Lady Lavinias Liebestraum

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Für wen soll sie sich entscheiden? In Lady Lavinia Stanmore tobt ein Wirrwarr der Gefühle: Soll sie dem zurückhaltenden Werben von James, Earl of Corringham, nachgeben - dem Mann, den sie seit Jahren kennt und dem sie vertraut? Oder doch lieber den stürmischen Liebesbeteuerungen des attraktiven Lord Wincote Gehör schenken? Ein Leben mit ihm verspricht der unerfahrenen jungen Frau Abenteuer und Leidenschaft! Bei einem zärtlichen Walzer auf einem prunkvollen Londoner Ball erkennt Lavinia endlich, wer ihren Liebestraum erfüllen wird. Sie ahnt nicht, dass sie sich mit ihrer Wahl in höchste Gefahr bringt …


  • Erscheinungstag 26.02.2010
  • Bandnummer 18
  • ISBN / Artikelnummer 9783862953790
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL
Bilder/003_258_cut-Acro_img_0.jpg

1820

Die riesige Leinwand lehnte an der freien Wand des Ballsaales von Stanmore House, der Londoner Stadtresidenz des Duke of Loscoe. Das beinahe noch größere Stück Segeltuch, das unter ihr ausgebreitet war, um den wertvollen Parkettboden zu schützen, wies unzählige bunte Kleckse auf. Auf dem kleinen Arbeitstisch gleich linker Hand lag ein vielfältiges Sortiment an Pinseln und kleinen Putzlappen. Daneben stand ein Glas Wasser.

In eine Schürze gehüllt, die ihr leichtes, duftiges Baumwollkleid vor Farbsprenkeln schützte, trat Lady Lavinia Stanmore ein paar Schritte zurück und begutachtete ihr Werk, das nur aus einiger Entfernung betrachtet zur vollen Geltung kam. Eine märchenhafte, in großzügigen Pinselstrichen gehaltene lichte Waldlandschaft mit knorrigen alten Bäumen, um die sich Akelei wand und in deren Mitte sich auf einer Blumenwiese ein halbes Dutzend Hasen tummelte, erstreckte sich vor ihr.

„Gütiger Himmel, Lavinia! Mir ist zwar nicht entgangen, dass du eine Vorliebe für großformatige Gemälde hast, doch dieses hier kann ohne Übertreibung als monumental bezeichnet werden.“

Lavinia wandte sich zu dem aufmerksam das Bild studierenden Gentleman um, der sich lässig an den Türrahmen gelehnt hatte. Seine elegante Erscheinung, die nicht nur durch den aus feinster Wolle angefertigten grünen Mantel, die auf Hochglanz polierten Stiefel und das akkurat gebundene Krawattentuch zu Tage trat, sondern ebenso durch sein perfekt frisiertes blondes Haar, ließ keinen Zweifel daran, dass James, Earl of Corringham, ein Mann von Welt war.

„Ach, du bist es, James.“

Der Ankömmling grinste die junge Dame mit humorvollen grauen Augen an. „Hast du jemand anderen erwartet?“

„Ich habe eigentlich niemanden erwartet.“

Er kam einige Schritte auf sie zu, um ihr Werk näher in Augenschein zu nehmen. „Wo, um Himmels willen, gedenkst du es aufzuhängen? Obwohl dieses Haus wahrlich nicht zu den kleinsten zählt, fällt mir kein Ort ein, an dem dieses monströse Gemälde gut aufgehoben wäre.“

„Es ist nicht monströs!“, protestierte Lavinia.

„Ich bitte um Verzeihung. Ich wollte damit nicht andeuten, dass ich es nicht für gelungen halte, sondern lediglich zum Ausdruck bringen, dass es ungewöhnlich groß ist“, verbesserte James sich eilig, denn es lag ihm fern, die temperamentvolle junge Frau zu erzürnen.

„Es muss so groß sein, denn es ist ein Bühnenbild.“

„Ich verstehe.“

„Eine Kulisse für ‚Ein Sommernachtstraum‘, um genau zu sein.“

„Ach ja? Erzähl mir mehr darüber.“

James interessierten weniger die Details über die Entstehung des Werkes; er genoss es vielmehr, die junge Malerin einfach nur anzuschauen und ihre Stimme zu hören, während er ihren Ausführungen lauschte. Er liebte den Glanz ihrer grünen Augen, wenn sie über etwas berichtete, das sie begeisterte. Er liebte diese seidigen kastanienbraunen Locken, die ihren schlanken Hals umspielten, und er fand die Art, wie sie sich gab, diese natürliche Grazie, die sie ausstrahlte und die nichts mit ihrer aristokratischen Herkunft zu tun hatte, unwiderstehlich. Er mochte schlicht alles an ihr. Umso bedauerlicher war es, dass Lavinia nur einen älteren Bruder in ihm sah und nicht, wie jede Mutter des ton, einen akzeptablen, heiratswilligen Junggesellen.

Dabei waren sie nicht einmal entfernt miteinander verwandt; dass sie gewissermaßen einer Familie angehörten, war dem Umstand geschuldet, dass seine Stiefmutter vor ein paar Jahren Lavinias Vater, den Duke of Loscoe, geheiratet hatte. James hatte seitdem genügend Abstand gewonnen, um sich einzugestehen, bereits bei ihrer ersten Begegnung sein Herz an die junge Frau verloren zu haben. Damals war sie ein temperamentvolles und eigenwilliges sechzehnjähriges Mädchen gewesen, das, frisch vom Lande gekommen, gerade die Vorzüge Londons herauszufinden begann, noch nicht in die Gesellschaft eingeführt worden war und nicht im Entferntesten an eine Vermählung dachte. Als im darauffolgenden Jahr der Duke seine Stiefmutter zum Traualtar geführt hatte, war es für James zunächst einfacher gewesen, Lavinia als seine Schwester anzusehen. Und so hatte sich eine geschwisterliche Freundschaft zwischen ihnen entwickelt, die es ihm, wie er hatte feststellen müssen, nun überaus schwer machte, Lavinia seine wahren Gefühle zu gestehen.

