Lady Harriets hungriges Herz

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Sir Benedict war ihre größte Liebe - und ihr größtes Unglück! Ihn unerwartet auf einem Ball wiederzusehen, reißt die schmerzliche Wunde in Lady Harriets Herzen auf. Aber seine sinnliche Umarmung erwidert ihr Körper mit verräterischer Sehnsucht. Als hätte er sie damals, als sie blutjung war, nicht verführt und schmählich verlassen!


  • Erscheinungstag 13.01.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751505284
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Mitte Februar 1812

Harriet, Lady Brierley, ging unruhig in dem prunkvoll eingerichteten Empfangszimmer von Tenterfield Court auf und ab und wiederholte im Geiste die Worte, die sie zu Sir Malcolm Poole sagen würde. Wenn sie geahnt hätte, dass der Baronet im Sterben lag, hätte sie die Reise von London hierher in dieser Jahreszeit niemals unternommen. Doch sie hatte davon nichts gewusst, und da sie nun schon einmal den weiten Weg bis nach Kent gereist war, wollte sie die Frage auch stellen, auf die sie eine Antwort suchte. Sie war nach Tenterfield gekommen, um herauszufinden, ob Sir Malcolm dafür verantwortlich war, dass sich Emma, die Schwester ihrer Freundin Felicity Stanton, vor zehn Jahren das Leben genommen hatte. Felicity hatte den Verdacht geäußert, und Harriet wollte der quälenden Ungewissheit ein Ende setzen.

Felicitys Schwester war damals gerade erst achtzehn Jahre alt gewesen – ein unschuldiges Mädchen, das verführt und geschwängert wurde. Emma hatte keinen anderen Ausweg gesehen, als sich das Leben zu nehmen, nachdem der Mann, der vorgegeben hatte, sie zu lieben, sie eiskalt im Stich gelassen hatte.

Harriet fröstelte. Wie leicht hätte sie dasselbe Schicksal erleiden können! Hatte sie sich deshalb so schnell nach Tenterfield begeben, weil sie nur zu gut wusste, wie Felicitys arme Schwester sich gefühlt hatte?

Sie durchquerte den Salon und stand erneut vor dem großen Gemälde, das den Baronet in seinen jüngeren Jahren zeigte. Es war, als ob der Porträtierte sie von oben herab anblickte – ein attraktiver Mann mit aristokratischen Zügen, goldbraunen Haaren und tiefgrünen Augen. Harriet erschauderte, wenn sie daran dachte, was für ein Widerling dieser Mann in der Vergangenheit gewesen war. Entschlossen wandte sie den Blick ab. Diese Reise schien dazu angetan, schmerzhafte Erinnerungen aufleben zu lassen … Das durfte sie nicht zulassen, sonst verlor sie den Grund für ihren Besuch aus den Augen.

„Lady Brierley. Womit verdienen wir diese Ehre?“

Harriet erstarrte. Es konnte einfach nicht sein. Hatte sie ihn in Fleisch und Blut heraufbeschworen, indem sie den Erinnerungen Raum gewährte? Sie bekam feuchte Hände, während ihr Mund wie ausgetrocknet war. Sie holte Luft, um sich zu beruhigen, und besann sich ihrer jahrelangen Erfahrung, die eigenen Gefühle zu verbergen. Dann drehte sie sich um.

Er stand im Türrahmen.

Benedict. Nach all der Zeit.

Er war groß und breitschultrig wie damals, aber dies war ein Mann und nicht der Jüngling, den sie einst gekannt hatte. Mit seinem markanten Kinn wirkte er ebenso entschlossen wie früher, doch seine hohe Stirn hatte jetzt ganz leichte Falten, und einzelne silberne Fäden durchzogen sein rotbraunes Haar. Er durchbohrte sie mit den Blicken seiner tiefgrünen Augen. Ein Tiger, der seine Beute belauert, hätte nicht konzentrierter wirken können.

Harriet schluckte. Es kam ihr vor, als ob eine Glasscherbe in ihrem Hals stecken würde.

„Guten Tag, Mr. Poole.“ Waren diese gelassenen Worte wirklich über ihre Lippen gekommen? Sie fasste Mut. Schließlich hatte sie Schlimmeres als das ertragen. „Verzeihen Sie meinen unangekündigten Besuch. Ich wusste nicht, dass Ihr …“ In welcher verwandtschaftlichen Beziehung stand er doch gleich zu Sir Malcolm? Sie konnte sich nur noch erinnern, dass er Benedicts Vormund gewesen war. „Ich hatte gehofft, mit Sir Malcolm sprechen zu können. Erst hier erfuhr ich, dass er so schwer erkrankt ist.“

„Er ist mein Cousin zweiten Grades. Wenn er stirbt, bin ich der einzige verbleibende Poole.“

„Das tut mir leid.“ Diese Plattitüde entfuhr ihr unwillkürlich. Es tat ihr nicht leid. Ohne die Pooles würde es der Welt wahrhaftig nicht schlechter gehen! Aber sie wollte höflich bleiben und sich ihre Verbitterung nicht anmerken lassen. Sir Malcolm war es immer nur um sein Vergnügen gegangen – ein zügelloser Lebemann, dem die zerstörten Existenzen, die er hinterließ, gleichgültig waren. Felicitys arme Schwester war höchstwahrscheinlich eines seiner vielen Opfer gewesen. Und Benedict hatte einen ebenso verachtenswerten Charakter offenbart. Dass er ihr das Herz gebrochen hatte, war ihm gleichgültig gewesen – kaum verwunderlich mit Sir Malcolm als einzigem Vorbild seit der Kindheit.

Benedict setzte sich in Bewegung und kam auf sie zu. Die Luft zwischen ihnen schien zu vibrieren. Sie wich keinen Schritt zurück, warf aber ihrer Zofe Janet, die in der Nähe des Kamins auf einem Stuhl Platz genommen hatte, einen unsicheren Blick zu.

Wenigstens bin ich nicht allein.

