Lass mir Zeit - Liebling

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Früher war Rick „nur“ der Sohn der Köchin – und Abigail für ihn ein unerreichbarer Traum. Jetzt steht sie vor dem Ruin! Das Finanzchaos kann der inzwischen erfolgreiche Unternehmer Rick entwirren – doch kann er auch Abigail erobern und die Wunden ihrer Vergangenheit heilen?


  • Erscheinungstag 02.11.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783733786892
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Oh, Orlando! Orlando, mein Schatz!“, rief eine Blondine in Schwarz theatralisch.

Abigail hatte die Frau bereits in der Kirche bemerkt. Sie hatte während der ganzen Trauerfeier laut geschluchzt, doch nun sah Abigail, dass ihre Mascara überhaupt nicht verschmiert war. Einen Moment lang hatte sie überlegt, ob die Blondine auch zu den Geliebten ihres verstorbenen Mannes gehört hatte, sich dann aber zusammengerissen, weil sie sich damit nur verrückt machte.

Der kalte Wind wehte ihr eine Strähne ihres honigblonden Haars ins Gesicht. Alles erschien ihr seltsam unwirklich, als würde sie träumen und als würde es nicht ihr passieren, sondern jemand anders.

Ich bin erst neunzehn und schon verwitwet, dachte Abigail und erschauerte heftig, als ihr eine Schneeflocke auf die Hand fiel. Obwohl sie schwarze Glacéhandschuhe trug, zitterten ihre Hände, in denen sie eine rote Rose hielt.

Ihr war furchtbar kalt, denn ihr Kostüm, das einzige schwarze Outfit, das sie besaß, war viel zu dünn für dieses Wetter.

Normalerweise trug sie kein Schwarz, doch an diesem Tag hatte sie keine andere Wahl gehabt. Außerdem hätte Orlando es erwartet. Ihre Ehe war zwar nicht glücklich gewesen, aber er hätte nicht sterben dürfen.

Ungläubig blickte Abigail sich unter den Trauergästen um. Die meisten von ihnen waren Kollegen und gleichzeitig Freunde ihres verstorbenen Mannes, und es war typisch für sie, dass sie sogar am Grab Gedichte rezitierten. Abigail fühlte sich wie eine Außenseiterin und wünschte, sie würden damit aufhören. Schon während der Trauerfeier hätte sie ihnen am liebsten gesagt, sie sollten den Mund halten, doch an diesem Tag wollte sie keinen Streit vom Zaun brechen.

Wenn ich bloß jemanden zum Anlehnen hätte, jemanden, auf den ich mich verlassen kann! dachte sie. Aber sie hatte niemanden. Ihre Mutter und ihr Stiefvater, den sie sehr geliebt hatte, waren nur wenige Monate vor ihrer Hochzeit mit Orlando bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen. Der einzige, den sie jetzt noch hatte, war Rick Harrington. Allerdings hatte sie kaum Kontakt zu ihm, denn er hatte sie von Anfang an nicht gemocht.

Sie war damals sieben gewesen, und eigentlich hätte es einer der glücklichsten Tage ihres Lebens sein sollen …

Atemlos vor Aufregung, hatte sie auf den Schultern ihres Stiefvaters gesessen, und dieser hatte stolz mit ihr die große Eingangshalle seiner Villa in den Hollywood Hills betreten.

Am Vortag hatte ihre Mutter, eine wunderschöne Schauspielerin, ihn geheiratet, und es war eine richtige Traumhochzeit gewesen. Philip Chenery war einer der größten Produzenten Hollywoods, und von nun an würden sie zu dritt in einem der schönsten Häuser der Welt wohnen.

Alle Hausangestellten standen in der Eingangshalle Spalier, um Philips frischgebackene Ehefrau und deren kleine Tochter zu begrüßen. Unter ihnen befand sich auch Rick, der Sohn des Kochs, und er machte keinen Hehl daraus, dass es ihm nicht passte.

