Julia Gold Band 97

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PALAST DER SINNLICHEN TRÄUME von KIM LAWRENCE

Heißes Begehren erwacht in Scheich Rafik, als er Gabby im Palast begegnet. Doch dieses Gefühl sollte er besser ignorieren! Da er angeblich nicht mehr lange zu leben hat und die junge Lehrerin seinen Bruder heiraten soll, darf er sich nicht nach ihrer Liebe sehnen - oder?

DAS MÄRCHEN DER 1001. NACHT von TERESA SOUTHWICK

Ein zärtlicher Begrüßungskuss, und Beth hat ihr Herz an Scheich Malik verloren, den Kronprinzen von Bha’Khar! Wie in einem Traum erlebt sie die sinnlichen Nächte mit ihm. Dabei ist der künftige Herrscher des Wüstenreichs einer anderen versprochen: Beths Zwillingsschwester!

VERFÜHRT VOM PRINZEN DER WÜSTE von SHARON KENDRICK

Einen echten Wüstenprinzen muss Anwältin Laura in sein Königreich geleiten. Das gestaltet sich allerdings schwieriger als gedacht: Schon auf den ersten Blick ist sie überwältigt von Xaviers männlicher Ausstrahlung. Es kommt zu einem heißen Kuss - aber der Milliardär ist als Playboy bekannt …


  • Erscheinungstag 12.03.2021
  • Bandnummer 97
  • ISBN / Artikelnummer 9783733718411
  • Seitenanzahl 447
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kim Lawrence, Teresa Southwick, Sharon Kendrick

JULIA GOLD BAND 97

1. KAPITEL

Er zog sein Leinenhemd wieder an und setzte sich rittlings auf den Stuhl. Dort, wo der helle Stoff auseinanderklaffte, wurde Rafiks gebräunter, muskulöser Oberkörper sichtbar. Dadurch, dass er fast sieben Kilo an Gewicht verloren hatte, traten die Muskeln noch deutlicher hervor.

Sein Gesicht verriet nichts von dem Sturm, der in ihm tobte. Gegen den Drang ankämpfend, den grauhaarigen Franzosen von seinem Stuhl zu zerren und zu schütteln, ballte er die Fäuste.

Der Mann log. Er musste einfach lügen!

Aber das stimmte nicht. Nicht nur, dass der Arzt gute zwanzig Jahre älter war als er. Rafik merkte es sofort, wenn ihn jemand anschwindelte. Und dieser Mann war ehrlich. Er sagte die Wahrheit. Eine bittere Wahrheit zwar, die niemand gern hörte, aber die Wahrheit.

Rafik würde seinen fünfzigsten Geburtstag nicht mehr erleben. Oder, genauer gesagt, nicht einmal seinen dreiunddreißigsten.

Nachdem das Rauschen in seinen Ohren ein wenig abgeklungen war, ermahnte er sich immer wieder: „Du musst die Dinge nehmen, wie sie kommen.“

Das war so leicht gesagt.

Jahrelang in Selbstdisziplin geübt, gelang es ihm, Ruhe zu bewahren. Eine eisige Ruhe. „Wie viel Zeit bleibt mir noch?“

Pierre Henri strich seinen Anzug glatt und stand langsam auf. Bei seinem Ansehen hatte er keinen weißen Kittel nötig, um sich Respekt zu verschaffen. Er durchquerte den Raum, nahm die Röntgenbilder vom Leuchtschirm und ließ sie in den Umschlag gleiten. Dabei suchte er nach den passenden Worten.

Einem Patienten niederschmetternde Diagnosen beizubringen war eine der Tätigkeiten in seinem Beruf, die er am wenigsten schätzte. Aber so etwas gehörte auch dazu, und Pierre Henri stand in dem Ruf, hierin sehr einfühlsam zu sein. Normalerweise hatte er in solchen Situationen keine Probleme, die richtigen Worte zu finden.

Er wusste, wie wichtig die Körpersprache war – es kam nicht nur darauf an, was man sagte, sondern auch, wie man es tat. Natürlich hatte er auch gelernt, dass man behutsam vorgehen und unbedingt das Positive betonen musste, auch wenn es in einer solchen Lage kaum etwas Positives zu sagen gab. Aber für den Kranken machte so eine Ermutigung einen riesigen Unterschied.

So unterschiedlich seine Patienten auch waren, aufgrund jahrelanger Erfahrung wusste Pierre Henri, wie er mit jedem Einzelnen zu sprechen hatte.

Selbstverständlich gab es auch Ausnahmen. Und dieser Mann ist eine davon, dachte er, als er sich wieder auf seinen Stuhl sinken ließ.

Der finstere Blick seines Gegenübers hielt seinen fest, und Pierre merkte, wie er nervös wurde. Er war ein angesehener Arzt und ließ sich normalerweise nicht verunsichern. Doch nun, als ihn der Kronprinz von Zantara mit unergründlichem Blick aus silbergesprenkelten Augen ansah, schien es, als hätten Arzt und Patient die Rollen vertauscht.

Obwohl Rafik Al Kamil gerade eben die schlimmste Diagnose überhaupt erfahren hatte, war er derjenige, der das Heft in der Hand hatte.

Pierre wusste, dass es sinnlos war, zu versuchen, sich in seinen Patienten hineinzuversetzen. Dieser Mann war undurchschaubar – und zudem ein Einzelgänger. Keine dieser Eigenschaften war in seiner Macht und seinem Reichtum begründet. Obwohl die königliche Familie von Zantara in dieser Hinsicht Pierres oftmals begüterte und einflussreiche Patienten bei Weitem übertraf.

Pierre war ratlos. Erschütterung, Nicht-wahrhaben-Wollen und Wut – die Reaktionen waren so unterschiedlich wie die Patienten. Alles das hatte er immer wieder erlebt. Aber in seiner ganzen beruflichen Laufbahn war ihm noch nie jemand untergekommen, der überhaupt nicht reagierte.

Wie war es möglich, jemandem zu helfen, der den Eindruck machte, als benötige er keine Unterstützung?

Oft wirkte es Wunder, jemanden zur rechten Zeit freundschaftlich an der Schulter zu tätscheln, aber in diesem Fall wäre diese Geste unangemessen gewesen. Sie konnte als Respektlosigkeit verstanden werden und wäre möglicherweise sogar Hochverrat.

„Ich muss Sie also drängen, Herr Doktor.“

Pierre zuckte zusammen und wurde rot.

Zum ersten Mal zeigte der Prinz eine Regung, und zwar Ungeduld. Diese Reaktion war einschüchternd. Das hier war keine Gleichgültigkeit, sondern …

Pierre schüttelte den Kopf, ihm fiel kein passendes Wort dafür ein. Er als Nichtbetroffener verspürte mehr Wut und Verbitterung, als dieser junge Mann zu empfinden schien. Nie hatte Pierre seinen Patienten solche niederschmetternden Diagnosen mitteilen können, ohne sich dabei schlecht zu fühlen. Noch schwerer traf es ihn, wenn die betroffene Person noch ihr ganzes Leben vor sich gehabt hätte, wenn der Patient in der Blüte seiner Jahre stand. Dann erschien es ihm weitaus tragischer und sinnloser.

Plötzlich kam dem Arzt in den Sinn, dass die Haltung des Prinzen vielleicht daher rührte, dass ihm nicht klar war, wie schlecht es um ihn stand. Er rückte seine Brille zurecht und sah den Anwärter auf den Thron von Zantara freundlich an. „Vielleicht habe ich mich undeutlich ausgedrückt, Prinz Rafik?“

„Ich muss zugeben, dass mir manche der medizinischen Fachausdrücke nicht geläufig sind.“

Das bezweifle ich, dachte der Franzose. Er ließ sich von der Äußerung nicht irreführen. Der intelligente Blick des jungen Prinzen war ihm von Anfang an aufgefallen. Und spätestens anhand der Fragen, die dieser ihm gestellt hatte, hatte er erkannt, dass sein Patient mit einem messerscharfen Verstand ausgestattet war.

„Bitte unterbrechen Sie mich, wenn ich mich irre“, begann Rafik und dachte dabei: Bitte unterbrechen Sie mich unbedingt. Lassen Sie das alles nur ein großes Missverständnis sein. „Ich habe eine seltene Erkrankung des Blutes, und zwar in einem so weit fortgeschrittenen Stadium, dass keine Hoffnung mehr auf Heilung besteht.“ Fragend hob er seine dunklen Brauen. „Gibt es sonst noch etwas, was ich wissen sollte?“

Pierre Henri räusperte sich. „Sie fragen sich sicherlich, warum es ausgerechnet Sie getroffen hat?“

Rafik stand auf, um seinen Hemdsaum in den Hosenbund zu stecken, und zuckte mit den Schultern. Er zögerte, bevor er antwortete.

Mit seinen zwei Metern erschien er dem sitzenden Pierre wie ein Riese. Breitschultrig, langbeinig und muskulös, wie er war, stach Rafik hervor, auch ohne sein makelloses Gesicht von klassischer männlicher Schönheit.

„Warum nicht ich?“ Warum sollte ausgerechnet er von den grausamen Launen des Schicksals ausgenommen sein? Es gab genügend Unschuldige, die ein wesentlich schlimmeres Los getroffen hatte, und er war nicht unschuldig. Aber er hatte noch eine Mission zu erledigen.

Wahrscheinlich dachte jeder in dieser Situation, dass er mehr Zeit brauchte. Aber bei Rafik war es wirklich so – er hatte keine Zeit zu verlieren.

„Da haben Sie natürlich recht. Eine sehr … gesunde Ansicht. Eine fabelhafte Haltung.“

„Also, wie viel Zeit bleibt mir noch?“

Der Arzt senkte den Kopf und blickte zu Boden. „Nun ja … das lässt sich nicht so genau sagen.“

Das bedeutete nichts Gutes. Rafik stellte sich auf das Schlimmste ein. „Und was würden Sie als Fachmann schätzen?“

„Wenn Sie wollen, können Sie eine zweite Meinung einholen.“

Viele Patienten, die mit einer so schrecklichen Diagnose konfrontiert wurden, taten das. Vor allem solche, deren finanzielle Mittel es zuließen, im Privatjet Ärzte aus Paris einfliegen zu lassen.

„Sind Sie nicht der Beste in Ihrem Fachgebiet?“

Rafik wusste, dass er eigentlich etwas hätte empfinden sollen … doch was? Hilflosigkeit, Wut, Resignation, nahm er an. Aber nach dem ersten Schreck in dem Moment, in dem er begriffen hatte, wie es um ihn stand, hatte er kaum etwas anderes empfunden als Eile. „Wie viel Zeit bleibt mir noch?“

„Das ist schwer einzuschätzen, aber ich würde sagen, sechs …“

Rafik bemerkte, wie unwohl dem Arzt zumute war, aber er hatte kein Mitleid mit ihm. Stattdessen steigerte sich seine Ungeduld. „Sechs – was? Tage? Wochen? Monate?“ In keinem dieser Fälle würde er genug Zeit haben, um seinen jüngeren Bruder auf die Rolle des Thronfolgers vorzubereiten.

„Sechs Monate.“

Nichts an der Haltung des jungen Mannes verriet, dass man ihm gerade eben sein Todesurteil verkündet hatte.