„Warum sind Sie hier?“, fragte Benedict leise und sah sie mit halb zusammengekniffenen Augen an. „Haben Sie die Absicht, noch einen anderen reichen Mann am Sterbebett zu heiraten?“

„Brierley lag nicht im Sterben! Ich hatte keine …“ Harriet sprach nicht weiter. Sie hatte mehr als sieben Jahre mit diesem lüsternen, brutalen Wüstling ertragen. Sieben Jahre voller Qual und Ekel, ohne Kind und mit gebrochenem Herzen – und das alles wegen Benedict Poole.

Nie im Leben hatte sie damit gerechnet, ihn hier anzutreffen. Er war nach Übersee verschwunden – ans andere Ende der Welt. Die lange unterdrückten Erinnerungen entfachten erneut den Hass auf diesen Mann.

Seine Lügen. Seine falschen Versprechungen. Einfach alles.

Sie verbarg ihre Empfindungen. Er sollte nie erfahren, wie sehr sich ihr Herz noch immer nach dem sehnte, was damals möglich schien. Sie holte tief Luft und hob das Kinn.

„Falls Sir Malcolm mich empfangen kann, wäre ich für eine kurze Unterredung mit ihm dankbar.“

Sie blickte aus dem Fenster. Die Wolken hatten sich zu einer grauen Masse zusammengezogen, und sie sah einige Flocken vorbeiwehen. Der Schnee, der sich immer drohender angekündigt hatte, je weiter sie am Morgen nach Kent hineingereist war, hatte zu fallen begonnen.

„Ich wäre froh, wenn ich aufbrechen könnte, bevor sich das Wetter weiter verschlechtert. Wenn Sie also so freundlich wären, mich zu ihm zu führen …“

Benedict verbeugte sich und wies auf die Tür. „Ihr Wunsch ist mir Befehl, Mylady“, entgegnete er mit ausdrucksloser Stimme.

„Vielen Dank.“

Sie schritt an ihm vorbei auf die Tür zu. Dabei stieg ihr sein Duft in die Nase und löste Gefühle in ihr aus, die sie nicht mehr für möglich gehalten hatte. Selbst nach elf langen Jahren kam ihr dieser einzigartig männliche Duft vertraut vor: würzig, berauschend … und vermischt mit einem Hauch von Brandy. Brandy? So früh am Tag? Er war ein Poole durch und durch. Nichts hatte sich geändert.

„Kommen Sie, Janet“, sagte sie zu ihrer Zofe.

Harriet betrat das geräumige Vestibül, von dem eine prachtvolle polierte Eichentreppe nach oben führte. Was sie auch erblickte, zeugte von Sir Malcolms beachtlichem Reichtum: Bezaubernde Landschaftsbilder hingen an den Wänden, kostbare chinesische Porzellangefäße standen auf den zahlreichen Konsolentischen, und ein imposanter Kristallleuchter hing über dem kreisrunden Marmortisch, auf dem eine Vase mit prachtvollen Lilien stand. Im Februar! Obgleich Sir Malcolm immer verschwenderisch gelebt hatte, schien sein Vermögen unerschöpflich. Und ohne es zu verdienen, würde Benedict das alles erben – auch den Titel. Kein Wunder, dass er hier war, wenn sein Cousin im Sterben lag.

Schweigend stiegen sie nebeneinander die Treppe hoch, bis sie den Gang erreichten. Janet folgte ihnen.

Sie gingen auf eine Tür zu, die Benedict öffnete.

„Lady Brierley möchte Sir Malcolm sehen“, sagte er, bevor er Harriet und Janet in das Zimmer schob und hinter ihnen die Tür schloss.

In dem Raum war es heiß wie in einem Backofen, und Harriets Gesicht begann zu glühen. Die erstickende Hitze und der beißende Geruch gingen von dem Kamin aus, in dem die Kohlen hoch aufgeschichtet waren. Am liebsten hätte sie sich mit den Händen Luft zugefächelt. Wie sollte jemand in einer solchen Umgebung genesen?

Ein riesiges Bett beherrschte den Raum, der in dunklen Purpur- und Goldtönen gehalten war. Sir Malcolm war so abgemagert, dass sich die Konturen seines Körpers unter den Decken kaum abzeichneten. Es war schwer zu glauben, dass dies derselbe Mann war, den sie immer nur laut und kraftstrotzend erlebt hatte. Er sah alt aus, obgleich er höchstens achtundvierzig Jahre alt sein konnte. Sein Gesicht war skelettartig, die Haut blutlos und schlaff. Nur seine Augen wirkten inmitten der geschrumpften Züge hellwach. Mit diesen Augen musterte er sie mit derselben kalten Berechnung, die sie von ihm aus ihrer Kindheit und den Begegnungen während ihrer Ehe mit Brierley kannte. Abscheu erfasste sie.

„Sie haben wohl gehört, dass ich sterbe, was?“ Die Stimme war nur ein brüchiges Flüstern. „Dachten sich, noch einen Versuch zu unternehmen, um sich Benedicts Erbe zu schnappen?“

„Ihr Cousin interessiert mich nicht“, erwiderte Harriet. „Es tut mir leid, Sie in diesem Zustand anzutreffen, aber ich komme in einer ganz anderen Angelegenheit. Ich wusste nicht, dass Sie krank sind, und ganz sicher nicht, dass Mr. Poole hier ist, sonst hätte ich es mir zweimal überlegt, bevor ich Ihre Schwelle überschritten hätte.“

Er lachte krächzend. „Das ist auch besser so. Er hat seine Meinung nicht geändert, seit Sie zum ersten Mal versucht haben, ihn in die Falle zu locken. Schon als Jüngling war Benedict kein Narr. Ein Poole durch und durch. Damals hat er Sie durchschaut, und das wird er auch jetzt tun. Er wird sich in höheren Kreisen nach einer Frau umsehen und sich gewiss nicht mit dem abgeben, was Brierley übrig gelassen hat. Da können Sie ganz sicher sein.“

Harriet musste sich auf die Zunge beißen, um nichts auf seine Provokation zu erwidern. Selbst das drohende Gericht seines Schöpfers konnte Sir Malcolms Gehässigkeit nicht zügeln. Aber vielleicht würde er auf dem Sterbebett wahrheitsgemäß antworten, wenn sie ihn wegen Felicitys Schwester befragte.