Obwohl sie damals erst sieben gewesen war, würde sie diese Begegnung mit ihm niemals vergessen.

Niemals würde sie den kühlen Ausdruck in seinen grünen Augen vergessen, mit dem Rick sie betrachtet hatte. Bereits mit achtzehn war er umwerfend attraktiv gewesen, doch er hatte kühl und abweisend gewirkt, und sie hatte seine Abneigung deutlich gespürt.

Sein unverschämt gutes Aussehen hatte er von seiner Mutter, einer hinreißenden Italienerin, geerbt und seinen scharfen Verstand von seinem Vater, einem Engländer. Mit seiner starken Ausstrahlung würde er immer ein Vorbild für seine Geschlechtsgenossen und das Objekt weiblicher Begierde sein.

Später stellte Abigail fest, dass ihr Stiefvater Rick, der wie sie von seinem Vater im Stich gelassen worden war, sehr gern mochte. Er erkannte sofort, was in ihm steckte, und förderte ihn entsprechend, indem er ihm eine hervorragende Ausbildung ermöglichte. Daher war es nicht überraschend, dass sich eine enge Beziehung zwischen den beiden entwickelte.

Vielleicht war es ganz natürlich gewesen, dass Rick sie abgelehnt hatte, denn für ihn musste sie ein Eindringling gewesen sein.

Doch sie hatte das anders gesehen.

Sie war damals noch ein Kind gewesen, das ‚weit weg von England‘ ein neues Leben hatte beginnen müssen. Rick Harrington war die Schlange in ihrem Paradies gewesen, und daraus hatte sich eine starke gegenseitige Abneigung entwickelt.

Aus dem Grund war Abigail froh, als ihre Eltern sie auf das Internat in England schickten, das auch ihre Mutter früher besucht hatte, und sie Rick nur gelegentlich in den Ferien sah.

Als sie älter wurde, nahm sie an, dass ihr Verhältnis zueinander sich bessern würde, aber er schien eine immer stärkere Abneigung gegen sie zu entwickeln, je reifer sie wurde. So hatte sie ihm schließlich dieselbe Verachtung entgegengebracht, die er für sie empfand.

Und dennoch hatte sie sich an diesem Tag schon einige Male dabei ertappt, dass sie sich wünschte, Rick wäre auch zu der Beerdigung ihres Mannes gekommen. Sie sehnte sich danach, ein vertrautes Gesicht zu sehen, denn noch nie zuvor hatte sie sich so einsam gefühlt.

Das einzige Zeichen seines Mitgefühls waren jedoch ein Strauß weißer Lilien und ein kurzer Beileidsbrief gewesen. Vergeblich hatte sie vorhin in der Kirche nach seinem dunklen Schopf Ausschau gehalten …

Als der Sarg nun langsam ins Grab gelassen wurde und der Pfarrer die Abschiedsworte sprach, hob Abigail die Hand und warf die Rose hinterher. Ihr verstorbener Mann hätte diese theatralische Geste sicher zu schätzen gewusst.

Ohne zu wissen, warum sie es tat, zog sie dann die Handschuhe aus und warf sie hinterher. Als sie anschließend aufblickte, schaute sie direkt in Rick Harringtons grüne Augen. Sie waren kühl wie ein Fjord, und ein unergründlicher Ausdruck lag darin.

Rick stand etwas abseits der Trauergemeinde. Er war groß und schlank, und sein gebräuntes Gesicht wirkte arrogant und stolz. Aus zusammengekniffenen Augen sah er sie herausfordernd an.

Abigail war, als würde sie aus tiefer Betäubung erwachen, denn sie verspürte ein erregendes Prickeln. Vor Schreck über das unerwartete Wiedersehen mit ihm krampfte sich ihr Herz schmerzhaft zusammen, das Blut wich aus ihrem Gesicht, und einen Moment lang glaubte sie, das Gleichgewicht zu verlieren.