„Ich will ein Theaterstück auf die Beine stellen, um für Mamas Waisenhaus Geld zu sammeln“, erklärte sie freudig erregt. „Der Unterhalt für das Heim und die Kinder steigt leider stetig.“

Lavinia schätzte die Großherzigkeit ihrer Stiefmutter Frances sehr, liebte sie inzwischen mehr als die eigene verstorbene Mutter, die sich zu ihren Lebzeiten nie um sie gekümmert hatte, außer wenn sie es wieder einmal für notwendig erachtete, Lavinia ob ihres jungenhaft wilden Temperaments zu bestrafen, sie in ihr Zimmer zu sperren und von anderen Kindern und vor allem von ihrem Bruder Duncan, mit dem sie viel durch die Wälder oder über die Felder gestreift war, fern zu halten. Lavinias Gouvernante Miss Hastings hatte unterdessen versucht, sie angemessen auszubilden und ihr Benehmen beizubringen, was die gute Frau viele Nerven gekostet hatte, denn Lavinia hatte den Unterricht nicht nur einmal geschwänzt.

James empfand für die Duchess of Loscoe ähnlich wie seine Stiefschwester, schließlich war sie ihm, seit der Vater sie als seine Braut heimgeführt hatte, eine mütterliche Freundin gewesen, obgleich sie mit damals siebzehn Jahren nur ein Jahrzehnt älter gewesen war als er.

„Dann war es also Mamas Idee.“

„Nein, meine. Oder besser: Eine Theatertruppe brachte mich auf diesen Gedanken. Anfang des Jahres stellten die Schauspieler ihr Zelt bei uns in Risley auf, und da dachte ich, warum nicht selbst einmal ein Theaterstück geben? Erst wollte ich es in Loscoe Court organisieren, doch dann überlegte ich, wir würden vermutlich auf dem Lande nicht genügend spendable Zuschauer finden. Da ich wusste, dass wir die Saison in London verbringen, habe ich mich kurzerhand entschlossen, das Stück hier aufzuführen. Wir werden den Ballsaal für einen Abend in ein Theater verwandeln.“

„Wer ist ‚wir‘?“

„Nun, jeder, der interessiert ist. Du kannst dich gern beteiligen, wenn du möchtest.“

„Wirklich? Wie kommst du darauf, dass ich talentiert genug bin?“

„Wir werden es ja sehen, wenn du vorsprichst, oder nicht? Und wenn du, wie ich befürchte, tatsächlich hoffnungslos unbegabt sein solltest, dann könntest du uns hinter der Bühne zur Hand gehen …“

„Oder die Kulissen schieben“, fügte er trocken hinzu und nickte in Richtung der bemalten Leinwand.

„Wie du wünschst.“

„Vielleicht möchte ich mich gar nicht beteiligen.“

„Sei unbesorgt. Es gibt noch andere, die gewillt sind, mir bei meinem Vorhaben unter die Arme zu greifen.“

„Wer?“

„Duncan, vielleicht auch Benedict Willoughby.“

„Mit nur zwei Hilfskräften wirst du kaum eine Theateraufführung auf die Beine stellen können. Überdies ist Duncan reichlich arbeitsscheu und der junge Willoughby unzuverlässig.“

„Duncan kann sich zusammenreißen, wenn er will. Ich dachte, eine kleine Abwechslung würde ihm guttun.“

„Du meinst, du willst ihn von seinen dummen Gedanken abbringen. Das kannst du nur dann erreichen, wenn du ihn von Willoughby fern hältst.“

„Du tust ihm unrecht“, verteidigte sie den achtzehnjährigen Bruder wie gewöhnlich. Insgeheim wusste sie nur zu gut, dass James die Wahrheit gesprochen hatte. „Als du jung warst, hast du bestimmt auch nicht immer alle Regeln befolgt. Nun, da du alt und gesetzt bist, hast du es vermutlich schlicht vergessen.“

„Alt und gesetzt!“, rief er und lachte schallend. „Muss man sich mit siebenundzwanzig Jahren so fühlen? Und ich dachte, ich befände mich gerade in den besten Mannesjahren.“

Lavinia schmunzelte. „Du weißt, was ich meine.“

„Wirst du denn selbst eine Rolle in dem Theaterstück übernehmen?“

„Ja, zumal Lancelot Greatorex uns Hilfestellung geben wird.“

James warf der Stiefschwester einen erstaunten Blick zu. „Wer ist denn das?“

„Er ist der Direktor der Truppe ‚Thespian Players‘, ein hervorragender Schauspieler. Er hat mir versprochen, uns gegen Ende der Saison bei meinem Stück zu helfen, wenn er seine Verpflichtungen erfüllt hat.“

„Daher der groteske Name … Aber du willst mir doch nicht allen Ernstes bedeuten, dass der Duke es gutheißt, wenn du mit Schauspielern zusammenarbeiten möchtest!“

„Was sollte er denn dagegen haben?“, fragte die junge Dame gleichmütig.