„Nun, Mädchen? Was wollen Sie? Ich habe keine Zeit zu verschwenden, um mich mit solchen wie Ihnen abzugeben. Sagen Sie mir, was Sie wollen, und verschwinden Sie. Haben Sie gehört, Fletcher?“ Er wandte sich an den Bediensteten, der neben dem Fenster stand. „Diese Person soll keine Minute länger als nötig unter meinem Dach verbringen.“

Der Mann verbeugte sich. „Ja, Sir.“

Harriet schluckte ihren Zorn hinunter. „Ich muss Sie wegen etwas befragen, das eine ganze Weile zurückliegt. Erinnern Sie sich an Lady Emma Weston? Sie war im Sommer 1802 ebenso wie Sie bei Lord Watchett zu Gast.“

Sir Malcolm senkte die Lider. „Wie soll ich mich denn an eines von so vielen Weibern erinnern?“

„Es handelte sich um Lady Baverstocks Tochter. Es war in dem Jahr nach Lord Baverstocks Tod.“

Er öffnete den schmalen Mund, und Harriet schreckte zurück, als er sich mit der Zunge über die Lippen fuhr. „Ah ja, das goldgelockte Engelchen.“

Ihr wurde übel. Nach so langer Zeit hatte sie fast vergessen, wie ekelhaft Sir Malcolm immer gewesen war. Daran hatten auch sein Reichtum und das hübsche Gesicht nichts geändert. Stets hatte er seine jungen, unschuldigen Opfer mit unwiderstehlichem Charme umgarnt. Harriet verstand nur zu gut, dass die naiven Mädchen auf seine blumigen Lügen hereinfielen. Sie hatte keine Schwierigkeiten gehabt, seinen Verführungsversuchen zu widerstehen, denn sie hatte geglaubt, von Benedict geliebt zu werden. Doch mit der Zeit hatte sich herausgestellt, dass sie ebenso naiv gewesen war wie die arme Lady Emma. Sir Malcolms Reaktion auf die Frage bestätigte Felicitys Vermutung. Er hatte Emma verführt, geschwängert und dann fallen gelassen. Emma hatte sich in den Selbstmord geflüchtet. Harriet konnte sich gut vorstellen, wie verzweifelt die junge Frau gewesen sein musste. Auch ihr war das Herz gebrochen worden, und während der erzwungenen Ehe mit Brierley hatte es Zeiten gegeben, in denen sie am liebsten aufgegeben hätte.

„Sie waren es also“, sagte sie zu dem Mann, der auf dem Bett lag.

Er ließ den Kopf zur Seite sinken. „Ich sagte nur, dass ich sie getroffen habe. Nichts anderes habe ich zugegeben.“

Doch Harriet hatte keinen Zweifel mehr, dass er Felicitys Schwester die Unschuld geraubt hatte. Er war ein Lebemann von der übelsten Sorte. Sein Geständnis war gar nicht mehr nötig. Sie beugte sich vor und atmete durch den Mund, um dem säuerlichen Geruch zu entgehen, der von dem Bett ausging.

„Sie hat sich umgebracht! Sie haben Sie verführt und verlassen. Sie nahm sich das Leben, weil sie Ihr Kind in sich trug.“

Er sah sie an, und seine zu Schlitzen zusammengezogenen Augen funkelten. „Das Beste für sie. Eine vaterlose Brut weniger, um die man sich sorgen muss. Ist es nicht so, Mylady? Auch wenn Sie nicht einmal das geschafft haben, oder? Wenn ich mich richtig entsinne, haben Sie es verloren. Unachtsam von Ihnen.“

Harriet richtete sich auf, während ihr der Schmerz fast das Herz zerriss. Sie musste hier weg. Sofort. Sie hätte nie herkommen dürfen. Mit einem Mal erkannte sie, dass es bei dieser Reise nicht nur um Emma gegangen war, sondern auch um sie selbst. Es war der Versuch gewesen, zu verstehen, weshalb ihr Leben diesen Verlauf genommen hatte. Und sie erkannte, dass zwischen Emma und ihr kein Unterschied bestanden hatte: Sie waren leichtgläubige Opfer von Männern gewesen, die sie benutzt und missbraucht und anschließend jede Verantwortung von sich gewiesen hatten.

„Ich hoffe …“ Die Worte erstarben ihr auf der Zunge. Nein, sie würde diesem abscheulichen Mann keinen tröstlichen Wunsch mit auf den letzten Weg geben. Entschlossenen Schritts verließ sie das Zimmer.

Nachdem Janet und sie wieder auf dem Gang waren und die Tür fest hinter ihnen geschlossen war, lehnte sich Harriet gegen die Wand und rang zitternd nach Atem. Die besorgte Zofe suchte sofort in ihrer Tasche und hielt ihr Riechsalz unter die Nase. Sie stand ihr seit Beginn der Ehe mit Brierley zur Seite und war für sie, damals eine junge und verunsicherte Braut, zu einer treuen und Schutz bietenden Freundin geworden. Schon seit Langem war Harriet dankbar, dass die ältere Frau ihre Zofe geworden war.

Mit einem Wink bedeutete sie Janet, dass kein Riechsalz vonnöten war. „Ich verspreche Ihnen, nicht ohnmächtig zu werden“, sagte sie und zwang sich, der Zofe ein beruhigendes Lächeln zu schenken.

Sie warf einen Blick zurück auf die geschlossene Schlafzimmertür. Wie hatte dieser Mann nur all die Jahre in den Spiegel blicken können? Sie stellte sich kerzengerade hin und glättete das Kleid.

