Julia Valentinsband Band 20

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DER VALENTINSKUSS von SMITH, KAREN ROSE
Ein Baby ist Corries größter Wunsch. Doch wird der attraktive Sam ihn ihr auch erfüllen? Kaum beginnt sie in seinen Armen von einer Zukunft als glückliche Familie zu träumen, taucht seine ehemalige Verlobte wieder auf. Ausgerechnet am Valentinstag ...

HERZKLOPFEN AM VALENTINSTAG von TEMPLETON, KAREN
Mercys Herz schlägt höher: Ihre große Jugendliebe Ben ist nach zehn Jahren plötzlich zurückgekehrt in die Heimat. Sofort fühlt sie sich wieder zu ihm hingezogen. Doch was empfindet er für sie? Wird er ihr am Valentinstag endlich seine Liebe gestehen?

ANTRAG AUF DEM VALENTINSBALL von WYLIE, TRISH
"Ich liebe dich", möchte Rhiannon hören - mehr nicht. Aber bis jetzt hat Kane nicht ein einziges Mal die magischen drei Worte zu ihr gesagt. Und deshalb wird sie ihn auf keinen Fall heiraten! Selbst wenn er auf dem Valentinsball vor ihr auf die Knie fällt …


  • Erscheinungstag 07.12.2008
  • Bandnummer 20
  • ISBN / Artikelnummer 9783862956470
  • Seitenanzahl 351
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

KAREN TEMPLETON

Herzklopfen am Valentinstag

Ebenso kurz wie leidenschaftlich war die Romanze, die Mercy mit Ben verband. Nie hat sie diesen Mann vergessen können! Und als er jetzt nach zehn Jahren plötzlich vor ihr steht, findet sie ihn attraktiver denn je. Doch warum verließ er sie damals ohne ein Wort der Erklärung? Wird er ihr am Valentinstag endlich sein Herz öffnen?

TRISH WYLIE

Antrag auf dem Valentinsball

„Willst du meine Frau werden?“ Kane blickt Rhiannon zärtlich in die Augen, als er ihr auf dem Valentinsball seinen Antrag macht. Aber seine Traumfrau sagt … Nein! Womit kann er sie bloß davon überzeugen, dass er sie nicht aus Berechnung sondern nur aus Liebe heiraten will? Vielleicht mit einer romanti-schen überraschung?

KAREN ROSE SMITH

Der Valentinskuss

Der gut aussehende, charmante Sam ist der erste Mann, dem Corrie nach einer schweren Enttäuschung Vertrauen schenkt. Doch kaum beginnt sie in seinen Armen ihren Glauben an die Liebe zurückzugewinnen, scheint er sich plötzlich mehr für seine Exverlobte als für sie zu interessieren. Das Aus für verliebte Küsse am Valentinstag?

1. KAPITEL

„Das kann doch wohl nicht so schwer sein …“, murmelte Mercedes Zamora durch zusammengebissene Zähne. Mit den Ellenbogen bahnte sie sich ihren Weg durch den riesigen Wacholderstrauch in ihrem Vorgarten, um die Sonntagszeitung einzusammeln, „… die Auffahrt zu treffen!“ Ein Zweig schlug ihr ins Gesicht und ließ sie zurückzucken. Als etwas Pelziges an ihren nackten Beinen vorbei zum Haus flitzte, schrie sie auf.

Der Kater setzte sich vor die Eingangstür und miaute zum Steinerweichen.

„Hey, es war allein deine Idee, letzte Nacht draußen zu bleiben“, sagte sie, als sie schließlich die Zeitung aus dem Busch angelte. Ihre langen Locken hatten sich inzwischen in den Zweigen verfangen. Fluchend packte sie die Haare und zerrten daran. „Ich fühle mit dir, aber ich … kann … gerade nicht.“

Stolpernd kam sie frei und plumpste auf den kalten Beton. Das tiefe, viel zu selbstbewusste Lachen eines Mannes auf der anderen Straßenseite brachte ihr Blut in Wallung. Vergessen waren die halberfrorenen Füße. Mercy wirbelte herum und zuckte zusammen.

Oh nein. Das durfte nicht wahr sein.

Zehn Jahre waren vergangen, seit sie Benicio Vargas zuletzt gesehen hatte. Ungeachtet ihrer vom hellen Licht schmerzenden Augen sah sie, dass diese zehn Jahre ihm gut bekommen waren. Dieselben breiten Schultern, dasselbe Grinsen, derselbe Übermut, und doch war er nicht mehr der fünfundzwanzigjährige Ben von damals.

Mercy war sich nicht sicher, ob sie genauer hinschauen wollte. In ihrem schäbigsten Morgenmantel und den zerzausten Haaren bot sie gewiss einen überwältigenden Anblick. Nicht, dass sie bereits zum alten Eisen gehörte. Ihre Haut war immer noch glatt, die braunen Haare schimmerten wie eh und je, und sie trug immer noch die gleiche Jeansgröße wie damals.

Ben schenkte ihr ein Lächeln, das die blinkende Weihnachtsdekoration am Haus ihres Vaters in den Schatten stellte. Ebenso wie den Christschmuck bei seinen Eltern direkt daneben.

Mercy war sich nicht sicher, was schlimmer war – dass sie früher einmal eine kurze, unvernünftige, aber sehr befriedigende Affäre mit dem Jungen von nebenan hatte oder dass sie, obwohl sie auf die vierzig zuging, immer noch in derselben Straße wohnte, in einem der Mietshäuser ihre Eltern. Aber warum sollte sie nicht in Sichtweite ihres heimatlichen Nestes bleiben, solange sie ihr eigenes Leben lebte?

Im Gegensatz zu dem Mr. World auf der anderen Straßenseite, der aus dem Nest geflüchtet und nie wieder zurückgekommen war.

Bis jetzt.

„Du siehst gut aus, Mercy“, rief Ben und zerrte einen Rucksack aus einem zum Campingbus ausgebauten Truck, sodass sie seine kräftigen Muskeln gebührend bewundern konnte.

„Danke“, erwiderte sie und presste die Zeitung an die Brust. „Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?“

Diplomatie war nicht gerade ihre Stärke.

„Hier und da“, sagte Ben und lächelte sie immer noch frech an. Hinter ihr steigerte der Kater sein Miauen zu einer ohrenbetäubenden Arie. „Ich glaube nicht, dass das der richtige Zeitpunkt ist, um mich dafür zu entschuldigen, dass ich einfach so verschwunden bin.“

„In der Tat!“, rief sie zurück, „zumal du gerade zugegeben hast, was die halbe Nachbarschaft ohnehin schon immer vermutet hat …“ Sie zuckte die Achseln. „Weiter so! Mach dich ruhig zum Idioten.“

Unerwartet wurde sein Gesicht ernst, und der unbekümmerte Ben, an den sie sich erinnerte, schien vollkommen verschwunden zu sein. An seine Stelle war ein Mann getreten, der heldenhaft all ihren Vorwürfen standhielt.

„Es tut mir leid, Mercy!“, sagte er, und der Winterwind trug die Worte zu ihr hinüber. „Ich meine es ernst.“

Er winkte ihr zu, drehte sich um und verschwand im Haus seiner Eltern. Zitternd ging sie zu ihrer eigenen Tür, ihr Kopf brummte, als hätte ihr jemand mit der Bratpfanne eins übergezogen. Warum war er zurückgekommen?

Aber eigentlich war ihr das egal.

Der Kater, den das noch weniger interessierte, flitzte ins Haus, bevor sie die Tür ganz geöffnet hatte. Das Telefon klingelte. Sie spähte hinaus und sah ihre Mutter am Küchenfenster stehen. Den Hörer ans Ohr gepresst, bedeutete sie Mercy, den Anruf anzunehmen.

„Ja, Ma“, sagte sie, kaum dass sie den Hörer abgenommen hatte. „Ich weiß, er ist wieder da. Ich mache ihm gerade eine Dose Katzenfutter auf.“

Mary Zamora seufzte. „Nicht deine dumme Katze, Mercy. Ben.“

„Ach so, Ben meinst du. Ja, ich habe ihn gerade gesehen. Hast du eine Ahnung, warum er hier ist?“

„Um seinem Vater zu helfen, was sonst? Sein Bruder hat sich doch nach Weihnachten den Fuß gebrochen“, fügte sie hinzu. „Ja, ich weiß, du magst Tony nicht besonders …“

„Ich habe doch gar nichts gesagt!“

„… aber da er mit deiner Schwester verheiratet ist, könntest du dich etwas mehr anstrengen, ihn zu mögen. Zumindest um Nitas willen. Aber egal“, fuhr Mary Zamora fort, „jetzt, wo Tony mindestens einen Monat lang nicht fahren darf und Luis die ganzen Aufträge unmöglich allein bewältigen kann, ist Ben nach Hause gekommen, um einzuspringen.“

Merkwürdig. Vor drei oder vier Jahren war Tony sechs Wochen lang krank gewesen, und damals war Ben auch nicht nach Hause gekommen. Warum also jetzt? Mercy sprach ihre Mutter jedoch nicht darauf an.

Ebenso wenig würde sie ihr gegenüber das dumpfe Gefühl erwähnen, dass zwischen Tony und Anita nicht alles zum Besten stand. Ihre Eltern wären am Boden zerstört, wenn Anitas Ehe scheitern würde. Die beiden Familien waren seit mehr als fünfunddreißig Jahren eng miteinander befreundet, praktisch von dem Augenblick an, in dem die Zamoras in das Haus neben dem der Familie Vargas gezogen waren. Dass zwei ihrer Kinder geheiratet hatten, hatte das Band nur noch fester geknüpft.

Da Anita sich Mercy noch nicht anvertraut hatte, blieb ihr nicht mehr als dieses dumpfe Gefühl. Doch die Zamorafrauen hatten einen unfehlbaren Instinkt dafür, ob jemand unter Liebeskummer litt.

„Er sieht ziemlich gut aus, nicht wahr?“

Sie zuckte zusammen. Das war eindeutig ein Grund, warum man besser nicht in Sichtweite der Eltern wohnen sollte. Obwohl Mercys vier Schwestern alle geheiratet hatten, war ihre Mutter immer noch nicht zufrieden. Für unverheiratete, gut aussehende Männer war es gefährlich, in ihre Nähe zu kommen.

„Und du bist doch gerade mit niemandem zusammen, oder?“

„Ma, ich arbeite beinahe ununterbrochen im Laden, das weißt du doch. In den letzten zwei Jahren hatte ich kaum genug Zeit für mich. Aber ehe du dir irgendwelche Hoffnungen machst – vergiss es. Ben und ich … das wird nichts.“

Sie waren schließlich schon einmal zusammen gewesen. Sie beklagte sich nicht darüber – aber sie hatte auch kein Interesse an einer Neuauflage ihrer Beziehung.