Rick schien es zu bemerken. Nachdem er sie sekundenlang stirnrunzelnd gemustert hatte, kam er auf sie zu und blieb schließlich dicht vor ihr stehen.

Obwohl sie hochhackige Pumps trug, überragte er sie um Haupteslänge, sodass sie zu ihm aufblicken musste. Immer wenn sie ihn wiedersah, beeindruckten seine Statur und seine starke Ausstrahlung sie von Neuem – als wäre ihr Erinnerungsvermögen getrübt, was ihn anging.

„Hallo, Abigail“, begrüßte Rick sie leise. Er hatte eine tiefe, sinnliche Stimme, und an seinem Tonfall merkte man, dass er nur an Eliteuniversitäten studiert hatte. Er war erfolgreich und wohlhabend und führte ein modernes Nomadendasein. Seine Statussymbole waren schicke Domizile in verschiedenen Städten, seltene Gemälde und schnelle Autos.

Seit dem Abend vor ihrer Hochzeit vor knapp einem Jahr hatte Abigail ihn nicht mehr gesehen. Damals war er mit einer Selbstverständlichkeit in ihrem Hotel aufgetaucht, als wäre er der Besitzer, hatte Orlando und sie zu sich zitiert und ihnen damit gedroht, die Hochzeit zu verhindern.

Allerdings hatte er das nicht geschafft.

Für sie war es ein erhebender Augenblick gewesen, mitzuerleben, wie ihm, dem einflussreichen Rick Harrington, ausnahmsweise einmal die Hände gebunden waren. Er hatte nicht über ihre Zukunft bestimmen können. Als sie im berühmten Standesamt von Chelsea das Ehegelübde gesprochen hatte, hatte sie sich voller Genugtuung seine finstere, undurchdringliche Miene ins Gedächtnis gerufen.

Genauso undurchdringlich und Furcht einflößend war seine Miene jetzt.

„Hallo, Rick“, erwiderte Abigail ruhig.

„Wie geht es dir, Abby?“, fragte Rick leise, und seine Besorgnis wirkte beinah echt.

„Es … es …“ Abigail konnte nicht weitersprechen. Vielleicht lag es an seinem Mitgefühl oder daran, dass er ihren alten Spitznamen benutzte, vielleicht sogar daran, dass er so ungewohnt sanft war. Jedenfalls kamen ihr zum ersten Mal seit Orlandos Tod die Tränen, und sie stieß einen erstickten Laut aus. Auf keinen Fall wollte sie in Ricks Gegenwart die Beherrschung verlieren.

Rick betrachtete sie finster, als wäre ihm jegliche Zurschaustellung von Schwäche zuwider. „Ist alles in Ordnung?“ Offenbar wollte er ihren Ellbogen umfassen, doch dann überlegte er es sich anders. Er schob die Hände tief in die Taschen seiner grauen Hose, woraufhin diese sich über seinen muskulösen Oberschenkeln spannte. Abigail ertappte sich entsetzt dabei, wie sie es bemerkte. „Ist alles in Ordnung?“, wiederholte er.

„Was glaubst du denn?“, erkundigte sie sich bitter, da er der einzige Mensch auf Erden war, an dem sie ihren Frust auslassen konnte. Schließlich musste Rick am besten wissen, wie ungerecht das Leben manchmal war.

„Ich glaube nicht, dass du es hören möchtest“, behauptete er genauso bitter und mit einem drohenden Unterton.

Überrascht schaute Abigail ihn an. Auch wenn sie ihn nicht besonders mochte, so war er in diesem Moment doch ihr einziger Rettungsanker, der Mensch, der ihr am nächsten stand und der sie am besten kannte. Außerdem kamen die Menschen sich in Krisenzeiten oft näher. „Doch“, sagte sie leise. In ihren blauen Augen schimmerten Tränen, als sie ihn flehend ansah. Vielleicht konnte Rick es ihr erklären. „Sag mir, was du davon hältst, Rick.“

Aber Rick schüttelte nur den Kopf. „Das mit Orlando tut mir leid“, meinte er ausdruckslos.