„Wir sollten so schnell wie möglich in den Gasthof zurückkehren, bevor ein richtiges Schneetreiben einsetzt.“

Auf dem Hinweg hatten sie Zimmer im Rose Inn in Sittingbourne reserviert, kaum vier Meilen von Tenterfield Court entfernt. Harriet wollte in dem Gasthof die Nacht verbringen und am nächsten Tag nach London zurückreisen. Dort würde sie Felicity schonend beibringen, dass sie mit ihrem Verdacht richtiggelegen hatte. Sie hoffte, dass ihr Bericht die Freundin, die bald Mutter werden würde, nicht zu traurig stimmte.

Harriet war erleichtert, dass Benedict nirgends zu sehen war, als sie mit Janet die Treppe hinunterging und durch das große Vestibül mit den imposanten Kaminen aus schwarzem Marmor auf die Eingangstür zuschritt. Der Butler schickte sofort einen Bediensteten zu den Stallungen, damit die von ihr gemietete Kutsche mit dem Vierergespann vor die Eingangstreppe gefahren wurde. Ein Dienstmädchen half ihnen in die Mäntel und reichte ihnen die Muffe. Draußen war es kalt, und sie hatten sich gut auf die Reise vorbereitet. In der Kutsche lagen warme Decken und Felle bereit.

„Die Kutsche ist bereits vorgefahren, Mylady“, verkündete der Butler. „Geben Sie acht, es könnte glatt sein. Cooper wird Ihnen helfen.“

Ein Lakai, der warm angezogen war, trat vor. Harriet ergriff seinen rechten Arm, während Janet sich an der anderen Seite festhielt. Draußen betraten sie eine vollkommen verwandelte Welt. Weiße Flocken wirbelten durch die Luft, und Harriet konnte kaum die Bäume entlang der gewundenen Auffahrt erkennen, die vom Haus auf die Straße führte. Es wehte ein heftiger Ostwind, der in Böen den Schnee vor sich hertrieb. Die Schneeflocken, die gegen ihre Wangen geblasen wurden, fühlten sich wie eisige Nadelstiche an. Die wartenden Pferde scharrten mit den Hufen und warfen unruhig die Köpfe empor. Ihr Atem trat in kleinen Wölkchen aus den Nüstern, während der bedauernswerte Kutscher und die beiden Reitknechte sich in der Kälte bemühten, die Tiere ruhig zu halten. Sie hoffte, dass man den Männern in der Küche etwas Heißes zu trinken gegeben hatte.

Auf den glatten Steinstufen fand Harriet mit ihren Halbstiefeln kaum Tritt. Sie klammerte sich fest an den Arm des Lakaien, während sie vorsichtig die Treppe hinabstiegen. Sie blickte just in dem Moment zu Janet hinüber, als diese Coopers Arm losließ und die letzten Stufen vorauseilte – vermutlich, um ihr die Kutschentür zu öffnen.

„Janet! Nein!“

Es war zu spät. Ein Aufschrei übertönte das Heulen des Windes, als die Zofe auf der vorletzten Stufe ausrutschte und mit dem Rücken auf die Treppe fiel, wobei ein Bein gekrümmt unter ihrem Körper aufschlug.

„Oh nein!“ So schnell sie konnte, hastete Harriet zu ihr. „Janet? Haben Sie sich verletzt?“

Janet schrie auf, als sie versuchte, sich aufzurichten. „Oh, Mylady! Mein Rücken. Au! Mein Bein! Ich kann es nicht bewegen.“

„Du meine Güte!“ Was, wenn es gebrochen war? Harriet erinnerte sich nur zu gut daran, welche Schmerzen gebrochene Knochen verursachten. In ihrem Fall war der Schmerz von einer noch größeren Pein überlagert worden. Sie schob die Erinnerungen beiseite. Das gehörte der Vergangenheit an. „Können Sie sie zur Kutsche tragen, Cooper?“

Der Lakai beugte sich vor, um Janet hochzuheben, doch die Zofe wehrte sich. „Nein! Rühren Sie mich nicht an! Es tut so weh!“

Harriet ging neben Janet in die Hocke und ergriff deren linke Hand. „Sie können nicht hier im Schnee liegen bleiben. Sie wollen doch nicht erfrieren.“

„Jede Bewegung ist eine Qual, Mylady. Das ertrage ich nicht. Eine Fahrt in der ruckelnden Kutsche stehe ich nicht durch. Wirklich nicht.“ Vor Schmerz heulte sie auf.

Harriet starrte durch das heftige Schneetreiben auf die Kutsche mit dem wartenden Vierergespann. Was sollte sie tun? Das Wetter verschlechterte sich zunehmend. Irgendwie mussten sie Janet von hier fortbringen.

„Lassen Sie mich das machen.“ Sie spürte eine Hand auf der Schulter, und die tiefe Stimme riss sie aus ihrer Panik. Benedict.

Obgleich seine Berührung sie zusammenzucken ließ, war sie erleichtert, Hilfe zu bekommen. Sie drehte sich um und blickte in seine kalten Augen. Ihre Sorge musste jetzt einzig Janet gelten.

„Vielen Dank“, sagte sie.

2. KAPITEL

Er war in die Bibliothek zurückgekehrt, nachdem er Harriet zu dem Schlafzimmer gebracht hatte, in dem sein letzter Verwandter dahinsiechte. Benedict schenkte sich einen weiteren Brandy ein, setzte sich neben den Kamin und grübelte über die Frau nach, von der er geglaubt hatte, sie niemals wiederzusehen. Er trank einen Schluck und verzog das Gesicht. Jetzt brachte sie ihn schon zum Trinken, obgleich sie nicht viel länger als eine halbe Stunde hier war!

Wenig später verrieten die Geräusche von eifrigem Hin- und Hereilen im Vestibül, dass sie das Haus wieder verließ. Er würde sich nicht von ihr verabschieden. Vor all den Jahren hatte sie ihm auch nicht diese Höflichkeit erwiesen. Nur ein letzter Blick. Das ist alles.

