillkürlich verkrampfte. Nicht dass sie seit ihrer Verlobung nicht mehr miteinander getanzt hätten. Sie hatten sich manchmal auf Partys getroffen und gelegentlich versucht, den Klatschmäulern zu zeigen, dass sie nichts als gute, alte Bekannte waren.

Aber heute Nacht war es anders. Dafür hatte Oliver durch sein Verhalten auf der Versteigerung selber gesorgt. Und aus irgendeinem Grund wollte er nun mit ihr allein im Mondlicht tanzen.

“Und was genau erwartest du als Gegenleistung für dein Geld?”, fragte Ginny geradeheraus.

Er lachte trocken und sah sie nachdenklich an. “Nun, ich brauche dein einzigartiges … Können.” Wieder schweifte sein Blick über ihren Körper.

Das Blut hämmerte in ihren Adern, und sie musste um ihre Haltung ringen. Sie bemühte sich, so kühl wie möglich zu wirken. “Oh …?”

Er setzte ein unschuldiges Gesicht auf, aber Ginny wusste, wie gut er sich verstellen konnte. “Ich möchte, dass du eine Party organisierst.”

Ginny fiel ein Stein vom Herzen, aber sie verbarg ihre Erleichterung. “Eine besondere?”

“Howard geht in den Ruhestand. Wir feiern zwar zu Hause seinen siebzigsten Geburtstag, aber ich möchte zusätzlich eine Feier in der Bank. Dann können wir auch einige seiner Geschäftsfreunde aus den letzten fünfzig Jahren einladen.”

“Okay, es wird mir eine Ehre sein, das Fest auszurichten.”

“Schön! Andererseits hätte ich auch ungern mein Geld vom Festkomitee zurückgefordert.”

“Sei nicht albern! Hast du schon eine Gästeliste erstellt?”

“Ich habe schon eine Menge Namen aufgeschrieben, aber am besten kommst du demnächst mal in die Bank und sprichst mit seiner Sekretärin. Die kennt die ganzen Namen und kann dir auch sonst alles erzählen, was du wissen musst.”

Ginny nickte. “Wann soll es stattfinden?”

“Irgendwann nächsten Monat! Ist das genug Zeit, um alles zu organisieren?”

“Das müsste reichen. Allerdings hängt es auch von den Servicefirmen ab. Aber ich kenne da ein, zwei gute, die wir kurzfristig mieten können.”

“Ausgezeichnet! Ich überlasse dir die Planung.”

Sie lächelte ihn an, aber ihr Misstrauen blieb. Sie benahmen sich, als seien sie lediglich alte Freunde, die sich einen Gefallen tun. Und ohne ihre persönliche Geschichte wäre das auch so gewesen. Aber sie hatten nun einmal diese gemeinsame Vergangenheit.

“Ich verstehe allerdings nicht, warum du so viel Geld für mich ausgegeben hast. Das hätte Alina doch umsonst gemacht.”

Er lachte auf, aber in seinen Augen lag ein unergründliches Funkeln. “Man könnte meinen, dass du nach einer Ausrede suchst.”

“Natürlich nicht! Ich halte meine Versprechen.”

“Dafür werde ich diesmal sorgen.”

Furcht stieg in ihr auf. Oliver redete nicht nur über die Party. Er hatte weder vergessen noch vergeben. Sie versuchte, sich ein wenig von ihm zu entfernen, aber er hielt sie fest in seinen Armen. Er machte ihr damit unmissverständlich klar, dass er sich das Recht vorbehielt zu entscheiden, wann sie gehen durfte und wann nicht.

Sie konnte es ihm noch nicht einmal verübeln. Er kannte ja nur einen Teil der Geschichte: den Teil, den alle kannten. Und Alina hatte ihm sicherlich nie die Wahrheit erzählt. Ginny selbst hatte in den letzten sechs Jahren versucht, sich mit dem Unabänderlichen abzufinden. Fast hatte sie geglaubt, ihre Wunden seien verheilt.