Daraufhin erstarb der Hoffnungsschimmer, der sich eben noch in ihr geregt hatte. Entschlossen hob sie das Kinn und schaute Rick in die Augen. „Ich hätte dir vieles vorwerfen können, Rick Harrington, aber nicht, dass du ein Heuchler bist. Wie kannst du es wagen, hier aufzutauchen und zu behaupten, dass es dir leidtut? Alle wissen doch, was du von Orlando gehalten hast.“

Ungerührt erwiderte er ihren Blick. „Nur weil ich ihn nicht mochte …“

„Du meinst, weil du ihn gehasst hast“, verbesserte sie ihn wütend.

Wieder schüttelte er den Kopf. „Für dich gibt es nur Schwarz oder Weiß, stimmt’s, Abigail?“ Dann seufzte er, als würde es ihm schwerfallen, das zu sagen. „Man muss Leidenschaft empfinden, um jemanden hassen zu können, und ich konnte nicht genug Energie aufbringen, um einen Mann zu hassen, den ich nicht respektiere.“

„Nein, natürlich nicht!“, bestätigte sie scharf. „Du bist lediglich von dem Wunsch besessen, Geld zu verdienen. Alle anderen Gefühle sind zu stark für dich, stimmt’s?“

Rick schaute sie ruhig an. „Momentan verspüre ich den übermächtigen Wunsch, dich übers Knie zu legen und dir deinen verdammten Zynismus auszutreiben!“

Er kniff die Augen zusammen und schien seine Worte sorgfältig abzuwägen, als er fortfuhr: „Dass ich ihn nicht mochte, bedeutet noch lange nicht, dass ich seinen Tod herbeigesehnt habe. Der Tod ist immer eine Tragödie, aber mit fünfundzwanzig zu sterben ist besonders tragisch.“ Missbilligend presste er die Lippen zusammen. „Was ist passiert? War er betrunken, als er gestorben ist?“

„Er hat sich abgeseilt, verdammt!“, rief sie aufgebracht. „Da wird er wohl kaum betrunken gewesen sein!“

Er zuckte gleichgültig die Schultern, doch der Ausdruck in seinen Augen war ernst. „Den Gerüchten zufolge soll Orlando immer auf der Suche nach billigen Kicks gewesen sein. Vielleicht hat die Ehe nicht ganz seinen Erwartungen entsprochen, oder?“

Seine Anspielung schockierte sie so, dass Abigail, ohne auf die Blicke der Umstehenden zu achten, die Hand hob, um Rick eine Ohrfeige zu verpassen. Doch er reagierte blitzschnell und umfasste ihr Handgelenk, bevor sie seine Wange berührte. Für die anderen Trauergäste musste es so aussehen, als würde sie ihn streicheln und als würde er sie noch ermutigen.

Seine Haut war warm und weich, und zu ihrem Entsetzen stellte Abigail fest, dass sie am liebsten ewig so verharrt hätte.

Sie errötete und entzog ihm wütend ihre Hand, doch seine Augen funkelten triumphierend. Seltsamerweise fühlte sie sich kompromittiert.

„Wag das ja nicht noch einmal!“, warnte sie ihn mit einem drohenden Unterton und hörte dann, wie jemand hinter ihr diskret hüstelte. Als sie sich umdrehte, sah sie sich dem Pfarrer gegenüber, der sie beinah entschuldigend anschaute. Schuldbewusst machte sie sich klar, dass die Trauerfeier vorüber war.

Und sie hatte es nicht einmal gemerkt, weil sie sich mit Rick gekabbelt hatte. Was mochte der Pfarrer jetzt von ihr denken?