„Selbstverständlich verläuft die Krankheit nicht immer gleich. Und wenn Sie die Schmerztherapie, über die wir gesprochen haben …“

„Wird diese Therapie mich beeinträchtigen? Hat sie Einfluss auf mein Denkvermögen?“

Der Arzt bestätigte die Frage mit einem Kopfnicken. „Aber Sie könnten damit ein halbes Jahr an Zeit gewinnen.“

Rafik machte eine wegwerfende Handbewegung. „Kommt nicht infrage.“

„Ich kann Ihren Zustand wöchentlich überprüfen.“

„Wie Sie wünschen, Herr Doktor.“

„Es tut mir sehr leid, Hoheit.“

Auf diese Mitleidsbekundung reagierte der junge Mann mit einem kalten, verächtlichen Blick. „Das ist nett von Ihnen“, sagte er aufgesetzt lächelnd, bevor er sich entschuldigte und den Raum verließ.

Auf dem Gang konnte Rafik Al Kamil die Maske fallen lassen. All seine Gefühle drängten explosionsartig an die Oberfläche. Er stieß einen Fluch aus und schlug mit der Faust gegen die Wand.

Durch die halb geschlossenen Lider sah er noch immer das Mitleid im Gesicht des Franzosen. Mitleid! So etwas konnte und wollte er überhaupt nicht ertragen. Er schauderte bei dem Gedanken, den gleichen mitleidigen Gesichtsausdruck in den Gesichtern all derjenigen Menschen zu sehen, die ihm gegenübertraten.

Er biss die Zähne zusammen, und eiserne Entschlossenheit und Stolz kehrten in sein aristokratisch geschnittenes Gesicht zurück. Das würde nicht passieren. Geräuschvoll stieß er den Atem aus. Auf keinen Fall würde er Angstgefühle zulassen oder in Selbstmitleid verfallen. Er würde sterben, wie er gelebt hätte: nach seinen eigenen Regeln. Aber zunächst hatte er noch unglaublich viel zu erledigen.

Entschlossen ging er hinaus ins Freie.

Eine halbe Stunde später fand Rafik sich in den Stallungen wieder, ohne eine Ahnung zu haben, wie er dorthin gekommen war.

Hassan, der Stallbursche, der Rafik als Kind auf sein erstes Pferd gesetzt hatte, näherte sich ihm.

„Prinz Rafik“, begrüßte ihn der ältere Mann und neigte den Kopf. Er verhielt sich respektvoll, ohne unterwürfig zu sein.

„Hassan.“ Rafik lächelte freudlos.

„Wünschen Sie, dass ich Ihnen ein Pferd sattle?“

Rafik streckte eine Hand aus und berührte das ihm am nächsten stehende Pferd an der Flanke. „Warum nicht?“, antwortete er gleichgültig.

Durch die Wüste zu reiten war für ihn jedes Mal eine äußerst lebensbejahende Erfahrung gewesen. Und noch war er am Leben. In anstrengenden Zeiten fand er in der Wüste immer wieder zu sich selbst. Der Anblick und der Klang dieser alterslosen Landschaft machten seinen Kopf frei und halfen ihm, sich zu sammeln.

„Seine Laune ist nicht die beste“, warnte Hassan und sah dabei den Prinzen an. „Er ist unruhig und braucht Bewegung.“

Diese Information war überflüssig – der schwarze Hengst, der Rafik gebracht wurde, rollte mit den Augen und bäumte sich auf.

„Aber das gilt vielleicht auch für Sie …?“ Der ältere Mann brach ab, denn er hielt es für klüger, sich seine Sorge um den Prinzen nicht allzu direkt anmerken zu lassen.

Er hatte den Prinzen aufwachsen sehen. Aus dem lebhaften, munteren Jungen war ein starker, entschlossener und energischer Mann geworden.

Trotzdem war Prinz Rafik fähig, für jeden Menschen Mitgefühl aufzubringen, außer für sich selbst. Kurz gesagt – er war ein Mann, der all das verkörperte, was man von einem Staatsoberhaupt erwartete.

Manchmal, wenn der Prinz sich unbeobachtet glaubte, meinte Hassan, den kleinen Jungen von damals vor sich zu sehen, der früher die Ställe unsicher gemacht hatte. Den Jungen, dessen Verschwinden er bedauerte.

Jeder Mann braucht einen Platz, an dem er ganz er selbst sein kann, dachte Hassan. Es bekümmerte ihn, dass die Stallungen für den Prinzen das waren, was einer solchen Zufluchtsstätte am nächsten kam.

Lächelnd trat Rafik einen Schritt vor. „Da magst du recht haben.“ Er bedachte den Stallknecht mit einem freundlichen Blick. „Danke, Hassan. Ich werde mich nur schnell umziehen.“

„Es ist mir stets eine Freude, Ihnen zu Diensten zu sein, Prinz Rafik.“

Gabby hatte sich höflich ausgewiesen, aber ihr wäre auch kaum etwas anderes übrig geblieben. Zwei bärtige Männer in schwarzen, fließenden Gewändern hatten sich ihr in den Weg gestellt. Und zu großen, schwarz gekleideten Männern war Gabby grundsätzlich höflich – vor allem, wenn ihre Hände die juwelenbesetzten Griffe von Krummsäbeln umschlossen. Doch wahrscheinlich dienten diese barbarisch aussehenden Waffen nur zur Zierde – das hoffte sie zumindest.

Sie hatte ein großes Risiko und erhebliche Strapazen auf sich genommen, um hierher zu gelangen. Aber das war ihre letzte Hoffnung. Gabby gehörte zu den Menschen, bei denen das Glas halb voll war – und nicht halb leer. Allerdings war der ihr angeborene Optimismus in den letzten zwei Tagen auf eine harte Probe gestellt worden.

An der versteinerten Miene des größeren der beiden Männer ließ sich nicht ablesen, ob er auch nur ein Wort von dem verstand, was sie sagte. Darum erklärte sie es noch einmal langsam und untermalte ihre Worte mit beschreibenden Gesten. „Ich habe eine Verabredung“, log sie. „Ich habe mich verirrt. Der König erwartet mich.“

Wortlos musterte sie der Mann – sicher entging ihm nicht, wie abgerissen sie aussah. Gabby war überzeugt, dass ihr Schuld und Verzweiflung ins Gesicht geschrieben standen. Noch nie war sie gut darin gewesen, ihre Gefühle zu verbergen.

Sie hätte sich anders anziehen sollen. Dann wäre ihre Geschichte vielleicht glaubwürdig gewesen. Wahrscheinlich kam es eher selten vor, dass irgendwelche Leute in dreckigen Jeans und zerrissenen T-Shirts vom König zum Tee empfangen wurden.

„Auf dem Weg hierher hatte ich einen kleinen Unfall“, erzählte sie dem schweigenden Mann und fuhr sich durch das zerzauste Haar. Es war ohnehin schwer zu bändigen, aber ausgerechnet jetzt verlieh es ihr sicherlich das Aussehen einer typischen Wahnsinnigen in einem Film.

Als der Mann endlich wieder etwas sagte, wandte er sich nicht an Gabby, die er misstrauisch musterte, sondern an seinen gleich gekleideten Kollegen. Sie wechselten ein paar Worte auf Arabisch, dann nickte der zweite Mann dem ersten Mann nach einem ernsten Blick auf Gabby untertänig zu. Anschließend verschwand er durch eine Tür zu seiner Linken, die Gabby vorher nicht bemerkt hatte.

Sie lächelte. Es kam selten vor, dass ihr Lächeln nicht erwidert wurde, doch der Mann im schwarzen Gewand war anscheinend immun dagegen.

„Kinder und Tiere mögen mich.“

Der Mann reagierte nicht auf ihren schwachen Versuch.

Sie fand, dass er schlecht mit Menschen umgehen konnte. Vielleicht gehörte die Einsamkeit dazu, wenn man die königliche Familie von Zantara vor dem Kontakt mit dem gewöhnlichen Volk schützte. Ob sie wohl je von ihrem Elfenbeinturm herabstiegen?

Andererseits bestand durchaus die Möglichkeit, dass der Mann wusste, wer sie war. Und dass dies seine Art war, mit den Angehörigen von fast verurteilten Verbrechern umzugehen. Wobei das „fast“ laut dem Mann in der Botschaft nicht mehr als eine Formalität war.

„Ihr Bruder hat Drogen mit sich geführt, Miss Barton“, hatte er Gabby erinnert, als sie über das Rechtssystem in diesem verstaubten Land geschimpft hatte. „Außerdem ist Zantara nicht so verstaubt, wie Sie behaupten. Natürlich gibt es hier Wüstengebiete, aber die Bergkette im Osten …“ Er hatte Gabby angesehen und die Geografiestunde beendet, indem er rechtfertigend geschlossen hatte: „Fairerweise muss man allerdings auch sagen, dass es jedem Besucher des Landes bekannt ist, dass selbst der Besitz von kleinsten Mengen Drogen in diesem Land nicht geduldet wird. In den Reiserichtlinien, die die Regierung herausgibt …“

Gabby, die jetzt nichts über Fairness hören wollte, hatte ihn unterbrochen und ihm erklärt, dass sie nicht hergekommen war, um Reiserichtlinien zu lesen, sondern um ihren Bruder aus dem Gefängnis und zurück nach Hause zu holen. Dort würde sie ihn dann selbst zurechtstutzen.

„Mein Bruder ist kein Drogenschmuggler, sondern ein naiver Dummkopf“, sagte sie grimmig. Nur ein Volltrottel brachte ein Stofftier für ein fremdes Mädchen durch den Zoll, weil es ihn so unschuldig und hilflos angelächelt hatte.

Es war kaum verwunderlich, dass sie ihm seine Geschichte nicht abnahmen – sie kannten Paul nicht. Sein ganzes junges Erwachsenenleben lang hatte er sich von hübschen Mädchen zum Narren halten lassen. Trotzdem hatte er sich den kindlichen Glauben an das Gute im Menschen bewahrt – und vor allem an das Gute in hübschen Mädchen. Das Misstrauen überließ er seiner Schwester.

Natürlich war das hübsche Mädchen spurlos verschwunden, und Gabbys Bruder saß im Gefängnis. Und dort würde er ziemlich lange bleiben müssen, wenn Gabby nicht irgendein Wunder zustande brachte. Dass ihr dies gelingen würde, war ebenso unwahrscheinlich wie ein Lächeln von diesem Wachtposten.

Sie fühlte Verzweiflung in sich aufsteigen und atmete tief durch, bevor sie umso strahlender lächelte. Nur nicht den Mut verlieren, redete sie sich ein. Wenn sie Paul helfen wollte, durfte sie jetzt nicht aufgeben. Vor allem, nachdem sie schon so viel weitergekommen war, als die düsteren Voraussagen des Mannes von der Botschaft hätten hoffen lassen.

Der Diplomat hatte gelacht, als sie ihm ihren unausgereiften Plan erläutert hatte. Schlimmer noch, er hatte ihr herablassend den Kopf getätschelt und gesagt, sie müsse realistisch sein. Es sei ausgeschlossen, dass sie Zutritt zum königlichen Palast bekäme. Was eine Audienz beim König beträfe, sagte er, dass ihm selbst diese Ehre bislang nicht zuteilgeworden wäre, obwohl er bereits seit einem Jahr hier sei.

Gabby hatte ihn gefragt, ob ihm denn etwas Besseres einfiele.

Als er dann daraufhin begann, von Takt und Diplomatie zu sprechen, hörte sie ihm schon gar nicht mehr zu. Sie hatte beschlossen, den Palast aufzusuchen, und wenn sie dabei umkommen würde.

Es hatte sie nicht das Leben gekostet – wenngleich sie auch einige blaue Flecken davongetragen hatte. Sie hatte es geschafft. Mit den von Gold und Lapislazuli glänzenden Minaretten vor dem strahlend blauen Himmel sah der Palast aus wie eine Abbildung in einem Märchenbuch. Unter anderen Umständen hätte der Anblick Gabby verzaubert, aber jetzt hatte sie keine Zeit, sich verzaubern zu lassen. Sie hatte etwas zu erledigen.

