Liebe, heiß serviert (6-teilige Serie)

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KÜCHE, COWBOY, HOCHZEITSTRÄUME
West Montgomery will bei ihr kochen lernen? Davon hält Chefköchin Annabel rein gar nichts. Denn der attraktive Cowboy ist nicht nur arrogant, er hat ihr schon einmal das Herz gebrochen. Nur für seine kleine Tochter stimmt sie zu - und entdeckt an West völlig neue Seiten …

DIE AKTE DADDY
Georgias Herz klopft wie verrückt: Sie muss Nick sagen, dass sie ein Baby erwartet! Vier Monate ist ihre zärtliche Liebesnacht jetzt her - mit süßen Folgen. Wie wird er reagieren? Doch als Georgia ihn sieht, trifft sie fast der Schlag: Nick hat bereits ein Baby auf dem Arm …

IM LICHT DER HOFFNUNG
Erst verführt Logan sie zu einem Kuss, danach verbannt er sie ohne Erklärung für immer aus seinem Leben … Clementine ist am Boden zerstört. Bis sie kurz vor Weihnachten den traurigen Grund für sein Verhalten erfährt. Gibt es etwa doch noch Hoffnung für ihre Liebe?

... UND EINE PRISE ZÄRTLICHKEIT
Die hübsche Köchin Olivia hat eine magische Gabe: Mit ihren leckeren Speisen kann sie traurigen Menschen Mut machen. Aber bei dem attraktiven Privatdetektiv Carson Ford, der eines Tages vor ihrem Imbiss steht, fügt sie eine besonders delikate Zutat hinzu: Liebe …

ZWEI HERZEN UNTER EINEM DACH
Als Rancher Jake Morrow erfährt, dass Emma von seinem verstorbenen Mitarbeiter schwanger ist, bietet er ihr spontan ein Dach über dem Kopf. Dass sie heftiges Verlangen ihm weckt, ignoriert er. Auch ohne sie hat er genug Probleme! Doch da braucht Emma dringend einen Scheinverlobten …

DU HAST MIR GEZEIGT, WAS LIEBE IST
Einmal das Leben außerhalb ihrer Amisch-Gemeinde kennenlernen, davon träumt Anna schon lange. Daher sagt sie spontan Ja, als Colt sie um Hilfe mit seinen kleinen Neffen bittet. Schnell verliert sie ihr Herz an den attraktiven FBI-Agenten. Aber kann sie in seiner Welt glücklich werden?


  • Erscheinungstag 01.10.2020
  • Bandnummer 1 - 6
  • ISBN / Artikelnummer 9783751504157
  • Seitenanzahl 780
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Meg Maxwell

Liebe, heiß serviert (6-teilige Serie)

IMPRESSUM

Küche, Cowboy, Hochzeitsträume erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2016 by Meg Maxwell
Originaltitel: „A Cowboy in the Kitchen“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA EXTRA
Band 56 - 2018 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Stefanie Rose

Umschlagsmotive: GettyImages

Veröffentlicht im ePub Format in 04/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733716790

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Po’boys mit gegrilltem Wels und dem würzigen Krautsalat, für den Hurley’s Homestyle Kitchen berühmt war – das würde sie heute als Tagesgericht auf die Karte setzen, entschied Annabel Hurley. Die U-Boot-förmigen Sandwiches mit Sauerteigbrot und einer reichhaltigen Füllung waren eins der beliebtesten Gerichte in dem alteingesessenen Familienrestaurant. Doch als Annabel zufällig aus dem Küchenfenster blickte, wurde das Tagesgericht sofort zu ihrer kleinsten Sorge. Sie duckte sich hastig hinter die riesige Edelstahlschüssel, in der sie gerade den Teig anrührte, und seufzte, als vom hölzernen Rührlöffel Teig auf ihre Turnschuhe tropfte. Wie lächerlich. Versteckte sie sich gerade tatsächlich, weil West Montgomery sich dem Haus näherte?

Ja, das tat sie wohl. Sie war jetzt gerade mal seit vierundzwanzig Stunden zurück in Blue Gulch, und schon stand der Mensch, dem sie am meisten in der Stadt aus dem Weg gehen wollte, direkt vor der Tür.

Er hielt etwas in der Hand, so viel konnte sie erkennen, als sie sich langsam wieder aufrichtete. War das ein Scheckbuch? Wollte er sich dank seiner Mittel für heute Abend den besten Tisch des Restaurants sichern, von dem aus man einen zauberhaften Ausblick auf die Sweet Briar Berge hatte?

Gestern Abend, ihrem ersten seit langer Zeit in der Küche des Hurley’s, hatte sich Jillian Quisper, die Homecoming-Queen der Highschool, genau an diesem romantischen Zweiertisch mit PJ Renner verlobt. Nach PJs Antrag hatte Jillian so laute Freudenschreie ausgestoßen, dass sie das gesamte Küchenpersonal damit aufgescheucht hatte – dem Klang nach zu urteilen wäre es nämlich auch durchaus möglich gewesen, dass sie gerade an ihrem Salat erstickte.

Dass PJ, einer der reichsten Männer der Gegend, ausgerechnet das Hurley’s, ein kleines rustikales Restaurant, für seinen Antrag gewählt hatte, lag daran, dass fast alle Einwohner der Stadt als Teenager ihr erstes Date hier gehabt hatten. Im Hurley’s gab es nun mal das beste Steak, die besten Spareribs und die besten Po’boys.