„Oh Lavinia, hast du deinen Vater überhaupt um Erlaubnis gebeten, das Stück in seinem Haus aufführen zu dürfen?“

„Noch nicht, aber das werde ich bald tun.“

James lachte. „Dann wünsche ich dir viel Glück dabei, denn du wirst es wahrhaftig gut gebrauchen können!“

„Papa ist viel gutmütiger und mitteilsamer geworden, seit er Frances geheiratet hat. Daher bin ich sehr zuversichtlich“, erwiderte sie selbstbewusst.

„Seine Gnaden, der Duke of Loscoe, ist sicherlich ein großzügiger Mann, was jedoch nicht heißt, dass er seiner Tochter alles durchgehen lässt.“

„Dies schon“, erwiderte sie trotzig, aber gut gelaunt.

„Ich wette fünf Guineas, dass dein Papa unnachgiebig sein wird.“

„Abgemacht“, sagte sie prompt. „Ich werde Stiefmama auf meine Seite bringen, damit sie mit Papa spricht. Er konnte ihr noch nie einen Wunsch verwehren.“

„Wenn er tatsächlich einverstanden ist mit deinem Vorhaben – wer wird dann überhaupt kommen, um dein Stück anzusehen?“

„Jeder. All unsere Freunde und mit Sicherheit auch einige Leute, die uns nicht so wohlgesinnt sind. Das macht mir aber nichts aus, solange sie ihre Eintrittskarte bezahlen.“

„Und du bist wirklich davon überzeugt, dass dein Vater sogar Fremde in seinem Haus willkommen heißen wird?“

„Warum nicht? Kannst du dich nicht an den Ball erinnern, den Frances vor drei Jahren in Corringham House anlässlich der Eröffnung des Waisenhauses in der Maiden Lane gegeben hat? Es kamen nicht nur Persönlichkeiten des ton, sondern Leute, denen man ansah, dass sie in einer ganz anderen Welt leben. Sie hat sie damals nicht zurückgewiesen, solange sie gewillt waren, den geforderten Eintritt zu bezahlen.“

„Das war noch vor der Vermählung mit deinem Vater, wie du weißt. Und ein Ball ist nicht mit einem Theaterstück zu verwechseln.“ James hielt inne und beobachtete Lavinia, wie sie einen feineren Pinsel zur Hand nahm, um dem Gemälde den letzten Schliff zu geben. Es stand außer Frage, dass sie eine sehr talentierte Malerin war. In dem Punkt ergänzte sie sich vortrefflich mit Frances, denn diese hatte sich im Londoner ton bereits einen Namen als Porträtistin gemacht und Lavinia ihre Erfahrungen insbesondere in der Maltechnik weitergegeben.

„Kann ich also deinen Worten entnehmen, dass du uns nicht mit deiner Anwesenheit beglücken wirst?“

„Oh, ich werde kommen, sei es auch nur als Zuschauer“, betonte er.

„Damit du dich immer dann über uns lustig machen kannst, wenn wir uns versprechen oder unseren Text vergessen, habe ich recht?“

„Aber Lavinia, das würde ich doch niemals wagen“, versicherte James eifrig und verfolgte, wie sie mit wenigen sicheren Pinselstrichen eine kleine Kreuzotter zum Leben erweckte. Er verabscheute es, des Teufels Advokaten zu spielen, doch befürchtete er, dass Lavinia im Begriff war, sich auf ein Vorhaben einzulassen, dem sie nicht gewachsen war. „Es gibt übrigens noch einen anderen Grund, weshalb dein Vorhaben scheitern könnte. Wenn nämlich das zahlungswillige Publikum fernbleibt, weil ein ganz anderes Drama es in Atem hält. Du weißt, dass König George alles unternimmt, seine Gemahlin Caroline nach Italien zurückzuschicken, wo sie die ganzen Jahre gelebt hat. Ist es doch ihr fester Entschluss, sich gegen seinen Willen mit ihm in der Westminster Abbey krönen zu lassen. Die Leute kennen nur noch dieses eine Thema, und die vielfältigsten Gerüchte sind bereits im Umlauf.“

„Ich bin darüber informiert, James“, erklärte Lavinia ungeduldig. „Allerdings denke ich, dass es uns eher zum Vorteil gereichen dürfte. Denn jeder, der sich für wichtig hält oder den es unter anderen Umständen nicht in die Stadt ziehen würde, ist diese Saison nach London gekommen, um entweder die Krönungsfeierlichkeiten oder die anschließende Prozession aus der Nähe zu beobachten. Und genau aus diesem Grund wird auch die Saison länger dauern als üblich, da dieses Ereignis erst für den ersten August anberaumt ist. Übrigens sind auch wir nur der Krönung wegen nach London gereist. Nichts hätte Stiefmama und den kleinen Frederick von Loscoe Court wegbringen können, wenn Papa nicht dazu verpflichtet gewesen wäre, bei den Feierlichkeiten anwesend zu sein.“

„Wenn es überhaupt dazu kommt. Die ganze Angelegenheit droht doch zu einer Farce zu werden und lässt Seine Majestät zurzeit noch lächerlicher erscheinen als bisher“, bemerkte er trocken.