Der erste Teil des Unmöglichen war geschafft. Der nächste Schritt wäre, zum König zu gelangen. Denn wenn man etwas erreichen wollte, durfte man sich nicht mit den kleinen Leuten herumschlagen, sondern musste gleich direkt zur Chefetage gehen, wie Gabbys Vater immer zu sagen pflegte.

Und wer sollte in einem ölreichen Wüstenstaat über dem König stehen? An ihn würde sie sich mit dem Fall ihres Bruders wenden.

Dass sie den zwei Wachmännern in die Arme laufen musste, war Pech, aber kein allzu großer Rückschlag.

Mit Rücksicht auf ihre schmerzenden Gesichtsmuskeln hörte sie auf zu lächeln. Gerade fragte sie sich, ob es vielleicht besser wäre, sich dumm zu stellen, als ein weiterer schwarz gekleideter Mann mit versteinerter Miene erschien – erfreulicherweise ohne einen Krummsäbel.

Der Mann betrachtete Gabby von oben bis unten. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er sie für harmlos hielt. In perfektem Englisch verkündete er, dass er sie nach draußen begleiten würde.

„Ich habe eine Verabredung mit dem König!“ Je öfter ich es wiederhole, desto weniger überzeugend klingt es, dachte Gabby.

„Das ist mir bereits gesagt worden. Aber anscheinend liegt hier ein Irrtum vor – ich werde das umgehend überprüfen. Für heute hat der König keine Termine. Bitte entschuldigen Sie vielmals die Unannehmlichkeiten, Miss …?“

„… Barton.“

„Miss Barton. Ich muss Sie leider bitten, zu gehen und einen neuen Termin auszumachen.“

Er war zwar äußerst höflich, aber ohne Zweifel war trotz seines tadellosen Benehmens nicht mit ihm zu spaßen. Ein gewinnendes Lächeln würde bei ihm nichts bewirken.

„Das ist ein guter Vorschlag. So werde ich es machen.“

„Eine weise Entscheidung.“

Gabby, nicht gerade für ihre Fähigkeit berühmt, ein Nein zu akzeptieren, gab sich kleinlaut. Sie plapperte dummes Zeug daher, auf das er nach wenigen Minuten nicht mehr antwortete, und wartete auf ihre Chance. Und dann hoffte sie, dass sie diese Chance nutzen könnte, sofern sie sich ihr bieten würde.

Die Chance kam tatsächlich.

Gerade hatten sie einen breiten Flur mit Mosaikfußboden betraten – sie hatten bereits mehrere solcher Flure durchquert –, als ihr Begleiter stehen blieb. Er wechselte ein paar Worte mit einem untersetzten Mann, der, anders als die meisten Menschen, denen Gabby hier begegnet war, nicht bis an die Zähne bewaffnet war. Als ihr Begleiter sich von Gabby entfernte, um auf den kleineren Mann zuzugehen, kam es ihm überhaupt nicht in den Sinn, dass sie seine höfliche Anweisung ignorieren könnte, hier bitte auf ihn zu warten.

Gabby setzte ein harmloses Lächeln auf und beobachtete ihn, bis er neben dem anderen Mann stand. Dann rannte sie los und lief, die Rufe und Geräusche, die ihr folgten, nicht beachtend, den Flur entlang, bis sie in einen schmaleren Gang abbog. Kaum, dass sie dies getan hatte, befand sie sich in einem Gewirr von engen Gängen. Das Klappern ihrer Schuhabsätze hallte in den leeren Fluren laut nach.

Sie rannte Gänge entlang und Treppen hinauf, bis sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Erschöpft hielt sie inne und ließ, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, ihren Oberkörper vornüberfallen, sodass ihr langes, honigblondes Haar den Boden berührte. Keuchend rang sie nach Luft.

Sie versuchte, nicht an die vielen bewaffneten Männer zu denken, die sie hier gesehen hatte. Hastig zog sie ihre Schuhe aus, steckte sie in die hinteren Taschen ihrer Jeans und lief weiter, jetzt etwas langsamer und vorsichtiger.

Die Korridore bildeten ein regelrechtes Labyrinth, das sich meilenweit zu erstrecken schien. Nur zweimal hatte sie in der letzten halben Stunde Schritte und laute Stimmen vernommen – vermutlich von dem Suchtrupp, den man sicher auf sie angesetzt hatte.

Als sie die Schritte und Stimmen zum dritten Mal hörte, klangen sie viel näher. Mit klopfendem Herzen drückte sie sich gegen eine Wand. Als ob man davon unsichtbar werden würde, dachte sie.

Ihr Vater, der immer sehr nachsichtig mit ihr gewesen war, hätte gesagt, dass sie unüberlegt gehandelt hatte. Eher leichtfertig und verantwortungslos, hätte ihre Mutter erwidert, und in diesem Fall hätte Gabby ihrer Mutter recht geben müssen.

Was hatte sie denn bisher erreicht – abgesehen davon, dass am Abend möglicherweise zwei Bartons hinter Schloss und Riegel saßen?

Gabby war wütend auf sich selbst. Ihr war klar gewesen, dass sie vorher mehr Informationen hätte sammeln müssen. Aber als sich ihr diese einmalige Gelegenheit geboten hatte – ein abgelenkter Fahrer und ein geöffneter Lieferwagen –, hatte sie nicht lange nachgedacht. Hätte sie mehr Zeit zum Planen gehabt, dann hätte sie jetzt womöglich eine ungefähre Vorstellung vom Grundriss des Palastes.

Als sie wieder Schritte hörte, schreckte sie auf. Instinktiv ging sie zu einer kleinen Wendeltreppe rechts von sich und erklomm sie hastig.

Oben stand Gabby in einer kleinen Halle. Vor ihr befand sich eine altertümliche Tür mit Metallbeschlägen. Als sie die Schritte näher kommen hörte, holte Gabby tief Atem und stemmte sich gegen die Tür. Erleichtert, dass sie nach innen aufging, trat sie in den Raum und schloss die Tür hinter sich. Dann drehte sie den großen Schlüssel im Schloss herum und schob mehrere schwere Riegel vor, bevor sie sich mit heftig klopfendem Herzen gegen die massive Holztür lehnte.

Nachdem sich ihr Herzschlag einigermaßen beruhigt hatte, sah sie sich in dem Raum um. Im Gegensatz zu den anderen Räumen, auf die sie im Vorbeilaufen einen Blick erhascht hatte, war dieses Zimmer recht zwanglos mit einer Mischung aus antiken und modernen Stücken eingerichtet.

Eine Wand war voller Bücher, von denen einige aufgeschlagen auf einem großen Intarsientisch lagen, und eine andere Wand war durch schwere, zugezogene Vorhänge verdeckt. Das Licht, welches an den Rändern hindurchfiel, ließ vermuten, dass sich hinter den Vorhängen ein Fenster verbarg.

Plötzlich versiegte der Adrenalinstoß, der sie bis hierher gebracht hatte. Den Rücken gegen das Holz gepresst, glitt Gabby langsam die Tür hinunter und ließ den Kopf auf die angewinkelten Knie sinken.

2. KAPITEL

Rafik stand auf dem Balkon und blickte über die leuchtenden, vergoldeten Türme und die darunterliegende Stadt. Über die palmengesäumten Alleen, die weißen, geometrischen Gebäude, die Ackerflächen, die man der Wüste abgerungen hatte. Und weiter bis zu der undeutlich in der Ferne erkennbaren Bergkette, die die östliche Grenze Zantaras bildete.

Unzählige Male schon hatte er diesen Ausblick genossen, doch nie zuvor hatte er dabei eine solche Bitterkeit empfunden.

Zantara hatte sich in den letzten Jahren so stark entwickelt, dass es kaum wiederzuerkennen war. Trotzdem gab es noch viel zu tun – und Rafik war immer ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass er derjenige sein würde, der tatkräftig handelte. Dass er das Land in das einundzwanzigste Jahrhundert führte, indem er auf dem schmalen Pfad zwischen Tradition und Fortschritt wandelte. Enttäuschung und ein Gefühl schmerzvollen Verlustes griffen wie eine kalte, eiserne Klaue nach seinem Herz.

Er schloss die Augen, und die Gefühle, die er die ganze Zeit zu unterdrücken versuchte, seitdem er die niederschmetternde Diagnose erhalten hatte, drängten mit Macht an die Oberfläche.

Dann straffte er sich, biss die Zähne zusammen und fuhr sich durch das dunkle Haar. Er konnte sich nicht erlauben, emotional zu reagieren. Jetzt musste er sich konzentrieren. Er hatte viel zu tun, und dafür blieb ihm wenig Zeit.

Seine Funktion und sein Titel würden auf seinen Bruder übergehen. Und sosehr er den jüngeren Bruder liebte, wusste er doch, dass Hakim für diese Position völlig ungeeignet war.

Zantara war sehr reich an natürlichen Ressourcen. Das Land verfügte nicht nur über große Erdölreserven, sondern auch über weitere unerschlossene Bodenschätze. Vernünftig verwaltet, garantierten diese Ressourcen der Bevölkerung Zantaras jahrzehntelangen Wohlstand. Doch die Zustimmung der Funktionäre zu den langfristigen Zielen, die Rafik und sein Vater verfolgten, war allzu häufig nichts weiter als ein bloßes Lippenbekenntnis.

Reformen wurden begrüßt und beklatscht, aber im Zweifelsfall war vielen der Menschen in entscheidenden Positionen der persönliche Gewinn wichtiger als Ideale und Moral.

Als Thronfolger wurde Rafik seit Jahren von einflussreichen Familien umgarnt, die sich nichts sehnlicher wünschten als die Heirat des Prinzen mit einer ihrer Angehörigen. So würden sie – das hofften sie zumindest – uneingeschränkten Zugriff auf den Thron haben.

Zantara wurde von den Nachbarländern um seine politische Stabilität beneidet, doch Rafik wusste, wie schnell sich die Dinge ändern konnten, und wie wenig es bedurfte, um die zerbrechliche Harmonie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Bereits die Mutmaßung, dass eine der mächtigen Familien des Landes bevorzugt wurde, konnte alles ins Wanken bringen.

Rafik, der nicht vorhatte, eine solche Situation entstehen zu lassen, fühlte sich durch derartige politische Manöver nicht bedroht, sie belustigten ihn eher.

Aber Hakim wollte allen gefallen, und er war leicht zu beeinflussen. Gerade das machte ihn einerseits sehr sympathisch, aber andererseits auch zu einer leichten Beute für jene berechnenden Menschen, die auf ihre Chance bei Hof lauerten.

Wenn Hakim Thronfolger wäre, würde er das Ziel ihrer Belagerung sein. Wann es dann zur Katastrophe kommen würde, wäre nur eine Frage der Zeit.

Hakim braucht jemanden, der ihn führt, einen Menschen mit Rückgrat, dachte Rafik. Jemanden, der ihm die Kraft für schwere Entscheidungen gibt und die Schmeichler und Betrüger durchschaut.

Plötzlich fiel ihm die Lösung ein. Sie war einfach und naheliegend. Sein Bruder brauchte eine Frau – eine, die gut für ihn war, natürlich –, die auf diese machtvolle Position vorbereitet wäre.

Rafik ging in Gedanken die Liste der möglichen Kandidatinnen durch, doch keine von ihnen kam infrage.

Missmutig runzelte er die Stirn. Diese Aufgabe erforderte eine ganz besondere Frau. Er rieb sich den Nacken, an dem noch Sand von seinem Ritt durch die Wüste hing.