Mit Hurley’s Homestyle Kitchen verband jeder in dieser Stadt positive Erinnerungen, offenbar sogar die Homecoming-Queen. Wenn sie ihren Freundinnen später erzählte, dass ihr Angebeteter im Hurley’s vor ihr gekniet hatte und ihr bei einer Portion zarter Rippchen unter dem kleinen Kronleuchter einen Antrag gemacht hatte, würden sie bestimmt alle vor Neid platzen.

Annabels eigene Erfahrungen mit Heiratsanträgen beschränkten sich auf Tagträume und nächtliche Fantasien davon, wie West Montgomery vor ihr kniete. Ha. Als ob West sich jemals zu so einem traditionellen Antrag hinreißen lassen würde. Nein, er würde eher ein Flugzeug kaufen und den Antrag dann in den Himmel schreiben. Oder die Worte aus Steinen zusammengesetzt auf eine romantische Lichtung legen. Er würde ihre Hand nehmen, ihr tief in die Augen blicken, sofort all ihre Gefühle erkennen und dann mit ihr nach Las Vegas durchbrennen, um sie dort in einer Elvis Presley Hochzeitskapelle zu ehelichen. Nicht, dass sie irgendjemanden heiraten würde, ohne dass ihre Gram und ihre Schwester dabei sein würden. Mal ganz abgesehen davon, dass West Montgomery ihr niemals einen Antrag machen würde.

Oder irgendjemand anderes.

Manchmal dachte sie, dass ihre Kochkünste offenbar das Einzige waren, was einen Mann an ihr interessierte. Schließlich ging Liebe ja bekanntlich durch den Magen. Aber ihre Fähigkeit, ein Grillsandwich zu machen, das möglicherweise sogar das ihrer Großmutter übertraf, hatte sie bisher auch nicht weitergebracht als hierher – zurück in die Küche des Hurley’s.

West schirmte nun mit der Hand seine Augen vor der hellen Aprilsonne ab und versuchte, durch das Küchenfenster zu spähen. Als er Annabel sah, wirkte er kurz überrascht, grüßte sie dann aber nickend.

Annabel atmete mehrmals tief durch, umfasste dann den Rührlöffel fester und strich sich mit der anderen Hand die Schürze glatt – was ein Fehler war, denn nun war sie auch noch voller Mehl – und ging zur Hintertür.

Die Hurleys betrieben ihr Restaurant im Erdgeschoss ihres Hauses, einem alten aprikosenfarbenen viktorianischen Schätzchen, das schon bessere Zeiten gesehen hatte.

West klopfte ein zweites Mal. Was wollte er denn nur?

Annabel Hurley, du bist fünfundzwanzig Jahre alt. Mach einfach die Tür auf und finde es heraus!

Und genau das tat sie. Nun stand er vor ihr in seiner ganzen Pracht. West Montgomery, eins neunzig groß, perfekt gebaut, dunkelbraune Augen und fast schwarzes, welliges Haar. Er trug heute verwaschene Jeans und ein grünes Chambray-Hemd, dazu einen schwarzen Stetson, den er kurz antippte, als er sie anblickte. Sie schluckte sofort schwer. Verflixt noch mal.

Auch er schien mit der Situation etwas überfordert zu sein. „Annabel“, sagte er unbehaglich. „Ich wusste gar nicht, dass du wieder in der Stadt bist.“

Er betrachtete sie von unten nach oben, angefangen bei dem Teigklecks auf ihrem Turnschuh bis hin zu dem Rührlöffel, den sie immer noch so festhielt, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

Als sie es bemerkte, lockerte sie sofort ihren Griff. Ob er sich gerade auch so intensiv an ihre Nacht erinnerte – na ja, an ihre Stunde, besser gesagt – die sie auf dem Heuboden in der Scheune auf der Ranch seiner Familie verbracht hatten? Das war eher unwahrscheinlich. Denn so, wie er sich am nächsten Tag verhalten hatte, hatte er sie bestimmt schon zwei Minuten später wieder vergessen.

„Ich bin erst gestern angekommen“, erwiderte sie daraufhin.

Er wirkte zerstreut, so als ginge ihm gerade etwas im Kopf herum. Diesen Ausdruck kannte sie nur zu gut an ihm. Am liebsten hätte sie die Hand ausgestreckt und die Sorgenfalten auf seiner Stirn weggestreichelt … so wie damals. Aber das ging natürlich nicht. Mit einem tiefen Atemzug schien er sich für das bevorstehende Gespräch zu wappnen. Wie lange bleibst du denn? Wie geht es dir?

Small Talk war nicht gerade seine Stärke, das wusste sie.

Doch er blickte nur auf seine Armbanduhr und sagte: „Ist deine Großmutter zufällig hier? Ich will mich noch für ihren Kochkurs anmelden. Der fängt doch morgen an, oder?“

So viel zum Thema Small Talk. Oder vielleicht sogar zu einer Entschuldigung für sein unmögliches Verhalten damals.

Annabel wurde nun plötzlich bewusst, dass sie ihn immer noch wie eine Erscheinung anstarrte. Der Mann sah aber auch einfach zu gut aus. So gut, dass sie beinahe nicht mitgekommen hätte, was er gesagt hatte.

„Du willst dich für den Kochkurs anmelden?“, wiederholte sie ungläubig. West in einer Küche – das war wirklich nur schwer vorstellbar.