„Mercedes“, sagte ihre Mutter. „Selbst wenn er dich damals verletzt hat, solltest du vielleicht versuchen, darüber hinwegzusehen. Eine Frau in deinem Alter … wie soll ich sagen? Du kannst es dir nicht leisten, wählerisch zu sein.“

„Im Gegenteil“, widersprach Mercy. „Ich kann es mir nicht leisen, nicht wählerisch zu sein. Und glaube mir, ein fünfunddreißigjähriger Herumtreiber, der sich zehn Jahre lang nicht zu Hause hat blicken lassen, braucht es gar nicht erst zu versuchen.“ Ungeachtet des merkwürdigen Aufruhrs in ihrem Inneren. „Ehrlich, Ma, ich bin glücklich. Das Geschäft läuft gut, ich habe ein Dutzend Nichten und Neffen, die mein Bedürfnis nach kindlicher Gesellschaft stillen, und das Alleinleben gefällt mir. Ich bin nicht einsam, nicht hier, wo ihr gegenüber wohnt und Anita und ihre Bande zwei Straßen weiter. Es gibt kein großes Loch in meinem Leben, das ich unbedingt füllen muss.“

„Aber du wärst finanziell viel besser abgesichert, wenn du verheiratet wärst.“

Mercy massierte sich die Nasenwurzel. „Und ihr könntet doppelt so viel Miete für das Haus verlangen.“

„Du weißt, dass dein Vater und ich glücklich sind, wenn wir dich unterstützen können. Aber, Liebes, es sind jetzt sechs Jahre …“

Als Mercy und ihre beiden Partnerinnen das Geschäft aufbauten, hatten sie den Gürtel ziemlich eng schnallen müssen, und ihre Eltern hatten Angst, ihre Tochter könnte nicht gut genug für sich selbst sorgen.

„Ich weiß, dass es schwierig war“, sagte sie ruhig. „Aber inzwischen läuft es gut. Wirklich, ich könnte euch mehr Miete zahlen, wenn ihr wollt. Ich bin aus dem Gröbsten raus. Und ich habe es allein geschafft. Darauf solltest du doch stolz sein.“

„Das bin ich, mija. Nita ist Krankenschwester, Carmen hat einen guten Job bei der Stadt, und du hast dein eigenes Geschäft … keine Mutter könnte stolzer auf ihre Mädchen sein, glaub mir. Aber ich mache mir Sorgen, weil du ganz allein bist. Wenn du zu lange wartest, wird es irgendwann zu spät sein.“

„Himmel, Ma … hat Papito dir heute Morgen irgendwas in den Kaffee getan? Zum letzten Mal …“, obwohl sie ernsthaft bezweifelte, dass es wirklich das letzte Mal sein würde, „… ich bin gerne allein. Ich fühle mich nicht einsam. Verstanden?“ Und als ihre Mutter schwieg, fuhr sie etwas ruhiger fort: „Früher, als alle Welt sich verliebte und heiratete und Kinder in die Welt setzte, fühlte ich mich vielleicht etwas ausgeschlossen, weil ich all das nicht hatte. Aber ich habe mich verändert. Wenn ich jemals eine Ehe in Betracht ziehen soll, dann muss derjenige schon Einiges vorzuweisen haben. Er müsste … perfekt sein.“

„Niemand ist perfekt“, erwiderte ihre Mutter. „Dein Vater ist alles andere als vollkommen. Trotzdem liebe ich ihn.“

„Als ihr euch kennenlerntet, wart ihr beide jung. Ich dagegen habe immer weniger Lust, meine Energie damit zu vergeuden, mich entweder an die Fehler eines Mannes zu gewöhnen, oder sie ihm auszutreiben. Je älter ich werde, desto weniger bin ich bereit, mich mit weniger als dem Besten zufrieden zu geben. Und glaube mir, Ben Vargas schafft es garantiert nicht in die engere Wahl.“

In diesem Moment trat der Mann aus dem Haus, um etwas aus dem Truck zu holen, und Mercy seufzte schwer.

„Nun“, sagte ihre Mutter, die Ben offensichtlich ebenfalls beobachtete, „wenn du es so siehst, dann hast du vermutlich recht.“

„Danke. Gibst du jetzt endlich Ruhe?“

„Im Moment jedenfalls. Aber sag mal, hat der Mann nicht einen wunderschönen Po?“

Mercy lachte laut auf. „Das lässt sich nicht bestreiten“, sagte sie, während sie Ben betrachtete. Die klare Wintersonne New Mexicos betonte das Kinn stärker, als sie es in Erinnerung hatte. Und seit wann hatte sie etwas für windzerzauste Haare übrig? Und – sie beugte sich ein wenig vor – für Bartschatten? „Schön oder nicht“, sagte sie, ohne den Blick abwenden zu können, „sobald Tony wieder auf dem Damm ist, wird Ben sich aus dem Staub machen … ganz der einsame Cowboy.“

Ihre Mutter kicherte. „Du beobachtest ihn auch, nicht wahr?“

Hastig wich sie vom Fenster zurück. „Natürlich nicht, sei nicht albern.“

Ma wird bestimmt hundert Jahre alt, dachte Mercy, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte. Das bedeutete, dass sie noch vierzig Jahre lang so weitermachen kann.

Was für ein furchtbarer Gedanke!

Während er an dem kleinen Tisch in der elterlichen Küche saß, versuchte Ben die nötige Begeisterung für den mit Würstchen, Kartoffelpuffern, grüner Paprika und Rührei gefüllten Teller aufzubringen, den seine Mutter ihm vorgesetzt hatte.

„Wenn du die ganze Nacht gefahren bist“, sagte Juanita Vargas und ignorierte das Winseln der drei übergewichtigen Chihuahuas zu ihren Füßen, „solltest du nach dem Essen vielleicht ein Nickerchen machen. Ich werde deinem Vater sagen, dass er den Fernseher nicht so laut dreht, wenn er vom Golfspielen nach Hause kommt.“

Ben versuchte zu begreifen, wo das merkwürdige Gefühl herrührte, niemals fort gewesen zu sein. Schließlich lächelte er und nahm seine Gabel. „Das ist nicht nötig. Es geht mir gut.“

„So siehst du aber nicht aus. Wann hast du zum letzten Mal etwas Vernünftiges gegessen? Möchtest du noch mehr Eier?“

„Nein, Mama, wirklich nicht“, wehrte er hastig ab und schob sich eine Gabel voll in den Mund. „Danke.“

Gnädigerweise klingelte das Telefon, und seine Mutter eilte mit klappernden Absätzen aus der Küche. Eilig schaufelte Ben die Hälfte des Essens in seine Serviette und warf sie in den Müll. Lieber wollte er sterben, als ihre Gefühle zu verletzen, aber er konnte unmöglich alles aufessen.

Wie war er nur auf die Idee gekommen, dass dieser Ausflug nach Hause ihm die Ruhe geben würde, die er so dringend brauchte? Seine Mutter behandelte ihn wie ein Kleinkind, und auch der alte Konflikt zwischen seinem Vater und ihm würde sich nicht in Luft aufgelöst haben. Und zu allem Überfluss war da auch noch Mercy.

Mercy!

Ben nahm einen Schluck Kaffee und fragte sich, wie ein so kurzes Zusammentreffen eine ganze Dekade einfach so auslöschen konnte. Als er sie beobachtet hatte, wie sie mit diesem Strauch kämpfte, war er wieder der junge Kerl gewesen, der vor Verlangen nach der heißesten Frau, die er jemals getroffen hatte, fast verrückt wurde. Sie hatte sich, zumindest körperlich, ebenso wenig verändert wie das Haus seiner Mutter. Doch in diesem Fall war er froh darüber.

Er bezweifelte allerdings, dass sie noch dieselbe Frau war wie damals. Er war schließlich auch nicht mehr derselbe Mann.

Seine Mutter hatte ihm prompt mitgeteilt, dass sie immer noch Single war, aber Ben glaubte nicht, dass sie all die Jahre auf ihn gewartet hatte. Unmöglich! Sie war wütend auf ihn, das konnte er deutlich sehen.

Dabei hatte er nicht einmal ein Versprechen gebrochen. Schließlich war sie diejenige gewesen, die von Anfang an klargemacht hatte, dass es nicht von Dauer sein würde. Er wusste, dass sie wie ihre Schwestern heiraten und Kinder bekommen wollte. Aber ebenso gut wusste sie, dass ihn allein der Gedanke daran krank machte. Also hatten sie sich nie irgendwelchen Illusionen hingegeben. Doch das war keine Entschuldigung dafür, dass Ben eines Tag einfach verschwunden war, ohne ihr auch nur Lebewohl zu sagen.

Sie hatte etwas Besseres verdient, als eine aussichtslose Affäre mit einem Vagabunden, der davon überzeugt war, dass Weglaufen die einzige Lösung für ein Problem war, das er nicht einmal richtig verstand.

Es hatte ziemlich lange gedauert, bis er erkannt hatte, wie dumm diese Entscheidung gewesen war.

„Bist du schon fertig?“, ertönte die Stimme seiner Mutter neben ihm. „Möchtest du noch …“

„Nein! Wirklich nicht!“, erklärte Ben lächelnd. „Es war sehr lecker, danke.“

Sie strahlte. „Willst du noch etwas Kaffee?“

„Ja, gern.“

Nachdem sie ihrem Sohn Kaffee nachgeschenkt hatte, setzte Juanita sich zu ihm und berührte kurz seine Hand. Ihr Haar war immer noch schwarz und voll und betonte ihre ausgeprägten Wangenknochen, und das herzliche Lächeln ließ sie um Jahre jünger aussehen. „Es bedeutet deinem Vater so viel“, sagte sie leise auf Spanisch, „dass du zurückgekommen bist. Er hat dich sehr vermisst.“

Ben hob die Tasse an die Lippen und wagte nicht, seiner Mutter in die Augen zu schauen. Er hatte gewusst, wie sehr er Luis verletzen würde, aber er hätte einfach nicht hier bleiben können.

„Zehn Jahre lang warst du fort“, sagte sie, immer noch auf Spanisch. „Warum bist du nicht wenigstens in den Ferien ab und zu vorbeigekommen? Wegzugehen, um sein eigenes Leben zu leben, ist eine Sache, aber niemals nach Hause zu kommen …“ Ihr Gesicht schien zusammenzufallen, und kopfschüttelnd fragte sie: „Was haben wir getan, mijo? Dein Vater bewundert dich, er würde alles für dich tun …“

„Das weiß ich, Mama.“ Ben ergriff ihre zierliche Hand und drückte sie vorsichtig. „Ich war nur so … ruhelos.“

Das war nicht die ganze Wahrheit, aber zumindest war es auch keine Lüge. Nachdem er aus der Army ausgeschieden war, hatte er sich in seinem alten Leben hier in Albuquerque nicht mehr zurechtgefunden. Aber die Zeit verschleierte die Erinnerungen, und inzwischen wusste er nicht mehr, wann ihm der wahre Grund für seinen Weggang klar geworden war.

Aber er hatte immer genau gewusst, was er aufgegeben hatte.