Er trat an das Fenster und stellte sich an eine Seite, sodass der Vorhang ihn verdeckte, falls sie einen Blick zurück warf. Der Schnee wehte gegen die Hausfront, und erst jetzt hörte er den Wind heulen. Er war so in Gedanken versunken gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie sehr sich das Wetter verschlechtert hatte. Drei dick gegen die Kälte eingemummelte Gestalten erschienen auf dem oberen Treppenabsatz. Die beiden kleineren hielten sich an den Armen der großen Gestalt in der Mitte fest – wahrscheinlich handelte es sich um einen der Lakaien. Er erkannte Harriet, die ein dunkelblaues, mit Fell gefüttertes Cape mit Kapuze trug. Er beobachtete, wie die drei vorsichtig die Stufen hinuntergingen. Plötzlich löste sich Harriets Zofe und eilte voraus. Obgleich sie ihn ohnehin nicht gehört hätte, war er kurz davor, ihr eine Warnung zuzurufen. Doch bevor er einen Laut von sich geben konnte, rutschte sie bereits aus und stürzte zu Boden.

Benedict dachte keinen Moment nach, sondern lief durch das Vestibül zur Eingangstür hinaus. Eisige Schneekristalle wehten ihm ins Gesicht, während er die Stufen hinunterhastete und in seiner Eile beinahe ausrutschte. Es war gut möglich, dass die Zofe sich ein Bein gebrochen hatte. Vielleicht konnte er helfen … Er hatte auf seinen vielen Reisen schon mehr als einem Schiffsarzt beim Richten gebrochener Glieder zur Seite gestanden.

Harriet hockte neben der Zofe, die den Kopf schüttelte und mit tränenerstickter Stimme darum bat, dass niemand sie anrühren möge. Er legte eine Hand auf Harriets Schulter.

„Lassen Sie mich das machen.“

Harriet drehte sich um und sah zu ihm hoch – der Blick ihrer einst so lebhaften Augen wirkte zurückhaltend. „Vielen Dank.“

„Gehen Sie hinein und wärmen Sie sich auf“, forderte er sie auf. „Wir kümmern uns um Ihre Zofe.“

„Janet“, erwiderte sie. „Ihr Name ist Janet. Nicht nur das Bein ist verletzt, sie ist auch mit dem Rücken aufgeschlagen. Sie werden ihr nicht wehtun, nicht wahr?“

„Das kann ich leider nicht versprechen. Wir müssen sie bewegen, aber zuvor versuche ich, das Bein gerade auszurichten. Bitten Sie Crabtree, uns Brandy und Verbandsstoff zu bringen. Er ist der Butler“, fügte er hinzu, als sie fragend die Brauen hob.

Harriet legte das warme Cape ab und breitete es über der verletzten Zofe aus, bevor sie mit vorsichtigen Schritten ins Haus zurückkehrte.

Benedict wandte sich an den Lakaien. „Das Bein könnte gebrochen sein. Haben Sie schon einmal dabei geholfen, ein Bein auszurichten?“

„Ich kenne mich damit aus!“, mischte sich ein junger Mann ein. Einer der Reitknechte beugte sich über Janet, die heftig zitterte. „Ich bin das gewohnt“, fügte er grinsend hinzu. „Wenn man’s mit Pferden zu tun hat, bricht sich ständig jemand irgendwas.“

„Sagen Sie dem Kutscher, er soll die Tiere zurück in die Stallungen bringen“, ordnete Benedict an. „Heute werden die Damen nicht mehr weiterreisen.“

„Da haben Sie recht, Sir“, erwiderte der Bursche und gab dem Kutscher und dem anderen Gehilfen ein Zeichen.

Benedikt kniete sich neben die Verletzte.

„Fassen Sie mich nicht an!“, schrie sie.

„Ganz ruhig“, erwiderte Benedict, als die Frau zu schluchzen begann. „Wir müssen herausfinden, ob das Bein gebrochen ist. Erst wenn wir es ausgerichtet haben, können wir sie ins Haus tragen.“

Der Butler trat zu ihnen.

„Ah, Crabtree. Vielen Dank.“ Benedict nahm ihm das Glas ab und hielt es Janet an die Lippen. „Trinken Sie.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Trinken Sie. Das betäubt den Schmerz.“ Benedict zwickte ihr ins Kinn, damit sie den Mund öffnete. Für Nettigkeiten war jetzt wahrhaftig keine Zeit. Er war längst durchnässt und durchgefroren, und Janet musste es, auf den schneebedeckten Stufen liegend, noch viel schlimmer ergehen.

„Was machen Sie da? Wie geht es ihr?“

Er drehte sich ruckartig um. Harriet war zurück und blickte über seine Schulter zu ihrer Zofe.

„Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen im Haus warten.“

„Ich bin für Janet verantwortlich. Ich kann helfen.“

„Wenn Sie helfen wollen, gehen Sie wieder hinein.“

Sie warf ihm einen frostigen Blick zu.

„Bitte lassen Sie mich nicht allein, Mylady!“, jammerte Janet.

Harriet ging neben Benedict in die Hocke und streichelte ihre Zofe beruhigend. Inzwischen war ein weiterer Lakai mit Decken und einer hölzernen Trage eingetroffen. Er berichtete, dass Crabtree bereits nach dem Arzt hatte schicken lassen.

Benedict schob Janets Röcke ein Stück nach oben, um sich das Bein anzusehen. Es schien intakt, aber der Fuß war derartig verdreht, dass der Knöchel wahrscheinlich gebrochen war.

Er wandte sich an Cooper und den Reitknecht. „Wenn ihr Rücken Schaden genommen hat, müssen wir sie besonders vorsichtig bewegen.“ Er gab den Männern genaue Anweisungen, wie sie Janet auf die Seite drehen sollten, damit er sich um den Knöchel kümmern konnte.

