Julia Herzensbrecher Band 34

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KÖNIGIN MEINES HERZENS von LUCY GORDON
Endlich hat Randolph sie gefunden: Die verschollene Thronfolgerin des Königreichs Ellurien! Noch arbeitet die wundervolle Dottie als Kellnerin, aber der charmante Herzensbrecher wird aus ihr eine Prinzessin machen. Und dabei Gefahr laufen, sein eigenes Herz zu verlieren …

DU KANNST NUR EINEN LIEBEN, ANNIE! von CAROLE MORTIMER
Anthony ist genau die Sorte Mann, von der die hübsche Annie immer geträumt hat – selbstbewusst und attraktiv. Nur leider ist er mit einer anderen verlobt. Als der sympathische Rufus sie trösten will, willigt Annie schließlich ein. Doch wem gilt nun eigentlich ihre Liebe?

GLÜCK IN STRAHLENDEN AUGEN von TRACY SINCLAIR
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  • Erscheinungstag 11.08.2023
  • Bandnummer 34
  • ISBN / Artikelnummer 9783751519748
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lucy Gordon, Carole Mortimer, Tracy Sinclair

JULIA HERZENSBRECHER BAND 34

1. KAPITEL

Die Zeiger der Uhr wanderten langsam auf neun. Eine weitere lange Schicht ging zu Ende. Noch fünfzehn Minuten, dachte Dottie erleichtert.

Ihre Miene erhellte sich, als die Tür des Restaurants geöffnet wurde und ein bulliger junger Mann mit gutmütigem Gesicht eintrat und sich an einen Ecktisch setzte. „Ich bin gleich bei dir, Mike!“, rief sie ihm zu.

Brenda, eine kurvenreiche, dunkelhaarige Frau kam aus der Küche und eilte schnurstracks zu ihm. Sie hatte es auf ihn abgesehen und flirtete schamlos mit ihm, obwohl sie wusste, dass er mit Dottie verlobt war.

Trotz des großartigen Namens „Grand Hotel“ war es eine heruntergekommene Pension mit ebensolcher Wirtschaft im schäbigsten Viertel von London. Dottie führte das Lokal. Der ältliche Besitzer, Jack, hatte ihr den Titel „Managerin“ verliehen, um zu vertuschen, dass sie Mädchen für alles war und endlos lange Stunden für ein minimales Gehalt arbeitete.

Dennoch war sie glücklich. Sie hatte einen Verlobten, den sie liebte, und eine Zukunft, auf die sie sich freuen konnte. Mike mochte nicht gerade ein toller Hecht sein, aber er war liebevoll, arbeitsam und ihr ergeben. Zugegeben, sein Verstand war nicht so quecksilbrig wie ihrer, und hämische Menschen bezeichneten ihn gelegentlich als einfältig. Sie ärgerte sich über diese üble Nachrede, doch manchmal wünschte sie sich tatsächlich, er könnte ihren Gedankengängen folgen, anstatt bewundernd zu sagen: „Du hörst dich großartig an, wenn du so redest.“

Mike war stolz auf seine Verlobte. Stolz auf ihre zierliche Gestalt, ihr hübsches Gesicht, ihre Redegewandtheit, ihren Scharfsinn und ihre Fähigkeit, über sich selbst zu lachen. Und er gab nie vor, es mit ihr aufnehmen zu können.

Jack erschien und begann mit der Abrechnung. „War es ein guter Abend, Dorothea?“

Sie verzog das Gesicht. „Nenn mich bitte nicht so.“

Er grinste. „Sollte ich dich lieber Miss Hebden nennen?“

„Das würde ich dir nicht raten. Dottie reicht mir völlig.“

„Wir haben ein paar Hamburger übrig. Du kannst sie mitnehmen, wenn du willst.“

Eifrig packte sie das Essen ein. Es war ein kostbares Zubrot, da sie jeden Groschen für Mikes eigene Werkstatt sparten. Sie wünschte Jack eine gute Nacht, eilte zu dem Ecktisch und tippte Brenda auf die Schulter. „Hände weg. Er gehört mir“, erklärte sie mit einem amüsierten Lächeln.

Brenda grinste. „Ich wette, ich kann ihn dir abluchsen.“

„Ich halte dagegen.“

Mike seufzte. „Würdet ihr bitte nicht von mir reden, als wäre ich nicht hier?“ Er ließ sich von Dottie zum Ausgang ziehen und rief über die Schulter zurück: „Du solltest morgen dein Essen lieber auf Arsen untersuchen, Bren!“

Als sie draußen waren, sagte Dottie: „Wenn ich sie vergifte, ist es deine Schuld. Was müsst ihr die Köpfe ständig zusammenstecken?“

„Es war doch nur Getratsche. Sie hat wieder diese Zeitschriften gelesen.“

„Die mit ihren königlichen Skandalen! Was ist es denn dieses Mal?“

„Der Prinz von Ellurien kann nicht König werden, weil seine Eltern nicht rechtmäßig verheiratet waren.“

Dottie gähnte. „Dann müssen sie sich eben einen anderen suchen. Komm, ich habe Hamburger bekommen.“

„Super. Ich bin am Verhungern.“

Die untergehende Sonne tauchte die endlos lange Lindenallee in einen rosigen Schein. Gelangweilt betrachtete Randolph den Ausblick, den er tausend Mal zuvor gesehen hatte. Es war so sinnlos, wie dem Gespräch zu lauschen, das hinter ihm geführt wurde und das er ebenfalls tausend Mal gehört hatte. Zumindest kam es ihm so vor. Doch da er mit dem Rücken zum Zimmer stand, konnte niemand seine Miene betrachten.

Er war bis zum Überdruss an diese Musterung gewöhnt. Seit ihm der Thron wenige Stunden vor der Besteigung versagt worden war, zeigte die Welt ein lebhaftes Interesse an seinen Gefühlen. Manchmal fühlte er sich wie ein gefangenes Tier, das durch die Stäbe eines Käfigs auf Anzeichen von Schwäche beobachtet wurde.

In letzter Zeit war seine Miene ständig grimmig. Er war ohnehin ein ernster Mensch, der über sehr wenig lachen konnte. Nun hatte ihn eine regelrechte Schwermut befallen. Diejenigen, die seine Untertanen geworden wären, hatten stets gewusst, dass er ein pflicht-ergebener, gütiger Mensch war. Nun fürchteten sie ihn beinahe.

Der Premierminister, Jacob Durmand, trat nervös zu ihm. „Eure Königliche … Eure Hoheit … Oh je!“ Verlegen verstummte er.

Randolph drehte sich zu ihm um, zwang sich zu einem flüchtigen Lächeln. „Schon gut. Es ist für uns alle eine heikle Situation. Machen Sie sich keine Gedanken.“

„Danke. Es ist alles so kompliziert. Wenn nur …“

„Wenn nur mein lieber, konfuser Vater sich nicht in seiner Jugend in eine Schauspielerin verliebt hätte“, bemerkte Randolph sarkastisch. „Wenn er sich nur nicht volltrunken einer Hochzeitszeremonie unterzogen und die Behauptungen geglaubt hätte, diese Hochzeit sei nicht rechtsgültig. Und wenn er die Lage vor der Heirat mit meiner Mutter nur überprüft hätte. Aber Sie kannten ja meinen Vater, Durmand. Er war der freundlichste Mensch auf der Welt, doch er hatte diese fatale Angewohnheit, immer das Beste zu hoffen.“

„Und wenn Prinz Harold bloß nicht herausgefunden hätte, dass die Ehe Ihrer Eltern bigamistisch war. Aber so musste er ja zuschlagen in der Hoffnung, selbst den Thron zu besteigen.“

„Und Elluriens Bodenschätze in die Finger zu bekommen“, fügte Randolph ärgerlich hinzu. „Er muss gestoppt werden. Verdammt, diese Familie hat doch bestimmt irgendwo auf der Welt noch einen Sprössling.“

Ein älterer Mann eilte mit aufgeregter Miene und den Armen voller Papiere in den Raum. Es war Sigmund, der königliche Archivar. „Ich habe etwas gefunden.“

Alle Anwesenden traten an den Tisch, auf dem er die Papiere ausbreitete.

„Die Sache geht zurück bis zum Herzog Egbert, der 1890 eine englische Lady heiratete und mit ihr nach England zog. Er hatte hohe Spielschulden, und sie war eine reiche Erbin.“

„Wollen Sie damit sagen, dass es dort Abkömmlinge gibt?“, hakte Durmand nach.

„Einen, soweit ich weiß, und ich fürchte, die Familie ist ziemlich heruntergekommen, wiederum wegen Spielschulden. Der Herzog hatte eine Tochter, die einen gewissen Augustus Hebden heiratete. Von Belang für uns ist seine Ur-Ur-Urenkelin. Ich habe alles sorgfältig recherchiert. Die Abstammungslinie ist ununterbrochen.“

„Andere Nachkommen existieren nicht?“, wollte Randolph sich vergewissern.