Seine Mutter lächelte und sagte: „Wenn ich daran denke, wie du herumgezappelt hast, bevor du geboren wurdest, ist das keine Überraschung.“ Dann verschwand ihr Lächeln erneut. „Irgendetwas sagt mir, dass du nicht wegen Vater oder Tony hier bist, sondern deinetwegen.“

Ein oder zwei Sekunden lang sahen sie einander in die Augen, während Ben sich für die Frage stählte, die einfach kommen musste. Was hast du die ganze Zeit über getrieben?

Doch sie kam nicht. Stattdessen stand seine Mutter auf und nahm seine leere Tasse. „Was immer deine Gründe sein mögen, es ist gut, dass du …“

„Ben!“

Beim Klang der Stimme seines Vaters wandte sich Ben um. Luis Vargas stand in der Tür, die zur Garage führte, und versuchte seine hochmoderne Golfausrüstung hereinzubugsieren, ohne von den aufgeregt kläffenden Hunden Notiz zu nehmen. Ben sprang auf, während sein Vater die Golftasche fallen ließ und die Arme ausbreitete. Und schon drückte der nur wenig kleinere Mann Ben in einer herzlichen Umarmung an seine Brust.

„Ich hatte dich nicht so früh erwartet, sonst wäre ich zu Hause geblieben!“ Mit seinen kräftigen Handwerkerhänden umklammerte er seinen Sohn. In seinen Augen schimmerten ein paar Tränen. Leicht schiefe Zähne schauten unter dem struppigen Schnurrbart hervor. „Du siehst gut aus. Sieht er nicht prächtig aus, Juanita? Dios“, sagte er, während er Ben schüttelte und grinste. „Wie lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet! Hast du schon etwas gegessen? Juanita. Hast du deinem Kind etwas zu essen gegeben?“

„Ja, Pop“, sagte Ben und lachte leise. „Sie hat mich regelrecht gemästet.“

Sein Vater ließ ihn los, schüttelte den Kopf und lächelte. Ein kleiner Bierbauch wölbte sich unter der Weste. „Jetzt wird endlich alles so, wie es sein sollte, was?“ Er tätschelte Bens Arm, dann zog er ihn zu einer weiteren Umarmung erneut an sich.

Das Haus schien leicht zu beben, als die Eingangstür geöffnet wurde, gefolgt von einem unwirschen „Anita! Ich brauche deine Hilfe nicht!“

Ben versteifte sich.

Mit einem Schwall kalter Luft, die Bens erhitztes Gesicht kühlte, betraten sein Bruder und seine Schwägerin zusammen mit ihren zwei Kindern die Küche.

„Tony!“ Luis legte Ben einen Arm um die Schulter und zog ihn an sich. „Dein Bruder ist endlich zurückgekommen. Ist das nicht fantastisch?“

Tonys Blick bestätigte, dass sich auch in ihrem Verhältnis nichts geändert hatte.

2. KAPITEL

Tony lehnte seine Krücken an die Wand, ließ sich schwerfällig auf einen Stuhl sinken und streckte das eingegipste Bein von sich. Kleiner und stämmiger als sein Bruder, sah er ihrem Vater viel ähnlicher. Ein sorgfältig gestutzter Bart zierte sein rundes Kinn und verdeckte das Babygesicht, das Tony schon während der Highschool gehasst hatte. Er warf Ben einen finsteren Blick zu. „Da bist du also.“

Seine Mutter war zu sehr mit ihren Enkeln beschäftigt, als dass sie den säuerlichen Unterton in seiner Stimme wahrgenommen hätte, aber Ben bemerkte das irritierte Stirnrunzeln seiner Schwägerin.

„Fang bitte nicht damit an“, sagte sie leise, und Tony sah sie grimmig an.

„Ja, da bin ich“, erwiderte Ben. Um einer Auseinandersetzung zu entgehen, wandte er sich den Kindern zu. Seine Mutter hatte ihm regelmäßig E-Mails mit Bildern von den beiden geschickt, aber er hatte sie noch nie persönlich gesehen. Beim Anblick des schlaksigen, lebhaften zehnjährigen Jake und der schüchternen Matilda, die sich hinter ihrer Mutter versteckte, zog sich seine Brust zusammen.

„Komm her, du“, sagte Anita und streckte die Arme aus. Ihr eng anliegender Pullover betonte ihre ausgeprägten Rundungen. Ben erinnerte sich, dass Mercys Schwester niemals eckig gewirkt hatte, selbst als kleines Kind nicht. Ihre Umarmung war kurz und herzlich. „Willkommen zu Hause“, flüsterte sie, ehe sie ihn losließ.

„Du hast dich kein bisschen verändert“, sagte Ben grinsend. „Du siehst genauso umwerfend aus wie immer.“

Ihr Lachen lenkte nicht davon ab, dass ein rosiger Schimmer ihre Wangen überzog und ihre kaffeebraunen Augen mit den dichten Wimpern schmal wurden, als sie ihn kurz musterte. Braune Locken umrahmten ihr volles Gesicht. „Und du bist immer noch der geborene Gentleman! Egal … die kleine schüchterne Lady hier ist Matilda, genannt Mattie. Und das hier ist Jacob, genannt Jake. Kinder, sagt eurem Onkel Ben Hallo.“

Da Matilda sich weiterhin versteckte, begrüßte Ben zuerst seinen Neffen, der ihn skeptisch musterte. „Ich habe gehört, du spielst Baseball?“

Überrascht sah der Junge ihn an und grinste dann. „Seit der dritten Klasse. Spielst du auch?“

„So einigermaßen. Genug, um mit dir mal auf den Platz zu gehen.“

„Super! Dad ist immer viel zu müde dazu.“

„Erzähl keinen Unsinn, Jake“, sagte Tony, und Anita warf ihm einen bitterbösen Blick zu.

„Und wann hast du das letzte Mal mit ihm gespielt?“

„Um Himmels willen, Anita, ich habe ein gebrochenes Bein!“

„Ich meine, bevor …“

„Bist du der Ben, von dem Opa immer so viel erzählt?“

Das Timing seiner Nichte war einfach perfekt, und lächelnd wandte sich Ben dem kleinen Mädchen zu. Sie hatte große, schokoladenbraune Augen, braune Zöpfe und ein herzförmiges Gesicht. In den Armen hielt sie ein heiß geliebtes Kuscheltier. Ben war auf der Stelle ganz vernarrt in sie. „Was erzählt Opa denn von mir?“

Mattie drückte ihr Kuscheltier enger an sich und legte den Kopf schräg. „Er sagt, dass du immer mit Tante Rosie und Tante Olivia gespielt hast, als du klein warst.“

„Das stimmt.“ Ben ging in die Hocke und deutete mit einem Nicken auf das Ding in ihrem Arm. „Wie heißt denn dein kleiner Freund?“

„Sammy. Es ist eine Katze. Ich will ein echtes Kätzchen, aber Mama sagt, das bekomme ich erst, wenn ich sechs bin. Aber das dauert nicht mehr lange.“

„Ganz die Mutter“, sagte er augenzwinkernd und sah Anita an. „Du bist genauso hübsch wie sie.“

„Ja, das sagt jeder“, erwiderte Mattie vollkommen ernst. Sie beugte sich ein Stückchen vor, bis sie ihn fast berührte. „Mein Daddy hat sich das Bein gebrochen“, flüsterte sie, als würde sie ihm ein Geheimnis anvertrauen.

„Ich weiß“, flüsterte Ben zurück. „Darum bin ich hier, um deinem Großvater zu helfen, bis dein Dad wieder arbeiten kann.“

„Das wäre überhaupt nicht nötig gewesen“, erklärte Tony, ohne seinen Unmut zu verbergen. „Für die paar Wochen kann mich auch einer der Jungs fahren. Oder du könntest das machen“, sagte er zu Anita. Diese verschränkte die Arme und starrte ihn an.

„Ich habe dir schon gesagt, dass ich keine Zeit habe, um …“

„Und vielleicht“, mischte sich Bens Mutter ein, sichtlich bemüht, einen Krieg in ihrer Küche zu verhindern, „könntest du ein wenig Freude zeigen, dass dein Bruder wieder da ist?“

„Ja, das ist prima“, sagte Mattie und umarmte Ben. „Aber wenn du mein Onkel bist, wieso habe ich dich dann noch nie gesehen? Und bleibst du jetzt für immer hier?“

Er ignorierte ihre erste Frage, zupfte zärtlich an den Zöpfen und erwiderte: „Das weiß ich noch nicht.“

Daraufhin machte seine Mutter leise und hoffnungsvoll „Oh!“, während sein Bruder seine Krücken packte und sich hastig erhob.

„Wir müssen gehen“, sagte er. „Nita, Kinder, kommt.“

„Aber ihr seid doch gerade erst gekommen!“, rief Bens Mutter.

Luis legte Tony eine Hand auf den Arm. „Antonio. Sei nicht so.“

„Wie soll ich nicht sein, Pop?“, fragte Tony und hielt kurz inne. „Ich bin nun einmal so. Aber das ist jetzt doch ohnehin egal. Denn jetzt ist ja alles wieder gut, weil Ben wieder da ist. Kinder, kommt jetzt.“

Jake und Mattie warfen Ben einen verwirrten Blick zu, ehe Anita sie mit einem entschuldigenden Achselzucken aus der Küche schob. Langsam stand Ben auf. In die drückende Stille hinein sagte seine Mutter: „Es liegt an dem Bein, er ist nicht er selbst, du weißt doch, wie sehr Tony es hasst, so hilflos zu sein.“

Ben nahm seine Lederjacke von der Stuhllehne. Er musste sich zusammenreißen, um nicht aus dem Haus zu stürmen, in seinen Truck zu springen und auf der Stelle zurück nach Dallas zu fahren. Wie war er nur auf die Idee gekommen, allein die Zeit könnte alte Wunden heilen? Niemand hatte sich verändert, nur weil er aus dem fein gesponnenen Netzwerk der Familie ausgebrochen war.

„Wo willst du hin?“, wollte sein Vater wissen.

„Ich gehe nur etwas spazieren und schaue mich in der Gegend um.“

Luis zog die dichten Brauen zusammen. „Ich dachte, wir könnten uns später vielleicht ein Spiel anschauen oder so.“

„Ich gehe nicht weit.“ Ben mied den besorgten Blick seines Vaters und drängte das vertraute Gefühl von Ärger zurück. Zu wissen, dass man irgendetwas in Ordnung bringen musste, bedeutete nicht automatisch, dass man wusste, wie man das anstellen sollte. Er lächelte seiner Mutter zu und küsste sie auf die Stirn. „Zum Spiel ich bin wieder zurück, versprochen“, sagte er zu seinem Vater.