Rafik hatte seine gesamte Reitkunst aufbringen müssen, um sich im Sattel zu halten. Der Araberhengst, der Stolz der Stallungen, hatte sich wohl von seiner Laune anstecken lassen und war durch die Wüste gejagt, als sei der Teufel hinter ihm her. Den wilden Galopp hatte er nur unterbrochen, um zu versuchen, seinen Reiter abzuwerfen.

Die einzige Kandidatin, die auch nur ansatzweise seine Anforderungen erfüllte, war …

Rafik konnte den Gedanken nicht zu Ende denken, da er in diesem Moment eine Stimme vernahm. Er hörte sie sehr deutlich und sie klang sehr weiblich.

„Und nun, Gabby? Was passiert jetzt?“

Entweder waren akustische Halluzinationen ein Symptom seiner Krankheit, das der Arzt zu erwähnen vergessen hatte, oder jemand hatte die Dreistigkeit besessen, in sein Privatgemach einzudringen. Das Turmzimmer war der Ort, wohin Rafik sich zurückzog, wenn die Bürde seiner Pflichten allzu schwer auf ihm lastete. Das spärlich möblierte Zimmer lag im hintersten Winkel des Palastes versteckt – hier konnte er wirklich für sich sein.

Verblüfft, dass jemand tatsächlich die Unverschämtheit besessen hatte, hier aufzutauchen, und neugierig auf die Besitzerin der sehr englisch klingenden Stimme schob Rafik den schweren Vorhang beiseite, der den Balkon von dem dahinterliegenden Raum trennte.

Als der große schwere Vorhang zur Seite geschoben wurde, hob Gabby den Kopf. Sonnenlicht durchflutete den Raum, und ein Balkon mit kunstvoll gearbeiteter Brüstung wurde sichtbar.

Gabby blickte weiter nach oben. Der Mann mit dem goldbraunen Teint war ziemlich groß. Und unglaublich attraktiv.

Er trug ein knielanges Gewand aus dünnem, weißem Stoff – dünn genug, um die dunkle Behaarung seines muskulösen Oberkörpers hindurchschimmern zu lassen, als eine Windbö den Stoff an seinen Körper drückte. Unter dem Gewand trug er Reiterhosen, die in staubbedeckten Stiefeln steckten.

Er hatte keine Kopfbedeckung, und das Sonnenlicht umkränzte heiligenscheinartig sein dunkles Haar, was irgendwie angemessen schien, denn dieser Mann hatte etwas von einem gefallenen Engel.

Die ausgeprägten Wangenknochen, das glatt rasierte, energische Kinn, die Adlernase, der beunruhigend sinnliche Mund sowie die großen, dunklen, silbergesprenkelten und von langen, geschwungenen Wimpern umgebenen Augen ließen Gabby ganz vergessen, wie und warum sie hergekommen war.

Kein Mann hatte das Recht, so gut auszusehen.

Mit hochgezogenen Brauen fragte er: „Gabby …?“

Seine Stimme war tief und sonor, und aus irgendeinem Grund richteten sich plötzlich Gabbys Nackenhaare auf. Wahrscheinlich war es die männliche Überheblichkeit, die in seiner Stimme mitschwang.

Beunruhigt rieb sie sich die kribbelnden Unterarme.

„Nein … ja …“ Gabby spürte, dass sie wie ein Schulmädchen errötete, und schloss den Mund. Sie wollte nicht wie ein vor sich hin stammelnder Dummkopf klingen. Unfähig, sich von seinem durchdringenden Blick zu lösen, sah sie ihm direkt ins Gesicht, und er betrachtete sie von Kopf bis Fuß.

Westlich gekleidete Frauen waren in Zantara nichts Ungewöhnliches, allerdings trugen sie kaum Jeans. Aber es kam sehr selten vor, dass man eine Frau mit blonden Haaren oder blauen Augen sah. Die vor ihm auf dem Boden sitzende Frau hatte beides.

Der erstaunte Blick, mit dem sie ihn aus den azurblauen Augen ansah, deutete darauf hin, dass sie über die Begegnung genauso überrascht war wie er. Anscheinend war dieses Zusammentreffen nicht eingefädelt.

Trotzdem konnte Rafik die Situation nicht recht einschätzen. In den letzten Jahren war er häufig verfolgt worden, und die Frauen, die es auf ihn abgesehen hatten, überraschten ihn immer wieder mit ihrem Einfallsreichtum und ihrer Gabe, sich zu verstellen.

Da Rafik absolut nicht eitel war, kam ihm gar nicht in den Sinn, dass seine Attraktivität der Grund dafür war, dass manche Frauen alles Mögliche taten, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Er nahm an, dass sein Titel und sein Reichtum die Frauen anzogen. An dem alten Sprichwort, dass Macht ein starkes Aphrodisiakum sei, war durchaus etwas Wahres.

In der Vergangenheit hatte er sich immer wieder gefragt, ob er jemals eine Frau finden würde, die ihn wollte, und nicht das, was er darstellte. Oder sogar trotz dessen, was er darstellte.

Über die reine Spekulation war er nie hinausgegangen, denn ihm war ohnehin klar, dass die Wahl seiner Braut keine romantische, sondern eine politische Entscheidung sein würde. Auch die Ehe seiner Eltern war so zustande gekommen, und bis auf den großen Altersunterschied war ihre Beziehung harmonisch. Sie respektierten einander, und keiner von beiden war mit falschen Erwartungen in die Ehe gegangen.

Zwei Söhne waren aus der Verbindung entstanden, die die negativen politischen Auswirkungen der ersten Heirat seines Vaters aus der Welt schafften. Jene Hochzeit war eine Liebesheirat gewesen. Das an sich war nicht das Problem, sondern der Umstand, dass König Zafirs erste Frau ihm keinen Thronfolger gebären konnte.

Weil der König sich nachdrücklich geweigert hatte, die Liebe seines Lebens zu verlassen, geriet die seit Generationen andauernde Herrschaft des Königshauses ernsthaft in Gefahr. Schließlich wurde die Königin doch noch unerwartet schwanger, aber die Freude darüber war nur von kurzer Dauer. Königin Sadira hatte eine Frühgeburt und starb an den Komplikationen bei der Niederkunft. Das Kind – ein Junge – überlebte sie gerade mal um eine Woche.

Jedenfalls wurde Rafiks Vater fast verrückt vor Kummer, und ohne seine starke Hand, die das Land führte und zusammenhielt, spaltete sich die Bevölkerung in zwei verfeindete Lager auf. Es entstanden ernsthafte politische Unruhen.

Rafik konnte sich seinen Vater, wie er heute war, kaum als einen liebestrunkenen Mann vorstellen, dem die Liebe wichtiger als seine Verpflichtungen war. Noch unvorstellbarer war jedoch für ihn, den Fehler seines Vaters zu wiederholen.

Jetzt hatte dieses Thema ohnehin keine Bedeutung mehr für ihn. Für ihn würde es keine Hochzeit, keine Ehe und keine Zukunft geben.

Hier brach er den Gedanken ab, um nicht in einen Sumpf aus Selbstmitleid und Resignation zu versinken. Er fuhr sich durchs Haar und zog widerwillig die Brauen zusammen. Bei sich selbst verabscheute er Selbstmitleid noch mehr als bei anderen Menschen, denn das war ein Zeichen von Schwäche, die er sich nicht gestattete.

Jetzt war es sinnvoller, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu konzentrieren. Zum Beispiel auf diese blonde Frau, deren leuchtend blaue Augen noch immer auf ihn gerichtet waren.

Mit diesen Augen und dem langen, gewellten, hellblonden Haar würde sie aus jeder Menschenmenge hervorstechen. Ihr lebhaftes Gesicht erinnerte ihn an ein Gemälde von Tizian, vom Hals abwärts jedoch war sie eher ein Degas. Ihr schlanker, biegsamer Körper hätte einer der von dem Maler porträtierten Balletttänzerinnen gehören können.

Ihr hübsches Gesicht war dreckverschmiert, und die dunklen Schatten unter den Augen ließen sie erschöpft aussehen. Sie wirkte zierlich und zerbrechlich und gehörte zu den Frauen, die in vielen Männern Beschützerinstinkte weckten.

Rafiks prüfender Blick wanderte von ihrem trotzig vorgereckten Kinn über ihre störrischen, misstrauischen Augen hin zu ihrer schmollend vorgeschobenen Unterlippe.

Schließlich begann sie sich aufzurichten.

Rafik bemerkte, dass sie zitternd die Hand ausstreckte, um sich an etwas festzuhalten, und wollte ihr aufhelfen.

Sie bedachte seine ausgestreckte Hand mit einem Blick, als handelte es sich um eine giftige Schlange, ignorierte sie und versuchte weiter, auf die Beine zu kommen.

Rafik zuckte mit den Schultern und zog die Hand zurück. Er machte keine weiteren Anstalten, ihr zu helfen, obwohl sie so schwach und zittrig aussah wie ein neugeborenes Kätzchen.

Er mochte unabhängige Frauen – aber nur, wenn sie ihre Selbstständigkeit nicht betont zur Schau stellten.

Gretchen, mit der er ein Jahr zusammen gewesen war, bevor sie sich im Mai im gegenseitigen Einverständnis getrennt hatten, war eine sehr unabhängige Frau gewesen. Sie konnte die kleinen Aufmerksamkeiten eines Mannes annehmen, ohne dadurch um ihre Eigenständigkeit zu fürchten.

Gretchen war Scheidungsanwältin in Paris. Vor ihr war Rafik mit Cynthia, einer Modedesignerin aus Mailand, zusammen gewesen. Es waren Fernbeziehungen gewesen, mit Frauen, die das Gleiche gewollt hatten wie er: Sex. Keinen gelegentlichen, anonymen Sex, aber immerhin bedingungslosen Sex. Ohne große Gefühle und gegenseitige Ansprüche.

Rafik hatte nie verstanden, warum manche Menschen glaubten, dass eine große räumliche Entfernung eine Beziehung belastete. Für ihn war ein solches Verhältnis ideal, denn auf diese Weise konnte er sein Privatleben leicht von seinem öffentlich wahrnehmbaren Leben trennen.

So stand er nie unter Zeitdruck, wenn er seinen Pflichten nachkam, es gab keine kräftezehrenden Dramen und nichts, was ihn ablenkte – nur für beide Seiten befriedigenden Sex.

Eigentlich wusste er nicht mal genau, warum er und Gretchen sich getrennt hatten. Sie entsprach seiner Idealvorstellung von einer Frau, war zwar ein bisschen egozentrisch, aber das hatte auch seine Vorteile. Und sie plauderte nicht.

Gretchen hatte sich nicht verändert – warum also war ihr Verhältnis langweilig und unbefriedigend geworden?

Nie hatte es mehr als eine Frau gleichzeitig in seinem Leben gegeben, aber eine gab es eigentlich immer. Sex war Rafik sehr wichtig – oder, besser gesagt, war ihm sehr wichtig gewesen. Die derzeitige Durststrecke in seinem Liebesleben hatte er auf eine gewisse Übersättigung geschoben.

Doch jetzt musste er zum ersten Mal in Betracht ziehen, dass sein mangelndes sexuelles Interesse in letzter Zeit ein weiteres heimtückisches Symptom der Krankheit war, die ihn um seine Zukunft brachte. Und um die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob er ein emotionales Drama wollte, das er immer zu vermeiden gesucht hatte.

Er sah auf den Mund der blonden jungen Frau und spürte, wie die Lust sich in ihm zu regen begann. Vielleicht liegt es doch nicht an der Krankheit, dachte er.