„Die Familie wurde in zwei Kriegen beinahe ausgelöscht“, erklärte Sigmund. „Übrig blieben nur Jack Hebden und seine Schwester, die nie heiratete. Jack hatte einen Sohn, Frank. Er war der Vater der Dame, die uns interessiert. Dorothea Hebden ist die nächste Anwärterin auf den Thron.“

„Wissen wir sonst noch etwas über sie?“, fragte Durmand nervös.

„Nicht viel. Umfangreiche Nachforschungen haben keine Heiratsurkunde zum Vorschein gebracht. Sie ist erst dreiundzwanzig, aber bereits zur Managerin eines Unternehmens namens ‚Grand Hotel‘ avanciert.“

„Das klingt ermutigend“, meinte Durmand. „Diese junge Frau muss talentiert, strebsam und gebildet sein.“

„Das bedeutet nicht, dass sie nach Ellurien kommen will“, gab Randolph zu bedenken.

„Da sie in so jungen Jahren schon so hoch aufgestiegen ist, muss sie auch ehrgeizig sein. Sie wird die Chance begrüßen, ihren Horizont zu erweitern.“

„Mein lieber Premierminister, Sie erschaffen eine Fantasiegestalt nach Ihren Wünschen“, entgegnete Randolph scharf. „Sie müssten nur noch behaupten, dass die Ausbildung zur Hotelfachfrau eine ideale Basis ist, um Königin von Ellurien zu werden.“

„Insoweit, dass es Eleganz und Autorität erfordert, mag das auch zutreffen“, verteidige Durmand sich.

Randolph seufzte. „Wollen wir hoffen, dass sie die Verkörperung Ihrer Vorstellungen darstellt.“

„Es gibt nur einen Weg, es herauszufinden. Sie muss unverzüglich hierher gebracht werden.“

Randolph eilte zu der eleganten Suite, die der Komtesse Sophie Bekendorf zur Verfügung stand, wenn sie sich im Palast aufhielt. In letzter Zeit war das häufig der Fall, da sie die Vorbereitungen für die Hochzeit traf, die sie zu seiner Prinzessin und schließlich seiner Königin machen sollte. Sie war fünf Jahre jünger als er und schon in der Wiege zu seiner Ehefrau auserkoren worden. Auch ihr Leben war durch die jüngsten Ereignisse auf den Kopf gestellt worden. Er bewunderte sie und wusste, welchen Glanz sie dem Thron verliehen hätte.

Lächelnd erhob sie sich, als er eintrat, und eilte zu ihm. Ihre hochgewachsene Gestalt war straff von regelmäßigen, stundenlangen Ausritten. Ihr Gesicht war schön, wenn auch beeinträchtigt durch eine leichte Härte in den Augen. Ihr Auftreten wirkte elegant und gebieterisch. Sie wusste genau, wer ihres Lächelns würdig war und wer nicht.

„War es sehr schlimm, mein Ärmster?“, fragte sie sanft und nahm seine Hand.

„Schlimmer, als ich sagen kann. Die Thronfolgerin ist eine Hotelmanagerin in England. Ihr Name lautet Dorothea Hebden.“

„Unmöglich! Ein Dienstmädchen!“

„Nicht ganz. Sie scheint sich ein gewisses Ansehen geschaffen zu haben.“

„Das Ansehen einer Dienstleistenden!“

„Wir dürfen sie nicht verurteilen, ohne sie zu kennen. Vielleicht lässt sich etwas aus ihr machen.“

„Du willst doch nicht etwa sagen, dass du diese monströse Idee auch nur eine Sekunde lang in Erwägung ziehst!“

Er führte sie zum Fenster und blickte hinaus auf den großartigen Park. „Es geht nicht darum, was ich in Erwägung ziehe. Meine Autorität wurde mir genommen, als sich herausstellte, dass ich illegitim bin. Ich bin nicht mal königlicher Abstammung. Dorothea Hebden ist die rechtmäßige Thronerbin.“

„Hast du daran gedacht, dass sie verheiratet sein könnte?“

„Sigmund ist sicher, dass sie es nicht ist.“

„Ich verstehe.“

Er legte seine Arme um sie. „Mir gefällt die Situation auch nicht. Wie könnte ich vergessen, dass du so treu zu mir gehalten hast, als ich dich von unserer Verlobung entbinden wollte?“

„Du dachtest, ich würde dir den Rücken kehren, weil du mir keine Krone mehr bieten kannst?“

„Wenn ja, dann habe ich mich geirrt“, sagte er zärtlich. „Kein Mann könnte sich mehr Mut und Loyalität wünschen, als du mir erwiesen hast.“

„Aber vielleicht musst du diese andere Frau heiraten, und dann wirst du es sein, der unsere Verlobung bricht. Ich habe Verständnis, und es steht dir frei. Aber wenn es nicht dazu kommt …“

Randolph war verwirrt und verlegen. Für sein Land war es die ideale Lösung, dass er Dorothea heiratete und als ihr Gemahl regierte. Seine Gefühle für Sophie oder ihre für ihn waren dabei belanglos.

Er hatte nie vorgegeben, Sophie zu lieben, aber sie waren gute Freunde. Es erzürnte ihn, dass er gezwungen sein würde, sie unfair zu behandeln. Es verletzte seinen Stolz.

Er war nicht eingebildet, aber nun schien es ihm, dass Sophie tiefere Gefühle für ihn hegte, als er vermutet hatte, und das rührte an seinem Gewissen.

Ihr Bruder Dagbert spazierte herein. Er war Anfang zwanzig und sah ihr auffallend ähnlich, doch sein Hang zur Zügellosigkeit zeigte sich bereits auf seinem Gesicht.

„Was hast du also vor?“, fragte er, als Randolph ihm die Sachlage erläutert hatte. „Schade, dass wir nicht im vorigen Jahrhundert leben. Dann hätten wir sie ermorden lassen können.“

„Das würde mich nicht ehelich machen“, entgegnete Randolph. „Ich beabsichtige, sie herzubringen und zu sehen, wie wir das Beste daraus machen können.“

„Du meinst, du willst sie heiraten und es weiterhin so treiben wie bisher“, sagte Dagbert scharf.

„Er meint, dass wir alle unsere Pflicht tun werden, wie sie auch aussehen mag“, entgegnete Sophie.

Randolph drückte ihr dankbar die Hand und zog sich hastig zurück, denn er empfand Dagberts vulgäre Art als abstoßend.

Randolph reiste inkognito nach England. Die Reservierung im „Grand Hotel“ war auf den Namen Edmond Holsson vorgenommen worden, und der Innenminister hatte eiligst einen entsprechenden Pass ausgestellt.

Randolph besuchte häufig Freunde in England, die in vornehmen, palastartigen Landhäusern oder in Mayfair, dem elegantesten Stadtteil Londons, lebten. Er hatte nie die schäbigeren Viertel aufgesucht und wusste nicht mal, wo sie lagen. Daher beunruhigte ihn die Hoteladresse zunächst gar nicht.

Als das Taxi ihn vom Flughafen in eine Gegend fuhr, die immer ärmlicher wurde, stieg jedoch Bestürzung in ihm auf.

„Da sind wir“, verkündete der Fahrer.

Randolph stieg aus und betrachtete das schmale, dreistöckige Gebäude voller Entsetzen. Die Fassade aus rotem Backstein war bröckelig und die Farbe der Fenster und Türen abgeblättert. Es wurde bereits dunkel, und eine grelle, pinkfarbene Neonreklame blinkte. Einige Buchstaben waren abgefallen, sodass nur noch „Gran Hot“ zu lesen war.

Die Eingangshalle war spärlich beleuchtet und die Rezeption unbesetzt. Randolph drückte auf die Klingel und wartete ungeduldig. „Guten Abend“, wünschte er höflich, als ein älterer Mann in Hemdsärmeln aus einem Hinterzimmer kam. „Ich habe reserviert. Edmond Holsson.“

„Richtig.“ Jack musterte die teure Kleidung sowie die vornehme Haltung des Fremden. „Wenn Sie sich bitte hier eintragen wollen, Sir? Sie haben Nummer sieben. Es ist alles …“ Er brach ab und schlug hastig vor: „Sie möchten bestimmt etwas essen. Das Hotelrestaurant schließt in einer halben Stunde. Es ist ein ausgezeichnetes Lokal. Meine Managerin kümmert sich persönlich darum.“

„Ist das zufällig Dorothea Hebden?“

„Allerdings, Sir. Sie haben von ihr gehört?“

„Von ihrer ausgezeichneten Arbeit.“

„Nun, gehen Sie einfach durch die Tür da drüben. Der Portier wird Ihr Gepäck nach oben bringen.“

Schlimmes ahnend betrat Randolph das sogenannte Restaurant, dessen größter Vorzug seine bunte Einrichtung war. Die Tischplatten waren aus Sperrholz von scheußlich roter Farbe. Schlimmer noch war eine Palme aus Plastik, die in einer Ecke stand.