„Das sagt Papa auch, aber dennoch verspricht das Spektakel eine interessante Saison, findest du nicht auch?“, fragte sie mit einem schelmischen Lächeln. „Denk doch nur an all die Leute, die seit Jahren nicht mehr in London weilten und sich jetzt zu amüsieren wünschen – vor allem deren Frauen und Töchter.“

„Glaubst du, dass gerade sie sich für dein Theaterstück interessieren werden?“

„Warum nicht? Man weiß ja nie, vielleicht findest du ja auch eine Braut unter den Gästen.“

„Gott behüte!“

„Warum nicht? Du weißt doch, dass es höchste Zeit für dich ist zu heiraten.“

„Oh Lavinia, nicht auch du! Als genügte es nicht, dass Stiefmama mir damit immer in den Ohren liegt. Ich gehe eine Ehe erst dann ein, wenn ich bereit bin für ein solches Unterfangen. Außerdem werde ich mich nur aus Liebe binden.“

„Nein, wirklich?“, rief sie und lachte herzhaft. „Aus Liebe? Hast du womöglich schon eine Frau ins Auge gefasst? Sag es mir …“

„Unter gar keinen Umständen. Und du hast überhaupt keinen Grund, dich über mich lustig zu machen“, beschwerte sich James. „Wenn ich mich recht entsinne, hast du vor zwei Jahren auf deinem ersten Ball jedem heiratswilligen Junggesellen, der dich wiederzusehen wünschte, einen Korb gegeben.“

„Es wäre unrecht von mir gewesen, hätte ich einen von ihnen ermutigt, mich zu hofieren, weil mir kein einziger meiner Verehrer wirklich interessant erschien“, verteidigte sich Lavinia.

„Hast du bislang wirklich nicht in Erwägung gezogen zu heiraten?“

Lavinia setzte eine feierliche Miene auf. „Nein, weil auch ich mich erst dann vermähle, wenn ich bereit dazu bin und mich verliebt habe.“

„Wirst du den richtigen Zeitpunkt überhaupt zu erkennen wissen?“

Diese Frage beschäftigte Lavinia in der Tat, seit sie in die Gesellschaft eingeführt worden war. Doch bis zum heutigen Tag hatte sie noch keine befriedigende Antwort darauf gefunden. Ihre Freundinnen schienen diesbezüglich ebenso ratlos wie sie, ungeachtet der Tatsache, dass viele von ihnen bereits verheiratet waren und Kinder hatten.

„Ich werde es schon merken“, sagte sie unbekümmert, derweil sie den Pinsel in das Wasserglas und anschließend in einen Farbtiegel tauchte. Um das Thema zu wechseln, fügte sie hinzu: „Du hast mir noch immer nicht verraten, weshalb du überhaupt gekommen bist.“

„Brauche ich einen Grund, euch zu besuchen? Ich habe gehört, dass ihr in der Stadt weilt, und mich kurzerhand entschlossen, euch meine Aufwartung zu machen.“

„Also mehr ein Höflichkeitsbesuch. Ich werde Mama Bescheid geben, dass du hier warst. Sie erledigt zurzeit einige Einkäufe.“

„Ich wollte vor allem dich sehen. Ich möchte dir nämlich etwas zeigen.“

„Was denn?“, fragte sie voller Neugier und wandte sich so schwungvoll um, dass die Farbe aus ihrem Pinsel spritzte.

James reagierte blitzschnell und machte einen Satz rückwärts. „Lavinia, leg unverzüglich dieses Ding aus der Hand, sonst ruinierst du mir noch meine Pantalons, und dann werde ich dir nie verraten, was ich dir zeigen wollte.“

Die junge Dame tat wie ihr geheißen, während James einen der Lappen vom Tisch nahm und seinen Stiefel von grünlichen Klecksen befreite.

„James, sprich endlich!“

„Geh zum Fenster.“

Sie eilte über das frisch polierte Parkett und machte an einem der Fenster, die den Blick auf die Straße freigaben, Halt. Draußen herrschte das übliche städtische Treiben, zahlreiche Chaisen und Reiter kamen unter lautem Hufegeklapper des Weges. Doch direkt vor dem Haus, nicht zu übersehen, stand James’ neue Kutsche mit einem Gespann aus zwei edlen Pferden. Ein Bursche, dem James wohl ein paar Kupfermünzen gegeben hatte, gab darauf Acht.

„Oh James! Was für ein wundervoller Phaeton! Hast du ihn gerade erst gekauft?“

„Ja. Gefällt er dir?“

„Ich muss ihn mir aus der Nähe ansehen!“, erklärte sie eifrig und legte rasch ihre Schürze ab, um auf der Stelle aus dem Saal zu laufen, die Treppen hinunter und durch das großzügige Entree hinaus ins Freie, gefolgt von dem zufrieden schmunzelnden James.

„Gütiger Himmel!“, rief sie und hielt direkt vor dem Phaeton inne. „Wie groß er ist!“

„Hättest du Lust, eine kleine Runde mit mir zu drehen?“

„Sofort?“

„Warum nicht? Deine Malerei kann doch getrost ein bis zwei Stunden warten, oder nicht?“

Lavinia zögerte keinen Augenblick. Sie war stets für unkonventionelle Aktivitäten zu haben, und im Moment reizte sie vor allem, über den Köpfen anderer Ausflügler durch den Hydepark zu fahren. „Ich ziehe mich nur rasch um. Warte im Salon auf mich, in zehn Minuten bin ich zurück“, erklärte sie dem Stiefbruder, wobei die letzten Worte im Foyer verhallten, denn sie war bereits die Treppe hinauf zu ihrem Schlafzimmer geeilt, um hurtig in ihr hellblaues Ausfahrkleid zu schlüpfen und sich einen Strohhut aufzusetzen. Dass sie eigentlich einer Chaperone bedurft hätte, kam ihr nicht in den Sinn, oder zumindest verwarf sie den Gedanken sogleich wieder, denn zum einen war auf dem Phaeton nur Platz für zwei, und zum anderen war James ja ohnehin fast ein richtiger Bruder.