Die nächsten Minuten waren die Hölle. Benedict biss die Zähne zusammen und versuchte, unter den Schreien der Zofe die Stiefelette von dem rasch anschwellenden Knöchel zu entfernen, indem er mit dem Messer des Reitknechts das Leder einschnitt. Benedict musste an den schrecklichen Sturm denken, bei dem das Schiff fast gekentert wäre. Sein Herz raste, und die Hände zitterten, als er an die verletzten Seeleute dachte, die der Schiffsarzt und er nur notdürftig versorgen konnten. Der heulende Wind rief ihm die schreckliche Angst jener Nacht in Erinnerung. Es ist vorbei. Ich bin in Tenterfield, nicht an Bord … Er zuckte zusammen, als er eine behandschuhte Hand auf seiner Rechten spürte. Als er sich umdrehte, blickte er in vertraute violette Augen.

„Sie machen das gut“, flüsterte sie. Er betrachtete ihre Lippen: so nah … süß und üppig … so verführerisch. „Verlieren Sie jetzt nicht die Nerven.“

Benedict atmete so tief ein, dass die eisige Luft in der Lunge schmerzte. Er musste die Erinnerungen vertreiben, die ihm nun in den Sinn kamen. Dabei ging es nicht um Lebensgefahr wie bei dem Sturm, aber um etwas, das beinahe seine Seele getötet hatte: Harriets Verrat. Mit drei entschlossenen Handgriffen löste er Janets aufgeschlitzte Stiefelette, die in den Schnee fiel.

Behutsam schoben sie die Zofe auf die Trage und banden sie mit einem Laken darauf fest, damit die Lakaien sie in ein Gästezimmer tragen konnten. Fast steif gefroren, stand Benedict auf, ergriff Harriets rechten Ellbogen und half ihr die Stufen hinauf zurück in das Vestibül.

„Warum haben Sie die Kutsche fortgeschickt?“, verlangte sie zu wissen, kaum dass die Eingangstür hinter ihnen geschlossen wurde und der tosende Schneesturm nur noch gedämpft zu hören war. „Ich habe Zimmer im Rose Inn gebucht.“

„Sie bleiben heute Nacht hier.“

„Ganz sicher nicht!“, erwiderte sie entrüstet. „Ich soll über Nacht ohne Anstandsdame in Tenterfield Court bleiben?“ Harriet ging entschlossen auf Crabtree zu. „Schicken Sie bitte jemanden zu den Stallungen mit der Anweisung, dass die Kutsche erneut vorfahren soll.“

„Ihre Zofe kann nicht reisen“, sagte Benedict.

Sie drehte sich zu ihm um. „Mir ist bewusst, dass Janet hierbleiben muss“, erwiderte sie ungehalten. „Ich jedoch bin gesund und werde nicht an einem Ort bleiben, an dem ich nicht willkommen bin.“

„Ich dachte, es ginge Ihnen um Ihren guten Ruf?“, erwiderte Benedict mit gedehnter Sprechweise. „Und dann wollen Sie in einem Gasthaus nächtigen, ohne dass auch nur die Gegenwart einer Bediensteten ein Mindestmaß an Anstand garantiert? Ich muss mich doch sehr über Sie wundern, Lady Brierley. Ich frage mich, ob Sie nur nicht in Tenterfield bleiben wollen, weil Sie sich vor Ihrem eigenen Mangel an moralischer Festigkeit fürchten.“

„Oh!“ Harriet blitzte ihn hasserfüllt an. „Wie können Sie es wagen?“ Sie wandte sich erneut an Crabtree. „Gibt es ein Dienstmädchen, das mich zum Gasthof begleiten könnte?“

Crabtree warf ihm über Harriets Schulter hinweg einen fragenden Blick zu. Benedict schüttelte kurz den Kopf.

„Es tut mir leid, Mylady“, antwortete Crabtree. „Da Sir Malcolm so schwer erkrankt ist und die Bediensteten sich nun zusätzlich um Ihre Zofe kümmern müssen, kann ich niemanden entbehren. Überdies wäre es nicht klug, bei diesem Wetter auch nur eine kurze Fahrt zu wagen.“

Benedict nickte. Seine Schadenfreude, Harriets Pläne scheitern zu sehen, währte nicht lange. Ihre Gegenwart würde nur alte Wunden aufreißen. Weshalb hatte er bloß darauf bestanden, dass sie blieb?

„Lassen Sie mich wissen, wenn der Arzt hier ist“, sagte er und ging zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hoch, wobei er sich innerlich verfluchte.

In seinem Zimmer zog er die nasse Kleidung aus und streifte den Morgenmantel über. Dann schritt er vor den Fenstern auf und ab und sann über Harriet nach.

Als man ihn von ihrer Ankunft in Kenntnis gesetzt hatte, hatte es ihm fast die Sprache verschlagen. Sein Herz hatte wie wild gegen die Rippen gepocht, und seine Handflächen waren feucht geworden. Sie konnte doch nicht gewusst haben, dass er hier war, um seinen sterbenden Cousin zu besuchen. Oder etwa doch? Er wollte gar nicht wissen, weshalb sie Malcolm einen Besuch abstattete. Er selbst war nur aus Pflichtgefühl gegenüber seinem ehemaligen Vormund nach Tenterfield gereist. Er empfand keinerlei Zuneigung für Malcolm, fühlte sich jedoch in dessen Schuld. Immerhin hatte der Mann ihn finanziell unterstützt, seit seine Eltern gestorben waren. Malcolm hatte dafür gesorgt, dass er die besten Schulen besuchen und anschließend nach Cambridge gehen konnte.

Benedict hätte es vermeiden können, Harriet wiederzusehen. Er hätte die Aufgabe, sie zu Malcolm zu führen, ebenso gut einem Bediensteten übertragen können. Das wäre auch sicher besser gewesen. Damit hätte er allerdings eingestanden, dass sie ihm noch immer nicht gleichgültig war. Außerdem hatte seine Neugier gesiegt. Er hatte sehen wollen, was aus ihr geworden war – aus dieser verkommenen Person, die ihn rücksichtslos verraten hatte, die ihm ihre Liebe geschworen und kaltherzig um eines Titels und des Reichtums willen einen anderen Mann geheiratet hatte.