Die Kellnerin, eine zierliche Blondine mit dem Gesicht eines schelmischen Kobolds, rief ihm zu: „Setzen Sie sich, Schätzchen. Ich komme gleich zu Ihnen.“

Randolph wollte sich in diesem Lokal nicht setzen, aber ihm blieb kaum eine andere Wahl. Er wählte einen Ecktisch, der teilweise von der hässlichen Palme verborgen war, und bemühte sich, nicht aufzufallen. Das war schwer, denn er war von Männern in Hemdsärmeln oder Overalls umgeben und trug als Einziger einen anständigen Anzug.

Wo war das erstklassige Unternehmen aus seiner Vorstellung? Eine Fata Morgana. Und er hatte sich verpflichtet, die Nacht an diesem Ort zu verbringen. Er hatte sich eingeredet, dass kein Opfer zu groß war für sein Land, doch nun kamen ihm ernste Zweifel.

Die Kellnerin räumte eifrig Geschirr ab. An dem Tisch hinter ihr beugte sich ein junger Mann zu ihr und tätschelte ihr den Po.

Mit einem kleinen Aufschrei entwand sie sich ihm. „He, Vorsicht!“

Er grinste. „Entschuldigung. Ich konnte nicht anders.“

„Hände weg, oder ich setze Mike auf dich an“, warnte sie lachend.

Eine gutmütige Person, dachte Randolph.

Eine andere Kellnerin kam aus der Küche. Sie war dunkelhaarig und extrem gut gebaut. „Dottie, soll ich den Ecktisch übernehmen?“

„Nein, danke, Bren. Ich hab’ ihn mir schon geschnappt“, erwiderte die Blondine. Sie winkte Randolph zu und rief fröhlich: „Es stört Sie doch nicht, wenn ich Sie schnappe, oder, Schätzchen?“

„Keineswegs“, erwiderte er höflich und verbarg seine wachsende Bestürzung. Dottie! Das war Prinzessin Dorothea?

Ein Mann an einem der Tische flüsterte ihr etwas zu, und sie brach in herzhaftes Lachen aus. Es klang erfrischend, volltönend und voller Lebensfreude. Aber eine Prinzessin lachte nicht auf so ungehemmte Weise.

Sie eilte zu Randolph und sank mit einem Seufzen auf den Stuhl ihm gegenüber. „Ist es okay, wenn ich die Bestellung im Sitzen aufnehme? Es war ein langer Tag, und meine Füße bringen mich um.“

Ihm kam eine Eingebung. Er setzte eine hochmütige Miene auf. „Es ist keineswegs okay.“

Sofort sprang sie auf. „Schon gut, schon gut, lassen Sie die Haare auf.“

„Wie bitte?“, hakte er bestürzt nach und griff sich an den Kopf. „Besitzen Sie etwa die Frechheit anzudeuten, dass ich eine Perücke trage?“

Sie lachte. „Himmel, nein! Das ist nur eine Redewendung. Es bedeutet: Regen Sie sich nicht auf.“

„Aber was hat das mit Haaren zu tun?“

„Ich weiß nicht. Sie sind kein Engländer, oder?“

„Ist das ein Verbrechen?“

„Nein. Aber es ist eine englische Redewendung, und deswegen verstehen Sie es nicht.“ Sie verzog das Gesicht. „Ich glaube, ich habe genug gesagt.“

„Mehr als genug“, entgegnete er kühl. „Und jetzt möchte ich bitte etwas zu essen, falls das nicht zu viel verlangt ist.“

„Würstchen und Bohnen? Würstchen und Pommes? Würstchen und Schinken? Würstchen und Eier?“

„Haben Sie irgendetwas ohne Würstchen?“

„Hamburger und Bohnen? Hamburger mit Pommes? Ham…“

„Danke, ich habe verstanden. Verzeihen Sie mir, aber ich muss sagen, dass das kulinarische Angebot dem Namen nicht gerecht wird.“

„Kulinarisch? Oh, Sie meinen piekfeines Essen. Nein, bei uns ist nichts piekfein.“

„Das ist mir nicht entgangen. Hier steht Leber mit Reis.“

„Tut mir leid. Leber ist seit einer Stunde aus.“

„Kaninchen?“

„Seit zwei Stunden aus.“ Sie blickte zur Uhr. „Und Sie müssen sich beeilen. Wie schließen bald.“

„Sie wollen mit einem unzufriedenen Gast einfach schließen?“

„Na ja, vielleicht findet sich ja etwas, was Sie mögen.“

„Ich habe schon zwei Gerichte gefunden, die mir zusagen“, entgegnete er betont griesgrämig, um ihre Geduld zu testen. „Dieses Unternehmen wird nicht gerade gut geführt.“

„Es ist ein einfaches, kleines Lokal, nicht das glamouröse Ritz“, protestierte sie. „Ich weiß, was meine Gäste mögen, und das biete ich ihnen.“

„Bei mir gelingt Ihnen das offensichtlich nicht.“

„Sie sind auch nicht wie die anderen. Sie sollten im Ritz speisen. Sind Sie sicher, dass Sie nicht am falschen Ort sind?“

„Leider ja.“

„Was darf es also sein?“

„Da alles gleichermaßen ekelhaft klingt, bringen Sie mir einfach etwas, was nicht ‚aus‘ ist“, fauchte er. „Wenn Sie etwas finden.“

Er rechnete mit einem Temperamentsausbruch, doch sie blickte ihn mit heiterer Gelassenheit an. „Sie hatten heute auch einen schweren Tag, oder?“, fragte sie freundlich.

„Ja“, erwiderte er verwirrt.

„Was ist denn? Warum starren Sie mich so an?“

„Ich … nichts. Bringen Sie mir einfach irgendetwas.“

Er atmete erleichtert auf, als sie ging. Er brauchte einen Moment für sich allein. Ihre unerwartete Freundlichkeit hatte ein seltsames Gefühl in ihm ausgelöst.

Plötzlich fühlte er sich zurückversetzt in seine Kindheit, die er nach dem Tod seiner Mutter bei seiner Tante Gertrude verbracht hatte. Als er bei einem Wutausbruch um sich getreten und unverzeihliche Dinge geschrien hatte, war sie ebenso gütig und milde geblieben. Und er hatte erkannt, dass sie die freundlichste Person der Welt war, noch dazu die hübscheste.

Im Geiste sah er sie nun vor sich, ihr elfenhaftes Gesicht mit den seidigen, blonden Haaren – wie das der Kellnerin. So unmöglich es auch erschien, es bestand kein Zweifel daran, dass sie der königlichen Dynastie von Ellurien angehörte.

Er musste ihr Pluspunkte für ihre Geduld und Selbstbeherrschung anrechnen. Aber diese Stimme und dieses Lachen und ihre Art, ihn „Schätzchen“ zu nennen! Diese Frau sollte die rechtmäßige Monarchin von Ellurien sein? Er hätte um sein Land weinen können.

Sie kehrte mit einem Teller Pastete und Erbsen zurück.

„Setzen Sie sich“, bat er.

Sie blickte ihn argwöhnisch an.

„Ich bin nicht konsequent, nicht wahr? Aber ich bin fremd hier und möchte mit Ihnen reden.“

„Na gut.“ Erleichtert sank sie auf den Stuhl ihm gegenüber.

„Es muss ein harter Beruf sein“, begann er mitfühlend.

Sie stöhnte. „Wem sagen Sie das!“ Dann lachte sie. „Aber mir gefällt er. Man lernt viele Leute kennen.“

„Wohnen Sie im Hause? Wie ich hörte, sind Sie die Managerin.“

Sie kicherte. „Managerin? Also wirklich! Das entspringt nur Jacks Tagträumen. Wie die Bezeichnung ‚Grand Hotel‘. Sehen Sie sich doch mal um. Er ist ein netter alter Kerl, aber das ist wirklich lachhaft.“

Randolph, alles andere als belustigt, stimmte zu. „Sie wohnen also nicht hier?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe ein paar Straßen weiter ein Zimmer.“

„Sie sind nicht verheiratet?“

„Noch nicht. Aber Mike und ich werden das Datum bald festsetzen. Da kommt er gerade.“

Er folgte ihrem Blick zu einem stämmigen jungen Mann, dessen fleckiger Overall darauf schließen ließ, dass er Mechaniker war.

„Haben Sie keine Angehörigen? Eltern?“

„Meine Eltern sind vor Jahren gestorben.“

„Geschwister?“

„Nein.“

„Exmänner?“

„Nein. Entschuldigen Sie mich. Ich habe etwas Wichtiges zu erledigen.“ Sie sprang auf, eilte zu dem jungen Mann, erreichte ihn kurz vor der dunkelhaarigen Kellnerin und küsste ihn voll auf den Mund. „Schwirr ab, Brenda. Such dir gefälligst einen anderen.“

„Du musst gerade reden.“ Brenda wandte sich an Mike. „Sie hat die ganze Zeit mit dem Typ da hinter der Palme gequatscht. Sein Gesicht habe ich nicht gesehen, aber seine Klamotten sind echt edel.“

„Aha, Dot“, meinte Mike beeindruckt, „hast du dir einen reichen Bewunderer zugelegt?“

„Schon möglich.“

„Er hat ihr alle möglichen privaten Fragen gestellt“, berichtete Brenda. „Ob sie Familie hat und so.“

„Wozu das denn?“

„Menschenhandel“, verkündete sie theatralisch.