„Wenn Sie das Bedürfnis haben, mit jemandem zu reden, Mrs Howard“, sagte er, „dann tun Sie es bitte. Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung, meine Liebe.“

Seine aufrichtige Teilnahme rührte sie, und die Kehle war ihr wie zugeschnürt, als Abigail nach den richtigen Worten suchte. Rick merkte offenbar, wie unbehaglich ihr zumute war, denn er antwortete an ihrer Stelle.

„Danke, Herr Pfarrer“, sagte er höflich. „Abigail weiß Ihr freundliches Angebot zu schätzen. Aber jetzt bin ich ja bei ihr.“

„Tatsächlich?“ Der ältere Mann betrachtete ihn fast geistesabwesend durch seine Brille. „Und Sie sind …? Tut mir leid, aber ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet.“

„Ich bin Rick Harrington“, sagte Rick, und da der Pfarrer auf eine weitere Erklärung zu warten schien, fügte er hinzu: „Ein alter Freund der Familie. Ich kenne Abigail seit ihrem siebten Lebensjahr. Ihr verstorbener Stiefvater stand mir sehr nahe.“

„Ach so.“ Der Pfarrer nickte. „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Mr Harrington.“

Wahrscheinlich ist er erleichtert, dachte Abigail, während sie beobachtete, wie die beiden Männer sich die Hand schüttelten. Nach Orlandos Tod hatte der Pfarrer sie einige Male besucht und betont, es wäre besser, wenn sie nicht allein im Haus wäre.

Sie sah ihn noch vor sich, wie er in seinem schäbigen Talar in ihrem luxuriösen Wohnzimmer gestanden und sich neugierig und verwirrt zugleich umgeschaut hatte – als könnte er nicht verstehen, dass jemand, der in einem solchen Wohlstand lebte, niemanden hatte, der ihm in der Zeit der Trauer beistand.

„Wir sollten jetzt gehen“, sagte Rick leise. Dann umfasste er ihren Ellbogen und hielt sie fest, als fürchtete er, sie könnte sonst fallen. Dankbar ließ Abigail sich von ihm führen.

„Kommen Sie auch zum Mittagessen nach, Herr Pfarrer?“, fügte er an den Pfarrer gewandt hinzu. „Wie ich sehe, sind einige Gäste schon im Aufbruch begriffen.“ Missbilligend betrachtete er Orlandos Freunde, die laut redend auf die schwarzen Limousinen zugingen, als wären sie auf einer Hochzeit und nicht auf einer Beerdigung.

Eine der Frauen, eine dunkelhaarige, zierliche Schönheit namens Jemima, warf sich ihre schwarze Federboa über die Schulter und lachte dabei laut auf.

Abigail bemerkte den spöttischen Zug um Ricks Mund und fragte sich dabei, was Rick und der Pfarrer von dieser illustren Trauergesellschaft halten mochten.

Der Pfarrer schien Ricks Missbilligung jedoch nicht zu bemerken und nickte eifrig. „Ja, gern. Meine Haushälterin hat freitags nämlich frei und macht mir normalerweise immer einen Fischsalat, der, ehrlich gesagt, nicht besonders gut schmeckt. Ich werde zu Fuß gehen. Es ist nicht so weit.“

„Doch, es ist viel zu weit.“ Rick schüttelte den Kopf. „Bitte nehmen Sie meinen Wagen.“ Er deutete auf die längste der schwarzen Limousinen, die hintereinander parkten. „Ich bestehe darauf.“

„Und Sie?“, fragte der Pfarrer.

„Ich fahre mit Mrs Howard.“ Der Blick, den Rick ihr zuwarf, besagte, dass er keinen Widerspruch duldete.

Aber sie hatte ohnehin keine Lust mehr, sich mit ihm zu streiten, denn sie war durchgefroren und erschöpft. Daher ließ sie sich von ihm zu einem der Wagen führen. Die Lethargie, die sie schon seit Tagen plagte, lähmte sie nun förmlich.