Ihre Großmutter hatte schon Kochkurse in ihrer großen Landhausküche angeboten, solange Annabel denken konnte. Die zusätzlichen Einnahmen hatte sie immer gut gebrauchen können, nachdem sie ihre drei verwaisten Enkelkinder aufgenommen hatte. Sobald Annabel alt genug gewesen war, hatte sie angefangen, Gram in der Küche zu helfen.

West schaute nun an ihr vorbei zur Arbeitsplatte, wo die Zutaten für Grams berühmte, in der Pfanne gebackenen Brötchen, und die hausgemachte Apfelbutter auf ihre Verarbeitung warteten.

„Ist denn noch ein Platz frei in dem Kurs?“, fragte er und wedelte mit dem Scheckbuch. „Ich zahle auch das Doppelte.“

Das Doppelte? Wie dringend war ihm denn sein Anliegen?

„Der Kurs fällt leider aus“, antwortete Annabel daraufhin. „Gram geht es nicht gut, und der Arzt hat ihr deshalb strengste Schonung verordnet.“

Bei dem Gedanken daran, wie Essie, ihre geliebte und mit fünfundsiebzig Jahren noch topfitte Großmutter, plötzlich in der Küche zusammengebrochen war, schloss Annabel kurz die Augen. Sie hätte für sie da sein müssen. Sie hätte niemals weggehen dürfen.

Stattdessen hatte sie in Dallas gesessen und versucht, so etwas wie ein eigenes Leben hinzukriegen – und das ganze sieben Jahre lang. Sie spürte, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht schoss, und wandte sich hastig ab.

West nahm nun den Hut ab und drückte ihn an seine Brust. „Deshalb bist du also zurückgekommen“, sagte er leise. „Das mit deiner Großmutter tut mir wirklich sehr leid. Vor ein paar Monaten bin ich ihr noch im Supermarkt begegnet, als ich eine Geburtstagstorte für meine Tochter kaufen wollte. Ich habe ihr von meinem eigenen misslungenen Versuch erzählt, und sie hat mich daraufhin überredet, die Torte wieder ins Regal zurückzustellen und bot mir dann an, einen Kuchen für meine Tochter zu backen. Dann wollte sie noch wissen, was meine Tochter besonders gern mag, und am nächsten Morgen kam sie mit einer Torte an, die aussah wie ein Baum – komplett mit grünen Blättern, Zweigen, Äpfeln und einem Mädchen, das gerade hinaufklettert. Lucy ist daraufhin fast ausgeflippt vor Freude. Sie spricht noch heute von ihrer Geburtstagstorte.“

Ja, das klang ganz nach Gram. Immer hilfsbereit und immer willens, noch mehr zu tun, als nötig war. Annabel ging nun zurück zu der Arbeitsplatte, um ihren Teig weiterzurühren.

„Warum willst du denn überhaupt einen Kochkurs machen?“, fragte sie neugierig.

West folgte ihr in die Küche und schloss die Tür hinter sich, wobei er aber ihrem Blick auswich.

„Ich muss endlich mal ein paar Grundlagen lernen. Omeletts, Brathähnchen, vielleicht Hühnersalat aus Resten für Sandwiches. So was in der Art. Und Kekse wie deine Großmutter sie macht.“

Damit war er ihrer Frage geschickt ausgewichen. „So was kann dir doch auch deine Frau beibringen“, erwiderte sie nicht sehr subtil.

Sofort sah sie Lorna Dunkin Montgomerys Gesicht vor sich. Von all den hübschen Mädchen in der Stadt hatte sich Annabels Traummann zielsicher das gemeinste ausgesucht. Die Anführerin der Gruppe, die Annabel immer „Freakabel“ genannt und sie wegen ihrer schlaksigen Figur, den krausen rotbraunen Haaren und den handgenähten Klamotten immer ausgelacht und gehänselt hatte.

Wie idiotisch von Annabel, sich heimlich in einen Jungen wie West zu verlieben, den Außenseiter in seiner schwarzen Lederjacke, der das Haar immer etwas zu lang trug. Genau zwei Mal hatte sie damals mit ihm gesprochen, und ihr war sofort klar gewesen, dass er genauso kompliziert und freundlich war, wie gut aussehend. Aber dass er auf Lorna hereinfiel und sie dann auch noch heiratete? Das hatte sie nie kapiert, und sie war ehrlich gesagt auch nie darüber hinweggekommen.

Ein paar Monate nach ihrer Sternstunde mit West in der Scheune hatte sie die beiden schließlich als Braut und Bräutigam aus der Kirche kommen sehen. Er musste Lorna wohl geschwängert haben, hatte sie damals gehässig gedacht, wenn er sie nach ein paar Monaten bereits heiratete.

Gram hatte ihr Taschentücher und selbst gemachtes Karamell-Schoko-Eis gebracht, und am Ende ihres Gesprächs hatte Essie Hurley ihre Enkelin davon überzeugt, das Stipendium anzunehmen, das ihr das Kulinarische Institut in Dallas angeboten hatte, anstatt in Blue Gulch zu bleiben und Gram mit dem Restaurant zu helfen.

„Vielleicht kommst du danach ja wieder nach Blue Gulch zurück, vielleicht aber auch nicht“, hatte Gram gesagt. „Aber du musst zuerst deinem Herzen folgen.“

Es stimmte, das Kulinarische Institut war schon immer Annabels Traum gewesen. Sie hatte tatsächlich vorgehabt, nach dem Abschluss nach Blue Gulch zurückzukommen, im Hurley’s zu kochen, und vielleicht der Speisekarte hier und da ein paar raffinierte Ergänzungen hinzuzufügen, um das Restaurant für die Gäste des schicken Steakhauses interessant zu machen, das ein paar Häuser weiter eröffnet hatte.