Vielleicht eine Stunde lang wanderte er durch die vertrauten Straßen, die Hände in den Taschen vergraben, bis er in der eisigen, trockenen Luft wieder einen klaren Kopf bekommen hatte. Die Sonne am strahlend blauen Himmel vertrieb die Nachwirkungen dieses katastrophalen Morgens und erinnerte ihn daran, warum er hergekommen war. Erinnerte ihn, dass die Entscheidung, nach Hause zu kommen, gefallen war, bevor sein Vater ihn angerufen und um Hilfe gebeten hatte.

Langsam spürte er, wie er sich etwas entspannte. Als er gerade sein Elternhaus erreicht hatte, schwang Mercys Garagentor knarrend auf.

Von der anderen Straßenseite beobachtete er, wie sie eine kleine Trittleiter heraustrug und auf dem Rasen vor dem Haus aufstellte. Inzwischen trug sie Jeans und einen hellroten Pullover, in den auch die Hunde seiner Mutter hineingepasst hätten. Sie rüttelte an der Leiter, um sicher zu gehen, dass sie stabil stand, stieg hinauf und begann, die Lichterkette der Weihnachtsbeleuchtung abzunehmen. Ihr riesiger Kater ließ sich ganz in der Nähe auf dem Rasen nieder und legte sich auf den Bauch. Sein riesiger, buschiger Schwanz zuckte hin und her, während er Ben träge anstarrte.

„Brauchst du Hilfe?“

Mercy packte die Regenrinne, um nicht von der Leiter zu fallen, und drehte sich um. Sie versuchte so zu tun, als würde sie ihn nicht auf Anhieb wiedererkennen, aber ein Blick auf dieses strahlend lächelnde Gesicht, und ihr Ärger war verflogen. Ebenso wie ihre Entschlossenheit, so zu tun, als würde er nicht existieren oder als hätte es niemals etwas zwischen ihnen gegeben.

„Nein, danke“, sagte sie und wandte sich wieder ihrer Aufgabe zu, in der Hoffnung, dass er verschwinden würde. Was er natürlich nicht tat. Sie spürte seine prüfenden Blicke auf sich, als sie von der Leiter stieg, sie um einen Meter versetzte, ein weiteres Stück Lichterkette abnahm, wieder herunterstieg, die Leiter versetzte …

„Hier.“

Ben stand vor ihr und hielt den Rest der Lichterkette in der Hand. Ein Windhauch wehte durch sein dichtes Haar, das nur wenig dunkler als ihr eigenes war. Das Sonnenlicht spiegelte sich in den Fensterscheiben seines Trucks und zeichnete scharfe Schatten auf das Gesicht, das kaum noch an den unbekümmerten Jungen erinnerte, mit dem sie eine Affäre gehabt hatte. Sein Lächeln, das nicht mehr war als eine leichte Neigung der Mundwinkel, verbarg kaum die ungewohnte Ernsthaftigkeit in den feurigen dunklen Augen. Eine beunruhigende Entdeckung, die jedoch gegen ihren Willen ein Gefühl von Zärtlichkeit in ihr hervorrief.

Sie kletterte von der Leiter. „Du hast am anderen Ende angefangen.“

„Das schien mir eine gute Idee zu sein.“

„Angeber.“

Dieses verfluchte Lächeln umspielte immer noch seinen Mund, als er ihr die Kette reichte.

Mit einem wütenden Seufzer klappte sie die Leiter zusammen und trug sie zurück in die Garage. Der Kater folgte ihr, ebenso wie Ben.

Sie drehte sich um. „Wenn ich dir sagen würde, dass du gehen sollst, würdest du es tun?“

Achselzuckend ignorierte er ihre Frage. „Warum machst du die Lichterkette schon ab? Es ist noch nicht einmal Neujahr.“

Mercy und der Kater wechselten einen Blick, dann hob sie die Schultern. „Neujahr muss ich Ma helfen, ihren Kram abzunehmen, also nutze ich das schöne Wetter, um bei mir aufzuräumen. Viel ist es ja nicht, wie du siehst. Nur mein Baum steht noch, also …“

Halt den Mund, schrie ihre innere Stimme. Halt sofort den Mund! Sie presste die Lippen aufeinander und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Und was willst du schon wieder hier?“

„Ich bin nur zufällig hier. Ich habe einen Spaziergang gemacht. Aber du sahst aus, als könntest du Hilfe brauchen, also habe ich einen kleinen Umweg gemacht. Boah, ist das eine große Katze“, schloss er, als sie die Lichterkette in eine Plastikbox auf einem Regal stopfte.

„Das ist keine Katze, das ist mein Bodyguard.“

„Das sehe ich.“

Mercy schaute zu ihm hinüber und stellte fest, dass der Verräter sich an Bens Beine schmiegte. Sein großer buschiger Schwanz zitterte. Ben beugte sich vor, um ihm den Kopf zu kraulen, und sie konnte das Schnurren bis hinten in die Garage hören.

„Wie heißt er?“

„Das hängt von meiner Stimmung an. An guten Tagen heißt er Homer, aber heute neige ich eher zu Dummkopf.“

Der Kater warf ihr einen bitterbösen Blick zu und miaute kläglich. Lachend richtete Ben sich wieder auf und wischte sich die Katzenhaare von den Händen.

„Warum?“

„Weil er zu blöd ist, um zu wissen, was gut für ihn ist. Zuhause hat er es warm, er kann in meinem Bett schlafen und hat immer genug zu fressen. Aber nein, er treibt sich lieber rum, die ganze Nacht, manchmal sogar tagelang. Die Tierärztin hat gesagt, das würde sich ändern, sobald er kastriert ist, aber sie hat sich geirrt. Irgendwann kommt er dann verfilzt und hungrig zurück und bittet mich um Verzeihung.“

Schweigen.

„Wolltest du damit irgendetwas andeuten?“

„Überhaupt nicht.“

„Immerhin bin ich nicht verfilzt“, sagte er. „Oder hungrig. Dafür hat meine Mutter schon gesorgt.“

Sie drehte sich um und verschloss die Plastikbox. „Trotzdem kommst du nicht noch einmal in mein Bett.“

Merkwürdig, sie hatte gedacht, dass sie diesen Satz überzeugender rüberbringen würde. Besonders den Teil mit dem nicht.

„Ich habe also keine Chance gegen den Kater?“

Mercy schaute ihm erneut ins Gesicht, die Hände in den hinteren Hosentaschen, die Brust vorgestreckt, das Kinn erhoben. „Nie und nimmer.“

Einige Sekunden lang starrten sie sich an. Schließlich sagte Ben: „Ich könnte gut eine Tasse Kaffee vertragen.“

„Ich dachte, du gehst gerade spazieren?“

„Es war nur eine kurze Runde.“

Noch mehr verwirrende Blicke, während sie die Argumente dafür – keine erkennbaren – und dagegen – unzählige – abwog, bis sie sich schließlich entschied. Er kommt mit rein, ich gebe ihm einen Kaffee und das war’s.

Sie führte den Mann und den Kater in die Küche. „Ich schätze, du brauchst eine Pause?“

Seine Mundwinkel zuckten. „Das kannst du laut sagen.“

„Ich beneide dich nicht. Ich könnte nicht noch einmal mit meinen Eltern zusammenleben. Was machst du da?“

Ben hatte sich die Fernbedienung geschnappt und schaltete den Fernseher ein. „Ich habe schon seit Tagen keine Nachrichten mehr gesehen.“

„Dann wirst du dich wohl auch noch eine halbe Stunde länger gedulden können.“

Seufzend machte er das Gerät wieder aus und schlenderte zum Küchentresen. „Schaust du dir immer noch keine Nachrichten an?“

„Nicht, wenn es sich vermeiden lässt. Ich will mich nicht ständig überwältigt und hilflos fühlen.“ Sie deutete auf einen Barhocker am Küchentresen. „Setz dich. Nimmst du richtigen oder koffeinfreien Kaffee?“

„Was denkst du?“

Ja, was dachte sie sich eigentlich dabei, diesen Mann in ihr Haus zu lassen? Sie wusste doch, dass das nicht gut gehen konnte.

Obwohl sie sich lange nicht gesehen hatten, hatte ihr Umgang etwas sehr Vertrautes. Sicher, die Atmosphäre schien zu knistern, was sie überraschte angesichts ihrer üblichen Haltung gegenüber ehemaligen Liebhabern. Trotzdem spürte sie in diesem Moment eine Verbindung zwischen ihnen, die weit über die erotische Anziehung hinausging und bei der sie sich fast behaglich fühlte.

Dabei hatte sie sich heute Morgen noch heftig über ihn geärgert – wie war es also zu diesem Stimmungsumschwung gekommen?

Sie nahm den Kaffee aus dem Schrank und warf Ben einen Blick zu. Er schaute sich um, bevor er sich ihr zuwandte. Der Anblick seiner Augen riefen eine ganze Reihe von vergessen geglaubten Erinnerungen in ihr wach.

„Ich habe gerade Jake und Mattie kennengelernt.“

„Sind sie nicht großartig? Mattie ist nicht auf den Mund gefallen, was?“

„Stimmt.“ Er klang ein wenig ehrfürchtig. „Sie hat mich gleich verhext.“

„Pass bloß auf, sonst ist es um dich geschehen.“

Ben entspannte sich ein wenig. Schließlich sagte er: „Ich kann es nicht glauben, dass du immer noch in diesem Haus lebst.“

Achselzuckend erwiderte sie: „Warum nicht? Es ist nett hier.“ Sie löffelte Kaffeepulver in den Filter und verschloss die Dose wieder. „Ich brauche nicht viel Platz, und die Vermieter kommen mir bei der Miete sehr entgegen.“

„Du hast einiges verändert. Diese Wand zum Beispiel ist … ziemlich rot.“

„Höre ich da einen leicht spöttischen Unterton?“

Um Bens Mundwinkel zuckte es. „Aber nein, ganz und gar nicht. Aber dein Vater muss doch einen Herzschlag bekommen haben.“

„Fast. Sie haben mir ewig damit in den Ohren gelegen, bis ich gesagt habe, dass sie mich ja rauswerfen können.“

Er lachte leise, dann fragte er: „Wie geht’s deinen Eltern?“

„Gut“, erklärte sie, auch wenn sie am liebsten gerufen hätte „Hör auf, mich so anzusehen!“ „Dad ist endlich pensioniert und treibt Ma in den Wahnsinn. Ihre Arthritis macht ihr zu schaffen, darum helfe ich ihr auch dabei, den Weihnachtsschmuck wegzuräumen.“

„Hängt sie immer noch das ganze Haus voll?“

„Und wie! Sie kauft sogar noch jedes Jahr neues Zeugs dazu! Für die Enkelkinder, sagt sie.“

„Wie viele sind es inzwischen?“

„Zwölf, aber Rosie ist gerade zum vierten Mal schwanger. Meine Mutter wird nicht müde, mir unter die Nase zu reiben, dass ich die Einzige bin, die keine Kinder hat. Und keinen Mann.“

Seine Gesichtszüge wurden weicher. „Kaum zu glauben, wie dumm Männer sein können.“