Doch mit einem Schlag war die ganze schmerzhafte Vergangenheit wieder da. Sie sah sich selbst als neunzehnjähriges, junges Mädchen, das in seiner Naivität kaum glauben konnte, dass der erwachsene Mann, für den es schwärmte, an ihm Gefallen fand. Er, der jede Frau hätte haben können, hatte sich in sie verliebt!

Aber Alina hatte ihre verwundbare Stelle entdeckt und alles ruiniert. Alina und ihr eigener dummer Stolz.

Die Verlobungsparty war die Idee ihres Vaters gewesen. Er hatte sie zusammen mit Onkel Howard ausgeheckt. Ginny war anfangs etwas unsicher gewesen, aber als sie mit Oliver über die Tanzfläche schwebte, fühlte sie sich völlig losgelöst. Sie konnte ihr Glück nicht fassen. Forderte sie mit so viel Glück nicht ihr Schicksal heraus?

Wieder und wieder schaute sie ungläubig auf den Verlobungsring an ihrer linken Hand. Es war ein reiner, viereckiger Smaragd, der von vierzehn Diamanten gesäumt wurde. Er war schwer, aber sie würde ihn sicherlich niemals abnehmen.

Oliver sah sie erheitert an. “Bewunderst du wieder deinen Ring?”

“Aber sicher! Er ist ganz bestimmt der schönste Verlobungsring in der ganzen Welt!”

“Freut mich, dass er dir gefällt.”

Die letzten sechs Wochen hatten sie nur telefonischen Kontakt gehabt. Er hatte sie zwar jeden Abend angerufen, aber das war nicht das Gleiche. Außerdem hatte sie Angst bekommen, dass Oliver sich seinen Heiratsantrag noch einmal überlegen würde, wenn er sie nach dieser langen Zeit wiedersähe.

Aber nun war alles in Ordnung. Oder …?

Eine gertenschlanke Blondine in einem engen, schwarzen Kleid betrat den Raum. Sie fuchtelte mit den Händen, während sie auf einen von Olivers Freunden einredete. Sie musste etwas Komisches gesagt haben, denn er lachte. Der Mann war von der umwerfenden Erscheinung völlig eingenommen.

Ginny begann, sich unbehaglich zu fühlen. Oliver hatte am Telefon nichts erwähnt, und so war sie überrascht, Alina in London zu sehen. Sie hatte versucht, sich einzureden, dass es nichts zu bedeuten habe. Es war nur normal, dass Alina nach dem Scheitern ihrer zweiten Ehe zu ihrer Familie zurückkehrte.

Sie hatte sich bemüht, ihre Verärgerung zu unterdrücken, als Alina sich zu ihrem ersten, gemeinsamen Abendessen seit langer Zeit gesellt hatte. Und am nächsten Tag hatte sie Olivers Planung über den Haufen geworfen und mit ihm gemeinsame Freunde besucht. Aber Ginny wollte nicht egoistisch erscheinen.

“Du bist so schweigsam.” Oliver zog sie an sich heran. “Woran denkst du?”

“Oh … nichts! Ich bin nur ein bisschen müde.”

Es war dumm von ihr. Sie hatte keinen Grund, auf Alina eifersüchtig zu sein. Immerhin hatte er sie gefragt, ob sie ihn heiraten wolle. “Ich hatte viel zu tun. Und dich habe ich auch kaum gesehen, seit du aus New York zurück bist.”

“Es tut mir leid, aber ich hatte einige Verpflichtungen.”

“Ich weiß. Ich dachte nur, dass es schön wäre, wenn wir ein wenig mehr Zeit zusammen …”

“Wir haben doch noch die ganze nächste Woche für uns. Und da machen wir, was du willst.”

Sie ärgerte sich, das Thema überhaupt angesprochen zu haben. Ihren ersten Streit sollten sie nicht gerade am Abend ihrer Verlobung austragen. “Aber dann musst du wieder nach New York, und ich werde dich eine Ewigkeit nicht sehen.”