Frauen, die ihre Weiblichkeit als eine Last empfanden, hatten ihn nie gereizt. Er war sich sicher, dass diese Frau es als Beleidigung empfand, wenn ein Mann ihr die Tür aufhielt. Sie wirkte widerborstig und aggressiv mit ihrem rosigen Schmollmund, diesen Lippen, an denen sein Blick nun schon länger haftete, als es höflich gewesen wäre.

Kurz: Sie war nicht sein Typ. Weder äußerlich – noch in anderer Hinsicht.

Es würde kein Problem sein, sie aus seinen Räumen entfernen zu lassen, aber seine Neugierde war zu groß. Wie war die blauäugige Blonde hierhergekommen?

Rafik hatte eigentlich Wichtigeres zu tun, aber diese Frau beschäftigte ihn. Vielleicht, weil sie eine willkommene Ablenkung war.

Er suchte nach einem möglichen Grund für ihre Anwesenheit, doch es fiel ihm einfach keine plausible Erklärung ein. Sicher, neuerdings kamen mehr Touristen nach Zantara, aber seines Wissens gab es bislang keine Besichtigungen des Palastes. Sein Vater war zwar in vielerlei Hinsicht offen für Neuerungen, aber allein der Gedanke an fotografierende Touristengruppen, die durch die Privatgemächer des Königs von Zantara geführt wurden, ließ Rafiks Mundwinkel belustigt zucken.

Gabby fühlte sich durch seine eingehende Musterung verunsichert. Jetzt verstand sie, was mit dem Ausdruck „einen Blick spüren“ gemeint war. Unwillig stützte sie den Ellenbogen auf eine an der Wand lehnende Truhe. Es war wirklich anstrengend, auf der Flucht zu sein!

Dass sie seine Hilfe zurückgewiesen hatte, lag aber nicht nur daran, dass sie ihre Verletzlichkeit nicht zeigen wollte. Sie wusste nicht, warum, aber allein der Gedanke daran, dass diese langen, braunen Finger sie berührten …

Verwirrt runzelte sie die Stirn und schüttelte den Kopf.

Der Klang seiner dunklen Stimme ließ sie aufschrecken.

„Geht es Ihnen gut?“

Sie legte den Kopf schief. Der Mann machte nicht den Eindruck, als würde es ihn besonders beunruhigen, wenn sie antwortete: „Nein, es geht mir überhaupt nicht gut.“ Er schien nicht gerade das Mitgefühl in Person zu sein. Unter seiner kühlen Oberfläche vermutete sie einen leicht entflammbaren und explosiven Charakter, wenn sie seinen finsteren Blick richtig deutete.

Manche Frauen mochten solche Männer, aber sie hatte sich nie von gefährlich wirkenden oder grüblerischen, launischen Männern angezogen gefühlt. Wahrscheinlich übt er diesen Gesichtsausdruck vor dem Spiegel, dachte sie zynisch.

Gabby griff nach einer Haarsträhne, die ihr im Gesicht hing, warf sie über die Schulter und strich einzelne verirrte Haare zurück, die an ihren noch erhitzten Wangen klebten.

„Es geht mir gut“, log sie. Sie versuchte, ihr zerknittertes und zerrissenes Hemd glatt zu ziehen, ohne den Blick von ihm zu wenden.

Sie hatte Schwierigkeiten, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr der Mann sie allein durch seine körperliche Präsenz verunsicherte. Unwillkürlich wanderte ihr Blick zu seinen Zehen, um dann wieder zu seinem Gesicht zurückzukehren. Ein leichter Schauer durchlief sie. Dieser Mann hatte eine unglaubliche Aura. So etwas – oder, besser gesagt, so einen Mann – hatte sie noch nie erlebt.

„Ich habe nur einen Schreck bekommen. Schließlich wusste ich nicht, dass irgendjemand hier ist.“ Nicht, dass man ihn als „irgendjemand“ hätte bezeichnen können. Dieser Mann war „jemand“, so viel stand fest. Sie atmete seinen frischen Duft ein und spürte ein Kribbeln in der Magengegend.

Seine Selbstsicherheit, so schien es ihr, war die eines Mannes, der in seinem gesamten Leben noch nie ein Nein von einer Frau gehört hatte. Er war ein Leitwolf, der vor Sex-Appeal nur so strotzte. Ein Mann, bei dem Frauen nicht anders konnten, als Ja zu sagen und sich Kinder von ihm zu wünschen. In Anbetracht seiner Erbanlagen, dachte sie mit einem unhörbaren Seufzer, würden diese Kinder sehr hübsch sein.

Und bislang hatte dieser umwerfende Mann noch nicht die Tür geöffnet, um sie wegzuschicken.

Vielleicht gehört er selbst nicht hierher, spekulierte sie hoffnungsvoll.

Das wäre ein Gedanke, mit dem sie sich anfreunden konnte. Und nach den vergangenen achtundvierzig Stunden brauchte sie dringend eine Pause.

Konnte es sein, dass er jemand von der Dienerschaft war und … dass er hier ebenso wenig angetroffen werden wollte wie sie? Auf alle Fälle hatte vor ihm sicher noch nie jemand mit staubbedeckten Stiefeln den Raum betreten. Also war es immerhin möglich, dass auch er sich unbefugt Zutritt verschafft hatte. War sie vielleicht in ein geheimes Treffen hineingeplatzt?

Noch bevor Gabby sich eine Ausrede für ihr Eindringen einfallen lassen konnte, hörte sie einen lauten Schlag gegen die Tür hinter sich. Sie wandte sich um, starrte angstvoll zur Tür und wich zurück.

„Miss Barton, wenn Sie nicht auf der Stelle öffnen, sehe ich mich gezwungen, die Tür aufzubrechen.“

Nach einer Ausrede musste sie nun zumindest nicht mehr suchen.

Beunruhigt fragte sie sich, wie der große Fremde reagieren würde, nun, wo er wusste, dass man hinter ihr her war. Sie drehte sich zu ihm um, doch sie wurde auch nicht schlauer als zuvor. Er hatte ein Pokerface und ließ sich nichts anmerken. Was für ein Gesicht … Sie blickte an ihm hinunter. Und was für ein Körper.

Alles an ihm war unglaublich attraktiv und faszinierend.

Trotz des ungewöhnlich aufgeregten Tonfalls erkannte Rafik die Stimme Rashids. Dieser war ein älteres Mitglied der Leibgarde seines Vaters und normalerweise nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen.

Rafik drehte seinen Kopf im rechten Moment, um Verzweiflung und Angst in den weit aufgerissenen Augen der Blondine aufblitzen zu sehen.

Es dauerte nur ein paar Sekunden, dann fasste sie sich, straffte die Schultern, reckte das Kinn vor und nahm eine herausfordernde Haltung ein.

„Tatsächlich? Wie viele Männer haben Sie denn zur Verstärkung mitgebracht?“, murmelte sie. Die Tür machte auf sie einen ziemlich massiven Eindruck. Stabil genug, um einem Erdbeben standzuhalten. Gabby saß zwar in der Falle, aber zunächst einmal war sie in Sicherheit, sofern sie von dem Fremden neben ihr absah. Auch wenn er eine Augenweide war, hätte sie gern auf seine Anwesenheit verzichtet.

„Wer sind Sie?“

Mit vor Konzentration angespannter Miene starrte Gabby auf die Tür. Deshalb sah sie den ungläubigen Blick nicht, der sich auf Rafiks Gesicht ausbreitete, als sie ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung zurechtwies. „Nicht jetzt, bitte! Ich versuche nachzudenken“, sagte sie unwirsch.

Sicher gab es Zeiten, zu denen es angenehm gewesen wäre, gemeinsam mit einem Mann mit einer solchen erotischen Ausstrahlung in der Falle zu sitzen, aber jetzt passte es ihr gerade nicht besonders gut. Abgesehen davon hatte sie noch nie viel für Männer übrig gehabt, die solch offensichtliches Machogehabe an den Tag legten.

Sie fühlte sich eher zu den intellektuellen Typen hingezogen, zu Männern, die keine Angst hatten, ihre Gefühle und ihre Verletzlichkeit zu zeigen. Leider gab es solche Männer nicht gerade wie Sand am Meer. Manchmal war Gabby sich nicht einmal sicher, ob sie nicht nur in Büchern, Filmen und in ihrer Fantasiewelt existierten.

Rafik war es gewohnt, von jedem Menschen, der mit ihm zu tun hatte, eine gewisse Hochachtung entgegengebracht zu bekommen. Seit seiner Kindheit war er nicht so respektlos behandelt worden, und selbst damals war der einzige Mensch, der sich das erlauben konnte, seine Mutter gewesen. Es kam ihm seltsam vor, aber das unverschämte Auftreten dieser Frau machte ihn noch neugieriger, was es mit ihr auf sich hatte.

Warum lädst du sie nicht einfach zum Essen ein? Zeit genug hast du ja …

Er runzelte die Stirn über seine spöttische innere Stimme und richtete seinen Blick auf die gepflegten Fingerspitzen, mit denen sie sich die Stupsnase rieb. Eine solche Frau war ihm in seinem zweiunddreißigjährigen Leben noch nicht begegnet. Und damit meinte er nicht ihre Kleidung – obwohl es schon erstaunlich war, dass sie es schaffte, in einem derartigen Aufzug trotzdem so weiblich auszusehen.

Er beobachtete, wie sie die Hand hob und sich über das Gesicht fuhr. Ihr Haar war golden wie Honig mit helleren Nuancen und fiel ihr seidig glänzend über die Schultern.

Als er sie von Kopf bis Fuß musterte, stellte er fest, dass seine Neugierde nicht das Einzige war, was diese Frau erweckt hatte. Ein gewisses Ziehen in der Leistengegend konnte er nicht länger leugnen. Er mochte zwar todkrank sein, aber seine Libido war davon offensichtlich nicht betroffen.

Gabby hörte ihn lachen. Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn empört an. „Finden Sie das etwa komisch?“

„Ich finde es erstaunlich, dass ich lache“, sagte er, und dachte: Ganz zu schweigen davon, dass ich plötzlich Lust auf eine Frau habe – auf diese Frau.

Verwirrt von der unverständlichen Antwort, warf Gabby ihm einen grimmigen Blick zu.

„Wer sind Sie, Gabby Barton?“, wollte er wissen.

Sie zog die Augenbrauen zusammen. Sein durchdringender Blick machte sie nervös. „Ich bin keine Diebin, falls Sie das denken. Ich bin nicht gekommen, um das Familiensilber mitzunehmen.“

„Das glaube ich Ihnen“, antwortete er. „Aber Sie haben sicherlich einen Grund. Warum sind Sie hier?“

Plötzlich hatte Gabby das Bedürfnis, diesem wildfremden Mann ihr Herz auszuschütten und ihm die ganze verworrene Geschichte zu erzählen. Entsetzt darüber, dass sie kurz davor war, schwach zu werden, eine hilflose Frau, die sich an der Schulter eines großen, starken Mannes ausweinte, schloss sie den Mund und schüttelte den Kopf.

Falls das Problem nur mit roher Gewalt zu lösen wäre, konnte es natürlich von Vorteil sein, ihn als Mitstreiter zu gewinnen. Aber sie gehörte nicht zu den Menschen, die ihre Probleme bei anderen abluden. Und schon gar nicht bei Fremden.

3. KAPITEL

Rafik beobachtete, wie sie den Blick senkte, bis ihre langen Wimpern fast die verschmierten Wangen berührten. Sie sagte nichts.

„Sie sind eine geheimnisvolle Frau …“

„Nein, nicht geheimnisvoll“, erwiderte sie und schüttelte erneut den Kopf.