Mercy richtete ihre Aufmerksamkeit auf die blubbernde Kaffeemaschine. „Egal. Der Zug ist ohnehin abgefahren.“

Nach einem Schweigen, das sich zäh wie Leim dahinzog, fragte Ben: „Und was machst du so?“

Endlich spuckte die Kaffeemaschine den letzten Tropfen aus. Mercy nahm zwei Becher aus dem Schrank und füllte sie mit der dampfenden Flüssigkeit. Nachdem sie ihm seinen Kaffee gereicht hatte, lehnte sie sich an die Arbeitsplatte, weit weg von ihm, und umfasste ihren Becher mit beiden Händen. „Vor sechs Jahren habe ich mit zwei Frauen zusammen ein Geschäft für gebrauchte Kinderkleidung eröffnet. Inzwischen verkaufen wir auch Möbel und Spielzeug.“

Er hob den Becher zu einem stummen Toast. „Und der Laden läuft gut?“

„Toi, toi, toi. Seit einem Jahr haben wir sogar eine Angestellte. Und wir sind umgezogen, weil wir mehr Platz brauchten. In eines der alten Häuser in der Nähe der Altstadt.“

„Ich werde es mir bei Gelegenheit einmal anschauen.“

„Du und ein Kindergeschäft?“

„Warum nicht? Ich habe immerhin einen Neffen und eine Nichte, die ich verwöhnen muss.“ Er senkte den Blick, musterte den Rand seiner Tasse und schaute wieder zu ihr auf. „Besonders, da ich eine Menge verlorene Zeit wiedergutzumachen habe.“

„Wessen Fehler ist das wohl!“

„Könntest du nicht wenigstens versuchen, diplomatisch zu sein?“

„Wozu? Und da wir gerade davon sprechen … was genau hast du eigentlich in der Zwischenzeit gemacht?“

Seine Augen wurden schmal, und diese Bewegung ließ eine Warnglocke in einem verborgenen Winkel ihres Gehirns erklingen. „Dies und das“, sagte er schließlich. „Was sich eben so anbot.“

„Was immer das auch heißen mag.“

Er sah ihr fest in die Augen, dann sagte er ruhig: „Ich bin nicht spurlos verschwunden, Merce. Meine Familie wusste immer, wo ich war und dass es mir gut geht. Und jetzt bin ich hier.“

„Aber warum? Und komm mir nicht mit dem Märchen, dein Vater würde dich brauchen, das kaufe ich dir nämlich nicht ab.“

Ben lehnte sich auf dem Barhocker zurück und trommelte mit den Fingern auf den Tresen, als überlegte er, wie viel er ihr erzählen sollte. „Lass es mich so formulieren: Das Schicksal hat mir endlich den nötigen Tritt verpasst.“

„Um was zu tun?“

„Darüber will ich nicht reden.“ Er ließ sich vom Hocker gleiten, schlenderte ins Wohnzimmer und nahm ein Foto von Mercys jüngster Schwester Olivia mit ihrer Familie zur Hand. „Ich muss ein paar Dinge klären, das ist alles.“ Er stellte das Foto zurück und drehte sich zu ihr um. Etwas in seinem Blick versetzte ihr einen Stich.

„Ben …? Was ist los? Ist irgendetwas passiert?“

„Dir konnte ich noch nie etwas vormachen, Merce“, sagte er leise. Ein wehmütiges Lächeln umspielte seinen wunderschönen Mund. „Schon als wir Kinder waren. Ich habe mich in der letzten Zeit immer öfter gefragt, warum ich mit fünfunddreißig immer noch keine Ahnung habe, wo mein Platz im Leben ist.“

Dieses Gefühl kannte sie nur zu gut. Vor wenigen Minuten hätte sie zwar geschworen, dass sie diese Phase ihres Lebens hinter sich gelassen hatte, doch offensichtlich hatte sie sich geirrt.

Nicht nur, weil der grinsende, übermütige Kerl aus alten Zeiten sich in diesen Mann mit dem nachdenklichen Blick verwandelt hatte. Das Leben schien es nicht immer gut mit ihm gemeint zu haben, aber er war nur stärker, und vielleicht auch weiser, aus den Kämpfen hervorgegangen. In der Zeit, die nötig war, um eine Tasse Kaffee zu trinken, schien sich alles, was sie bisher über sich zu wissen glaubte, in Luft aufgelöst zu haben.

Mit einem leisen, aber aufrichtigen „Mist“ umrundete Mercy den Frühstückstresen, durchquerte den kleinen Raum, packte Bens Schulter und zog ihn zu sich herunter. Sie küsste ihn auf eine Weise, die keiner von ihnen jemals vergessen würde.

3. KAPITEL

Er war ihrem Kuss genauso hilflos ausgeliefert wie einem Meteoriteneinschlag.

Doch nichts zwang ihn, sie ihn die Arme zu nehmen und ihren Kuss begeistert und mit vollem Einsatz zu erwidern. Oder sie zu diesem abscheulich grünen Sofa zu tragen. Sicher, sein Rücken hätte protestiert, wenn er sich länger so tief zu ihr hätte herunterbeugen müssen, so klein wie Mercy war. Trotzdem, wenn er nur gewollt hätte, hätte Ben jederzeit aufhören und sich von dem weichen Mund und der sinnlichen Frau, zu der er gehörte, abwenden können.

Schließlich tat er es auch, aber nur, weil sie beide Luft brauchten. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und suchte ihren Blick, ehe er den Kopf erneut senkte, bis ihre Lippen sich berührten. Dieses Mal ging er langsam und behutsam zu Werke und entzog sich ihr, sobald sie zu gierig wurde. Zärtlich knabberte er an ihrer Unterlippe, ihrem Kinn und Hals … und erinnerte sich daran, wie es zwischen ihnen gewesen war.

Während sie ihre Fingernägel in seine Arme bohrte, machte sie ein Geräusch, das halb Stöhnen, halb Seufzen war, und schlang ein Bein um seine Hüfte, als wollte sie ihre Ansprüche geltend machen. Sein Körper ignorierte den vernünftigen Protest seines Verstandes, dass das hier dumm und falsch war, und was er sich eigentlich dabei dachte.

Keuchend stieß sie ihn ein kleines Stück von sich, wobei sie ihn weiterhin am Hemd festhielt. „Was sagtest du, wie lange du bleiben willst?“

Sein Herz pochte. Ben wartete, stumm vor sich hinfluchend, bis sich sein vom Testosteron getrübter Blick klärte. Dann erhob er sich und ging zurück in die Küche, um seine Jacke zu holen.

„Ich weiß nicht genau“, sagte er, und er wusste es wirklich nicht.

Sie setzte sich auf und strich sich ein paar Haarsträhnen aus ihrer gerunzelten Stirn. Verlangen und Bedauern überschwemmten ihn. Wie er diese bizarre Mischung aus Verletzlichkeit und Zähigkeit vermisst hatte, die Mercedes Zamora ausmachte! So sehr, dass er es jetzt auf keinen Fall vermasseln wollte.

„Was machst du da?“, fragte sie.

„Ich versuche, zur Vernunft zu kommen.“

„Hihi.“ Lachend strich sie sich mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht, und ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. Sie ließ sich ins Polster sinken und legte die Füße auf einen bunt angemalten Baumstamm, der ihr als Couchtisch diente. „Und wie stehen die Chancen, dass wir die Finger voneinander lassen können, während du hier bist?“

„Darum geht es nicht.“ Beschwichtigend hob er die Hände. „Ich kann das nicht, Mercy.“

„Du könntest mir etwas vorspielen!“

„Nein. Es wäre nicht richtig.“

„Das war es beim ersten Mal auch nicht. Was uns jedoch nicht davon abgehalten hat, es trotzdem zu tun.“

Er schloss die Augen gegen die aufkommenden Erinnerungen. „Gott, Mercy“, sagte er und sah sie wieder an, „du machst mich so heiß, dass sämtliche Sicherungen bei mir durchbrennen.“

„Meinst du das ernst?“

„Das bekommst du doch bestimmt andauernd zu hören.“

Im Nu stand sie vor ihm. „Nein, wirklich. Es tut gut, vor allem, da ich nicht mehr so knackig bin wie früher.“ Sie ließ ihn nicht aus den Augen, berührte flüchtig seine Brust und lächelte, als er unwillkürlich zusammenzuckte. „Es ist schon lange her, dass jemand mich heiß genug gemacht hat, um alle Sicherungen bei mir durchbrennen zu lassen.“

Ihre Finger glitten unter sein Hemd und berührten die nackte Haut, doch er entzog sich ihrer Liebkosung.

„Macht es die Sache leichter für dich“, rief sie, „wenn ich dir sage, dass ich nicht mehr dasselbe suche wie vor zehn Jahren? Ich will keine Beziehung für immer und ewig, Ben.“ Ihr Mund verzog sich zu einem Beinahe-Lächeln. „Nicht mehr.“

Er runzelte die Stirn. „Du willst nicht mehr heiraten? Keine Kinder haben?“

Sie ging zu den Fotos hinüber, die er vorhin angeschaut hatte. „Es ist wie mit den Wünschen, die man als Kind hatte. Du weißt genau, wenn du dieses Album oder Kleid oder Paar Schuhe nicht bekommst, dann geht die Welt unter. Und eines Tages stellst du fest, dass du nie bekommen hast, was du wolltest, und dass du trotzdem überlebt hast. Nicht nur das, du vermisst nicht einmal etwas.“

Offensichtlich hatte sie vergessen, dass sie ihm genauso wenig etwas vormachen konnte wie umgekehrt. Dass sie ihm nicht in die Augen sehen konnte, war ein todsicheres Zeichen dafür, dass sie nicht die Wahrheit sagte. Aber es war nicht der richtige Moment, um sie darauf anzusprechen, insbesondere da er auch nicht ganz aufrichtig zu ihr sein konnte.

Also sagte er nur: „Du bist schon ein komischer Vogel“, und sie lachte.

„Das ist ja nichts Neues“, antwortete sie und wandte ihm das Gesicht zu. „Egal, was damals zwischen uns gewesen war, ich habe es nie bereut.“

Ben biss die Zähne zusammen, um nicht zu ihr zu gehen. „Ich auch nicht.“

Lächelnd fuhr sie fort: „In dem Moment, in dem du von der Army nach Hause kamst, wusste ich, dass du nicht lange bleiben würdest. Ja, ich war sauer, als du einfach ohne ein Wort verschwunden bist, aber ich habe immer gewusst, dass du eines Tages gehen würdest.“ Sie schob ihre Hände in die Gesäßtaschen, und Ben bekam einen trockenen Mund. „So wie du auch dieses Mal wieder gehen wirst. Aber solange du hier bist, können wir uns entweder damit in den Wahnsinn treiben, dass wir so tun, als würden wir uns nicht füreinander interessieren, oder wir machen uns eine schöne Zeit.“ Sie ließ die Schultern sinken. „Was meinst du?“

Als er den Kopf schüttelte, fragte sie: „Warum nicht?“

„Weil man denselben Fehler nicht zweimal machen sollte“, sagte er leise.