„Wie bitte?“, hakte Dottie nach.

„Er ist der Strohmann. Er lockt unschuldige Mädchen in sein Netz und verkauft sie dann. Wahrscheinlich will er einen Harem aufstocken. Er stellt all die Fragen, um festzustellen, ob dich jemand suchen würde.“

„Warum fragt er dich dann nicht aus?“, konterte Dottie.

„Es gibt einen größeren Markt für Blondinen. Wahrscheinlich hat er sogar schon einen Käufer für dich.“

„He, Dot, meinst du, er würde mir zwei Kamele für dich geben?“

„Du frecher Kerl!“, entgegnete sie entrüstet. „Ich bin mindestens drei Kamele wert.“

„Sag ihm, dass ich für Angebote offen bin. Drei Kamele würden gerade als Anzahlung für die Werkstatt reichen.“

Dottie lachte laut, kehrte an Randolphs Tisch zurück und sank auf den Stuhl.

„Was ist denn so witzig?“

Vor lauter Lachen brauchte sie eine Weile, bis sie ihm das Gespräch berichtet hatte. Als sie endete, grinste er widerstrebend. Trotz seiner düsteren Stimmung fand er ihre sonnige Lebenseinstellung ansteckend.

„Ich fürchte, ich bin längst nicht so interessant wie ein Menschenhändler.“

„Schade. Ich könnte Ihnen Brenda zum Sonderpreis anbieten. Dann würde sie meinen Verlobten endlich in Ruhe lassen.“

„Sie macht ihm tatsächlich schöne Augen, und ihn scheint es nicht zu stören.“

„Ach, Mike ist ein Unschuldslamm“, widersprach Dottie fröhlich. „Er braucht mich, um für ihn zu sorgen.“

„Sollte es nicht eher umgekehrt sein?“

„Wir sorgen gegenseitig füreinander, schon seit wir noch zur Schule gingen. An meinem ersten Schultag hat mich ein größerer Junge auf dem Spielplatz umgestoßen, und Mike hat mir aufgeholfen und dafür gesorgt, dass mir keiner mehr was tat. Und ich habe ihm dafür beim Rechnen geholfen.“

Ja, dachte Randolph, der Mann sieht so aus, als ob er nicht bis drei zählen kann. „Ist das alles, was Sie sich vom Leben erhoffen? Einen Mechaniker zu heiraten?“

„Was ist denn an einem Mechaniker auszusetzen?“

„Nichts“, versicherte er hastig. „Ich dachte nur, Sie wären etwas ehrgeiziger.“

„Warum?“

„Weil ein hübsches Mädchen wie Sie die Wahl hätte.“

„Finden Sie mich wirklich hübsch?“

„Entzückend“, gestand er ein. „Mit Ihrer schmalen Taille und den rauchblauen Augen könnten Sie ein Model sein.“

„Sie sind tatsächlich ein Menschenhändler!“, rief sie triumphierend. „Das muss ich Mike erzählen. Er hat gesagt, Sie könnten mich für drei Kamele kaufen.“

Randolph fühlte sich völlig verwirrt. Ihm war noch nie eine Frau begegnet, die über alles Witze machte. „Warum will er drei Kamele?“

„Um sie zu verkaufen, damit er eine Werkstatt anzahlen kann.“

„Ich weiß nicht, wie viel drei Kamele einbringen würden.“

„Na ja, wenn es nicht reicht, geben wir Brenda obendrauf, für zwei.“

„Warum nur zwei?“

„Sie ist nicht so viele wert wie ich“, erklärte Dottie entrüstet, und er lachte. „Mike ist nicht bloß Mechaniker. Er wird der Besitzer.“

„Und wer übernimmt das Rechnen?“

„Ich natürlich. Mikes Talent liegt in seinen Händen.“

„Und haben Sie ihn zufällig auf die Idee mit der Werkstatt gebracht?“

„Das kann schon sein.“

„Und wer hat sie gefunden?“

„Na ja, ich.“

„Und wer hat mit der Bank verhandelt? Mike?“

Dottie lachte und klopfte ihm auf familiäre Weise auf die Schulter, wie es bisher niemand gewagt hatte. Einen Moment lang versteifte er sich. Dann rief er sich in Erinnerung, dass er inkognito da war, und entspannte sich wieder.

„Es hat keinen Sinn zu versuchen, mir Mike madig zu machen.“

„Das merke ich. Sie lieben ihn wirklich, oder?“

„Wahnsinnig“, bestätigte sie mit einem glücklichen Seufzer.

„Also sind Sie nicht an meinen infamen Absichten interessiert?“

„An … was?“

„Infam. Das heißt ruchlos, schändlich. Dafür halten Sie mich doch, oder?“

„Das muss ich, solange Sie so piekfein angezogen sind“, erwiderte sie frech. „Der letzte Typ, der so aufgemotzt hier auftauchte, ist verhaftet worden, als er zur Tür raus wollte. Er hat fünf Jahre wegen Betrugs gekriegt.“

„Da meine Kleidung mich nun mal verraten hat, sollten Sie mir mehr über sich erzählen, damit ich entscheiden kann, ob Sie drei Kamele wert sind.“

Sie krähte vor Lachen, und es klang dennoch angenehm in seinen Ohren.

„Ich heiße Dottie Hebden“, erklärte sie und machte damit seine letzte Hoffnung zunichte. „Dottie ist die Kurzform für Dorothea. Stellen Sie sich das mal vor! Wie kann man jemandem bloß so einen altmodischen Namen aufhalsen!“

„Vielleicht liegt er in der Familie.“

„Komisch, dass Sie das sagen. Es stimmt nämlich. Zumindest hat das mein Grandpa behauptet. Angeblich stammen wir von einer vornehmen Familie ab.“

„Hat er Ihnen etwas über diese Vorfahren erzählt?“

„Ich weiß nicht. Er hatte es mit dem Trinken, und wenn er beschwipst war, hat ihm niemand zugehört. Er hat einfach nur Märchen erzählt.“

„Haben Sie nie davon geträumt, dass die Märchen wahr wären?“

„Himmel, nein! Mit einer Krone herumstolzieren und vornehm tun? Ich? Das ist wohl ein Witz!“

Randolph folgte ihrem Blick, als sie plötzlich ernst wurde, und sah Mike mit finsterer Miene in ein Handy sprechen.

Mike beendete das Gespräch und trat zu Dottie. „Entschuldige, Dot. Ich muss mich um eine Panne kümmern. Ein wichtiger Kunde. Es wird lange dauern. Also sehen wir uns heute nicht mehr. Bis morgen Mittag im Park.“ Er küsste sie auf die Wange und ging.

„Ach, verdammt! Gerade, wenn wir schließen wollen“, murrte sie und rief: „Brenda, komm, und hilf mir wegräumen. Brenda!“

„Ich fürchte, sie ist gegangen“, sagte Randolph, der im Gegensatz zu ihr mit dem Gesicht zum Ausgang saß. „Gleich nach Mike.“

„Diese lausige … Sie darf erst gehen, wenn ich es ihr erlaube. Sie werden es nicht glauben, aber ich soll diesen Laden hier schmeißen.“ Sie sprang auf, hob das Gesicht gen Himmel und rief theatralisch: „Ich heiße Autorität! Meine Untergebenen haben vor mir zu schlottern!“

Die anderen Gäste, offensichtlich an derartige Auftritte gewöhnt, lachten und applaudierten.

Sie seufzte. „Aber sie behandelt mich, als wäre ich der Kuli. Ich bin der Kuli, denn jetzt muss ich ganz alleine aufräumen.“

„Ich fürchte, das ist der Preis für den Aufstieg ins Management.“

„Sie können den Mund halten!“ Dottie ging von Tisch zu Tisch und kassierte, und allmählich leerte sich das Lokal.

Sie hatte gerade mit dem Abwasch begonnen, als das Wandtelefon klingelte. Während sie lauschte, verfinsterte sich ihre Miene. Heftig knallte sie den Hörer auf die Gabel.

„Ich bringe ihn um!“, schimpfte sie. „Jemand hat für heute Nacht reserviert, und Jack hat vergessen, es mir zu sagen. Jetzt muss ich auch noch das Zimmer herrichten, bevor ich gehen kann. Zum Teufel mit Jack! Und zum Teufel mit diesem Holsson, wer immer das auch sein mag!“ Sie holte tief Luft. „Sie müssen jetzt gehen. Ich mache nämlich zu.“

„Kann ich Ihnen nicht helfen und damit für mein Verbrechen büßen?“, schlug Randolph vor.

„Welches Verbrechen?“

„Ich bin der lästige Mr. Holsson“, gestand er ein.