Abigail ließ sich in den schwarzen Ledersitz sinken und schloss die Augen. Sie rechnete damit, dass Rick sie mit Fragen bestürmen würde, doch als er schwieg, öffnete sie die Augen wieder und schaute ihn an. Er betrachtete sie ausdruckslos, was untypisch für ihn war. Normalerweise setzte er in ihrer Gegenwart eine abweisende oder missbilligende Miene auf.

Abigail schaute aus dem Fenster. Die kahlen Bäume sahen wie von Kinderhand gezeichnet aus und hoben sich scharf gegen den grauen Himmel ab. Plötzlich musste sie daran denken, dass Orlando und sie nicht einmal in den ersten Monaten ihrer Ehe, als sie noch einigermaßen glücklich gewesen waren, über das Thema Kinder gesprochen hatten. Unwillkürlich erschauerte sie.

Rick sah es und klopfte sofort an die Trennscheibe. „Würden Sie bitte die Heizung hochdrehen?“, wies er den Fahrer an. „Hier ist es wie in Sibirien.“

Sofort wurde es wärmer im Wagen, und Abigail atmete erleichtert auf, weil sie nun auch innerlich nicht mehr so fror.

Seit der Polizeibeamte in jener Nacht an ihre Tür geklopft hatte, war ihr schrecklich kalt gewesen. Als sie seinen grimmigen Gesichtsausdruck gesehen hatte, war ihr klar gewesen, dass Orlando tot war. Doch erst nach kurzem Zögern hatte der Polizist ihr die Frage gestellt: „Sind Sie Mr Orlando Howards Frau?“

Zuerst war sie entsetzt gewesen, aber gleich darauf hatte sie große Erleichterung verspürt, weil Orlando sie nun nie wieder quälen würde. Seitdem plagten sie heftige Schuldgefühle …

„Ist alles in Ordnung?“, erklang plötzlich wie aus weiter Ferne Ricks Stimme.

Abigail versuchte, sich zusammenzureißen. „Ich glaube schon.“ Sie nickte steif. Wieder hatte sie den Eindruck gehabt, alles wäre nur ein Traum. So war alles viel leichter.

„Die Beerdigung ist vorbei. Jetzt wirst du dich bald besser fühlen.“ Rick betrachtete sie aufmerksam, als wäre er ein Arzt und sie seine Patientin.

„Ja“, erwiderte Abigail, obwohl sie es bezweifelte. Würde es ihr überhaupt je wieder besser gehen?

„Du siehst müde aus, Abby“, bemerkte er sachlich. „Richtig erschöpft sogar.“

„Das bin ich auch.“

„Dann ruh dich aus“, drängte er sie. „Wenigstens bis wir bei dir sind.“

Unter anderen Umständen hätte sie ihm nahegelegt, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, denn normalerweise brachte es sie auf die Palme, wenn er sie so herablassend behandelte. Aber er hatte recht. Sie war so erschöpft, dass sie sich ihm nicht einmal widersetzen konnte.

Abigail versuchte, den Kopf zurückzulehnen, doch es ging nicht, da sie einen Hut trug. Also zog sie die Nadel heraus, mit der sie den breitrandigen Hut befestigt hatte, und nahm ihn ab.

Sonst trug sie nie Hüte, weil sie es unpraktisch fand. Sie hatte diesen nur zur Beerdigung aufgesetzt, weil Orlando Hüte geliebt hatte und diese für seinen Geschmack nicht ausgefallen genug sein konnten. Da sie ihm in so vieler Hinsicht keine gute Ehefrau gewesen war, hatte sie wenigstens bei seiner Beerdigung die Rolle spielen wollen, in der er sie gern gesehen hätte.

Umso erleichterter war sie nun, als sie den exotischen Hut abnehmen konnte. Nachdem sie ihn neben sich auf den Sitz geworfen hatte, schüttelte sie den Kopf, sodass ihr das dichte, glatte honigblonde Haar über die Schultern fiel. Es bildete einen reizvollen Kontrast zu ihrem schwarzen Kostüm.