Schweigend musterten sie einander, dann kehrte sie in die Küche zurück und sammelte die Kaffeebecher ein.

„Du bist wütend.“

„Sei nicht albern.“ Die Geschirrspülmaschine klapperte, als Mercy sie mit einer heftigen Bewegung öffnete. „War nur so eine Idee.“

„Merce, ich habe nichts gegen dich, nur gegen die Vergangenheit. Weil ich nicht da weitermachen will, wo wir aufgehört haben. Ich will dich so sehr, dass ich nicht mehr richtig denken kann, aber bei dir ist es mehr als nur die … körperliche Anziehung.“ Seine Kehle schmerzte, als er schluckte. „So war es schon immer zwischen uns.“

Innerhalb eines Sekundenbruchteils veränderte sich ihr Gesichtsausdruck von Verwirrung über Verstehen zu Belustigung. Sie warf den Kopf zurück. „Was soll das denn heißen? Weißt du eigentlich, was du willst?“

„Nein“, brachte Ben mühsam heraus. „Aber ich weiß, dass ich nicht mehr dasselbe suche wie früher.“

Dann verließ er das Haus und schlug die Tür mit einem heftigen Knall hinter sich zu.

Die Wetterfrösche hatten für Silvester Schnee vorhergesagt, aber das war in Albuquerque nicht mehr als eine leere Drohung, da das Wetter sich hier nie an die Vorhersagen hielt. Amüsiert beobachtete Ben seine Mutter, die auf Spanisch auf seinen Vater einredete, beide bereits festlich für den Abend gekleidet.

„Bist du wirklich sicher, dass du allein zurechtkommst?“, fragte Juanita. Sie hatte einen weichen flauschigen Schal um ihre Schultern geschlungen, darunter trug sie ein glitzerndes langärmeliges Abendkleid. Ihre Augen glänzten so hell wie die Diamantohrringe. Seine und Mercys Eltern würden den Abend in einem noblen Casino im nahegelegenen Indianerreservat verbringen, und seine Mutter hatte den ganzen Tag damit zugebracht, sich herauszuputzen. Es amüsierte Ben, zu sehen, wie aufgeregt sie war.

„Ich werde mich schon irgendwie durchmogeln“, erwiderte er lächelnd.

Es klingelte an der Tür, und seine Mutter ließ Mary und Manny Zamora herein. „Luis“, rief sie über die Schulter, während Ben die Zamoras begrüßte. „Jetzt komm endlich!“

Sein Vater tauchte auf und nestelte immer noch an dem Knoten seiner protzigen silberfarbenen Krawatte herum. Er verabschiedete sich von seinem Sohn, und die ganze Gesellschaft verließ das Haus.

Ben stand in der Haustür und sah dem nagelneuen SUV seines Vaters hinterher. Winzige Schneeflocken tanzten verloren im Schein der Rücklichter. Als er gerade die Tür schließen wollte, stellte er fest, dass Mercys Auto, ein Firebird, in der Auffahrt stand. Eine dünne Eisschicht auf dem Dach glitzerte im Licht der Straßenlaternen. Ben runzelte die Stirn – der Inbegriff eines Partygirls blieb am Silvesterabend allein zu Haus? Da stimmte doch etwas nicht!

Das geht mich nichts an! Ich sollte mich da besser raushalten!

Eine Minute später stand er mit einer Flasche Baileys aus den elterlichen Beständen vor ihrer Tür. Vielleicht konnten sie ihren Kaffee damit aufpeppen.

Die Tür schwang auf. Aus dem Inneren des Hauses roch es verführerisch nach Schokoladenkuchen und Popcorn. „Ben! Was machst du denn hier?“

Ihre wilden Locken schienen sich wie ein Springbrunnen von der Mitte des Kopfes aus in alle Richtungen zu ergießen. Die Partyqueen sah einfach atemberaubend aus. Sie trug einen Pullover, der drei Nummern zu groß war und bis zu den Schenkeln reichte, enge, glitzernde Leggins und quietschbunte Ringelsocken. Vor Überraschung hatte sie die Augen weit aufgerissen, kein Wunder nach seinem Abgang gestern.

„Mir gefiel die Vorstellung nicht, dass du Silvester allein sein könntest“, erklärte er, als Mattie auftauchte, in fast demselben Outfit wie ihre Tante. „Onkel Ben, Onkel Ben!“, schrie sie, warf sich an seine Beine und schien einen Moment an ihm festzukleben. Dann lehnte sie sich zurück und schenkte ihm ein umwerfendes Zahnlücken-Lächeln.

„Tante Mercy und ich gucken ‚Findet Nemo‘, aber Jake sagt, das ist ein Mädchenfilm.“ Sie packte seine Hand und zerrte ihn über die Türschwelle. „Willst du mitgucken?“

Ben sah Mercy an, und diese hob die Schultern. „Willkommen bei Mercys wilder Silvesterparty! Ich spiele heute den Babysitter“, sagte sie und trat zur Seite, um ihn hereinzulassen. Von irgendwoher brüllte Jake: „Ich bin kein Baby!“

Als sie zusammen das Wohnzimmer betraten, hörte Ben die leisen Geräusche eines Videospiels.

„Popcorn ist fertig!“, rief Mercy und stellte eine Plastikschüssel, die einer Babybadewanne alle Ehre machte, auf den Tisch. In einer Ecke des Zimmers blinkten bunte Lichterketten auf dem Weihnachtsbaum, und im Kamin brannte ein kleines Feuer. Ben spürte, wie ein Lachen in ihm aufstieg.

Mercy zupfte an ein paar Haarsträhnen, anschließend landeten ihre Hände auf ihren Hüften. Die Nägel waren genauso knallrot lackiert wie die Wand und mit kleinen Glitzersteinen beklebt. Ben ließ den Blick zu ihrem Gesicht wandern. Sie sah eher erstaunt als verärgert aus.

„Wir hatten Brownies, in der Küche sind noch ein paar Stücke übrig.“

„Danke, aber ich mag gerade nicht. Äh …“, er zog seine Jacke aus und hängte sie über eine Stuhllehne, „… ist es wirklich okay?“

Eine Augenbraue hob sich ein wenig. „Dass du uneingeladen zu meiner Party gekommen bist? Ich weiß, ich hätte dem Türsteher sagen sollen, dass er besser aufpassen soll. Aber nein, kein Problem, wir haben ja auch Anstandsdamen und alles.“

Mattie wollte wissen, was eine Anstandsdame sei.

„Jemand, der aufpasst, dass niemand Unsinn macht“, erklärte Mercy, ohne Ben dabei aus den Augen zu lassen. Nein, sie war ganz sicher nicht wütend. Aber die Anwesenheit der Kinder verhinderte nicht, dass es zwischen ihnen nur so knisterte.

„Was ist das?“, fragte das kleine Mädchen und griff nach der Flasche Baileys. „Bekomme ich auch etwas ab?“

„Nicht, wenn du willst, dass deine Mutter dir noch einmal erlaubt, mich zu besuchen“, erwiderte Mercy, nahm Ben die Flasche ab und nickte anerkennend. „Später“, sagte sie und stellte sie auf den Fernseher. Sie ging zum Flur und rief: „Jake Manuel Vargas! Wenn du nicht auf der Stelle herauskommst und dir dein Popcorn holst, wird Onkel Ben alles aufessen!“

„Onkel Ben ist hier? Ich komme!“, erklang es aus dem Flur, gefolgt von stampfenden Schritten, und dann tauchte ein grinsender Junge in Jeans und Kapuzenpullover auf. Er begrüßte Ben, und Mercy drückte ihm eine Plastikschüssel in die Hand und warnte ihn, dass er, wenn sie auch nur ein Popcorn in ihrem Bett fände, etwas erleben könne.

„Spielst du mit mir?“, fragte er Ben mit vollem Mund, unbeeindruckt von der Drohung seiner Tante. „Zu Weihnachten habe ich ein total cooles Rennspiel bekommen. Ich bin schon beim dritten Level!“

„Gerne! Aber lass mich erst einmal richtig ankommen“, sagte Ben und fühlte sich geschmeichelt. Dann wandte er sich an Mercy. „Tony und Anita sind ausgegangen?“

Er ließ sich auf das Sofa fallen und nahm die Schüssel mit dem Popcorn auf den Schoß. Mattie setzte sich neben ihn und kuschelte sich an ihn. Mercy quetschte sich daneben und antwortete: „Ja. Sie hatten bereits im Hilton reserviert und wollten nicht einfach absagen, gebrochenes Bein hin oder her.“ Wich sie seinem Blick absichtlich aus? „Aber die richtige Party findet sowieso hier statt, nicht wahr, meine Süße?“, fuhr sie an Mattie gewandt fort und stupste dem Mädchen mit einem Popcorn auf die Nase. Das Kind kicherte, kuschelte sich noch enger an Ben und stibitzte ein Popcorn aus seiner Hand.

„Hier ist es viel lustiger. Mama und Daddy streiten sich immer bloß.“

Mercy warf Ben einen raschen Blick zu, als Jake hastig murmelte: „Halt die Klappe!“

„Aber das stimmt doch! Und außerdem sollst du nicht ‚Halt die Klappe!‘ sagen. Mama hat gesagt, das ist ungezogen.“

„Kinder“, mischte Mercy sich ein. „Das reicht. Und wisst ihr was? Eure Mama und ich haben uns als Kinder auch immer gestritten, und hinterher haben wir uns immer wieder vertragen.“

„Wirklich?“

Mercy lachte. „Aber ja, frag deine Oma, sie behauptete immer, …“

„Kann ich eine Cola haben?“, fragte Jake und sprang vom Stuhl.

„Sicher, Schatz. Du weißt ja, wo sie steht. Aber denk dran“, rief sie ihm hinterher, „das bleibt unter uns.“

Übers ganze Gesicht strahlend, verschwand der Junge mit der Cola und einer Schüssel voll Popcorn in ihrem Schlafzimmer. Ben fragte sich, ob mit der letzten Bemerkung die zweifelhafte Menüwahl oder die Unterhaltung gemeint war. Er stopfte sich eine weitere Hand voll Popcorn in den Mund und starrte auf den rotweißen Fisch auf dem Bildschirm vor sich. Mattie hielt schon die Fernbedienung in der Hand und drückte die Play-Taste.

„Glaubst du wirklich, dass es nur das ist?“, fragte er Mercy leise, als Mattie zu kichern begann. Mercy griff über ihre Nichte hinweg in die Schüssel und sagte, den Blick an den Bildschirm geheftet: „Nein. Leider nicht.“

„Psst!“, machte Mattie und stieß Ben mit dem Ellenbogen an. „Jetzt kommt die beste Stelle, wo Dory so tut, als sei sie ein Wal.“

Aus Rücksicht auf Mattie schwiegen sie. Aber Ben schenkte dem Film nicht die geringste Aufmerksamkeit, und ein Blick auf Mercys sorgenvolles Gesicht ließ ihn bezweifeln, dass auch sie viel davon mitbekam.