2. KAPITEL

„Ach verflixt!“ Dottie schlug sich eine Hand vor den Mund und sah dabei wie ein schuldbewusstes Kind aus, sodass er lachen musste. „Ich und mein großes Mundwerk! Ständig passiert mir so was.“

„Keine Sorge. Ich verrate es niemandem.“

„Normalerweise geht es bei mir nicht so drunter und drüber.“

„Es ist ja nicht Ihre Schuld, wenn es Ihnen niemand gesagt hat.“

„Danke, das ist nett von Ihnen. Geben Sie mir zehn Minuten, und dann komme ich rüber und mache es Ihnen gemütlich.“

Randolph befürchtete, dass ihm an diesem albtraumhaften Ort nur ein Wunder Behaglichkeit verschaffen konnte, aber er sagte es nicht. Allmählich gefiel ihm Dottie. Sie hatte ein freches Mundwerk, verhielt sich schrill und war völlig ungeeignet als Königin. Aber ihr raues, gutmütiges Wesen gefiel ihm, und ihre Fähigkeit, angesichts ihres tristen Daseins zu lachen, rührte ihn.

„Da es zum Teil meine Schuld ist, möchte ich Ihnen wirklich gern helfen“, beharrte er.

Sie ging bereitwillig darauf ein, und wenige Minuten später war sie fertig. Sie verschwand in einem Hinterzimmer, um ihre Kellneruniform auszuziehen, und kehrte in einer verwaschenen Bluse und Shorts zurück, die atemberaubende Beine enthüllten.

Der Anblick erweckte eine schmerzliche Erinnerung an seinen viel geliebten, aber zügellosen Vater, der stolz darauf gewesen war, auf Beine zu „fliegen“. Die Faszination, die ihre wohlgeformten Schenkel auf ihn ausübten, warf die Frage auf, ob er mehr, als bisher vermutet, mit seinem ungeratenen Vater gemeinsam hatte.

Randolphs Gepäck stand noch immer in der Eingangshalle, wo er es abgestellt hatte. Dass ihn dieser Umstand nicht überraschte, verriet, wie weit er es in der letzten Stunde gebracht hatte.

Zimmer Nummer sieben erwies sich als derbe Enttäuschung. Beim ersten Schritt hinein musste er sich am Türrahmen festhalten, weil das Bodenbrett schwankte. Die Tapete war von einem schmutzigen Grün, die Matratze total verklumpt, die Gardine zu klein für das Fenster, und die Schubladen des Nachttisches ließen sich nicht richtig schließen.

„Entschuldigung“, sagte Dottie und ließ den Stapel Bettwäsche und Handtücher von ihren Armen auf das Bett fallen. „Die Möbel sind ein bisschen … na ja …“

„Allerdings“, bestätigte er.

„Jack kauft sie gebraucht. Aber keine Sorge, es ist alles sauber. Dafür sorge ich.“

„Das glaube ich sogar. Ich helfe Ihnen, das Bett zu beziehen.“

Seine Bemühungen waren nicht von Erfolg gekrönt, außer dass sie Dottie Lachtränen in die Augen trieben.

„Allein bin ich schneller.“ Schwungvoll und äußerst tüchtig nahm sie das Bett in Angriff. Im Nu hatte sie es bezogen und das Kopfkissen kräftig aufgeschüttelt.

„Ich bin immer noch der Meinung, dass ich Ihnen etwas Gutes tun sollte, weil ich Ihnen das Leben schwer gemacht habe. Ich möchte Sie gern zum Essen einladen.“

„Aber Sie haben doch gerade gegessen.“

Vielsagend blickte er sie an.

„Sie haben es kaum angerührt, oder?“ Sie seufzte. „Aber Sie müssen nicht …“

„Ich würde aber gern. Bitte.“ Als sie zögerte, fügte er schamlos hinzu: „Denken Sie nur daran, dass Brenda es auf Ihren Verlobten abgesehen hat.“

„Richtig.“ Dottie reckte das Kinn vor. „Also, gehen wir.“

Auf seinen Vorschlag hin benutzte sie sein Handy, um ein Taxi in die Hanver Street zu rufen.

„Warum Hanver Street? Ist das hier eine Fußgängerzone?“

„Nein, aber Taxis kommen nicht gern her wegen der vielen Einbahnstraßen“, erklärte sie, während sie das Hotel verließen. „Die Hanver Street liegt gleich auf der anderen Seite vom Park.“

Der kleine Park befand sich am Ende der Straße. Er war winzig, nur ein Fleckchen Rasen mit einigen Schaukeln und ein kleines Wäldchen, aber er stellte eine unerwartete Freude in diesem schäbigen Viertel dar. Zwei Gestalten mitten auf dem Rasen erregten Randolphs Aufmerksamkeit. Sie waren ganz in Schwarz gekleidet und hatten sich die Gesichter schneeweiß angemalt. Stumm und geheimnisvoll mimten sie eine kleine Szene. Gelegentlich lächelten sie, wenn ein Passant stehen blieb und ihnen zusah.

Randolph holte einige Münzen hervor, doch die beiden Darsteller warfen entsetzt die Hände hoch.

„Sie wollen kein Geld?“, fragte er verwundert.

Gleichzeitig legten sie sich die rechten Hände auf die Herzen und verbeugten sich graziös.

Randolph war fasziniert. Er hätte ihnen länger zugesehen, aber Dottie hatte das Taxi entdeckt und zog ihn bei der Hand mit sich.

Verblüfft riss sie die Augen auf, als er dem Fahrer ihr Ziel nannte. „Ich kann nicht ins ‚Majestic‘ gehen“, wehrte sie entsetzt ab. „Das ist noch eleganter als das Ritz. Ich war noch nie in so einem Lokal.“

„Dann wird es höchste Zeit.“

„Seien Sie nicht albern. So, wie ich angezogen bin, kann ich da nicht reingehen.“

„Steigen Sie ein“, drängte er.

Widerstrebend befolgte sie die Aufforderung. Das Taxi brachte sie fort von der schäbigen Umgebung in die Innenstadt, wo die Schaufenster leuchteten und die Restaurants glitzerten. Sie presste die Nase an die Fensterscheibe und guckte sich mit glänzenden Augen um. Er fragte sich, wie oft ihr wohl etwas Gutes widerfuhr.

An diesem Tag hatte er so viele neue Dinge entdeckt, dass er seinen Horizont als voll ausgeweitet betrachtete und glaubte, dass es nichts mehr für ihn zu lernen gab.

Doch er irrte sich. Denn das ‚Majestic‘ bot ihm eine Erfahrung, die er nie zuvor gemacht hatte und nie wieder zu machen hoffte.

Ein Türsteher in extravaganter Livree öffnete ihm den Wagenschlag und verbeugte sich mit einem unterwürfigen Lächeln, das jedoch verschwand, sobald er Dottie erblickte. „Es tut mir sehr leid, Sir“, sagte er zu Randolph, so als wäre sie nicht existent, „unser Restaurant hat eine kleine Vorschrift. Damen müssen Röcke tragen.“

„So ein Unsinn!“, rief Randolph ungehalten.

„Ich fürchte, die Regel kann nicht gebrochen werden, Sir.“

Nur die lebenslange Gewohnheit, vor dem Sprechen zu denken, hielt ihn davon ab zu verkünden, wer er war. Prinz Randolph ging, wohin es ihm beliebte, und Restaurantbesitzer buhlten um seine Gunst. Dotties verkrampftes Lächeln verriet ihm, wie verletzt sie war, und plötzlich ärgerte er sich maßlos über sich selbst, weil er ihre Einwände einfach abgetan hatte.

Sanft nahm er sie am Arm. „Kommen Sie. Dieses Lokal entspricht nicht unseren Anforderungen. Wir suchen uns etwas Besseres.“

Der Türsteher plusterte sich auf wie ein Pfau.

Schweigend ging Dottie neben ihm her. Er wollte gerade etwas Tröstendes sagen, als sie losprustete. „Sein Gesicht war köstlich!“

„Es war in der Tat sehenswert“, pflichtete er ihr bei und dachte dabei an andere Frauen seiner Bekanntschaft, die ihn mit Schmollen bestraft hätten.

Dottie fühlte sich wie im siebten Himmel und genoss den ersten Ausflug seit Jahren in vollen Zügen. Sie erinnerte sich an das letzte Mal, als sie das vornehme West End besucht hatte – als Kind mit ihrem Großvater, der ihr den Weihnachtsmann in einem der eleganten Geschäfte gezeigt hatte. Nun fühlte sie sich fast genauso.

Ein Stückchen weiter die Straße entlang fanden sie ein Restaurant, das sich in jeder Hinsicht von dem ‚Majestic‘ unterschied – abgesehen von den Preisen, die sogar noch höher waren. Es war ein Imperium der Nouvelle Cuisine und supermodern und schick eingerichtet.

„Dürfen wir eintreten?“, fragte Randolph den Mann in Jeans und Hemd, der an der Tür lehnte.

Er deutete auf die Speisekarte mit den unverschämten Preisen. „Haben Sie genug Kohle?“

„Er hat die Kohle“, erwiderte Dottie, als sie Randolphs verblüffte Miene sah.

„Kohle?“, hakte er nach, als sie eintraten.

„Geld.“ Ein entsetzlicher Gedanke kam ihr. „Sie haben doch genug Kohle, oder?“

„Ich glaube, ich kann ein paar Briketts aufbringen.“

Der Kellner führte sie an einen Tisch am Fenster, das einen Ausblick auf die Themse bot. Er zog einen Stuhl für Dottie hervor.