„Wie sind Sie in den Palast gekommen?“

„Woher wollen Sie wissen, dass ich nicht eingeladen war?“

Er blickte zur Tür und hob spöttisch eine Augenbraue.

Gabby hob die schmalen Schultern. „Zugegeben, ich war nicht eingeladen“, gestand sie. „Ich habe mich gewissermaßen eingeschlichen.“

Rafik sah sie fragend an. „Eingeschlichen?“ Er schüttelte energisch den Kopf. „Unmöglich. Das kann nicht sein.“ Die Ungläubigkeit schien seine Stimme noch tiefer und rauer werden zu lassen, und es überlief Gabby heiß und kalt, als er wiederholte: „Eingeschlichen? An den Wachen vorbei?“

„Ja. Im Laderaum eines Lieferwagens.“ Es war eine der Situationen gewesen, in denen man blitzschnell handelte und nicht über die Folgen nachdachte. Dazu hatte man später noch genug Zeit, zum Beispiel, wenn man in einem Zimmer in der Falle saß und bewaffnete Männer vor der Tür standen. Nicht, dass Gabby ihr Handeln auch nur eine Sekunde bereute. Hätte sie es nicht zumindest versucht, hätte sie sich das nie verziehen.

Rafik dachte an die jährlichen Ausgaben, die zur Sicherung des Palastes aufgebracht wurden, und biss die Zähne zusammen, weil ihm schon wieder unerwartet zum Lachen zumute war. Diese junge Frau war nicht nur ungewöhnlich, sondern auch einzigartig – allerdings hatte er die Möglichkeit, dass sie verrückt war, noch nicht ganz ausgeschlossen.

„Als er langsamer geworden ist, bin ich … bin ich rausgesprungen.“

Rafik hob die Brauen. „Der Lastwagen ist noch gefahren?“ Er versuchte sich vorzustellen, wie eine Frau aus seinem Bekanntenkreis aus einem fahrenden Wagen sprang, aber es gelang ihm nicht.

Widerwillig empfand er Bewunderung für Gabby. Wer immer sie auch sein mochte, sie war mutig – oder, besser gesagt, waghalsig. Und dieser Tag hatte Rafik gelehrt, dass Waghalsigkeit das letzte Mittel sein konnte, wenn alles andere schiefging.

„Der Lastwagen war nicht mehr besonders schnell.“ Sie hob eine Hand zur Schulter. Unter dem kurzen Ärmel ihres Hemdes kamen Schrammen und ein blauer Fleck zum Vorschein.

Besorgt runzelte er die Stirn, als er Blutflecken auf dem Baumwollstoff bemerkte. „Sind Sie verletzt?“

Er wartete nicht darauf, dass sie seine Frage verneinte. Entsetzt beobachtete Gabby, wie er mit entschlossenen Schritten zur Tür ging.

Er würde die Wache hereinlassen!

Ohne nachzudenken, warf sie sich zwischen ihn und die Tür. In nackter Panik griff sie nach seinem Arm.

Ihre Blicke trafen sich, und es folgte eine lange, nervenaufreibende Stille. Gabby nahm nichts anderes mehr wahr als seine hypnotischen, dunklen Augen und das wilde Klopfen ihres Herzens, das laut in ihren Ohren widerhallte.

Es war Rafik, der sich als Erster wieder rührte. Während er lange und hörbar ausatmete, wanderte sein Blick von ihren weit aufgerissenen, flehentlich dreinblickenden Augen zu ihrer kleinen, blassen Hand auf seinem Arm.

Gabby verfolgte seinen Blick und sah auch seine Verwunderung, die für sie unerklärlich war, aber sie ließ den Mann nicht los. Im Gegenteil, sie umfasste seinen muskulösen Arm noch fester. Vor lauter Panik ging ihr Atem stoßweise. Mit heiserer Stimme flehte sie ihn an: „Bitte lassen Sie die Wachen nicht rein.“

Rafik ließ seinen Blick über die weichen Konturen ihres Gesichtes gleiten. Ihre vollen Lippen zitterten. Durch den Schmutz in ihrem Gesicht schimmerten Sommersprossen auf ihrer Nase. Ihre blauen Augen funkelten geradezu fanatisch vor Verzweiflung. Er schüttelte den Kopf. „Ich muss. Sie brauchen einen Arzt.“

Langsam, fast widerwillig nahm Gabby die Hand von seinem Arm. Als sie sich schließlich losgerissen hatte, rieb sie sich gedankenverloren den Oberschenkel. „Nicht nötig“, sagte sie. „Mir fehlt nichts.“ Wie zum Beweis vergrößerte sie einen Riss im Hemd so weit, dass ihre Schulter und der Rand eines großen blauen Flecks sichtbar wurden. „Das ist nur ein blauer Fleck. Ich merke überhaupt nichts“, versicherte sie ihm.

Aber dann spürte sie, wie der Mann mit dem Zeigefinger vorsichtig über ihre Schulter strich. Und die Reaktion, die diese hauchzarte Berührung in ihr auslöste, war unverhältnismäßig heftig. Sie meinte, jeden einzelnen Nerv im Körper zu spüren, und eine warme, schwere Trägheit ergriff Besitz von ihren Gliedern, die sie auf einmal nicht mehr unter Kontrolle hatte.

Nicht der leiseste Windhauch war im Raum zu spüren. Gabby dachte, dass es wie die Ruhe vor einem Sturm war, wo die Illusion von Sicherheit schon die Ahnung des herannahenden Orkans in sich barg.

Ihr Herz begann zu rasen, und in ihren Ohren hallte das Rauschen ihres Blutes laut wider. Die Luft knisterte förmlich vor Spannung.

Gabby bemühte sich, möglichst gleichgültig zu wirken und ruhig zu atmen, während er mit dem Finger sanft ihr Schlüsselbein entlangstrich. Unfähig, das heiße Kribbeln unter ihrer Haut und das Ziehen in ihrem Bauch länger zu ertragen, rückte sie von ihm ab.

„Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, dass es mir gut geht“, versetzte sie und blitzte ihn feindselig an. Ihre Blicke trafen sich und hielten einander stand. Gabby war wie hypnotisiert von dem fiebrigen Glühen, das vom Grund seiner dunklen Augen ausging.

Rafik sagte nichts. Er wartete darauf, dass sein in Wallung geratenes Blut sich beruhigte.

Was er empfunden hatte, als er ihre Haut berührt hatte, war absolut ungewöhnlich für ihn. Es musste eine Art verspätete Reaktion sein – er war sonst kein Mann, der sich von seinen Leidenschaften beherrschen ließ. Verständlicherweise würden viele Männer in seiner Situation versuchen, die bittere Wahrheit zu verdrängen. Sie würden trinken, zu schnell Auto fahren oder reiten wie der Teufel.

Und andere würden sich in die Arme einer begehrenswerten Frau fallen lassen …

Sein Blick streifte ihren schlanken, verführerischen Hals und wanderte dann zu ihrem sinnlichen, vollen Mund. Seine Brust hob sich, als er tief Atem schöpfte.

… in die Arme einer Frau wie dieser.

„Glauben Sie wirklich, dass die Männer vor der Tür verschwinden? Warum können Sie nicht einfach ganz heldenhaft aufgeben?“

„Ich wüsste nicht, was heldenhaft daran wäre aufzugeben“, sagte sie verächtlich.

Ihre Unfähigkeit, zuzugeben, dass sie verloren hatte, verunsicherte ihn. Und als er auch noch daran dachte, wie sehr sie ihn gerade eben als Frau gereizt hatte, und das nur wenige Minuten nachdem er von seinem Arzt praktisch das Todesurteil bekommen hatte, verwandelte sich seine Verunsicherung in Feindseligkeit. „Auch wenn Sie verdrängen wollen, dass Sie verloren haben, ändert das nichts an den Tatsachen!“

Eine ganz tolle Moralpredigt, sagte er sich. Wem hältst du sie eigentlich, ihr oder dir selbst, Rafik?

Gabby sah Rafik ärgerlich an. Hielt er sie für naiv und dumm? Glaubte er etwa, sie hätte keine Ahnung, wie aussichtslos die Situation für sie war? Dachte er, sie wüsste nicht, dass sie selbst sich in diese undankbare Lage gebracht hatte? Ihr Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. „Verloren? Das hier ist doch kein Spiel!“

„Sie zögern das Unvermeidliche hinaus.“

„Vielen Dank für Ihre weise Bemerkung“, gab sie zurück. „Falls Sie mir behilflich sein wollen, können Sie hinausgehen und sagen, dass ich nicht hier bin.“

„Warum sollte ich für Sie lügen?“

Gabby sah ihn finster an. „Vielleicht wissen die Wachen gar nichts davon, dass Sie hier sind.“

„Ich könnte mir vorstellen, dass sie schockiert sein werden, mich hier vorzufinden.“

Dieses Geständnis erfüllte Gabby mit Triumph. „Habe ich es mir doch gedacht! Sie haben hier genauso wenig verloren wie ich, stimmt’s?“

Er senkte den Kopf, und seine dichten, geschwungenen Wimpern verbargen ein belustigtes Glitzern in seinen Augen vor Gabby. „Niemand außer dem Kronprinzen darf diesen Raum betreten.“

„Wirklich?“, fragte Gabby erstaunt und sah sich interessiert um. „Ist das hier eine Art geheimer Schlupfwinkel?“

Verglichen mit anderen Bereichen des Schlosses, die sie gesehen hatte, war dieser Raum so spärlich ausgestattet wie eine Mönchszelle. Allerdings wie die Zelle eines sehr belesenen Mönchs mit einer Vorliebe für bequeme Sitzmöbel.

„Vielleicht braucht er manchmal ein Refugium, wenn ihm alles zu viel wird“, überlegte sie laut. „Auf jeden Fall mag er Bücher“, fügte sie hinzu und strich mit dem Finger über den Rücken eines dicken, ledergebundenen Buches, das auf dem Tisch lag. Sie las den Titel und hob anerkennend die Brauen. „Das ist nicht gerade eine leichte Lektüre. Also ist er nicht bloß schön.“

„Kennen Sie den Prinzen?“

Gabby lachte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ja, was glauben Sie denn?“ Sie verdrehte die Augen. „Wenn Sie es wirklich wissen wollen: Ich habe einen Artikel über ihn gelesen.“

„Einen kritischen Artikel?“

Gabby lachte. „Kritisch? Wohl kaum! Entweder ist Ihr Prinz Rafik direkt vom Olymp herabgestiegen, oder jemand hat den Journalisten bezahlt, damit er nur positiv über ihn schreibt. Vielleicht wurde auch Druck auf den Verfasser des Artikels ausgeübt – so wunderbar, wie der Prinz dargestellt wurde, kann er jedenfalls nicht sein. Mir ist schlecht geworden von der ganzen Lobhudelei …“

Sein sonderbarer Gesichtsausdruck erinnerte sie an die Warnung des Mannes in der Botschaft. „Die Menschen in diesem Land sind sehr empfindlich, was die königliche Familie betrifft. Achten Sie darauf, bloß nichts zu sagen, was als Beleidigung aufgefasst werden könnte.“

„Lobhudelei, sagten Sie?“, fragte Rafik zurück. „Den Artikel habe ich wohl nicht gelesen.“

Trotz seines unbeteiligten Tonfalls hatte Gabby den Eindruck, dass er weit davon entfernt war, sich beleidigt zu fühlen. Im Gegenteil, er schien eher belustigt zu sein. Der Mann in der Botschaft hatte anscheinend unrecht gehabt, und die Menschen in diesem Land hatten sehr wohl Sinn für Humor.