Er half ihr behänd auf den Kutschbock, kletterte auf den Sitz neben ihr und hielt mit gelockerten Zügeln die Pferde zu leichtem Trab in Richtung Piccadilly an.

„Welch erhebendes Gefühl man hier oben hat!“, schwärmte sie. „Papa besaß auch einmal einen Phaeton, doch als er Mama heiratete und der kleine Frederick auf die Welt kam, befand er das Gefährt als zu gefährlich und zu vulgär und verkaufte es wieder.“

„Dann hätte ich ihn wohl um Erlaubnis bitten müssen, dich mitzunehmen.“

„Wir hätten ihn nicht fragen können“, erklärte Lavinia, während sie ihm dabei zusah, wie er am Piccadilly Circus geschickt mit dem Gefährt in die Kurve ging. „Er berät sich mit den Lords und wird erst gegen Abend zurück sein. Er wurde bezüglich der Krönung um seine Meinung gebeten, obgleich ich die Hast, mit der das Königshaus diese Angelegenheit angeht, nicht ganz verstehe. Immerhin lebt der Prinzregent, ich meine natürlich Seine Majestät, seit Jahren getrennt von seiner Gemahlin. Warum hat er bis heute gewartet, um sich von ihr scheiden zu lassen?“

„Weil er vermutlich nicht damit gerechnet hat, dass sie sich mit ihm würde krönen lassen wollen. Er hat nun den Entschluss gefasst, wieder zu heiraten, um einen Erben zu zeugen. Denn so viel ich weiß, gibt es keinen geeigneten Nachkommen.“

„Doch, das Baby des letzten Duke of Kent“, entgegnete Lavinia.

James machte ein nachdenkliches Gesicht. „Ja, Victoria. Aber sie ist ein Mädchen.“

„Na und?“, erwiderte sie schnippisch. „Frauen fühlen sich nur deshalb schwächer, weil Männer es ihnen einreden. So denke übrigens nicht nur ich, sondern viele meiner Geschlechtsgenossinnen.“

James musste herzhaft lachen. „Lavinia, suchst du Streit?“

„Überhaupt nicht, es sei denn, du gibst mir einen Grund. In diesem Fall …“

„Gott behüte! Ich würde um keinen Preis der Welt mit dir in einen Disput geraten wollen!“

„Gut, denn ich möchte, dass du mir die Zügel überlässt.“

„Mit Sicherheit nicht!“

„Warum nicht? Ich bin genauso gut im Lenken einer Kutsche wie jeder Mann“, protestierte die junge Dame mit geröteten Wangen. Sie streckte eine Hand vor und legte sie auf seine, in der Hoffnung, er würde ihr doch die Zügel überlassen. James durchfuhr es bei Lavinias zarter Berührung wie ein Blitz, doch ließ er sich tunlichst nichts anmerken.

„Nein, Lavinia. Es sind zu viele Leute unterwegs, und nicht nur wir beide könnten Schaden nehmen, wenn der Phaeton zu schlingern beginnt und umstürzt.“

„Nun gut“, seufzte sie, denn sie musste einsehen, dass James recht hatte. „Wir werden an einem der nächsten Tage sehr früh in den Park ausfahren, damit wir ungestört sind. Dann wirst du mir die Kutsche überlassen.“

„Dein Vater würde es niemals erlauben, auch nicht Stiefmama.“

Lavinia reckte das Kinn vor. „Dann werden wir es ihnen eben nicht erzählen. Bitte, James, das wird bestimmt sehr lustig. Und was kann uns schon zustoßen – du bist doch bei mir und passt auf.“ Mit ihrem betörenden Lächeln schaute sie zu ihm hinüber. „Sag Ja.“

„Ich werde darüber nachdenken. Nun solltest du lieber rasch Lady Willoughby dort drüben grüßen, sonst beschwert sich die Dame noch bei Mama, dass du sie geschnitten hast.“

Lavinia schaute von ihrem hohen Sitz aus auf die unzähligen Spaziergänger hinab und begrüßte diejenigen, die sie kannte, ausgesucht höflich. Einer von ihnen war Lord Bertram Haverley. Der Witwer, an dessen Seite seine Töchter Sophia und Eliza promenierten, beide sehr junge und hübsch anzusehende Mädchen, bei denen eine Vermählung noch längst nicht ins Haus stand, war auf der Suche nach einer zweiten Gemahlin, die ihm den ersehnten Erben schenken sollte, den die erste Frau ihm verwehrt hatte.

Schließlich begegnete auch James einem Bekannten, dem überaus adretten Lord Edmund Wincote, der ihn so enthusiastisch begrüßte, dass er prompt seinen Phaeton zum Stehen bringen musste, um dem offensichtlichen und ausdrücklichen Wunsch des jungen Mannes zu entsprechen, einige Worte mit ihm zu wechseln. Lavinia bemerkte überrascht, dass sie dem attraktiven jungen Gentleman nie zuvor begegnet war. Er war Anfang bis Mitte zwanzig, modisch und geschmackvoll gekleidet. Als er zur Begrüßung seinen Hut lüftete, kamen seine kurzen dunklen Locken zum Vorschein.