„Ich kann mich nicht hinsetzen“, flüsterte sie Randolph zu. „Er hält ihn zu weit weg vom Tisch.“

„Vertrauen Sie ihm“, riet er. „Er wird ihn schon heranrücken, wenn Sie Platz nehmen.“

Zögernd beugte sie die Knie und wirkte erleichtert, als sie sicher auf der Sitzfläche landete.

„Offensichtlich kennen Sie die Geschichte der Kaiserin Eugenia nicht“, bemerkte Randolph amüsiert.

„Wer ist das?“

„Sie lebte Mitte des 19. Jahrhunderts und heiratete den französischen Kaiser Napoleon III. Aber sie war ein Parvenu.“

„Ein was?“

„Ein Emporkömmling. Sie war nicht von königlicher Geburt. In ihren Memoiren beschreibt sie, wie sie und ihr Mann mal eine Loge in der Oper mit Königin Victoria teilten. Als sie sich setzten, blickte sie hinter sich, um den Stuhl zu sehen. Aber Victoria blickte nicht zurück. Sie wusste einfach, dass der Stuhl an der richtigen Stelle stehen würde, weil es für sie immer so gewesen war. Eugenia schrieb, dass sie damals den Unterschied zwischen einer wahren Königin wie Victoria und einem Emporkömmling wie sich selbst begriffen hätte.“

„Ich weiß, wie sie sich gefühlt hat“, meinte Dottie. „Das Leben wartet immer nur darauf, den Stuhl wegzuziehen. Ich würde einfach direkt auf dem Arsch landen.“

Randolph zuckte zusammen.

„Sie hören sich an wie Brenda. Sie ist ganz verrückt nach all diesem Königskram. Momentan redet sie ständig von Ellurien, und dass die ihren König verloren haben, weil er unehelich ist oder so.“

„Woher weiß sie das denn?“

„Aus dieser Zeitschrift, die sie dauernd liest. ‚Königliche Geheimnisse‘.“

Diese Zeitschrift enthielt bestimmt ein Foto von ihm. Er konnte der furchtbaren Plastikpalme nur dankbar sein, die ihn vor Brendas Blicken geschützt hatte. „Lesen Sie diese Zeitschrift auch?“, fragte er besorgt.

„Ich doch nicht! Das ist doch nur Schund. Wer brauchte heutzutage noch Könige?“

„Und was ist mit dem britischen Königshaus?“

„Ach, wissen Sie, ich wünsche denen nichts Böses“, erklärte sie hastig. „Ich will sie nicht ausgelöscht wissen oder so – nur pensioniert.“

Der Kellner wartete geduldig. Nachdem Dottie mit verwirrter Miene in die französische Speisekarte geblickt hatte, akzeptierte sie Randolphs Vorschlag, für sie mitzubestellen.

„Haben Sie eine Vorliebe für einen bestimmten Wein?“

„Für mich tut’s ein Bier.“

„Ich glaube nicht, dass es hier Bier gibt.“ Er schlug ihr eine französische Weinsorte vor, ohne ihr zu sagen, dass die Flasche fast 100 Pfund kostete, und sie willigte lächelnd ein.

Als die Speisen serviert wurden, kam Dottie nur langsam mit dem Essen voran, denn sie war anscheinend unfähig zu reden, ohne mit beiden Händen zu gestikulieren.

„Sie kommen nicht aus England, oder?“, fragte sie zwischen zwei Bissen. „Sie haben eine komische Aussprache. Nein, ich meine … nicht wirklich komisch …“

„Schon gut. Ich habe wirklich einen Akzent. Ich komme aus Ellurien.“

„In echt? Das ist ja Wahnsinn!“ Sie lächelte. „Aber Sie sind nicht königlich, oder?“

„Nein, das bin ich nicht.“ Es stimmt, beruhigte er sein Gewissen. Es stimmte nun seit einigen Wochen.

„Ich weiß überhaupt nichts von Ellurien. Nicht mal, wo es liegt.“

„In Mitteleuropa. Es ist ein kleines Land mit ungefähr drei Millionen Einwohnern. Die Amtssprache ist deutsch, aber wir sprechen alle auch englisch, weil es die Sprache des Handels und des Tourismus ist. Beide Wirtschaftszweige sind uns sehr wichtig.“

„Sind Sie deswegen hier?“

„Gewissermaßen. Man könnte sagen, dass ich auf Entdeckungsreise hier bin.“

„Aber warum ausgerechnet in einem schäbigen Viertel wie Wenford? Warum das Grand Hotel? Sie sind da völlig fehl am Platz.“

„Vielen Dank.“

„Entschuldigung. Ich wollte nicht unhöflich sein. Ich rede immer erst und denke hinterher. Das war schon immer so und wird wohl auch immer so bleiben. Zu spät, mich zu ändern.“

„Meinen Sie nicht, dass Sie es versuchen könnten?“

Besorgt blickte sie ihn an. „Sind Sie sauer auf mich?“

„Nein. Zuerst zu reden und dann zu denken ist charmant bei einer jungen Frau, aber es gibt Zeiten und Situationen, in denen es nachteilig sein könnte.“

„Sie meinen, wenn ich ein hässlicher, alter Drachen geworden bin?“, hakte sie munter nach.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie jemals hässlich werden.“

„Aber ein alter Drachen schon? Mike sagt, ich bin manchmal wie ein Diktator.“

„Stört es Sie nicht, wenn er Ihnen so etwas sagt?“

Sie schmunzelte. „Ach, wenn er übers Ziel hinausschießt, gebe ich ihm einfach einen langen Kuss, und er vergisst alles andere.“

Das ist klug von ihr, dachte er. Ein Kuss von diesen Lippen verkörperte nicht nur Sex, sondern Freude und Sonnenschein und all die schönen Dinge des Lebens.

„Jungs machen mir nie Probleme“, fügte sie redselig hinzu.

„Geben Sie denn allen lange Küsse?“

„Nicht nötig. Ein Lächeln reicht normalerweise. Aber Sie haben wohl recht. Es wird mal der Tag kommen, wenn sie mich nicht mehr ins Bett kriegen wollen …“

„Würden Sie bitte etwas leiser reden?“, warf er verlegen ein.

„Und dann werde ich meine Zunge hüten müssen“, schloss sie.

„Das habe ich eigentlich nicht gesagt.“

„Aber das haben Sie doch mit ‚nachteilig‘ gemeint. Wenn ich was Blödes sage, schadet es niemandem außer mir. Königreiche werden nicht untergehen, weil Dottie Hebden ihren großen Mund aufmacht.“

„Nicht?“, murmelte er grimmig.

„Und das ist gut so, weil sie ständig dumme Sachen sagt. Eine richtig dumme Kuh, sagen alle. Na ja, Mike sagt es nicht, weil er sich nicht traut … Oh, Mann, das wollte ich nicht!“

„Kein Problem“, sagte der Kellner, während er sich eifrig die Kleidung abwischte.

Hingerissen von ihrer Redegewandtheit war sie mit einer wilden, ausladenden Geste in seinen Weg geraten und hatte ihm eine artistische Kreation vom Tablett gefegt.

Ein entsetzter Laut hinter ihm kündete davon, dass es für den Küchenchef sehr wohl ein Problem darstellte. „Mein Meisterwerk“, klagte er, den Blick auf das Häuflein auf dem Fußboden geheftet.

„Ich komme natürlich für den Schaden auf“, erklärte Randolph.

„Ich habe eine Stunde gebraucht, um es zu perfektionieren! Denken Sie wirklich, dass Geld …“

„Ich denke nie“, warf Dottie zerknirscht ein und sprang auf. „Es tut mir ja so leid! Wie können Sie mir jemals verzeihen?“ Sie nahm seine Hände und blickte ihm mit einem entwaffnenden Lächeln in die Augen.

Randolph beobachtete die wundersame Verwandlung, die in dem Mann vorging. Der Racheengel schmolz in kaum drei Sekunden förmlich dahin und versicherte eifrig, dass alles in bester Ordnung sei.

„Das war sehr clever“, lobte Randolph, als sie wieder allein waren. „Wie lange haben Sie gebraucht, um das zu vervollkommnen?“

„He, das war kein Theater“, entgegnete sie verletzt.

„Seien Sie ehrlich. Sie haben doch gerade damit angegeben, wie Sie Mike jederzeit zur Unterwürfigkeit zwingen können.“

„Ich habe überhaupt nicht angegeben. Mike liebt mich, und deswegen funktioniert es.“

„Bei ihm vielleicht, aber was ist mit den anderen? Sie haben gesagt, dass ein Lächeln normalerweise reicht. Sie wussten genau, was Sie gerade taten.“

Jetzt schmunzelte sie schelmisch. „Na gut. Ich war gar nicht so schlecht, oder?“

„Allerdings nicht. Die werden uns hier nicht mal das Meisterwerk berechnen, das Sie ruiniert haben. Ein Augenaufschlag von Ihnen, und ihm wurden die Knie weich.“

„Aber das hat nichts mit Spott zu tun“, verteidigte sie sich. „Ich bin nur nett zu den Leuten. Ich habe wirklich sein Meisterwerk ruiniert und mich dafür entschuldigt. Das ist alles.“

Ihm wurde bewusst, dass sie es ernst meinte. Ihr Lächeln entsprang ihrem sonnigen Wesen und ihrer Aufrichtigkeit, und deswegen wirkte es wie Dynamit.