“Ich muss arbeiten.” Er war nicht unhöflich, aber seine Stimme klang scharf.

“Ich verstehe es ja. Es ist nur, dass ich mit dir zusammen sein möchte.” Sie hatte das Gefühl, er behandle sie wie ein kleines Mädchen.

Tränen schossen ihr in die Augen, als Oliver ihr Kinn mit einem Finger anhob und sie anlächelte. “Es tut mir so leid, aber ich verspreche dir, dass es bald anders wird. In ein paar Monaten sind wir verheiratet, und dann haben wir alle Zeit der Welt für uns.”

Er strich ihr zärtlich über die Lippen, und plötzlich fühlte sie ein unbändiges Verlangen, ihn zu küssen. Aber er konnte nicht, nicht in der Öffentlichkeit.

Wenn sie erst einmal verheiratet wären! Es würde doch nur noch ein paar Monate dauern. Oliver liebte sie, warum sollte er sie sonst heiraten wollen? Vielleicht hielt er sich einfach ein wenig zurück. Noch niemals hatte sie jemanden geküsst, der so erfahren war wie Oliver. Es beeindruckte sie noch immer.

Jeder wollte sie umarmen und ihr Glück wünschen, all die Tanten und Vetter, die sie nur zu Hochzeiten und Beerdigungen zu Gesicht bekam. Schließlich fand sie aber doch etwas Zeit, um sich ein wenig in ihrem Schlafzimmer auszuruhen. Nach etwas Ruhe und nachdem sie sich die Lippen nachgezogen hatte, fühlte sie sich wieder stark genug, zur Feier zurückzukehren.

Auf dem Flur lief sie Alina in die Arme. “Oh! Hallo! Du suchst bestimmt das Badezimmer? Es liegt auf der anderen Seite, zweite Tür links.”

“Danke schön! Aber eigentlich habe ich dich gesucht.”

“Ach?” Ginny lief es eiskalt den Rücken hinunter.

“Ich dachte, wir sollten uns einmal unterhalten. Ist das da dein Zimmer?”

Ohne die Antwort abzuwarten, trat sie ein. Sie ließ den Blick abschätzig über die rosa Rüschen und die lange Reihe von Stofftieren wandern, die auf dem Sofa aufgestellt waren.

Alina setzte sich aufs Bett. “Glückwunsch, meine Liebe! Darf ich den Ring sehen?”

Ginny streckte die Hand aus.

“Oh, wie schön! Ich habe Oliver geraten, einen Smaragd zu kaufen. Ein Brillant würde nicht zu dir passen.”

Ginny fühlte einen Kloß im Hals. Auf die Information, dass Alina ihren Ring ausgewählt hatte, hätte sie gut verzichten können.

“Ihr heiratet in drei Monaten, im Frühling, wie romantisch! Weißt du, als ich so alt war wie du, habe ich auch zum ersten Mal geheiratet. Viele Leute meinten, ich sei zu jung, aber das hat mich nicht gekümmert. Natürlich, Larry war zehn Jahre älter als ich, das ist schon ein gewaltiger Unterschied.”

Ginny fühlte sich von Sekunde zu Sekunde unwohler. Alina machte diese Anspielungen aus einem bestimmten Grund.

Alina redete weiter, und ihre Stimme bekam einen schwermütigen Klang. “Es war eine schmerzhafte Enttäuschung. Es tut mir in der Seele weh, wenn ich sehe, dass du jetzt den gleichen Fehler begehst. Männer in diesem Alter haben mit Romantik nichts mehr im Sinn. Wenn sie heiraten, dann aus ganz bestimmten Gründen.”

Ginny merkte, wie ihr Herz raste. Sie konnte kaum sprechen. “Zum Beispiel?”