Aber dann hatte sie bei einem ihrer wenigen Besuche zu Hause die schwangere Lorna gesehen. Und später West mit seinem kleinen Mädchen im Kinderwagen. Und sie hatte es einfach nicht fertiggebracht, dem Mann, den sie liebte, ständig über den Weg zu laufen und dabei Zeugin seines Glücks zu werden. Also war sie lieber in Dallas geblieben, wo sie aber ganz offensichtlich einfach nicht hingehörte.

„Lorna ist vor über einem Jahr bei einem Autounfall gestorben“, sagte West.

Jetzt schämte sie sich für ihre gehässigen Gedanken. „Das tut mir sehr leid“, erwiderte sie. „Für dich und für deine Tochter.“

Erneut hob West sein Scheckbuch. „Ich habe den Scheck sogar schon ausgestellt. Wahrscheinlich hast du nicht viel Zeit, wenn du dich um das Restaurant und deine Großmutter kümmern musst, aber meinst du, du könntest mir vielleicht trotzdem ein oder zwei Privatstunden geben?“

Warum um alles in der Welt war es so wichtig für ihn, Omeletts machen zu können?

Nun ja, helfen könnte sie ihm schon, und das Geld konnte sie in der Tat auch gut gebrauchen. Ein kurzer Blick auf die Bücher gestern hatte ihr nämlich gezeigt, dass Hurley’s Homestyle Kitchen im letzten halben Jahr nur noch rote Zahlen geschrieben hatte – wahrscheinlich, weil sich Gram schon länger nicht mehr gut gefühlt hatte. Essie hatte niemandem etwas gesagt, nicht einmal Clementine, Annabels jüngerer Schwester, die als Kellnerin im Restaurant arbeitete.

Mit den dreihundert Dollar für den sechswöchigen Kurs konnten sie die Vorratskammer neu bestücken – zumindest ein paar Tage lang.

„Hattie, unsere zweite Köchin, könnte dir ein paar Dinge zeigen“, schlug Annabel vor.

So dringend sie das Geld auch brauchte, der Gedanke daran, wochenlang mit ihm in der Küche allein zu sein und dabei ständig an ihre gemeinsame Nacht denken zu müssen, in der sie fast mit ihm geschlafen hätte … nur, um am nächsten Tag festzustellen, dass er mit Lorna Dunkin rummachte … nein, das ging überhaupt nicht.

Sie hatte die beiden auf dem flachen Felsen am Stadtrand erwischt, wo sie jeden Nachmittag Kräuter sammelte und auch West zum ersten Mal begegnet war.

Verdammt, warum tat das Ganze immer noch so weh?

„Bitte, Annabel. Es ist wirklich unglaublich wichtig für mich.“

„Was kann denn so wichtig daran sein, Kekse backen zu können?“, gab sie schnippisch zurück, aber dann biss sie sich sofort auf die Lippe.

Das alles war jetzt sieben Jahre her, und sie war keine achtzehn mehr. Er ist mittlerweile Witwer, Herrgott noch mal. Alleinerziehender Vater. Aus welchem Grund auch immer hat er sich nun einmal in den Kopf gesetzt, backen zu lernen.

Stirnrunzelnd blickte er sie an. „Bringst du es mir jetzt bei oder nicht?“ Er setzte den Hut wieder auf. „Du kannst die Stunden ja auch zusammenfassen, wenn du willst, alle paar Tage eine Stunde für ein oder zwei Wochen – entweder frühmorgens oder nach Restaurantschluss – ganz wie es dir besser passt.“

Er zog einen Stift aus seiner Hemdtasche, füllte einen zweiten Scheck aus und legte ihn auf die Arbeitsplatte. „Das sind tausend Dollar. Bitte, Annabel.“

Tausend Dollar? Du lieber Himmel. So ein Angebot konnte sie doch unmöglich ausschlagen. Du wirst es schon überstehen, sagte sie sich. Du wirst ihm einfach zeigen, wie man Hähnchen grillt und Kartoffeln schält, und fertig. Das ist doch keine große Sache.

Sie warf ihm einen Blick zu und rührte dann den Teig weiter, der mittlerweile schon viel zu zäh geworden war. Den konnte sie jetzt wohl wegwerfen.

„Montags haben wir immer geschlossen, also können wir meinetwegen gleich morgen anfangen. Um sechs Uhr. Bring eine Schürze mit, wenn du eine hast.“

Er schien erleichtert aufzuatmen und schob den Scheck näher zu ihr. „Du wirst es nicht glauben, aber ich habe tatsächlich eine. Meine Tochter hat sie für mich gemacht, letztes Jahr im Feriencamp. Mit bunten Handabdrücken darauf.“

Das kleine Mädchen, das seine Mutter verloren hatte, tat ihr auf einmal unglaublich leid, denn sie wusste nur zu gut, wie das war.

„Normalweise würde ich das Geld nicht annehmen“, erklärte sie und steckte den Scheck in ihre Jeanstasche, „aber Gram hat niemandem gesagt, dass es ihr schlecht geht, und in der Zwischenzeit ist es hier offenbar nicht so gut gelaufen. Wir können das Geld deshalb gerade sehr gut gebrauchen.“

Er nickte und wandte sich zum Gehen.