Von ihm ermutigt, plauderte sie über ihre Familie. Weder ihre Eltern noch ihre Großeltern lebten noch, und sie war seit ihrem sechzehnten Lebensjahr auf sich selbst gestellt.

Sie verstand es, auf lustige Weise zu erzählen. Die Last der Verantwortung und die Anspannung fielen von ihm ab, als er herzhaft darüber lachte, wie ihre Großmutter mit den zahlreichen Flirts ihres Großvaters umgegangen war.

„Natürlich wusste sie, dass er sie wirklich liebt, aber sie ist immer mit der Bratpfanne auf ihn losgegangen. Wenn sie wirklich gedacht hätte, dass er sich daneben benommen hätte, wäre sie auf ihn losgegangen wie ein Frettchen auf ein Kaninchen.“

„Ein Frettchen?“

„Sie haben wohl noch nie eins gesehen, oder?“

„Nein.“

„Das ist ein Nagetier. Grandpa wollte welche als Haustier halten, aber Grandma hat gesagt nur über ihre Leiche, und er hat gesagt, sie soll ihn nicht in Versuchung führen.“

Sie beendete das Mahl mit einem großen Eisbecher, ihrer Lieblingsspeise und einem weiteren Glas Wein. „Das ist schon mein Drittes“, bemerkte sie schuldbewusst. „Soll ich lieber nicht?“

„So guter Wein schadet Ihnen nicht. Und ich verspreche Ihnen, dass Sie bei mir sicher sind.“

„Keine krummen Touren?“

„Nein.“

Schade, schoss es ihr flüchtig durch den Kopf. Er musterte sie ein wenig belustigt. Seine Augen blickten warm, und plötzlich hatte sie das Gefühl, als wären sie die beiden einzigen Menschen auf der Welt. Sie fragte sich, warum ihr vorher noch gar nicht aufgefallen war, wie gut er aussah.

Er hatte einen athletischen Körper, groß und kraftvoll, als wäre er gestählt durch ein Leben im Freien. Seine Hände waren anmutig und doch groß, so als könnte er mühelos alles in ihnen halten.

Sein Gesicht war jedoch ganz anders. Es war schmal, mit feinen Zügen und dunklen, ausdrucksvollen Augen – das Gesicht eines Denkers, eines Gelehrten, vielleicht eines Poeten. So etwas hatte Dottie noch nie zuvor gesehen, und doch erkannte sie es auf Anhieb und verspürte eine merkwürdige Regung. Dann lachte sie insgeheim über sich selbst. Was sollte sie mit so einem Mann anfangen? Mit einem Mann, den sie nicht durchschauen konnte. „Sind Sie Soldat?“, fragte sie impulsiv.

„Wie kommen Sie denn darauf?“

„Ich weiß nicht. Sie haben irgendwie so was an sich“, erwiderte sie hilflos. Das Leben in einer Familie mit einem begrenzten Wortschatz hatte sie nicht auf derartige Gespräche vorbereitet.

„Ich habe eine Weile in der Armee gedient“, antwortete er wahrheitsgemäß. Das hatte zu seiner Ausbildung gehört.

„Aber Sie wollten keinen Beruf daraus machen?“

„Nein, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass ich dorthin zurückkehre.“

Sie sagte nichts dazu. In ihre Augen trat ein abwesender, verklärter Blick.

„Dottie?“

Sie hatte seinen Mund beobachtet, seine ausdrucksvollen Lippen. Nun kehrte sie in die Realität zurück. „Ja?“

„Was haben Sie gerade gedacht?“

„Dass dies der schönste Abend ist, den ich je erlebt habe.“

„Führt Mike Sie nicht aus?“

„Doch, wir gehen manchmal zum Hunderennen. Das ist toll.“

„Was wünschen Sie sich eigentlich, Dottie?“, fragte er unvermittelt. „Vom Leben, meine ich.“

„Das wissen Sie doch schon. Ich werde Mike heiraten, und wir werden eine Werkstatt kaufen.“

„Und glücklich sein bis an Ihr Ende“, schloss er ironisch. „Sonst nichts?“

„Viele Kinder.“

„Aber wollen Sie sich denn nicht emporschwingen?“

„In einem Flugzeug? Mir sind Boote lieber.“

„Wie meinen Sie das?“

„Grandpa ist mit mir immer zur Themse gegangen. Ich habe es geliebt, die Schiffe zu beobachten und an ferne Orte zu denken.“ Sie blickte durch das Fenster zum Fluss, der in der Uferbeleuchtung schimmerte.

„Warum zeigen Sie es mir nicht?“, schlug Randolph vor und gab dem Kellner ein Zeichen.

Minuten später spazierten sie hinab zum Wasser. Es war still am Ufer, und sie hörten das sanfte Plätschern der Wellen. Nach einer Weile des Schweigens stützte Dottie die Ellbogen auf die Ufermauer und seufzte.

„Ich habe vorhin nicht in einem Flugzeug emporschwingen gemeint“, erklärte Randolph. „Ich meinte damit geistig.“

„Das tun die Leute in Wenford nicht“, entgegnete sie mit einem leisen Seufzer. „Es ist kein emporschwingender Ort.“

„Aber was ist mit der Ferne, die Sie erwähnt haben? Was ist mit den Ländern Ihrer Träume? Geben Sie sich wirklich mit Ihrem Lokal und Ihrem Mechaniker zufrieden?“

„Sie haben was gegen den armen Mike, oder? Ich weiß, dass er nicht für jede Frau ein Traummann ist, aber er ist nett und gutmütig und lässt zu, dass ich mich um ihn kümmere.“

„Das gefällt Ihnen? Sich um andere zu kümmern?“

„Natürlich“, sagte sie überrascht, so als wäre es eine Tatsache. „Es ist wundervoll, gebraucht zu werden. Früher wollte ich mal …“

„Sprechen Sie weiter.“

„Sie dürfen nicht lachen.“

„Ich verspreche es.“

„Na ja, zuerst wollte ich Schauspielerin werden. Aber dann wäre ich gern Kinderkrankenschwester geworden.“

„Warum sollte ich darüber lachen?“

„Also wirklich! Ich bin doch viel zu dumm. Ich habe nie irgendwelche Prüfungen in der Schule bestanden. Eigentlich habe ich nie an welchen teilgenommen. Damals gab es nur noch Grandpa und mich, und er war immer krank, und deswegen habe ich die Schule geschwänzt.“

„Das bedeutet doch nicht, dass Sie dumm sind, nur fürsorglich. Hätte es jemanden gegeben, der für Sie gesorgt hätte, wäre es anders gekommen.“

„Ich hatte jemanden, der für mich gesorgt hat“, widersprach sie heftig. „Grandpa hatte mich lieb. Ihm sind nur die Dinge etwas über den Kopf gewachsen. Jedenfalls konnte ich nicht Krankenschwester werden. Es steht nicht in meinen Sternen.“

„Sie lesen Horoskope?“

Sie schüttelte den Kopf und hob in einer ausdrucksvollen Geste eine Hand zum Nachthimmel. „Schicksal“, bemerkte sie theatralisch. „Vorsehung. Für jeden gibt es irgendwo einen Platz auf der Welt, den nur dieser Jemand einnehmen kann.“

Randolph hatte früher mal dasselbe gedacht. Sein Platz war klar umrissen gewesen, und er war gut darauf vorbereitet. Doch dann war alles anders gekommen. „Das ist eine gefährliche Einstellung“, erwiderte er nüchtern.

Sie seufzte. „Sie haben recht. Es ist nicht gut, zu viel zu träumen. Es ist besser, realistisch zu sein.“

„Vielleicht erweist sich die Realität als seltsamer, als Sie glauben“, murmelte er.

Erstaunt blickte sie ihn an. „Das klingt, als meinen Sie etwas Bestimmtes.“

„Nein, nein“, entgegnete er hastig und bemühte sich um eine gelassene Miene. Ein Taxi näherte sich, und er hielt es an. „Fahren wir zurück.“

Die Laternen brannten noch im Hanver Park. Die beiden Mimen waren noch da, gestikulierten in ernstem Schweigen, obwohl der Park ansonsten verlassen dalag.

Dottie und Randolph blieben stehen und schauten ihnen zu. Ihre weißen Gesichter leuchteten geisterhaft unter den Laternen.

Nach einer Weile blickte er zu ihr. Sie war fasziniert, blind gegen seine Anwesenheit. Ihre Augen leuchteten, ihre Lippen waren in einem verzückten Lächeln halb geöffnet. Er fragte sich, wann er das letzte Mal so selbstvergessen gewesen war, aber er konnte sich nicht erinnern.