“In Olivers Fall ist es so, dass er einen Sohn braucht, als Stammhalter und Erben. Wenn er einen Bruder hätte, wäre das etwas anderes, aber so … Darum habe ich ihm auch geraten, jemand anderes zu heiraten. Ich kann nämlich keine Kinder bekommen.”

Sie lächelte Ginny mit einem traurigen, bittersüßen Lächeln an. “Hoffentlich habe ich dich nicht zu sehr erschreckt. Ich dachte, es sei das Beste, wenn du Bescheid weißt. Du wirst sicherlich eine perfekte, niedliche Ehefrau abgeben. Du solltest nur nicht den Fehler begehen zu glauben, dass Oliver dich liebt.”

Sie stand anmutig auf und schwebte fast aus dem Zimmer. Nur der Duft ihres teuren Parfüms hing noch in der Luft.

Ginny stand wie angewurzelt da. Tränen schossen ihr in die Augen. Das konnte doch nicht wahr sein, oder? Sie hatte sich schon immer gefragt, was dieser gebildete, weit gereiste Mann ausgerechnet an ihr fand. Und er hatte ihr nie ausdrücklich gesagt, dass er sie liebe. Wollte er wirklich nur einen Erben von ihr? Einen Erben, den Alina ihm nicht schenken konnte.

Wie hätte sie sich je mit Alina messen können? Es war nicht nur ihre Schönheit und Eleganz. Es war diese Aura der Kultiviertheit, die sie ausstrahlte. Sie würde einen Partner völlig an sich ketten. Sie brauchte nur an den Gesichtsausdruck des Mannes unten auf der Party zu denken, der sich mit Alina unterhalten hatte. Für ihn hatte alles auf der Welt, außer Alina, aufgehört zu existieren.

Aber es machte keinen Sinn, in ihrem Zimmer zu sitzen und still vor sich hin zu weinen. Sie musste mit Oliver sprechen, sie musste die ganze Wahrheit erfahren. Sie wischte sich die Tränen ab und atmete tief durch. Dann öffnete sie die Tür und schritt aufrecht die Treppe herunter.

Die Party war in vollem Gange, aber sie konnte weder Oliver noch Alina entdecken. Jemand sprach sie an, und sie lächelte automatisch zurück. “Hast du Oliver gesehen?”

“Vor einem Moment war er noch auf der Terrasse.”

Ihr Magen verkrampfte sich, als sie durch die Verandatür schritt. Es war nichts von ihm zu sehen. Während sie noch überlegte, ob sie ihn im Garten suchen solle, hörte sie in der Nähe leise Stimmen.

Beide standen am dunklen Ende der Terrasse, der Mann hatte ihr den Rücken zugewandt, aber sie wusste sofort, dass es Oliver war. Und die Frau in seinen Armen fiel auch im fahlen Mondlicht durch ihr weißblondes Haar auf.

Er sprach leise, aber nachdrücklich. “Nichts wird sich ändern. Zwischen uns wird sich nie etwas ändern.”

Entsetzt zuckte Ginny zurück und stolperte über eine Steinplatte. Oliver drehte sich überrascht um, aber als er sie sah, wirkte er ärgerlich. Alina entwand sich elegant seiner Umarmung und lächelte zufrieden. “Entschuldigt mich!” Und schon war sie in der Dunkelheit verschwunden.

Oliver sah ihr kurz nach und wandte sich Ginny zu. “Was ist los?”

“Du fragst mich, was los ist? Was hast du mit Alina hier draußen gemacht?” Ginny musste schlucken, Tränen rannen ihr über die Wangen.

Er sah sie vorwurfsvoll an. “Was meinst du damit genau?”

“Was ich damit meine!” Ihre Beherrschung war dahin, sie wollte ihn nur noch anschreien. Aber sie hielt sich zurück, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. “Du willst dich mit mir verloben, aber seit du wieder in England bist, hast du dich nur um sie gekümmert!”