Bevor er ihr gegenübergetreten war, hatte er sich in der Bibliothek mit einem Glas Brandy gestärkt. Sie hingegen hatte nicht gewirkt, als ob sie eine Stärkung benötigte. Er hatte das Empfangszimmer betreten, und dort hatte sie gestanden – reserviert und elegant, eine wunderschöne Frau mit schimmerndem hellblondem Haar. Es hatte ihm in den Fingern gejuckt, ihre Haarnadeln zu entfernen und erneut zuzusehen, wie ihr die Lockenpracht über die Schultern fiel. Ihre Figur war weiblicher und verlockender geworden, aber als sie sich ineinander verliebt hatten, war sie auch noch ein Mädchen gewesen. Oder genauer gesagt, als ich mich in sie verliebt habe, dachte er und verzog das Gesicht. Ihre Augen – groß, violettblau, mit langen, dichten Wimpern – faszinierten ihn wie eh und je. Er hatte immer gedacht, dass sie ein Fenster zu ihrer Seele wären. Verbittert lachte er über seine jugendliche Naivität. Jetzt, da er über elf Jahre mehr Erfahrung verfügte, erkannte er, dass diese Augen ebenso skrupellos lügen konnten wie ihr sinnlicher Mund mit den verführerischen Lippen.

Wie schade, dass sich hinter einem so vollkommenen Äußeren ein derartig käufliches Luder verbarg.

Vor dem Dinner suchte Benedict seinen Cousin in dessen Schlafzimmer auf. Das hatte er sich zur Angewohnheit gemacht, seit er vor sieben Tagen in Tenterfield Court eingetroffen war. Benedict bemerkte, dass Malcolms Brustkorb sich immer schneller hob und senkte, als ob die Atemzüge nicht ausreichten, um den Körper mit Sauerstoff zu versorgen. Er schob einen Stuhl neben das Bett und nahm Platz. Sein Cousin hatte die Augen geschlossen, und es wirkte, als ob seine Haut beinahe durchsichtig wäre. Benedict legte die Finger auf Malcolms Hände, die auf der Bettdecke lagen. Obgleich im Zimmer eine unerträgliche Hitze herrschte, fühlten sich die Finger des Kranken kalt an. Ihm selbst rann bereits der Schweiß über die Stirn, und am liebsten hätte er das Krawattentuch gelockert, das er mit Rücksicht auf den weiblichen Gast für das Dinner umgebunden hatte.

„Wasser.“

Fletcher, der wie immer neben dem Fenster stand, brachte seinem Herrn sofort ein Glas Wasser, hob dessen Kopf an und hielt es ihm an die Lippen. Als der Diener das Haupt seines Herrn wieder auf das Kissen sinken ließ, fragte Malcolm:

„Gehst du aus?“

Verlegen zog Benedict an seinem Krawattentuch. Malcolm schaffte es noch immer, ihn mit einem einzigen Kommentar wie einen unreifen Jüngling dastehen zu lassen. Er hatte schon mit acht Jahren die Eltern verloren, und sein Cousin hatte sich nie sonderlich für ihn interessiert. Als Benedict älter wurde und sein Verständnis von der Welt wuchs, hatten dessen Verhalten und sein Ruf ihn nur mit Scham erfüllt. Obgleich ihn die Aussicht auf Malcolms bevorstehendes Ende nicht sonderlich traurig stimmte, empfand er Mitleid für den leidenden Mann.

„Ich hatte mich bereits für das Dinner umgezogen, bevor ich heute Abend zu dir gekommen bin.“ Angesichts von Malcolms körperlicher Schwäche vergaß er, dass dessen Verstand nichts an Schärfe eingebüßt hatte.

„Ist diese Hure wieder weg?“

„Hure?“

„Brierleys Witwe. Sie hat hier nichts zu suchen … Das habe ich ihr auch gesagt … Fletcher? Ist sie weg?“

Fletcher blickte zu Benedict, der unauffällig nickte. „Ja, Sir“, sagte der Diener. „Sie verließ das Haus unmittelbar nach der Unterredung mit Ihnen.“

„Gut. Die wären wir los. Mit der solltest du dich nie wieder abgeben, hörst du mich, Junge?“

Benedict ließ sich seinen Zorn, so angeredet zu werden, nicht anmerken. Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann. Ja, er war Sir Malcolms Erbe und würde sowohl das Baronat als auch Tenterfield erben. Doch seit geraumer Zeit war er nicht mehr auf die Unterstützung seines ehemaligen Vormunds angewiesen. Er stand auf eigenen Beinen.

Es war ein seltsamer Gedanke, bald der Herr von Tenterfield zu sein. Als er vor einer Woche angekommen war, hatte er ungläubig auf das prachtvolle Backsteingebäude im jakobinischen Stil geblickt, das bald in seinen Besitz fallen würde und mit dem sich für ihn so viele Erinnerungen verbanden. Die Vorstellung erfüllte ihn schon jetzt mit Stolz, und er hatte sich geschworen, dem Familiennamen Poole wieder zu einem ehrbaren Ruf zu verhelfen. Er wollte die Schande tilgen, die Malcolm dem Namen bereitet hatte.

„Du kannst dir sicher sein, dass ich nichts mit ihr zu tun haben will“, erwiderte Benedict. Dann erwachte seine Neugier. „Was hast du eigentlich gegen sie? Ich dachte, Brierley wäre ein Freund von dir gewesen?“

„Das hat nichts damit zu tun. Ich habe gesehen, wie du unter ihrem flatterhaften Verhalten gelitten hast. Ihr ist nicht zu trauen.“

Benedict runzelte die Stirn. Seit wann interessierte sich Malcolm für die Gefühle seines ehemaligen Mündels? Vielleicht wusste er auch mehr über Brierleys Ehe, als er verriet. Hatte Harriet mit Brierley ebenfalls ein falsches Spiel getrieben? Benedict stand auf und schob den Stuhl zurück.

„Du solltest dich ausruhen“, sagte er. „Ich komme morgen früh wieder zu dir.“

Er verließ das Krankenzimmer und ging die Treppe hinunter. Der Gedanke an Harriet und den bevorstehenden Abend bereitete ihm Magenschmerzen.