„Es macht dir doch nichts aus, dass Gram dir nicht den Unterricht gibt?“, fragte sie, als er schon die Hand auf die Klinke gelegt hatte. Idiotisch. Warum sagte sie nicht einfach, was sie wirklich dachte: Hast du in all den Jahren auch nur einmal an mich gedacht? Warum hast du damals, in dieser Nacht, die Sache einfach abgebrochen?

Aber sie wusste ja warum – das dachte sie zumindest. Weil ihm klar geworden war, dass er im Begriff gewesen war, mit der Außenseiterin der Schule etwas anzufangen … mit der von allen verspotteten Freakabel. Sie war damals einfach nur zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen. Er war vor Kummer über den Tod seines Bruders außer sich gewesen, und sie hatte ihn getröstet.

Aber dann hatte er die Augen aufgemacht und gemerkt, dass er gerade mit einer mageren Vogelscheuche mit krausen Haaren knutschte, die er vorher keines Blickes gewürdigt hatte. Also hatte er sie heimgeschickt und am nächsten Tag Lorna Dunkin auserwählt, die mit ihren blond gefärbten Haaren, Körbchengröße D und den hochhackigen Schuhen einfach mehr hermachte als sie. Wahrscheinlich erinnerte sich West nicht einmal mehr an den Zwischenfall in der Scheune.

Er drehte sich noch einmal zu ihr um und blickte sie dabei so eindringlich an, dass sie hastig den Kopf senkte. „Ich denke immer noch an das Chili con Carne, das du mir gemacht hast, als ich erfahren habe, dass mein Bruder gestorben ist. Ich habe nie vergessen, wie gut es war – so gut, dass ich sogar für einen Moment meinen Kummer vergessen habe. Da warst du gerade mal achtzehn Jahre alt, oder?“

Also erinnerte er sich doch daran. Sofort hatte sie wieder das Bild vor Augen, wie er auf diesem Felsen saß, die Arme um die Knie geschlungen, und wie seine Schultern gezittert hatten. West Montgomery, der um seinen älteren Bruder weinte, der in Afghanistan gefallen war.

Er steckte die Hände in die Hosentaschen. „Na, dann.“

„Na, dann“, gab sie zurück, doch der Erinnerungsfilm lief trotzdem unaufhaltsam weiter vor ihrem inneren Auge ab.

Sie hatte ihm das Chili in die Scheune gebracht, in der er sich versteckt hatte, als ihm die Kondolenzbesucher im Haupthaus zu viel geworden waren. Sie hatten sich eine Weile unterhalten, und als sie aufstand und gehen wollte, hatte er sie aufgehalten. Er hatte sich bei ihr bedanken wollen, aber offenbar nicht die richtigen Worte gefunden. Er wollte Trost, konnte aber nicht darum bitten, also hatte er sie einfach in die Arme genommen und eine kleine Ewigkeit lang festgehalten. Anschließend hatte er sie geküsst, und ihr waren vor Überraschung und wegen der unglaublichen Gefühle, die sie plötzlich durchströmt hatten, tatsächlich die Beine weggeknickt. West hatte sie daraufhin aufgefangen und auf die Decke im Stroh gelegt.

Sie schüttelte leicht den Kopf, um die Bilder zu verdrängen, und dachte dabei an seine Worte von gerade eben – dass ihr Chili ihn von seinem Kummer abgelenkt hatte. Wollte er deshalb kochen lernen? Um über den Verlust seiner Frau hinwegzukommen? Aber traurig wirkte er eigentlich gar nicht, eher besorgt.

Unvermittelt zog er eine Hand aus der Tasche, riss ein Blatt von der Küchenrolle auf der Arbeitsplatte und wischte ihr damit vorsichtig die Wange ab.

„Teig“, erklärte er, zerknüllte das Tuch und ließ es in den Abfalleimer fallen. „Dann bis morgen um sechs.“

Sprachlos beobachtete Annabel durch das Küchenfenster, wie er zu seinem am Straßenrand geparkten silbernen Pick-up ging und einstieg.

Auf was in alles in der Welt hatte sie sich da gerade eingelassen?

Es war Montag, halb sechs, und West konnte es sich einfach nicht erklären, wieso zum Teufel die frittierten Hähnchenteile, die er für seine Tochter gemacht hatte, so komisch schmeckten. Was hatte er denn nur falsch gemacht? Erst die Teile in geschlagenem Ei wälzen, dann in Mehl, und danach in einer Pfanne mit Öl frittieren. Was war denn daran schon so kompliziert? Und warum schmeckte es nicht so wie das Hühnchen, das er letzte Woche im Hurley’s gegessen hatte?

Das hier hatte nicht einmal geschmackliche Ähnlichkeit mit den Chicken Nuggets, die Lorna immer gemacht hatte, und die waren sogar tiefgefroren aus der Tüte gewesen. Aber Tiefkühlkost, Fast Food und Hotdogs hatte es bei ihm schon viel zu oft gegeben. Bis jetzt zumindest.

Der Beweis dafür, dass er vorher wohl besser erst kochen lernen sollte, lag allerdings gerade vor ihm auf dem Teller, und saß ihm außerdem gegenüber. Seine sechsjährige Tochter Lucy hatte bisher nur ein paar Bissen gegessen. Wie immer zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen, wenn er sie so sah – wie süß sie war und wie sehr er sie liebte! Ihre dunklen Locken wippten jedes Mal auf und ab, wenn sie mit der Gabel nach einer der grünen Bohnen stocherte, die sie dann aber doch nicht aß.