“Sie ist meine Stiefschwester, verdammt noch mal! Und sie macht eine schwere Zeit durch. Ich habe dir doch gesagt, dass ich auch noch andere Verpflichtungen habe. Gewöhne dich bitte daran, und benimm dich nicht wie eine verzogene Göre!”

Es war wie ein Schlag ins Gesicht. “Verzogene Göre? Das bin ich also für dich?” Sie war fast blind vor Tränen, als sie den wunderschönen Smaragdring von ihrem Finger zog. “Dann solltest du den besser behalten!” Sie schmiss ihm den Ring vor die Füße und rannte in die schützende Dunkelheit des Gartens.

Für eine Weile irrte sie umher, bis sie sich schließlich am Gästeparkplatz wiederfand. Olivers Wagen stand auch dort. Es war der Aston Martin, mit dem er sie damals von der Schule abgeholt hatte. Schon damals war ihr klar gewesen, dass er sich nie ernsthaft für ein naives Schulmädchen interessieren könnte. Hätte sie nur auf ihre innere Stimme gehört!

Sie hörte hinter sich Schritte und fuhr erschrocken zusammen. Aber es war nur Mark Ransome, wie gewöhnlich stark angetrunken. Er starrte sie mit zusammengekniffenen Augen an, erkannte sie aber schließlich und grinste.

“Ah, du bist das, Ginny, altes Haus! Tolle Party!”

Sie kannte Mark seit Jahren. Er hatte ihr schon öfter seine ewige Liebe geschworen, aber sie hatte ihn nie ernst genommen, denn er pflegte dasselbe auch zu all ihren Freundinnen zu sagen. “Du willst doch hoffentlich nicht in diesem Zustand nach Hause fahren?” Sie wusste nur zu gut, wie unverantwortlich er sein konnte.

“Nein, nein, ich wollte nur ein bisschen frische Luft schnappen.” Er sah sie ungläubig an. “So, dann bist du jetzt vergeben. Der alte Ollie Marsden war schon immer ein Glückspilz. Da hat er dich uns genau vor der Nase weggeschnappt. Aber ich kann es dir nicht verdenken. Ich bin ein mieser Typ, ich kann mich einfach nicht benehmen. Das liegt bei uns in der Familie. Aber du bist die Beste! Ollie wird das schon herausfinden.” Sein Atem roch schwer nach Whisky.

“Ja, nun … Mark, ich werde nicht heiraten. Ich hasse ihn!”

Mark runzelte die Stirn und versuchte verzweifelt, diese Neuigkeit zu begreifen. “Du wirst ihn nicht heiraten, ja? Aber du hast dich gerade mit ihm verlobt!”

“Und sofort wieder entlobt. Wahrscheinlich die kürzeste Verlobung in der ganzen Weltgeschichte.” Wieder begann sie zu weinen, und völlig hilflos lehnte sie sich gegen ihn. Mark wusste nicht so recht, was er tun sollte, also nahm er sie in seine Arme und streichelte ihre Wangen. “Na ja … Nun, altes Mädchen, das gibt sich wieder …”

Ginny sah ihn an. Wenn er nicht zu betrunken war, sah er ziemlich gut aus. Und gerade sein zweifelhafter Ruf machte ihn bei vielen Mädchen besonders begehrenswert. Und was dem einen recht war, war dem anderen billig. “Mark, küss mich!”

Er war für einen Moment verwirrt, sagte aber nichts. Ginny schloss die Augen, als er den Mund auf ihre Lippen presste.

Er konnte recht gut küssen, von der Whiskyfahne einmal abgesehen. Nicht so wie Oliver … Aber sie wollte nie wieder auch nur an Oliver denken! Er ließ die Hände über ihren Körper fahren. Normalerweise hätte sie ihn dafür geohrfeigt, aber nicht heute Nacht. Sie würde genau das machen, wozu sie Lust hatte!

“Lass uns in den Wagen steigen!”, murmelte er.