Rick betrachtete sie aus zusammengekniffenen Augen. „Du hast dich nach Orlandos Tod nicht mit mir in Verbindung gesetzt.“

Es war eine Frage und eine Feststellung zugleich. Außerdem klang es vorwurfsvoll. Geistesabwesend strich sich Abigail eine Strähne aus dem blassen Gesicht. „Warum hätte ich das tun sollen. Ich wusste ja, dass du es in der Zeitung lesen würdest. Schließlich haben wir noch nie einen guten Draht zueinander gehabt. Und du hast aus deiner Abneigung gegenüber Orlando keinen Hehl gemacht.“

„Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Auch Orlando hat kein Geheimnis aus seiner Abneigung gegen mich gemacht.“

Nun richtete sie sich auf. „Er hatte wenigstens einen Grund dafür, dich nicht zu mögen.“

„Ach ja?“ Er schaute sie ungerührt an. „Und was war der Grund? Hat er mich um meinen Wohlstand beneidet? Orlando war nämlich der größte Raffzahn, der mir je begegnet ist.“

„Du … du … brutaler Kerl!“ Nur mühsam brachte sie die Worte über die Lippen. „Wie kannst du so schlecht von einem Toten sprechen?“

„Dasselbe habe ich ihm auch ins Gesicht gesagt, als er gelebt hat“, erklärte er kühl. „Orlando hat mich gehasst, weil er ein Versager war und ich nicht. Und weil er wusste, dass ich dich vielleicht zur Vernunft bringen und dich davon abhalten könnte, ihn zu heiraten, wenn ich noch länger in deiner Nähe bleiben würde.“

Abigail schaute ihn ungläubig an. „Glaubst du wirklich, du hättest mich davon abhalten können, ihn zu heiraten?“

Rick zuckte die Schultern. „Schade, dass er dich dazu überredet hat, standesamtlich zu heiraten, denn das ging ziemlich schnell über die Bühne.“

„Das hat einen Unterschied gemacht, stimmt’s?“, erkundigte sie sich herausfordernd.

Seine Augen funkelten. „Natürlich hat es einen Unterschied gemacht. Weißt du, ich hatte mich auf deine Vorliebe für große Auftritte verlassen, Abigail. Schließlich bist du die Tochter deiner Mutter. Und wenn du dich für eine kirchliche Trauung entschieden hättest, hätte ich genug Zeit gehabt, um dich umzustimmen.“

Sie lachte bitter. „Und dann fragst du, warum ich mich nach seinem Tod nicht mit dir in Verbindung gesetzt habe? Mich wundert, dass du überhaupt hier aufgetaucht bist.“

„Weil ich derjenige bin, der dir am nächsten steht“, erinnerte er sie kühl.

„Ich weiß.“ Ihre Stimme troff vor Sarkasmus. „Ich bin wirklich ein Glückspilz!“

„Nicht wahr?“ Er streckte seine langen Beine aus.

Abigail hatte versucht, ihn nicht zu eingehend zu betrachten, und wollte es auch nicht näher ergründen. Doch jetzt war sie sich seiner Nähe überdeutlich bewusst und konnte den Blick nicht von ihm abwenden.

Selbst die attraktivsten Männer verblassten neben Rick. Im Lauf der Jahre hatte sie oft überlegt, was seine besondere Anziehungskraft ausmachte. Während sie ihn nun verstohlen betrachtete, bemühte sie sich, ihn objektiv einzuschätzen.

Sie konnte nicht bestreiten, dass er fantastisch aussah. Er war leicht gebräunt, groß und muskulös. Aber es gibt viele gut gebaute Männer, hielt sie dagegen. Orlando, ihr verstorbener Ehemann, hatte auch einen fantastischen Körper gehabt und diesen immer durch enganliegende Kleidung betont.