Der Kinderarzt sagte, das wäre ganz normal für ihr Alter. Aber von der gebackenen Kartoffel hatte sie auch nur einmal gekostet. Nun ja, sie war viel zu hart, obwohl er das Online-Rezept sorgfältig befolgt und danach sogar extra viel Butter darauf gegeben hatte.

Vom Hähnchen hatte Lucy bisher zwei Bissen gegessen und dann ein Stück unter den Tisch geschmuggelt, wo Daisy, ihr immer hungriger Beagle, schon darauf wartete.

Aber wer wollte es ihr verdenken? Ihm schmeckte dieses zähe, fade Essen schließlich auch nicht.

„Erdnussbuttersandwich?“, fragte er grinsend.

Lucy nickte enthusiastisch.

Er stand auf, hob Lucy vom Stuhl und drückte sie fest an sich. Wenn sie ihre Ärmchen um seinen Hals schlang, war das für ihn das beste Gefühl auf der Welt.

„Sei schön brav, wenn gleich Miss Letty kommt“, sagte er, während er kurz darauf halbwegs beruhigt dabei zusah, wie sie zumindest ihr – sicherlich furchtbar ungesundes – Sandwich verschlang. „Sie passt auf dich auf, während ich beim Kochkurs bin.“

Sofort musste er an die Frau denken, die seine Lehrerin sein würde: Annabel Hurley. Sie hatte noch immer diese helle Haut und die langen, seidigen rotbraunen Haare. Groß war sie immer schon gewesen, aber jetzt hatte sie außerdem an genau den richtigen Stellen sehr wohlproportionierte Kurven.

Er erinnerte sich noch daran, wie er sich eine Strähne dieses Haares um die Hand gewickelt hatte, an den Duft von Kakaobutter und wie sich ihre zarte Haut angefühlt hatte. Wie sie auf dem Heuboden scheu den Pullover ausgezogen hatte, unter dem sie einen weißen Spitzen-BH getragen hatte. Sein Verlangen hatte ihn damals fast umgebracht.

Wenn er doch nur die Zeit um sieben Jahre zurückdrehen könnte … dann würde er in dieser Nacht alles anders machen und es gar nicht erst so weit kommen lassen, sosehr er sich auch damals gewünscht hatte, es wäre noch viel, viel mehr passiert.

Aber wenn er alles anders gemacht hätte, würde es jetzt auch Lucy nicht geben, und das wollte er sich wiederum nicht einmal vorstellen.

„Lernst du dort auch, wie man Eis macht?“, fragte Lucy neugierig.

Ihre andere Lieblingsbeschäftigung neben dem Klettern auf Bäume war es nämlich, Eis mit warmer Karamellsauce zu essen.

„Na klar doch!“, sagte er, obwohl ihm schon bei dem Gedanken an Eis fröstelte.

Am Samstag war Raina Dunkin, Lucys Großmutter mütterlicherseits, unangemeldet bei ihnen hereingeplatzt und hatte anstatt einer Begrüßung Lucy die Eisschüssel aus der Hand gerissen.

„Kein Kind sollte morgens um elf Uhr Eis essen!“, hatte sie mit ihrer schrillen Stimme geschimpft und war sofort zur Spüle gestöckelt, um das Corpus Delicti zu vernichten.

Obwohl heiße Wut in ihm aufgestiegen war, hatte West Lucy ruhig gebeten, in ihrem Zimmer zu spielen, während er mit ihrer Nana redete. Sobald Lucy draußen war, hatte sich Raina vor ihm aufgebaut und mit ihrem rot lackierten Fingernagel wild in der Luft herumgefuchtelt.

„Entweder, du fängst jetzt bald mal an, dich ordentlich um Lucy zu kümmern, oder mir bleibt keine andere Wahl, als das Sorgerecht zu beantragen! Du hattest ja jetzt wohl genug Zeit, dich an die Situation zu gewöhnen. Aber nein, Hotdogs und Süßigkeiten, das ist alles, was das Kind bei dir zu essen bekommt! Und jetzt auch noch Eis vor dem Mittagessen, das wahrscheinlich wieder einmal in einem Fast-Food-Restaurant stattfindet, oder? Und schau dir mal ihre Haare an! Lieber Himmel, West, kämm dem Mädchen endlich mal die Haare und mach ihr einen Pferdeschwanz! Und warum ist diese zerrissene grüne Hose immer noch nicht in der Kleidersammlung?“

West wusste nicht mehr, wie er es geschafft hatte, ruhig zu bleiben. „Erstens ist Samstag“, hatte er protestiert, „da kann sie anziehen, was sie will, und zweitens tue ich ja schon mein Bestes …“

Doch er hörte selbst, wie lahm das alles klang. Neben dem Ärger stieg nun auch noch Scham in ihm auf.

„Aber dein Bestes reicht leider nicht aus, ist es nicht so?“, erwiderte Raina bissig. „Wenn du besser auf sie aufpassen würdest, dann hätte sie auch nicht so viele Kratzer und blaue Flecken wie ein Straßenjunge.“

West liebte es, seinem kleinen Wildfang beim Spielen zuzusehen … wie sie mit Daisy über den Hof rannte … die Rutsche hinunterflitzte, oder auf den Apfelbaum kletterte. Manchmal bekam er es sogar selbst mit der Angst zu tun, weil sie es bis zur Krone hinaufschaffte. Ja, manchmal holte sie sich dabei auch einen Kratzer oder einen blauen Fleck, aber sie war rundherum glücklich und fühlte sich geliebt.