Er sah sie an. „Früher oder später werde ich diese Tür öffnen müssen.“

Gabby seufzte, kniff die Lippen zusammen und nickte. Solange ihr keine Flügel wuchsen, war die Tür der einzige Weg nach draußen. Und er hatte recht: Sie zögerte das Unvermeidliche nur hinaus. Außerdem würden die Männer vor der Tür ihr gegenüber bestimmt nicht freundlicher gestimmt sein, wenn Gabby sie noch länger warten ließ.

Freundlicher gestimmt – was dachte sie sich eigentlich? Wahrscheinlich würde man sie direkt in eine Zelle neben Paul stecken.

„Ich schlage vor, Sie bleiben erst einmal hier hinten und reißen sich zusammen, falls Sie wieder den Drang verspüren, irgendetwas Dramatisches oder Dummes zu tun.“

„Aber Sie werden doch sicherlich auch Ärger bekommen?“, fragte sie teilnahmsvoll. Allerdings hielt sich ihr Mitleid für ihn in Grenzen, da er sich selbst nicht in Bedrängnis zu sehen schien. Außerdem wurde sie den Eindruck nicht los, dass er jemand war, der sich gern den Regeln widersetzte – einfach nur aus Spaß.

Unter seiner beherrschten Oberfläche muss sich ein hitziges Gemüt befinden, dachte sie. Er steckt voller Widersprüche. So wie sein Mund. Unwillkürlich sah sie in dessen Richtung. Die Oberlippe wirkte ernst, die volle Unterlippe hingegen sinnlich …

„Ich habe bereits Ärger.“

Verwundert über die kryptische Antwort runzelte sie die Stirn. „Das erklärt dann wahrscheinlich auch, warum Sie mir nicht helfen wollen.“

Er neigte den Kopf, und sie bemerkte ein rätselhaftes Funkeln in seinen Augen. „Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis.“

„Warum sind Sie hier?“

„Warum sind Sie hier?“

„Ich suche jemanden.“

„Den Kronprinzen?“

„Im Notfall auch ihn. Aber eigentlich suche ich jemanden, der größeren Einfluss und mehr Macht hat.“ Ein unterdrückter Laut ließ sie in seine Richtung blicken.

„Ich könnte mir vorstellen, dass auch der Kronprinz einen gewissen Einfluss hat …“

„Mag sein.“ Gabby zuckte mit den Schultern. Beunruhigt sah sie zu der Tür, hinter der die Wachen auf sie warteten. Sie war mit ihrem Vorhaben kläglich gescheitert. Vielleicht würde sie sogar im Gefängnis landen! „Aber er ist nicht hier. Wir beide sind doch allein in diesem Raum, oder?“ Die Frage klang vertraulicher, als sie klingen sollte. „Ich wollte niemanden beleidigen, aber ich brauche einen wirklich wichtigen, einflussreichen Menschen, der sich anhört, was ich zu sagen habe. Keine Angst, ich werde Sie nicht mit Einzelheiten langweilen.“

Jetzt, ohne ihre Streitlust, wirkte sie viel zarter und zerbrechlicher. Rafik sträubte sich dagegen, aber die Niedergeschlagenheit in ihrer tonlosen Stimme löste Mitgefühl in ihm aus. „Ich werde Ihnen schon sagen, wenn ich mich langweile“, versprach er.

„Danke für das Angebot.“ Obwohl sie bezweifelte, dass er es ernst meinte, sagte sie: „Ich bin hier, um den König zu treffen.“

Es klang so abwegig, dass Gabby sich nicht gewundert hätte, wenn der Mann jetzt laut aufgelacht hätte. Aber er lachte nicht. Was Gabby wiederum fast bedauerte, denn würde er lachen oder auch nur lächeln, wäre das sicherlich ein unglaublicher Anblick. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie die Winkel seines ernsten, verführerischen Mundes sich entspannten. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, hielt sie es für besser, wenn er nicht lachte, denn so konnte sie sich besser konzentrieren.

„Auf dem Amtsweg kann man eine Audienz beim König beantragen.“ Dass die Liste derer, die darauf warteten, bei seinem Vater vorzusprechen, sehr lang war, sagte er nicht.

„Für Amtswege und Anträge habe ich keine Zeit“, gab sie zu bedenken. „Daher muss ich mir etwas anderes einfallen lassen.“ Sie sah sich im Raum um. Es musste einfach einen anderen Weg hinaus geben. Sie wollte einfach nicht glauben, dass die Rettung ihres Bruders auf so schmachvolle Weise scheitern sollte.

„Sind Sie sicher, dass außer dieser Tür kein anderer Weg hier herausführt? Was ist mit dem Balkon?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, lief sie, durch ein weiteres Donnern gegen die Zimmertür angetrieben, an ihm vorbei durch die offen stehende Balkontür.

Der Balkon war nicht groß – etwa zwei Meter breit – und Gabby hatte ihn mit so viel Schwung betreten, dass sie plötzlich direkt vor der schmiedeeisernen Brüstung stand, die ihr nicht einmal bis zum Bachnabel reichte.

Als sie hinunterblickte, wurde ihr schwindlig. Alles sah unscharf aus, und die Welt tief unter ihr begann sich zu drehen. Mit einem erstickten Aufschrei schloss sie die Augen.

Rafik erreichte den Balkon, als Gabbys Griff um das Geländer sich lockerte und sie nach vorne schwankte. Fluchend machte er einen Satz nach vorn, packte sie mit eisernem Griff an den Oberarmen und zog sie nach hinten.

Gabbys Knie hatten unter ihr nachgegeben. Alles um sie herum drehte sich, und sie konnte sich nur vage daran erinnern, dass ihr Retter sie hochgerissen hatte. Seufzend lehnte sie sich an ihn. Ihr Herz klopfte heftig nach dem lebensgefährlichen Fluchtversuch.

Rafik hatte die Arme um ihre Taille geschlossen und hielt sie fest.

„Keine Sorge, ich habe nicht vor, hier herunterzuspringen.“ Nun, nachdem die Schrecksekunde überwunden war und Gabby ihr Bewusstsein wiedererlangt hatte, nahm sie die Einzelheiten wahr – verwirrende Einzelheiten, wie die gegen ihren Rücken drückende warme, harte Wölbung seines Körpers. Sie beschloss, sich nicht von der Stelle zur bewegen. „Danke“, sagte sie heiser. „Ich bin nämlich nicht schwindelfrei.“

„Das überrascht mich aber. Ich hätte gedacht, eine von fahrenden Autos springende Actionheldin wie Sie würde vor nichts zurückschrecken.“

Den einen Arm noch immer schützend um Gabby gelegt, spürte Rafik, wie sie tief Luft holte, bevor sie mit heiserer Stimme antwortete.

„Es tut mir sehr leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber wir haben nun einmal alle unsere kleinen Schwächen.“ Dabei fiel ihr auf, dass sie normalerweise keine Schwäche für Schönlinge hatte – auch nicht für exotische.

Sehr exotisch, dachte sie, als seinen moschusartigen und sehr verführerischen Duft einatmete. Ihr Blick fiel auf seine wohlgeformte Hand auf ihrem Arm. Ein breiter Goldring mit einem großen, roten Stein zierte einen seiner Finger. Wenn der Stein echt wäre, würde er ein Vermögen wert sein.

Ob er verheiratet war?

Gab es eine rehäugige Frau und eine Kinderschar, die ihn anbeteten? Als die Bilder einer Familienidylle an Gabbys innerem Auge vorüberzogen, fühlte sie sich leicht verstimmt.

War es Neid? Wenn, dann sicher nicht auf die Frau, die mit diesem wildfremden Mann verheiratet war. Aber Gabby war vierundzwanzig Jahre alt, und bislang war ihr niemand begegnet, mit dem sie ernsthaft eine Beziehung hätte eingehen wollen. In dieser Hinsicht war sie weniger risikofreudig.

Erst vorige Woche hatte sie wieder einmal scherzhaft geantwortet, als ihre Freundin Rachel den Rat gab, die Latte etwas tiefer zu legen und dafür ein bisschen Spaß zu haben.

Gabby war zwar nicht prüde, aber sie hatte ihre Zweifel, ob sie den Spaß, von dem ihre Freundin sprach, wirklich brauchte. So war sie sich nicht zu schade gewesen, sich selbst als hoffnungslose Romantikerin zu bezeichnen. Ihr Bekenntnis würde ohnehin von jedem als Scherz aufgefasst werden. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass sie jemand war, der an die große Liebe glaubte, auf die zu warten sich lohnte.

Und doch kam es hin und wieder vor, dass sie sich die bange Frage stellte, ob sie ihrer großen Liebe jemals begegnen würde. Es fiel ihr im Laufe der Zeit immer schwerer, sich auch nur vorzustellen, dass sie den Mann, mit dem sie ein ganzes Leben verbringen wollte, auch wirklich finden würde. Womöglich hatte Rachel doch recht, und sie machte sich alles nur unnötig schwer?

Vielleicht war sie dazu verdammt, ihr Leben allein zu verbringen. Aber es gab Schlimmeres – beispielsweise mit einem Mann verheiratet zu sein, nach dem sich jede Frau umdrehte.

Als Gabby tief Luft holte, spürte Rafik, wie ein Beben durch ihren Körper ging. Sie fühlte sich weich, warm und beunruhigend zerbrechlich an. Als Mann fühlte er sich stark von ihr angezogen. Doch als Prinz wusste er, dass er die Finger von ihr lassen musste. Auch unter anderen Umständen, selbst dann nicht, wenn er nicht gerade erst sein Todesurteil bekommen hätte – diese Frau war einfach nichts für ihn.

Für Ablenkungen hatte er nie Zeit gehabt, und das galt jetzt umso mehr. Sein Blick streifte ihr zerzaustes Haar. Keine Frage, diese Frau wäre eine Ablenkung wert.

Leicht errötend machte Gabby sich von ihm los und ging zurück in das Zimmer. Ihr zitterten die Knie, und sie konnte beim besten Willen nicht sagen, ob das eine Folge ihrer Höhenangst und der anstrengenden letzten zwei Tage war oder ob es auf ihre unangemessene Gefühlsreaktion auf den Fremden zurückzuführen war.

Seltsam wäre es schon, denn sie hatte sich niemals von Männern wie ihm angezogen gefühlt. Sie neigte den Kopf nach hinten und sah zu ihm. Als sich ihre Blicke trafen, musste sie sich eingestehen, dass sie noch nie zuvor einen Mann wie ihn kennengelernt hatte.

Ihr Mund verzog sich zu einem gequälten Lächeln. Genau genommen gab es wahrscheinlich gar keine anderen Männer wie ihn.

„Warum wollen Sie den König sprechen?“

Seine Frage machte ihr bewusst, dass sie gerade dabei war, das Wesentliche aus den Augen zu verlieren.

„Ich wüsste nicht, was Sie das anginge.“

Ein lautes Hämmern an der Tür ließ Gabby zusammenzucken.

Ohne sie aus den Augen zu lassen, wies er mit dem Kopf in Richtung der Tür. „Aber ihn geht es doch wahrscheinlich etwas an?“

„Wenn Sie es unbedingt wissen wollen: Es geht um meinen Bruder. Er ist verhaftet worden und wartet auf seinen Prozess.“

Gabby sah, wie er plötzlich zu verstehen schien und sich Abneigung auf seinem Gesicht ausbreitete. Diese Reaktion war ihr nicht unbekannt, aber die meisten Leute bemühten sich, sie zu verbergen. Er nicht.