Nach einer Weile hob er Mattie vorsichtig hoch, so dass sie sich bei Mercy ankuscheln konnte, und stand auf. Er folgte dem Geräusch von Motorengeheul und quietschenden Reifen, bis er Mercys Schlafzimmer gefunden hatte. Jake saß auf dem Doppelbett und starrte vollkommen konzentriert auf den kleinen Bildschirm auf der Kommode vor sich, die Daumen auf dem Controller.

Ben lehnte sich an den Türrahmen, die Hände locker in den Hosentaschen. „Hi!“, sagte er leise.

Die Aufmerksamkeit ganz auf das Auto gerichtet, das auf dem Bildschirm plötzlich ausscherte, hob Jake nur eine Schulter, zum Zeichen, dass er ihn wahrgenommen hatte. „Bin gleich fertig …“, murmelte er, drückte hastig auf dem Controller herum und flüsterte schließlich: „Yeah! Ich stell es schnell für zwei Spieler ein …“

„Lass dir Zeit.“

Das einzige Licht im Raum kam von einer Nachtischlampe. Die Wände waren orange gestrichen, sodass in dem Zimmer ständig die Sonne unterzugehen schien. Für eine Frau, die so feminin war wie Mercy, hatte sie hier erstaunlich wenig Krimskrams. Keine Spitzendeckchen, keine hauchdünnen Gardinen, keine Kissenberge oder Kuscheltiere auf der leeren Hälfte des Bettes. Nur klare Linien, wohin er auch schaute.

Ben setzte sich neben seinen Neffen. „Wow“, sagte er aufrichtig beeindruckt, „du bist ja wirklich fit.“

Ein kurzes Grinsen huschte über das Gesicht des Jungen. „Danke.“ Kurz darauf hatte er alles vorbereitet. „Der andere Controller ist in meinem Rucksack, holst du ihn dir raus?“

„Sicher.“ Ben wühlte in einem Haufen Kleidung, zog das Gerät heraus, stöpselte es in die Konsole. „Aber du musst mir versprechen, Rücksicht auf mich zu nehmen“, sagte er. „Es ist schon ewig her, seit ich zuletzt gespielt habe. Ich hatte einen Nintendo.“

„Dad hat auch einen, mit dem er manchmal noch spielt. Aber meistens will er mit meiner Playstation spielen, die ist viel cooler.“

Ben wählte seinen Wagen – einen roten Porsche, was sonst – und das Rennen begann. Bereits nach zwanzig Sekunden stellte er fest, dass das Kind ihm haushoch überlegen war. „Dein Vater spielt also mit dir?“

„Ja, aber Mom findet das nicht so gut.“

„Ach?“, fragte Ben vorsichtig.

„Sie sagt, er soll endlich erwachsen werden.“ Offensichtlich wurde ihm sein Ausrutscher bewusst, und er warf Ben einen raschen Blick zu. „Warum kann Dad dich nicht leiden?“

Ben versteifte sich. „Wie kommst du darauf? Redet er schlecht über mich?“

Jake wurde rot. „Manchmal. Opa dagegen redet die ganze Zeit von dir. Als sie gestern Abend bei uns waren, hat er immer wieder gesagt, wie froh er ist, dass du nach Hause gekommen bist.“

„Ich bin auch froh“, sagte Ben, stieß den Jungen mit der Schulter an und erntete ein kurzes, leicht verlegenes Grinsen.

Nach einer Weile sagte Jake: „Mattie hat recht. Mom und Dad schreien sich gerade echt oft an.“

„Das muss ziemlich ätzend sein.“

„Total. Ich weiß, was Tante Mercy gesagt hat, über sie und Mom, aber das mit Mom und Dad ist anders.“

„Wir kommst du darauf?“

„Ich weiß nicht. Mattie und ich streiten uns auch immer, aber …“ Jake schüttelte den Kopf.

Bens Auto krachte auf dem Bildschirm gegen eine Mauer, fiel zurück auf die Straße und fuhr weiter. Wenn er nicht aufpasste, würde dasselbe auch mit dieser Unterhaltung geschehen, außer, dass sie danach sicher nicht weitergehen würde.

„Vielleicht ist es nicht so übel, wie es aussieht. Meinst du, sie wären heute Abend zusammen ausgegangen, wenn sie wirklich so richtig böse aufeinander wären?“

Jake zuckte die Achseln. „Keine Ahnung.“

Nach einer Weile – und einem weiteren Unfall – fragte Ben: „Wenn deine Mom oder dein Dad wütend sind, schreien sie dann auch dich an? Oder Mattie?“

„Nee.“

„Bist du sicher?“

„Ja, klar. Na ja, Mom flippt manchmal aus, wenn ich mein Zimmer nicht aufgeräumt habe, aber das ist was anderes.“

Ben lächelte. „Allerdings.“

In der Tür räusperte Mercy sich leise. Ben und Jake wirbelten herum.

„Ich wollte Root Beer mit Eis machen – wollt ihr auch was davon abhaben?“

„Cool“, sagte Jake und sammelte seinen Controller wieder auf, den er fallen gelassen hatte. „Kannst du mich rufen, wenn es fertig ist?“

„Aber gewiss, Eure Hoheit.“, erwiderte Mercy mit einem leisen Lachen. Als sie sich Ben zuwandte wurde ihr Gesicht ernst. „Kannst du mir helfen?“

Oh-oh.

„Wo ist Mattie?“, fragte er leichthin, als er Mercy in die Küche folgte.

„Sie ist eingeschlafen, lange bevor Nemo gefunden wurde“, erklärte sie leise. „Ich bringe sie später ins Bett.“

„Brownies, Popcorn, Root Beer mit Eis …“ Kopfschüttelnd lehnte Ben sich an den Tresen und senkte die Stimme ebenfalls, um Mattie nicht aufzuwecken. „Versuchst du die Kinder zu vergiften?“

„Es ist eine Party. Ich kann ihnen schlecht Rosenkohl vorsetzen. Ich habe übrigens ein bisschen von deiner Unterhaltung mit Jake mitbekommen.“

Das musste ja kommen.

„Es ist ja löblich von dir, dass du helfen willst, aber …“ Sie holte Root Beer und Eiscreme aus dem Kühlschrank und stellte beides auf die Arbeitsplatte, dann sah sie ihn stirnrunzelnd an. „Aber den Kindern falsche Hoffnungen zu machen, wenn du die Situation gar nicht richtig einschätzen kannst, kommt mir ein bisschen überheblich vor.“

„Dabei hast du doch damit angefangen.“

„Ich weiß“, erwiderte sie seufzend. „Kannst du mir bitte ein paar Becher aus dem Schrank über dir reichen?“ Als er ihr die schweren Glasbecher brachte, fuhr sie fort: „Als ich gehört habe, was du für Unsinn erzählt hast, ist mir klar geworden, wie lächerlich das geklungen haben muss, was ich gesagt habe.“

Ben beobachtete Mercy dabei, wie sie die süße Kräuterlimonade in die Gläser füllte. „Glaubst du wirklich, dass Tonys und Anitas Ehe in Gefahr ist?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe versucht, mit meiner Schwester darüber zu reden, aber sie ist ausgewichen.“

„Das ist kein gutes Zeichen.“

Winzige Sorgenfalten umrahmten ihren Mund. „Nein.“

Ben atmete heftig aus. Er hatte vermutet, dass die Anspannung gestern von Tonys gebrochenem Bein herrührte – und der Tatsache, dass Ben ihn in der nächsten Zeit ersetzen sollte. Das verstand er gut. Doch er hatte keine Ahnung, was zwischen seinem Bruder und Mercys Schwester schieflaufen könnte. „Tony ist echt ein Idiot. Ich erinnere mich noch gut daran, wie er sein kann, vor allem, wenn es um Frauen geht. Um ehrlich zu sein … ich war ziemlich überrascht, als die beiden zusammenkamen.“ Er lachte leise. „Aber ich hatte gehofft, dass er Vernunft annimmt – oder dass Nita ihm den Kopf schon zurechtrücken würde.“

Als sie schmunzelte, fragte er: „Unserer Eltern haben keine Ahnung, oder?“

„Machst du Witze? Anita wird kein Wort sagen. Sie denkt, es sei ihr Fehler. Außerdem bin ich sicher, dass sie deinen Bruder liebt.“

„Obwohl du nicht weißt warum.“

„Ich bin die Letzte, die erklären könnte, wie ein menschliches Herz funktioniert. Außerdem ist er kein schlechter Kerl. Ohne ihn könnte dein Vater nicht halb so viele Aufträge erledigen. Und er liebt seine Kinder, auch wenn er zu glauben scheint, dass es Nitas Aufgabe ist, sie zu erziehen. Trotzdem …“ Sie runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, was schlimmer ist: Zusehen zu müssen, wie ihre Ehe langsam zerbricht, oder eines Tages aus heiterem Himmel zu hören, dass sie sich scheiden lassen.“

Mercy löffelte das Eis aus der Packung und verteilte es vorsichtig in die Becher. „Kann ich dich etwas fragen?“

„Als ob mein Nein dich davon abhalten würde.“

„Stimmt“, gab sie zu, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Warum bist du heute Abend gekommen? Vorausgesetzt, du wusstest nicht, dass die Kinder hier sind.“ Sie sah ihn an und leckte den Löffel ab.

Jetzt hatte sie ihn erwischt. „Ich bin mir nicht sicher. Es schien einfach das Richtige zu sein.“

Lachend sagte sie: „Komm, gib’s zu …“ Ihre Augen funkelten, als sie sich zu ihm vorbeugte und flüsterte: „Ich bin die Kerzenflamme, und du bist eine lüsterne alte Motte.“

Er hielt ihrem Blick stand. „Du tropfst.“

Sie zuckte zusammen. „Was?“

„Das Eis. Es tropft.“

Schimpfend wischte sie sich das Eis vom Kinn und bat ihn, Jake zu rufen.

Kurz nach Mitternacht weckten sie Mattie auf und wünschten ihr ein schönes neues Jahr. Ben trug sie ins Bett. Als sie sich in die Decke kuschelte, murmelte sie schlaftrunken: „Ich hab’ dich lieb,

Onkel Ben“, und schlief wieder ein.

Ben richtete sich auf. Seine Kehle war wie zugeschnürt.

Jake bettelte darum, noch ein Spiel spielen zu dürfen, und Mercy gestattete es ihm augenzwinkernd. Sie ging ins Wohnzimmer und ließ sich auf das Sofa fallen, die Beine weit von sich gestreckt auf dem Baumstamm, die Augen geschlossen.