Mit der Liebe hatte West nämlich keine Schwierigkeiten – es waren eher die praktischen Dinge, die ihn im Alltag vor Probleme stellten. Kochen zum Beispiel oder Haare kämmen. Meist überließ er ihre schulterlangen Ringellocken sich selbst, und Miss Letty brachte es später in Ordnung, wenn sie auf Lucy aufpasste. Sie war einfach wunderbar, und Lucy liebte sie heiß und innig, aber kochen konnte sie leider auch nicht.

„Mein Fehlschlag von Tochter hat sogar Wasser anbrennen lassen“, fügte Raina nun hinzu, „aber wenigstens hat sie dafür gesorgt, dass man sich mit Lucy in der Öffentlichkeit blicken lassen konnte. Krieg das in den Griff oder wir sehen uns vor Gericht.“

Mit diesen Worten wandte sie sich wieder zur Tür.

„Wag es ja nie wieder, Lorna als Fehlschlag zu bezeichnen“, presste West hinter zusammengebissenen Zähnen hervor.

Ihre Ehe war zwar nicht allzu gut verlaufen, und Lorna hatte ihm einen Tag vor dem Unfall sogar gesagt, dass sie ihn verlassen würde, aber es war ihm trotzdem wichtig, dass ihre Tochter Lorna in guter Erinnerung behielt, und er würde es nicht zulassen, dass die berüchtigte Giftspritze Raina sie herabsetzte.

Raina hatte nur missbilligend geschnaubt und dann die Tür hinter sich zugeworfen. Um seine Wut zu verarbeiten, hatte West Lucy schließlich bei Miss Letty abgegeben und war die Zäune seiner riesigen Ranch abgeritten, um sich beim Hämmern abreagieren zu können.

Lornas reiche, einflussreiche Eltern hatten ihn nie gemocht. Nicht nur, dass seine Familie in Blue Gulch nicht zu den besseren Kreisen zählte, er war auch noch das schwarze Schaf. Mit dem Tod seines Bruders hatten seine Eltern ihren Lieblingssohn verloren und waren stattdessen auf ihm, dem Rebellen, sitzen geblieben. West konnte sich nur allzu lebhaft vorstellen, wie sein Vater sich gewünscht hatte, West wäre statt seines Bruders gestorben, und seine Mutter hätte daraufhin geantwortet: „Als ob West für sein Land kämpfen würde …“

Sie hatten das zwar nie laut gesagt, aber West hatte es trotzdem überdeutlich gespürt. Aber bevor er ihnen zeigen konnte, was wirklich in ihm steckte, hatten sie Blue Gulch verlassen, um in Austin ganz neu anzufangen. Zweifellos auch, um dem Klatsch über West und seine schwangere Freundin zu entkommen. Ein paar Monate später waren sie dann bei einem Hausbrand ums Leben gekommen.

Lorna und die Dunkins hatten mit seiner Trauer nicht viel anfangen können. An der Antipathie von Lornas Eltern ihm gegenüber hatte sich bis heute nichts geändert. Auf keinen Fall durfte er zulassen, dass diese grässlichen Menschen Lucy jemals in die Finger bekamen. Natürlich hatte er versucht, nach Lornas Tod eine Haushälterin einzustellen, aber die erste hatte Lucy ständig ausgeschimpft und Mahlzeiten gekocht, die eher in ein Fünfsternerestaurant gepasst hätte und die weder Lucy noch ihm geschmeckt hatten. Die nächste hatte irgendwann vergessen, dass Lucy kein Soja vertrug, und sie damit in die Notaufnahme gebracht.

Danach hatte er es aufgegeben und lieber selbst gekocht.

Aber nun würde er endlich lernen, wie es richtig ging.

Dass Annabel Hurley seine Lehrerin sein würde, machte die Sache eigentlich sogar noch besser. Denn jeder in der Stadt – die Dunkins eingeschlossen – mochte Gram Hurley. Wenn er also bei Annabel kochen lernte, würde Raina bestimmt endlich Ruhe geben. Und wenn nicht – nun, er hatte die kleine Ranch seiner Eltern mittlerweile in ein florierendes Unternehmen verwandelt und konnte sich daher einen guten Anwalt leisten.

Er musste nur aufpassen, dass er sich nicht in Annabel verguckte – nicht noch einmal. Mit Beziehungen war er nämlich durch, und zwar ein für alle Mal. Außerdem stand zu viel zwischen ihnen, was er lieber ganz schnell vergessen wollte. So, wie er sie damals behandelt hatte, hätte es ihn nicht überrascht, wenn sie ihm eine Bratpfanne über den Schädel gezogen hätte, anstatt einzuwilligen, ihm Kochunterricht zu geben.

Draußen hörte er nun Miss Lettys Wagen, deshalb ging er mit Lucy zur Tür. Freudig stürzte sich seine Tochter auf die ältere Nachbarin. „Ich habe ein neues Spiel, willst du es sehen?“

Miss Letty lächelte und ließ sich von Lucy ins Haus ziehen. West umarmte und küsste Lucy zum Abschied und ging dann zu seinem Wagen. Es wurde Zeit zu lernen, welche Fehler man beim Kochen besser vermied.

2. KAPITEL

Annabel band sich gerade ihre gelbe Lieblingsschürze um und blickte zur Uhr. In zehn Minuten würde West kommen. Noch einmal ging sie die Liste durch, die sie gemacht hatte. Heute würde sie sich ganz auf das Frühstück konzentrieren, auch wenn eigentlich schon Abendessenzeit war.