„Ist der englische Drogenschmuggler Ihr Bruder?“

Entrüstet funkelte sie ihn an. „Mein Bruder ist kein Drogenschmuggler.“ Sie sah die Geringschätzung im Gesicht des hochgewachsenen Arabers und bemühte sich, den Blick nicht schuldbewusst von ihm abzuwenden. „Ach, was soll’s. Sie haben sich ohnehin schon Ihr Bild gemacht“, sagte sie verärgert. „So wie alle Leute in diesem blöden Land“, fügte sie mit bebender Stimme hinzu. Ihr war jetzt klar, dass Paul keine Chance hatte.

Der Mann in der Botschaft würde wohl recht behalten – das Schicksal ihres Bruders war bereits besiegelt.

Geistesblitzartig kam Rafik eine Idee. Die ganze Zeit hatte er nach einer Lösung für sein Problem gesucht. Nun stand ihm die Rettung direkt vor Augen.

War er verrückt geworden?

Rein oberflächlich betrachtet wirkte es tatsächlich wie eine verrückte Idee, wie der Einfall eines Verzweifelten. Aber manchmal musste man auf gedankliche Abwege gehen, um auf die Lösung eines Problems zu kommen. Rafik war berühmt dafür, aber so weit wie jetzt war er nie gegangen.

Es war allerdings auch nie nötig gewesen.

Tausend Gedanken rasten ihm durch den Kopf. Diese Frau besaß genau die Eigenschaften, die seinem Bruder fehlten: Sie war belastbar, einfallsreich und hatte keinen Respekt vor Autoritäten. Und sie war loyal – wie viele Menschen würden solche Strapazen auf sich nehmen und ihr Leben riskieren, wie sie es für ihren Bruder tat? Sogar jetzt, wo sie eigentlich schon wusste, dass es aussichtslos war, gab sie nicht auf.

Und er hatte etwas, was sie brauchte.

In Anbetracht ihrer niedergeschlagenen Haltung, der hängenden Schultern und der Tränen, die auf ihren Wangen glitzerten, zögerte Rafik einen Moment. Doch dann schob er seine Bedenken beiseite und ging auf die Tür zu. Es konnte sich jetzt keine Sentimentalität erlauben. Immerhin ging es um die Zukunft seines Landes.

Als sie das Geräusch des Türriegels vernahm, sah Gabby auf.

Bei halb geöffneter Tür drehte er sich nach ihr um.

Gabby hob den Kopf. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie die ganze Zeit über gehofft hatte, der Fremde sei auf ihrer Seite. Das war natürlich naiv gewesen.

Sie wartete und stellte sich vor, wie bewaffnete Männer auf sie zukamen. Als dies nicht passierte, ging sie ein Stück in Richtung Tür.

Doch ihre Hoffnung, dass sich dort niemand mehr befand, der sie an der Flucht hindern würde, schwand, als sie den Klang tiefer Männerstimmen von draußen vernahm. Eine davon gehörte dem Mann, der das Zimmer gerade verlassen hatte, die andere wahrscheinlich demjenigen, der sie hinausbegleitet hatte. Allerdings war sie sich nicht sicher, da er weder kalt noch herablassend klang, sondern vielmehr ehrerbietig.

Gabby überlegte noch, was all das bedeuten sollte, da kann der große Araber wieder herein und schloss die Tür hinter sich.

Sofort fiel Gabby auf, dass der Hochmut, den sie an ihm bemerkt hatte, jetzt noch deutlicher hervortrat. Sie verschränkte die Arme schützend vor der Brust und sah ihn misstrauisch an.

Er machte eine Handbewegung in Richtung eines kleinen, mit Seidenkissen bedeckten Diwans. „Setzen Sie sich, Miss Barton.“

Gabby verstand, dass es sich eher um einen Befehl als um einen Vorschlag handelte. „Was ist los? Die Wache …? Wo ist er?“

„Ich habe Rashid davon überzeugen können, dass Sie keine unmittelbare Gefahr für die Sicherheit darstellen.“

Zweifelnd schüttelte sie den Kopf. „Und er hat sich ohne Weiteres von Ihnen wegschicken lassen?“

„Vielleicht sollte ich mich vorstellen.“ Ohne den Blickkontakt zu ihr abzubrechen, verbeugte er sich leicht und sagte: „Ich bin Prinz Rafik al Kamil.“

Wieder stieg Gabby das Blut in die Wangen. Hätte sich jemand anders mit diesem Namen vorgestellt, hätte sie ihn für verrückt gehalten und gefragt, ob er seine Medizin schon genommen habe. Aber in diesem Fall … Ihr Blick wanderte von seinen staubigen Stiefeln hinauf zu seinem schwarz glänzenden Haar. Wie hatte sie nur so dumm sein können?

Zu ihrer eigenen Verteidigung hielt sie sich zugute, dass es fast schon zu offensichtlich gewesen war. Hätte sie auch nur ein bisschen nachgedacht, so wäre sie sicherlich von selbst darauf gekommen. Sein ganzes Verhalten deutete darauf hin, dass er die Wahrheit sagte.

So also sah das Ergebnis jahrhundertelanger Auslese aus … Sie musste zugeben, dass er auf jemanden, der etwas gegen Vernunftehen hatte, überzeugend wirken dürfte.

„Sie sind der Kronprinz?“, fragte sie, und kam sich dabei unendlich dumm vor.

Er neigte zustimmend den Kopf und sagte spöttisch: „Sie müssen wohl mit mir vorliebnehmen, auch wenn ich nur zweite Wahl bin. Mein Vater ist außer Landes.“ Er betrachtete ihr errötetes Gesicht und die glänzenden Augen. „Sie sehen nicht besonders begeistert aus. Seltsam. Ist es nicht das, was Sie wollten? Den Fall Ihres Bruders an höchster Stelle vorbringen?“

Er hatte recht – das war tatsächlich ihr Anliegen gewesen. Deshalb hatte sie das große Risiko auf sich genommen. Doch anstatt die günstige Gelegenheit zu nutzen und Pauls Fall vorzutragen, blieb sie stehen und rief wütend: „Warum haben Sie mir nicht gleich gesagt, wer Sie sind?“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Und woher soll ich eigentlich wissen, ob Sie tatsächlich derjenige sind, für den Sie sich ausgeben? Sie könnten doch irgendwer sein.“

Er sah sie überrascht an. „Brauchen Sie etwa einen Beweis?“

Ihre Blicke trafen sich, und Gabbys plötzliche Aufwallung von irrationaler Wut verebbte. Sie schüttelte den Kopf und setzte sich auf den Platz, den Rafik ihr vorher angeboten hatte. Lieber hätte sie sich allerdings auf den dunklen Holzstuhl daneben gesetzt als auf diesen Diwan, der gut in einen Harem gepasst hätte.

Wie funktionierte eigentlich so ein Harem?

Ob er tatsächlich einen Harem besaß?

Die Fragen waren ihr einfach so in den Sinn gekommen, und die Gedanken an den Harem ließen sich nicht beiseiteschieben. Sie beobachtete, wie er sich auf den dunklen Stuhl setzte, den sie vorgezogen hätte. Man konnte sich ihn gut als Räuber in der Wüste vorstellen.

„Möchten Sie etwas trinken?“

Gabby schüttelte den Kopf, atmete einmal tief durch und brachte das auswendig gelernte, pathetische Gnadengesuch hervor. Rafik unterbrach sie nicht. Auch dann nicht, als sie, obwohl sie vorgehabt hatte, ihre Argumente ruhig und leidenschaftslos vorzubringen, in Tränen ausbrach und sich das Gesicht mit dem Saum ihres Hemdes trocken wischte.

„Also“, schloss sie ihre Fürsprache ab, „war mein Bruder ein Idiot. Er hat etwas Dummes gemacht. Aber eben nichts Kriminelles. Man könnte sagen, dass er das Opfer ist.“

„Könnte man. Aber ich würde es nicht so ausdrücken.“ Wäre ihr Bruder noch ein Teenager gewesen, hätte Rafik vielleicht mehr Mitleid mit ihm gehabt. Aber dass ein Dreißigjähriger noch so naiv sein sollte, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Gabby biss sich auf die Unterlippe. „Er hat einen Fehler gemacht. Aber er hat es nicht verdient, für fünfundzwanzig Jahre ins Gefängnis zu müssen. Falls es irgendetwas nützt, bin ich gern bereit, ihm das Leben zur Hölle zu machen, aber lassen Sie ihn gehen.“

Sie sah, wie Rafiks Züge weicher wurden. „Ich frage mich, ob Ihr Bruder eigentlich weiß, was für eine gute Anwältin er in Ihnen hat.“

Damit reizte er sie zum Widerspruch. „Ich bin nicht hier, um Sie um einen Gefallen zu bitten. Ich bin hier, um Gerechtigkeit zu fordern. Und wenn das nicht möglich ist …“

Er hob eine Braue. „Fordern?“

„Na schön“, sagte sie, „ich werden vor Ihnen katzbuckeln und Ihnen sagen, wie großartig und erhaben und allmächtig Sie sind – obwohl Sie kein Wort von dem, was ich gesagt habe, gehört zu haben scheinen.“ Ob tatsächlich irgendetwas von dem, was sie sagte, bei ihm ankam?

„Ach, ja, dann gibt es ja noch das hier“, fügte sie hinzu und reichte ihm einige Papiere, die sie aus der Hosentasche gezogen hatte. „Die hier sind aussagekräftig und beschreiben seinen Charakter. Ich will nicht behaupten, dass Paul ein Heiliger ist, denn das entspricht absolut nicht der Wahrheit. Und sicherlich denke ich manchmal, dass er den Verstand verloren hat. Aber er ist nicht böswillig oder kriminell veranlagt – überhaupt nicht“, versicherte sie und strich die Seiten glatt, bevor sie sie Rafik überreichte.

Nach einer kurzen Pause nahm er die Papiere entgegen, sah sie jedoch nicht an. Sein Blick war unverändert auf ihr Gesicht gerichtet. Ihr wurde ganz unwohl unter seinem intensiven Blick.

„Wollen Sie nicht einmal hineinsehen?“

„Ich bin sicher, dass Ihr Bruder darin im besten Licht erscheint. Sonst hätten Sie die Unterlagen mir nicht gegeben.“

Gabby wurde immer mutloser. „Wenn Sie mich ohnehin nicht ernst nehmen, warum lassen Sie mich dann meine Zeit verschwenden, indem ich Ihnen all das erzähle?“

„Weil ich wissen wollte, wie viel Ihnen die Freiheit Ihres Bruders wert ist.“

„Ich war also etwas wie eine … Laborratte?“, fragte sie in höflichem Ton, zu dem das kämpferische Glitzern in ihren Augen so gar nicht passen wollte.

Er ließ seinen Blick über ihren Körper wandern, dann zuckte er mit den Schultern. „Ich könnte mir schmeichelhaftere Vergleiche vorstellen“, erwiderte er trocken.

„Ach, wirklich? Sagen Sie’s nicht … Hund? Esel?“ Er, dachte sie, wäre etwas Schlankes, Geschmeidiges und Unberechenbares … ein Panther, vielleicht, obwohl er auch etwas Wölfisches hatte, wenn er wie jetzt lächelnd die Zähne bleckte und seine Augen dabei kalt blieben.

Autor

Teresa Southwick
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Kim Lawrence, deren Vorfahren aus England und Irland stammen, ist in Nordwales groß geworden. Nach der Hochzeit kehrten sie und ihr Mann in ihre Heimat zurück, wo sie auch ihre beiden Söhne zur Welt brachte. Auf der kleinen Insel Anlesey, lebt Kim nun mit ihren Lieben auf einer kleinen Farm,...
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