„Ich bin beglückt, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mylady“, sagte er, während er sie mit seinen fast schwarzen Augen höchst interessiert ansah. „Sind Sie anlässlich der Saison in der Stadt?“

„Ja, Mylord. Sie auch?“

„Gewiss. Es gibt zurzeit keinen Ort, an dem ich mich lieber aufzuhalten wünschte, als London.“

„Oh, denken Sie an die Krönungsfeierlichkeiten?“

„Ganz und gar nicht“, erwiderte er mit einem charmanten Lächeln, das ihr ein merkwürdig süßes Gefühl in der Magengegend erzeugte. „Ich bin gern hier, weil es Sie, Mylady, in London gibt.“

Lavinia wurde rot. „Schmeichler!“

„Ich spreche von ganzem Herzen. Ich gebe mich der Hoffnung hin, Sie auf einer der zahlreichen Veranstaltungen, die diese Saison zu bieten hat, wiederzusehen.“

„Oh, wir werden uns sicher irgendwo treffen“, erwiderte sie aufgesetzt unbekümmert, als sei sie die Ruhe selbst.

„Dann bis auf bald, Mylady“, schloss er, setzte seinen Hut auf und wendete sein Pferd. „Auf Wiedersehen, Corringham.“

„Er war aufdringlich, geradezu impertinent“, bemerkte James in vorwurfsvollem Ton, derweil er den Phaeton in Bewegung setzte. „Er muss verzweifelt sein.“

„Was meinst du denn damit?“, fragte Lavinia empört und sah ihn mit funkelnden grünen Augen an. „Bin ich eine solch schlechte Partie? Eine graue Maus, die erst dann Aufmerksamkeit bei einem Mann erregt, wenn dieser verzweifelt genug ist? Dass du mein Bruder bist, gibt dir noch lange nicht das Recht, geringschätzig über mich zu reden.“

„Lavinia, das wäre wirklich das Letzte, woran ich dächte. Ich habe mich nicht verächtlich über dich, sondern über ihn geäußert. Und im Übrigen bin ich nicht dein Bruder.“

„Gott sei Dank – denn wärst du es, hättest du mir längst so viele Verbote auferlegt, dass ich nicht mehr atmen könnte. Gütiger Himmel, der Mann war doch nur höflich.“

„Es tut mir leid, Lavinia. Ich wollte dich nicht erzürnen. Lord Wincote kann dir in keiner Hinsicht das Wasser reichen, und wenn ich sage, er ist verzweifelt, meine ich vielmehr, dass er sein Glück bei einer jungen Dame versucht, die ihn, das muss er wissen, niemals erhören wird.“

„Wie kannst du da so sicher sein? Er ist attraktiv und sehr höflich und …“

„Aber er könnte ein Glücksritter sein, der nach einer wohlhabenden Frau Ausschau hält. Und begüterter als du, die Tochter des Duke of Loscoe, dürfte kaum irgendeine andere junge Dame hierzulande sein“, gab James ihr ruhig zu bedenken.

„Woher weißt du das?“

„Dass deine Mitgift beträchtlich sein wird?“, fragte James mit unschuldiger Miene.

Lavinia machte ein entnervtes Gesicht. „Aber nein, du Dummkopf. Woher weißt du, dass Lord Wincote in Geldnöten ist?“

„Das ist nur eine Vermutung“, sagte er und zuckte mit den Schultern. „Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, und nun taucht er aus dem Nichts auf, gleichermaßen frech wie aufdringlich.“

„Schäm dich, du misstrauischer Mensch! Ich wette, sein Mantel ist bei ‚Weston’s‘ angefertigt und die Stiefel sind von ‚Hoby’s‘. Außerdem ist sein Pferd keineswegs ein alter Klepper. Vögel ohne Federn können wohl kaum so hoch fliegen“, erwiderte sie mit vor Eifer geröteten Wangen.

„Er könnte sich verschuldet haben – du weißt, ich kenne mich da aus.“

Ihr vorwurfsvoller Blick wurde prüfend. „James, du bist doch nicht …“

„Nein, natürlich nicht. Die Zeiten sind längst vorüber.“

„Dann braucht die junge Dame, die du einmal heiratest, nicht wohlhabend zu sein?“

„Oh, ich würde eine Kandidatin nicht ablehnen, nur weil sie betucht ist – wenn auch andere Eigenschaften für sie sprächen.“ James konnte der Versuchung, sie immer wieder zu necken, einfach nicht widerstehen, denn er wusste, dass sie keinen Anstoß daran nahm und durchaus schlagfertig zu antworten verstand.

„Welche anderen Eigenschaften?“, erkundigte Lavinia sich mit neugieriger Miene.

„Nun, sie sollte hübsch sein und auch folgsam. Ich könnte es nicht ausstehen, mit einem rebellischen Frauenzimmer zusammen zu sein.“

Zu seiner Überraschung ereiferte Lavinia sich nicht im Geringsten. Stattdessen schaute sie ihn mit großen Augen an. „Meinst du nicht, Lord Wincote könnte ebenso denken wie du? Ich meine, könnte nicht auch für ihn der Charakter der jungen Dame wichtiger sein als ihr Vermögen?“

„Ich kann doch nicht seine Gedanken lesen, Lavinia.“

„Ebenso wenig kannst du über seine finanzielle Situation Bescheid wissen. Nicht, dass es wirklich wichtig wäre für mich – Geld bedeutet mir nicht alles.“

„Weil es dir niemals daran mangelte.“

„Ich sagte dir vorhin bereits, dass ich ohnehin nur aus Liebe heirate“, erklärte sie stolz. „Und wenn ich mich für einen armen Gentleman entscheide, dann ist es eben so.“

„Aber du hast doch nicht etwa vor, dich in Wincote zu verlieben? Er ist deiner nicht würdig“, erwiderte James beharrlich.