Ja, eine großartige Idee! Wenn sie schon ihre Jungfräulichkeit verlieren sollte, die sie sich für Oliver aufgespart hatte, warum nicht auf dem Rücksitz seines Wagens? Das geschah ihm recht. Die Tür war nicht abgeschlossen, und beide fielen eng umschlungen auf den Rücksitz. Mark atmete schwer, als er nach dem Reißverschluss ihres Kleides tastete.

Es war eng und unbequem, und Ginny begann, ihren Entschluss zu bereuen. Aber Mark war nicht zu bremsen. Er küsste ihren Nacken und versuchte, sie in die Ecke des Wagens zu drängen, seine Hand glitt unter den Saum ihres Rockes.

“Mark, bitte! Wir sollten vielleicht …”

“Verdammt! Meine Manschette hat sich in deinem Schlüpfer verfangen.” Er versuchte, sich aufzurichten, um besser sehen zu können. Aber betrunken wie er war, rutschte er dabei über den Fahrersitz und berührte die Hupe.

“Nein!” Von Panik ergriffen, bemühte sich Ginny freizukommen, was aber nur zur Folge hatte, dass ihr Kleid noch höher rutschte. In diesem Moment wurde die Tür des Wagens aufgerissen.

Ginny sah nur das begeisterte Lächeln Alinas. Hinter ihr standen einige der Gäste, die zu sehen versuchten, was los war. Ginnys Haar war völlig durcheinander, ihr Kleid halb ausgezogen, und Marks Hand lag auf ihrem Oberschenkel.

“Ginny! Um alles in der Welt! Wie konntest du nur?” Alinas gespielte Entrüstung war perfekt.

Hilflos an ihrem Kleid herumziehend und Marks Hand wegstoßend, krabbelte Ginny aus dem Wagen. Und dann rannte sie fort, fort von allen, die gerade Zeugen ihrer Schande geworden waren. Sie lief, so schnell sie konnte, zur Rückfront des Hauses, durch die Küche zur Hintertreppe und hinauf in ihr Zimmer. Sie schloss die Tür hinter sich ab, warf sich verzweifelt auf ihr Bett und schwor sich, den Raum nie wieder zu verlassen.

War das wirklich schon so lange her? So eng umschlungen wie sie jetzt mit Oliver tanzte, seinen muskulösen Körper spürte, seinen herben, männlichen Geruch einatmete, hätte man denken können, dass all dies niemals geschehen war. Als ob sie gerade wieder auf ihrer Verlobungsfeier tanzten und der Ring noch an ihrem Finger steckte.

Aber diese Nacht hatte einen langen Schatten über alle Beteiligten geworfen. Sie betrachtete Olivers Gesicht. Sein markantes Kinn, diesen unnachgiebigen, bitteren Zug um den Mund. Sie hatte nie erfahren, wie er auf den Skandal reagiert hatte. Sie hatte sich zwar in einem kurzen Brief bei ihm entschuldigt, aber als sie sich aus ihrer freiwilligen Gefangenschaft heraustraute, war er schon wieder in den USA.

Für die Klatschbasen war es eine Sensation gewesen. Zwar konnte keiner der Anwesenden genau sagen, was er eigentlich gesehen hatte, aber das störte niemanden. Marks halbherziges Leugnen wurde im Gegenteil sogar als Beweis gewertet. Und der arme Mark war viel zu betrunken gewesen, um sich daran zu erinnern, was wirklich geschehen war. Einzig Alinas Geständnis hätte alles wieder gutmachen können, aber sie zog es vor zu schweigen. Und dieses Schweigen sprach Bände.

Zuerst hatte ihr der Klatsch recht wenig ausgemacht, aber mit der Zeit fühlte sich Ginny durch das Gerede in ihrem Privatleben eingeengt. Sie brauchte nur mit einem der jüngeren Männer zu tanzen, und schon wurde er auf die Liste ihrer Liebhaber gesetzt.

Autor

Susanne Mccarthy
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