3. KAPITEL

Wie aus dem Nichts tauchte Crabtree auf, um ihm die Tür zum Gesellschaftszimmer zu öffnen.

„Ist Lady Brierley schon unten?“, erkundigte er sich bei dem Butler.

„Noch nicht, Sir.“

Benedict atmete erleichtert auf. Wenigstens war er nicht gezwungen, sich vor dem Essen mit ihr zu unterhalten. Das Gespräch während des Dinners würde schon angespannt genug verlaufen.

„Bitte weisen Sie die Bediensteten mit Nachdruck darauf hin, dass niemand gegenüber Sir Malcolm die Anwesenheit von Lady Brierley oder deren Zofe in diesem Haus erwähnt“, sagte er zu Crabtree. „Er würde sich nur unnötig aufregen.“

„Ich werde dafür sorgen.“ Crabtree verbeugte sich.

Benedict betrat den Salon und wartete auf Harriet. Missmutig stocherte er in den Kohlen. Sie hatte ihn vollkommen überrascht – und jetzt schleuderten ihn seine Gefühle wild hin und her wie ein Schiff, das von Sturmböen erfasst wurde. Bestimmt würde seine heftige Reaktion auf Harriet ebenso vergehen wie ein Sturm. Was bedeutete sie ihm schließlich noch? Sie war nur eine Frau, die er vor langer Zeit gekannt hatte. Damals war sie noch ein Mädchen gewesen. Inzwischen musste sie schon siebenundzwanzig Jahre alt sein. Ihr Verrat – die Ehe mit Brierley – gehörte der fernen Vergangenheit an. Er war zuversichtlich, sich rasch wieder zu fangen. Er nahm sich vor, sie mit derselben höflichen Gleichgültigkeit zu behandeln, wie es bei jedem anderen unerwarteten Gast der Fall gewesen wäre. Sollte er die überraschende Begegnung nicht einfach als sinnvolle Übung betrachten? Falls sie sich künftig zufällig in der Stadt über den Weg liefen, würde es ihm sicher leichter fallen, seine Verbitterung zu verbergen.

Stimmen auf dem Gang rissen ihn aus den Gedanken. Harriet betrat das Zimmer, und ihre außergewöhnliche Schönheit raubte ihm den Atem. Sie trug ein elegantes fliederfarbenes Abendkleid, das ihre verführerische Figur betonte und die Farbe ihrer Augen unterstrich. Ihr blondes Haar war zu einem Chignon gebunden, und bewundernd betrachtete er die samtene Haut ihres Halses und des Dekolletés.

Benedict verbeugte sich.

„Guten Abend, Mr. Poole.“

Ihr abweisender Blick schürte seinen Unmut. Sie spielte also die feine aristokratische Dame: selbstsicher und überheblich, ohne auf die Umstände zu achten. Hatte sie ihre bescheidene Herkunft vergessen?

„Guten Abend, Mylady“, erwiderte er mit ruhiger Stimme, die in starkem Gegensatz zu seiner inneren Aufgewühltheit stand. „Sind Sie mit Ihrer Unterbringung zufrieden?“

„Ja, vielen Dank.“

Erneut öffnete sich die Tür, und Crabtree kündigte an, dass das Dinner angerichtet sei. Benedict gab Harriet ein Zeichen, ihm in das Speisezimmer zu folgen.

„Wie geht es Ihrer Zofe?“, erkundigte er sich, nachdem Harriet und er Platz genommen hatten und das Essen serviert worden war. „Sie heißt Janet, nicht wahr?“

„Ja, Janet“, bestätigte Harriet. „Ich fürchte, ihr Knöchel ist tatsächlich gebrochen. Aber wenigstens klang Dr. Green optimistisch, dass alles gut verheilen wird. Der Rücken bereitet ihr auch große Schmerzen. Der Doktor hat sie geschröpft und wird sie morgen erneut untersuchen, wenn er ohnehin nach Sir Malcolm sieht. Dr. Green informierte mich, sie müsse unbedingt im Bett bleiben, bis die Prellungen sichtbar werden, sodass er erkennen kann, ob der Rücken größeren Schaden genommen hat.“

„Wie lange wird das voraussichtlich dauern?“

Eine kleine Falte bildete sich zwischen ihren Brauen. „Das hat er leider nicht gesagt. Ich nehme an, ein paar Tage. Ich fürchte, wir müssen Ihre Gastfreundlichkeit noch eine Weile in Anspruch nehmen.“

Ein paar Tage? Mit ihr als Gast im Haus? Benedict biss die Zähne zusammen, um nicht laut aufzulachen. Er wusste, dass Harriet in London lebte, und hatte seit seiner Rückkehr nach England sehr darauf geachtet, ihr bloß nicht zu begegnen. Offenkundig konnte man dem Schicksal kein Schnippchen schlagen!

„Selbstverständlich können Sie so lange bleiben wie erforderlich“, sagte er mit betont gleichgültigem Schulterzucken.

Harriet musterte ihn skeptisch, während sie an ihrem Wein nippte.

Erst jetzt kam ihm in den Sinn, dass Brierley Place nur wenige Meilen entfernt lag. „Ich frage mich allerdings, weshalb Sie nicht vorhatten, bei Ihrer Familie in Brierley Place zu übernachten, sondern nach dem Besuch bei meinem Cousin in einem Gasthof schlafen wollten.“

Sie senkte den Blick. „Ich möchte so rasch wie möglich nach London zurückkehren. Wenn ich meinem Stiefsohn und seiner Familie einen Besuch angekündigt hätte, wäre ein längerer Aufenthalt erwartet worden.“

Sie hob eine Hand an den Hals und drehte eine Locke über dem rechten Ohr zwischen ihren Fingern. Diese schmerzlich vertraute Geste katapultierte ihn sofort in die Vergangenheit zurück. Es war, als hätte er wieder das Mädchen vor sich, das er einst geliebt hatte.

Autor

Janice Preston
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