„Ich sollte besser gehen“, sagte Ben, „damit du auch etwas Schlaf bekommst.“

„Du hast bestimmt auch nicht damit gerechnet, mitten in eine Familienkrise hineinzuplatzen.“

„Nein. Aber“, fügte er achselzuckend hinzu, „so ist das eben, wenn man zur Familie gehört.“

Sie zupfte ein Popcorn von ihrer glitzernden Hose, dann schaute sie Ben an. „Ich bin froh, dass du gekommen bist. Und es ist schön, dass du wieder zu Hause bist.“

„Selbst, wenn wir nicht … du weißt schon?“

„Ja“, erklärte sie schläfrig. „Weil es zwischen uns wirklich schon immer um mehr ging.“

Plötzlich schwirrte ihm der Kopf. Er beugte sich vor und küsste Mercy auf die Stirn. „Ich freue mich, wieder hier zu sein“, flüsterte er, dann ging er.

Und es war tatsächlich gut, wieder hier zu sein, dachte er später, als er in dem viel zu kleinen Bett in seinem alten Zimmer lag und einem schnarchenden Hund den Bauch kraulte. Obwohl er hier reihenweise auf alte Probleme aus der Vergangenheit und neue aus der Gegenwart stieß.

Aber er hätte nicht gedacht, wie schnell ein paar Küsse und Unterhaltungen den Zeitraum zwischen Vergangenheit und Gegenwart überbrücken können. Es schien, als habe er die Erinnerung an ihren Duft, ihre Stimme und ihren Humor die ganze Zeit über mit sich herumgetragen wie ein altes Foto. Und so zerfleddert und zerkratzt es auch sein mochte, es brauchte nur einen einzigen Blick darauf, und die alten Erinnerungen kehrten zurück.

4. KAPITEL

Die erste Woche des Jahres verstrich träge und ohne besondere Ereignisse. Mercy sah Ben manchmal aus dem Haus seiner Eltern kommen, und dann wechselten sie einen kurzen, unverbindlichen Gruß.

Wahrscheinlich ist es ganz gut so, dachte sie, als sie am Verkaufstresen in ihrem Laden stand und missmutig einen Katalog für Schaufensterdekoration durchblätterte. Denn obwohl Ben Silvester vor ihrer Tür gestanden hatte, schien er kein Interesse an ihr zu haben, nicht einmal an einer lockeren Freundschaft.

Sie blätterte die Seite um. Warum also war sie so schlecht gelaunt?

Die Türglocke ertönte, und eine Frau mit zwei kleinen Kindern betrat den Laden. Trish, ihre Angestellte, ging auf sie zu.

„Was hältst du davon?“, fragte Cass, eine der drei Partnerinnen, und lehnte sich neben Mercy. Sie trug einen Baumwollpullover und Cordrock, und ihr federweiches Haar fiel ihr ins Gesicht, als sie auf ein Bild im Katalog tippte. „Wir könnten diese herzförmigen Luftballons ins Schaufenster hängen und sie an die Kinder verteilen.“

„Dieser Valentinstag nervt“, murmelte Mercy und blätterte die Seite um.

„Hey, du bist schon die ganze Zeit so grummelig. Was ist los?“

„Ich bekomme meine Tage“, erwiderte Mercy, ohne aufzublicken.

„Kann nicht sein, deinen Schokoladenanfall hattest du erst vor zwei Wochen.“

„Führst du jetzt etwa schon Buch darüber? Ich habe einfach schlechte Laune, okay? Und klar, die Luftballons sind klasse.“ Sie blätterte eine weitere Seite um.

„Und wie wäre es“, sagte Cass, „wenn wir diese Herzmotive an die Wand hinter der Kasse …“

„Fordere dein Glück nicht heraus! Reichen dir die Luftballons nicht? Was ist los?“, fügte sie ungehalten hinzu, als Cass ihr die Hand auf den Arm legte.

„Wie heißt er?“

„Wer?“

„Der Kerl, der diese plötzliche Allergie gegen den Valentinstag hervorgerufen hat.“

Mit einem lauten Knall schloss Mercy den Katalog und verschränkte die Arme vor der Brust. „Da gibt es niemanden. Es ist nur …“ Ihr Mund wurde schmal, als sie Cass’ amüsierten Blick auffing. „Weißt du, wann mir zuletzt jemand eine Valentinskarte geschickt hat? Als ich sechzehn war! Wenn das kein Grund für schlechte Laune ist!“

„Hat da etwa jemand schlechte Laune?“, ertönte eine muntere Stimme.

Mercy warf Dana Turner, der dritten Partnerin, einen finsteren Blick zu. Ein langer, weicher Cardigan verhüllte eine Figur, die Anitas nicht unähnlich war.

Als die den Laden aufgemacht hatte, waren alle drei Singles gewesen, doch im letzten Jahr hatten sowohl Cass als auch Dana sich verliebt und geheiratet. Cass hatte ein Kind bekommen, und Danas Mann hatte einen kleinen Sohn mit in die Ehe gebracht. Mercy freute sich aufrichtig, dass die beiden ihr Glück gefunden hatten. Warum also verspürte sie diesen lächerlichen und unerwarteten Stich von … Neid? Wie konnte sie auf etwas neidisch sein, was sie nicht einmal haben wollte?

Also gab sie dem Valentinstag die Schuld für ihre schlechte Laune. Und all diesen albernen, dummen Karten, die an dem Tag verschickt wurden. Auf diesen Unsinn konnte sie gut verzichten.

„Kann ich Ihnen helfen?“, hörte sie Trish sagen. Mercy blickte auf und sah Bens Augen auf sich gerichtet.

Sie rannte Trish fast über den Haufen, als sie hinter dem Tresen hervor und auf ihn zustürmte. „Ben! Was machst du denn hier?“ Kam es ihr nur so vor, oder fragte sie ihn das nicht zum ersten Mal?

Er lächelte. Hinter ihrem Rücken unterdrückte jemand ein Lachen. „Mattie hat nächste Woche Geburtstag, und da dachte ich, ich könnte hier vielleicht ein Geschenk für sie finden.“

„Ach so. Ja. Zufällig weiß ich, dass sie ein Auge auf ein richtig cooles Bastelset geworfen hat, hier drüben …“

Aus den Augenwinkeln sah sie den verstehenden Ausdruck auf Cass’ Gesicht. Zum Glück befand sich der Bereich mit den Spielsachen in den hinteren Räumen.

Sie fuhr mit den Fingern das Regal entlang. „Hier ist es.“

Stirnrunzelnd musterte Ben den Karton, den sie ihm reichte.

Währenddessen atmete sie seinen Duft ein, ohne sich darum zu kümmern, dass ihr fast schwindelig davon wurde. Jeder vernünftige Mensch wäre einen Schritt zurückgegangen – aber seit wann war sie vernünftig?

„Bist du sicher, dass es nicht zu schwer für sie ist?“

„Nein, vertrau mir, das ist genau das Richtige für sie. Es wird ihr gefallen.“

Sie sah, dass Ben einen kleinen Jungen beobachtete, der sich einen Pandabären geschnappt hatte und mit ihm durch den Laden schlenderte.

„Hat jemand ein Auge auf den Kleinen?“

„Wir alle. Außerdem sind alle Ausgänge gesichert, er kann schon nicht verloren gehen.“

Trotzdem ließ Ben das Kind nicht aus den Augen, bis seine Mutter auftauchte und ihn an die Hand nahm.

„Wegen neulich Abend …“, ihre Blicke trafen sich, und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, „… es hat mir sehr gut gefallen.“

Ihre Blicke schienen ein paar Sekunden miteinander zu ringen, ehe sie sich abwandte und ein Regal aufräumte, in dem es nichts aufzuräumen gab.

„Gibt es einen Grund, warum du eine Woche gebraucht hast, um mir das zu sagen?“

„Eigentlich nicht. Ich hatte nur viel zu tun.“ Er warf einen letzten Blick auf den Karton mit dem Bastelset. „Und du glaubst wirklich, dass es ihr gefällt?“

Mercy setzte ihr bestes Verkäuferlächeln auf. „Damit wirst du ihr bester Freund werden. Soll ich es dir als Geschenk einpacken lassen?“

„Das wäre großartig.“

Sie ging mit ihm nach vorn zur Kasse und ärgerte sich über sich selbst, weil sie darauf wartete, dass er sie zum Lunch einlud. Hoffentlich waren Dana und Cass im Büro, damit sie ihre jämmerliche Vorstellung nicht mitbekamen.

„Trish, packst du bitte das hier in Geburtstagspapier ein?“

„Gerne.“

Ohne Ben anzusehen, tippte Mercy den Kaufbetrag in die Kasse ein. Ihre heißen Wangen versuchte sie so gut es ging zu ignorieren. Sie zog seine Kreditkarte durch den Scanner und gab sie ihm zurück. Hinter ihr riss Trish ein Stück Papier von der Rolle.

Der kleine Junge mit dem Pandabären kam wieder vorbeigeschlendert, einen Daumen im Mund. Ben lehnte sich gegen den Tresen und sagte: „Hallo, Kleiner … wo ist denn deine Mama?“

Ohne den Daumen aus dem Mund zu nehmen, drehte sich der Junge um und deutete mit dem Panda in den hinteren Bereich des Ladens.

„Wollen wir sie suchen gehen?“

Mit einem leisen Plopp zog er den Daumen raus. „Ich soll nich mit Leuten geh’n, die ich nich kenn, hat meine Mama gesagt.“

„Guter Junge“, erwiderte Ben, und das Kind grinste. Ben ging in die Hocke. „Wie alt bist du?“

Drei Finger schossen in die Höhe.

„Wow! So groß schon!“

Der Junge nickte begeistert. „Ich weiß! Ich bin der große Bruder!“, sagte er stolz.

Ben lächelte und sagte: „Aber weißt du, es ist vielleicht doch ganz gut, wenn wir deine Mommy suchen. Warum bleibst du nicht einfach hier bei den netten Ladies und ich sage deiner Mama, dass du hier bist?“

„Na gut.“

Doch bevor Ben sich erheben konnte, tauchte bereits die Mutter auf. Mit besorgtem Gesicht, den jüngsten Sohn auf dem Arm, ein Bündel Kleider über dem anderen. „Da bist du ja! Timmy, wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst bei mir bleiben?“ Sie ergriff seine Hand und zerrte ihn zu sich. „Ich hoffe, er hat Sie nicht gestört?“

„Nein, natürlich nicht …“, begann Mercy lächelnd, doch Ben unterbrach sie sanft.

„Bei allem Respekt, Ma’am“, sagte er ruhig, „aber ihr Sohn ist erst drei. Sie haben Glück, dass das hier ein kleiner Laden ist und dass die Damen gut auf die Kinder ihrer Kunden aufpassen. Aber was ist, wenn Ihnen das in einem großen Supermarkt passiert wäre?“

Mercy sah, wie die Frau fast in die Luft ging. „Da sitzt er im Wagen“, schnauzte sie. „Wollen Sie mir unterstellen, ich würde nicht richtig auf mein Kind aufpassen?“

Autor

Karen Rose Smith
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