Doch genau darin bestand der Unterschied zwischen den beiden, wie ihr jetzt bewusst wurde. Rick hatte es gar nicht nötig, seine Reize derart hervorzuheben, denn selbst der größte Ignorant konnte sehen, dass sein Körper zum Sterben schön war. Selbst in einem Sack hätte Rick noch sexy gewirkt. Der Anzug, den er trug, ließ zum Beispiel nur erahnen, wie flach sein Bauch und wie muskulös seine Beine waren. Wieder verspürte Abigail dieses erregende Prickeln.

Das Faszinierendste an Rick war jedoch sein Gesicht, und das lag nicht allein an seinen markanten, klassischen Zügen oder dem sinnlichen Mund, der einen auffälligen Kontrast zu dem energischen Kinn bildete. Nein, es war etwas, das über rein physische Schönheit hinausging.

Seine von dichten schwarzen Wimpern gesäumten Augen waren so lebendig und so grün wie Gras, dass es schon fast eine Sünde war hineinzuschauen. Aber es war mehr als das. Es lag auch ein aufmerksamer, manchmal sogar misstrauischer Ausdruck darin, und bisweilen erschienen sie geradezu berechnend. Jedenfalls war der Ausdruck darin zumeist unergründlich.

Widerstrebend musste Abigail sich eingestehen, dass vor allem seine geheimnisvollen Augen seine Anziehungskraft ausmachten. Rick Harrington war ein Rätsel, das sie vermutlich nie ergründen würde.

Ein humorloses Lächeln umspielte seine Lippen. „Du bist erwachsen geworden, Abby“, stellte er mit einem ironischen Unterton fest. „Du hast mich einer ziemlich eingehenden Musterung unterzogen.“

Sie presste unmerklich die Lippen zusammen, als sie seinem neugierigen Blick begegnete. Erwachsen? Wie recht er doch hatte! Durch die Ehe mit Orlando war sie ganz schnell erwachsen geworden. „Stört es dich?“, erkundigte sie sich kühl.

„Ob es mich stört, wenn eine schöne Frau mich betrachtet?“, meinte er spöttisch. „Welcher normale Mann hätte dagegen wohl etwas einzuwenden? Aber fairerweise sollte ich das Kompliment erwidern, stimmt’s, Abby?“

Abigail brauchte einen Moment, um die Bedeutung seiner Worte zu erfassen. Dann begann ihr Herz schneller zu klopfen.

Als er den Blick beifällig, ja, beinah anzüglich von ihren Brüsten zu ihren Hüften und schließlich zu ihren Beinen schweifen ließ, errötete sie vor Wut und krallte die Finger in das Revers ihrer Kostümjacke, als wäre diese eine Rettungsweste.

So hatte Rick sie noch nie angesehen – wie ein Mann, der eine Frau begehrte. Schon seit Jahren sehnte sie sich danach, doch nun, da es so weit war, beunruhigte es sie. Und sie empfand es als Beleidigung.

„Verdammt noch mal!“, fuhr sie ihn an. „Ich weiß, dass es dir zur zweiten Natur geworden ist, nach Frauen zu schielen, aber dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um nach mir zu schielen, stimmt’s? Oder hast du die Erfahrung gemacht, dass Witwen eine leichte Beute sind?“

Das hatte gesessen. Doch kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, bereute sie es, denn Rick presste die Lippen zusammen, und seine Augen funkelten gefährlich. Es machte ihr Angst. „Wo wir gerade von gebührendem Verhalten sprechen, muss ich dir sagen, dass ich selten einer Witwe begegnet bin, die so gefasst war oder so viel Bein gezeigt hat.“

„Das ist das einzige schwarze Outfit, das ich besitze“, verteidigte sie sich.

„Und zufällig betont es jede Kurve deines sexy Körpers“, spottete er, und seine Augen funkelten kalt.

Autor

Sharon Kendrick
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