„Das bestimme immer noch ich“, entgegnete sie wütend, und James schalt sich insgeheim, seine Zunge nicht im Zaum gehalten zu haben. Er hätte wissen müssen, dass jedes Argument gegen den jungen Mann sie erst recht dazu bringen würde, ihn in Schutz zu nehmen und ihm nun vielleicht mehr Sympathie zu zollen, als sie es noch vor wenigen Minuten getan hätte.

Die gute Einsicht kam leider zu spät, und so brachte James seine pikierte Begleiterin nach Stanmore House zurück, ohne dass noch ein einziges Wort zwischen ihnen gefallen wäre.

Er kletterte vom Kutschbock des Phaeton und eilte zu ihrer Seite hinüber, um ihr beim Absteigen behilflich zu sein. Unvermittelt tat sie einen Sprung von der letzten Stufe der Trittleiter, wobei sie geradewegs in seine Arme fiel. Er fing sie auf und hielt sie länger fest, als es nötig gewesen wäre. Sie so nah bei sich zu spüren erzeugte ein Gefühl größter Erregung, und er sehnte sich danach, diese Empfindung noch ein wenig länger auskosten zu können.

„Kommst du mit hinein?“, fragte sie und sah zu ihm hoch. Seine grauen Augen hatten einen Ausdruck angenommen, den sie nicht recht zu deuten vermochte. Sie las gleichzeitig Traurigkeit, Zärtlichkeit und auch etwas Schalkhaftes darin; er versuchte ob ihres prüfenden Blicks zu lächeln, doch irgendetwas, das ihn zu bekümmern schien, machte es ihm unmöglich. Am liebsten hätte sie ihn sofort gefragt, was er auf dem Herzen hatte, doch stattdessen fügte sie lediglich hinzu: „Mama wird von ihren Einkäufen zurück sein.“

Er entließ sie nur ungern aus seiner Umarmung. „Heißt das, du hast mir verziehen?“

„Natürlich, welch dumme Frage!“ Der kurze Moment intimer Vertrautheit war verflogen. „Aber du musst mir dafür etwas versprechen.“

James hob eine Braue. „Oh, was denn?“

„Dass du mich wieder mit deinem Phaeton mitnimmst.“

„Es wird mir ein Vergnügen sein.“

„Morgen früh um sieben.“

„Aber Lavinia, ich habe nicht gesagt, dass …“

„Du sagtest, du würdest darüber nachdenken“, unterbrach sie ihn. „Nun hast du es getan und bist zu dem Schluss gekommen, dass überhaupt nichts dagegenspricht, wenn du mir in einem menschenleeren Park die Zügel überlässt. Du bist sogar zu der Überzeugung gelangt, deiner Stiefschwester noch etwas in Sachen Kutschieren beibringen zu können, natürlich vorausgesetzt, dass du in der Lage bist, so zeitig aufzustehen.“

„Oh, du kannst Gedanken lesen, habe ich recht?“

„Natürlich, du bist für mich ein offenes Buch.“

Davon war James allerdings nicht wirklich überzeugt, denn andernfalls hätte sie die Liebe in seinem Herzen entdeckt, die er für sie empfand und die seit drei Jahren stetig größer wurde. Seine Stiefmutter, mit einem unbeirrbaren sechsten Sinn und guter Beobachtungsgabe beschenkt, hatte ihm beizeiten zu bedenken gegeben, dass Lavinia noch zu jung für eine Vermählung sei. Und da er damals noch nicht die Reife eines verantwortungsvollen jungen Mannes besessen hatte, hätte der Duke of Loscoe ihn ohnehin niemals als seinen Schwiegersohn akzeptiert.

Seinen Weg ins Leben zu finden hatte sich für James als unkompliziert herausgestellt, seine jugendlichen Laster waren harmloser Natur gewesen und hatten dazu beigetragen, dass er schneller erwachsen wurde. Lavinias Sicht auf ihn zu verändern hatte sich hingegen als ein überaus schwieriges Unterfangen herausgestellt. Wie ein schwer zu erhaschender Schmetterling umschwirrte sie ihn, wollte einerseits bewundert werden von ihm, lachte viel, teilte ihre Geheimnisse mit ihm und erwartete nebenbei, dass er ihr aus einer misslichen Lage half, in die sie sich meist selbst gebracht hatte. Andererseits entschwand sie seinem Blickfeld, seiner Nähe ohne Vorwarnung und ließ ihn mit leeren Händen stehen. James seufzte nur, als neben ihnen eine Barouche anhielt und die Duchess of Loscoe mit Hilfe eines Lakaien herausstieg.

„James, ich hatte keine Ahnung, dass du in London bist.“ Dank ihrer mädchenhaften Lebensfreude, die sie ausstrahlte, die jedoch ihrer Grazie und überaus eleganten Erscheinung keinen Abbruch tat, sah man Frances, Duchess of Loscoe, nicht im Entferntesten an, dass sie bereits achtunddreißig Jahre alt war.

„Ich kam erst gestern in die Stadt, Mama. Und als ich vernahm, dass ihr auch hier seid, kam ich sogleich vorbei, um euch meine Aufwartung zu machen.“

„Leider hast du nur Lavinia angetroffen. Bitte verzeih mir, hätte ich gewusst …“ Sie brach ab und beäugte den Phaeton vor ihr, während Lakaien unzählige Schachteln und Pakete ins Haus trugen. „Bist du damit gekommen? Ist es nicht ein zu unsicheres Gefährt?“, fragte sie misstrauisch.