Dotties Unschuld ging ihm unter die Haut. Sie war so aufrichtig und vertrauensvoll, so überzeugt, dass der Rest der Welt so ehrlich wie sie selbst war. Wie sollte sie durchschauen, dass der Mann an ihrer Seite plante, ihr Glück zu zerstören? Er würde ihr alles nehmen – die Welt, in der sie sich wohlfühlte; den Geliebten, der ihr so viel bedeutete. Und stattdessen würde er ihr Reichtum, Würde und eine gewisse Macht bieten. Randolph wurde jedoch langsam bewusst, dass ihr das alles gar nichts bedeuten würde.

Plötzlich blickte sie zu ihm auf. „Was ist los?“

„Nichts.“

„Doch. Sie denken an etwas Trauriges.“

Ihr Scharfsinn überraschte ihn.

„Liegt es an mir? Habe ich was falsch gemacht?“

„Nein, Dottie“, entgegnete er sanft. „Sie haben nichts falsch gemacht. Sie waren den ganzen Abend über hinreißend.“

Die beiden Artisten hatten ihre Vorstellung unterbrochen und beobachteten sie eindringlich.

„Na ja, zumindest habe ich Sie zum Lachen gebracht.“

„Mehr als das. Sie sind die netteste Person, die ich je kennengelernt habe.“

Eine sanfte Brise hatte eingesetzt und wehte ihr die Haare um das Gesicht. Er vermochte den Blick nicht von ihr zu lösen.

„Es war ein wundervoller Abend.“ Sie seufzte. „Einfach zauberhaft.“

„Das stimmt.“

Dottie wurde sich der Musterung der beiden Weißgesichter bewusst. „Was wollt ihr zwei?“

„Ich glaube, sie wollen, dass ich Sie küsse“, sagte Randolph. Er hob ihr Kinn mit einem Finger und senkte den Kopf.

Seine Lippen berührten ihre nur flüchtig, nicht leidenschaftlich, sondern zärtlich und mit diesem Zauber, der den ganzen Abend über geherrscht hatte. Als er den Kopf hob und Dottie lächeln sah, lächelte er ebenfalls und wandte sich an die Pantomimen. „Danke.“

Als Reaktion vollführten sie Freudensprünge und tanzten herum. Erneut versuchte er, ihnen Geld zu geben, doch sie lehnten mit heftigem Kopfschütteln ab. Dann wandten sie sich ab und liefen Hand in Hand davon.

„Warum haben Sie ihnen gedankt?“, fragte Dottie verständnislos.

„Weil ich ohne die beiden nicht gewagt hätte, Sie zu küssen.“

„Ich bin froh, dass sie kein Geld genommen haben. Das hätte irgendwie alles verdorben.“

„Ja, der Meinung bin ich auch.“

Sie sagte nichts, blickte nur zufrieden zu ihm auf. Noch war der märchenhafte Abend nicht zu Ende. Doch schon bald würde die Realität einsetzen und ihr wahres Ich zurückkehren.

Sie durchquerten den Park bis zu dem Hotel. „Haben Sie Ihren Schlüssel?“, fragte sie.

„Ja, aber ich bringe Sie nach Hause.“

„Nicht nötig. Es ist gleich um die Ecke.“

„Ein Gentleman lässt eine Lady nicht allein nach Hause gehen.“

Und der Zauber kann noch eine kleine Weile anhalten, dachte sie glücklich. Schweigend spazierten sie durch die Straßen bis zu einem schäbigen Backsteinhaus.

„Gute Nacht, Dottie. Danke für den wundervollen Abend.“

„Ich sollte Ihnen danken. Ich habe noch nie … noch nie …“ Sie lachte und suchte nach den richtigen Worten.

„Noch nie weißen Burgunder getrunken? Noch nie Nouvelle Cuisine gegessen?“

„Noch nie so geredet. Es war ein sehr schöner Höhenflug.“

„Möchten Sie ihn nicht fortsetzen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Aber es war nett, es mal zu erleben.“

„Sind Sie so sicher, dass es nie wieder geschehen wird?“

„Ja. Ich habe mein Leben zu führen. Das geht nicht im Höhenflug.“

„Aber …“

„Ich muss jetzt reingehen“, erklärte sie hastig und lief die wenigen Stufen zur Haustür hinauf. „Gute Nacht.“

„Gute Nacht“, wünschte er und wandte sich widerstrebend ab. Nach einigen Schritten rief sie ihn. „Ja?“, fragte er hoffnungsvoll.

„Denken Sie an das wacklige Bodenbrett, wenn Sie in Ihr Zimmer gehen.“

„Das werde ich tun.“

„Schlafen Sie gut. Morgen früh bringe ich Ihnen ein richtiges englisches Frühstück.“

„Danke. Gute Nacht.“

3. KAPITEL

Donnerstag war für Dottie der schönste Tag der Woche, denn dann hatte sie den Nachmittag frei und traf sich immer mit Mike im Park.

Die Sonne schien, als sie um zwei Uhr glücklich und zufrieden zu ihrem Rendezvous eilte. Ihre Welt war in Ordnung. Der vergangene Abend war für sie nichts weiter als ein wunderbarer Traum. Aus diesem Grunde hatte sie Jack überredet, Mr. Holsson das versprochene Frühstück zu servieren.

Sie betrat das kleine Wäldchen und blinzelte, um sich an das plötzliche Halbdunkel zu gewöhnen. Dann stellte sie fest, dass sie nicht allein war. Ein Mann lehnte an einem Baumstamm. Er trug eine Hose und ein Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Zunächst bemerkte er sie nicht, sodass sie ihn unbemerkt mustern konnte. Seine Arme waren muskulös, und sein Oberkörper unter dem dünnen Hemd wirkte schlank, aber kräftig. Unwillkürlich dachte sie zurück an seinen flüchtigen Kuss. Er hatte diese starken Arme nicht um sie gelegt, doch hinter der Sanftheit seiner Lippen hatte sie eine gewisse Spannung, ein Drängen gespürt, das sie auf magische Weise anzog.

Ein Sonnenstrahl, der durch die Bäume fiel, tauchte ihn in ein goldenes Licht und ließ ihn wie eine Erscheinung wirken, die sich jeden Augenblick in Luft auflösen würde.

Unvermittelt hob er den Kopf in ihre Richtung. Doch obwohl sein Blick auf sie fixiert war, schien er nicht sie, sondern jemand anders zu sehen. Der Eindruck war so stark, dass sie unwillkürlich über ihre Schulter schaute. Doch dann lächelte er, und sie wusste, dass sein Blick ihr galt.

„Hat Ihnen das Frühstück geschmeckt?“, erkundigte sie sich, während sie sich ihm näherte. „Sie haben nicht alles gegessen.“

„Es war ausgezeichnet, aber mehr, als ich für gewöhnlich zu mir nehme. Der Tee war sehr stark.“

„Hier in dieser Gegend ist Tee kein Tee, wenn der Löffel nicht darin steht.“

„Das habe ich gemerkt.“

„Sehen Sie sich die Gegend an?“

„Nein. Ich habe auf Sie gewartet“, antwortete er ernst.

„Wollen Sie sich wegen irgendwas beschweren?“

„Nein. Ich muss mit Ihnen reden. Gestern Abend …“

„Es war ein wunderschöner Abend, aber es war eben gestern. Heute bin ich wieder ich selbst.“

„Und wer waren Sie gestern?“

„Ich weiß nicht. Jemand, der mir vorher nie begegnet ist.“ Sie blickte in seine Augen und sah ein beunruhigendes Verständnis in ihnen. Es schien, als wüsste er im Voraus, was sie sagen wollte, noch bevor sie es dachte. „Wer immer es war, ich bin froh, dass sie weg ist und mich meinen Weg gehen lässt.“

„War sie es, die mich geküsst hat?“

„Das war nicht sie. Das waren Sie. Ach, ich weiß gar nichts mehr.“

„Ich bin auch etwas verwirrt“, gestand er, und schon beugte er sich zu ihr und senkte den Mund auf ihre Lippen. Er wusste, dass es gefährlich war, aber aus irgendeinem Grunde hatte seine Vernunft ihn verlassen.

Instinktiv hob Dottie eine Hand, um ihn fortzuschieben, doch die Hand landete auf seiner Schulter. Sie fühlte sich beinahe hypnotisiert von ihm, geradezu willenlos. Sie hatte nicht gewusst, dass die Lippen eines Mannes so sanft und doch so unwiderstehlich sein konnten. Irgendwie hatte sie das Gefühl, ihn mit ihrem ganzen Sein, nicht nur mit dem Mund zu küssen. Zumindest reagierte ihr ganzer Körper, bis hin zu den prickelnden Zehenspitzen.

Irgendwie erweiterte sich ihr Bewusstsein, ließ sie von fernen Horizonten, stürmischen Meeren, endlos blauen Himmeln träumen. Es gab so viel Ungeahntes zu erleben, so viel Neues zu erforschen, das weit hinausging über die enge, kleine Welt, die sie und Mike miteinander teilten.

Mike!

Dieses eine Wort wirkte wie ein kalter Guss. ...

Autor

Lucy Gordon
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