„Nein, ist es nicht“, kam Lavinia James aus gutem Grund zuvor. „Vielmehr ist es eine erfrischende Abwechslung, damit zu fahren.“

„Darf ich daraus schließen, dass du bereits damit unterwegs warst?“

Lavinia schlug die Augen nieder. „Nur ein bisschen im Hydepark. Ich versichere dir, James ist vorbildlich gefahren.“

Ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren, begab die Duchess sich, gefolgt von James und Lavinia, nach drinnen und orderte Erfrischungen in den Salon. Dann zog sie ihre Handschuhe aus, nahm den Hut ab, wobei sie die lange Feder vorsichtig glatt strich, und händigte beides dem Butler aus.

„Nun, was gibt es Neues zu berichten?“, fragte sie den Stiefsohn, als alle drei es sich in den Sesseln im Blauen Salon gemütlich gemacht hatten und eine Tasse Tee in der Hand hielten. „In Twelvetrees ist doch alles in bester Ordnung, hoffe ich?“

„Natürlich. Indes ist das Leben eines Gutsherrn bisweilen etwas fade. Ich kann Zerstreuung jetzt gut gebrauchen“, antwortete James und lächelte verlegen.

„So würdest du nicht sprechen, wenn du verheiratest wärst.“

„Ich wüsste nicht, was sich dadurch an der Arbeit eines Gutsherrn ändern würde“, entgegnete er.

„Nun, vielleicht empfändest du das Landleben nicht als so eintönig, wenn du eine Frau und Kinder an deiner Seite hättest“, erwiderte die Dame des Hauses ernst.

„Bitte, Mama, fang nicht wieder davon an. Ich verspreche dir, in dieser Saison einen ersten Schritt in die Richtung zu unternehmen, bist du nun zufrieden?“ Während er sprach, schaute er neugierig zu Lavinia hinüber, in der Hoffnung, seine Andeutung möge sie beunruhigen, doch Lavinia hatte offensichtlich nicht sehr aufmerksam gelauscht, denn sie blickte verträumt auf die sich gerade in ihrem Schoß einrollende Schildpattkatze hinab.

Frances nickte. „Für den Augenblick, ja. Ich nehme an, du hast ob der Kürze der Zeit noch keine Einladungen erhalten.“

„Nein, aber ich bin davon überzeugt, dass sich meine Ankunft bald herumgesprochen haben wird und ich stapelweise welche bekommen werde. Sag mir, was für Veranstaltungen du zu besuchen beabsichtigst. Dann kann ich eine entsprechende Auswahl treffen.“

„Zunächst gibt Lady Graham einen Ball …“

„Ist Constance etwa noch immer nicht unter der Haube? Das dürfte indessen das dritte Jahr sein, in dem Lady Graham versucht, ihre Tochter an den Mann zu bringen“, unterbrach James sie mit einem schalkhaften Grinsen.

Die Duchess of Loscoe verzog das Gesicht. „Ich wünschte, deine Ausdrucksweise wäre nicht ganz so gewöhnlich. Constance kann nichts dafür, dass sie ein unscheinbares Seelchen ist, ich bin jedoch davon überzeugt, dass ein würdiger Gentleman schon sehr bald ihre wahren Werte kennen und schätzen lernen wird.“

„Nun, das werde auf gar keinen Fall ich sein, das schlage dir aus dem Kopf. Sollte ich aber eingeladen werden zu ihrem Ball, werde ich gern kommen, und sei es nur, um mit dir zu tanzen.“

„Und mit mir“, warf Lavinia ein.

Er wandte sich der Stiefschwester zu. „Selbstredend, meine Liebe. Und was gibt es noch?“

Obgleich die Saison bereits im vollen Gange war, zählte die Duchess eine ganze Reihe von Veranstaltungen auf, darunter Musikabende, Bälle und Picknicks auf dem Lande.

„So werden wir also unsere Abende und Nachmittage verbringen – vorausgesetzt natürlich, dass uns nicht Ihre Majestät mit ihren Launen einen Strich durch die Rechnung macht.“

„In diesem Fall würde ich mich sehr freuen, euch umso öfter besuchen zu können“, erklärte James mit einem charmanten Lächeln.

Lavinia musst herzhaft lachen ob seiner Bekundung – und schaute in zwei ratlose Gesichter.

„Was habe ich gesagt, das dich so amüsiert, meine Liebe?“, fragte er.

„Du hast eben nicht anders gesprochen als Lord Wincote, und ihn hast du als frech und aufdringlich beschimpft. Sind Sie verzweifelt, Mylord?“, neckte sie den Stiefbruder mit funkelnden Augen.

„Ganz bestimmt nicht“, erwiderte er knapp und stand auf, denn um keinen Preis wollte er sich wieder auf dieses Thema einlassen. „Wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich muss leider fort.“

Lavinia erhob sich brüsk, wobei die Katze miauend zu Boden sprang. „Darf ich dich hinausbegleiten?“

Autor

Mary Nichols

Mary Nichols wurde in Singapur geboren, zog aber schon als kleines Mädchen nach England. Ihr Vater vermittelte ihr die Freude zur Sprache und zum Lesen – mit dem Schreiben sollte es aber noch ein wenig dauern, denn mit achtzehn heiratete Mary Nichols. Erst als ihre Kinder in der Schule waren,...

Mehr erfahren