Sie wollte gerade die nötigen Zutaten aus dem Kühlraum holen, als ihr einfiel, dass sie bei West vielleicht besser ganz von vorn anfing. Welche Zutaten musste er einkaufen und wie lagerte er diese sachgerecht? Für tausend Dollar konnte er das schon erwarten.

Pünktlich um sechs Uhr klopfte es an der Hintertür. Annabel atmete tief durch und ließ ihn herein.

„Ich habe sogar meine Schürze dabei“, sagte er anstatt einer Begrüßung und streckte sie ihr hin.

Lächelnd hielt sie ihm die Tür auf und versuchte, ihn dabei nicht zu sehr anzustarren. Er trug ein dunkelblaues T-Shirt, in dem seine breiten Schultern äußerst vorteilhaft zur Geltung kamen, und eine Jeans, die von einem braunen Gürtel mit einer Mustang-Schnalle gehalten wurde. Er hatte wirklich ordentlich Muskeln bekommen von der ganzen Rancharbeit. Damals, mit neunzehn Jahren, war er noch nicht so durchtrainiert gewesen.

„Komm doch rein“, sagte sie überflüssigerweise.

Er hängte seinen Hut an den Haken neben der Tür, und ging dann zu der großen Kücheninsel in der Mitte des Raumes.

Du musst jetzt was sagen, Annabel!

Sie räusperte sich. „Du hast gesagt, du willst die Grundlagen lernen, deshalb dachte ich, fangen wir heute mit dem Frühstück an – Rühreier, Omeletts, Arme Ritter, gebratenen Speck.“

„Lucy liebt Rührei und Arme Ritter, und ich liebe Speck. Klingt also sehr gut.“

„Lucy ist sechs Jahre alt?“, fragte Annabel.

Sechs Jahre. In all der Zeit, in all den Jahren, hatte West bestimmt keinen einzigen Gedanken an Annabel verschwendet. Sie hatte sich immer darüber aufgeregt, dass er sie für die Sexbombe Lorna wie eine heiße Kartoffel hatte fallen lassen, dabei war wohl eher die Vaterschaft der Grund dafür gewesen, dass er alles zwischen ihnen vergessen hatte.

Was war schon eine Stunde heißes Knutschen auf einem Heuboden gegen die Geburt eines Babys, das erste Lächeln, die ersten Schritte und dann den ersten Schultag?

Wie hatte sie nur so dumm sein können, sich sieben Jahre lang zu fragen, ob er noch an sie dachte! Natürlich hatte er das nicht getan.

Trotzdem hatte sie letzte Nacht stundenlang wach gelegen. Wie gut es sich angefühlt hatte, in seinen Armen zu liegen! Wie leidenschaftlich sein Kuss gewesen war! Sie konnte es einfach nicht vergessen. Gegen drei Uhr in der Früh hatte sie sich schließlich selbst das Versprechen gegeben, sich nicht von seinem hübschen Gesicht und seinem unglaublich verführerischen Körper dazu verleiten zu lassen, sich noch einmal in ihn zu verlieben, und sich schon gar nicht von seinen Problemen vereinnahmen zu lassen. Er hatte schon vor sieben Jahren Probleme gehabt. Sie war ihm damals zu Hilfe geeilt, hatte sich das Herz brechen lassen und sich dann plötzlich auf einem Lebensweg wiedergefunden, den sie eigentlich gar nicht bewusst eingeschlagen hatte. Sie hatte ihr Zuhause, ihre Großmutter und ihre jüngere Schwester Clementine verlassen, nur um in Dallas stumpfsinnig vor sich hin zu leben und so zu tun als ob.

Heute hatte er wieder Probleme, und erneut würde sie es sein, die ihm half. Aber dieses Mal würde sie ihm nur so weit entgegenkommen, wie es unbedingt nötig war. Sie würde nicht zulassen, dass er ihr wieder unter die Haut ging.

West nickte und streifte sich die Schürze über. „Ja, kaum zu glauben, aber sie ist jetzt schon sechs. Sie geht schon in die erste Klasse und ist ein richtiges kleines Mathe-Genie.“

„Oh, da hat sie mir was voraus“, erwiderte Annabel lächelnd. „Aber immerhin komme ich mit der Umrechnung von Gramm in Milliliter und solchen Sachen klar.“

Nervös blickte sie zur Uhr. Eine Minute nach sechs. Für tausend Dollar erwartete er bestimmt Ergebnisse und keinen Small Talk. „Ich dachte, dass wir am besten bei den richtigen Zutaten anfangen. Rührei zuerst.“

Sie ging zur Arbeitsplatte und reichte ihm einen Ordner. „Ich habe dir schon einmal ein Rezeptbuch zusammengestellt. Finde das Rezept für die Rühreier mit Speck und sag mir dann, was wir dafür brauchen.“

Er schlug den Ordner auf, ging die Blätter durch und nahm dann eines heraus. „Hier. Eier, Milch, Butter und Speck.“

Annabel erklärte ihm jetzt zuerst einmal die Grundlagen. Nachdem sie ihm noch die verschiedenen Formen von Pfannen gezeigt hatte, ließ sie ihn einen einzelnen Streifen Speck braten.

„Während dieser knusprig wird, kümmern wir uns um die Eier.“

Sie zeigte ihm, wie man die Eier aufschlug, sie verquirlte und würzte, etwas Milch hinzufügte und schließlich den ganzen Mix in die Pfanne gab.

Der Duft von gebratenem Speck ließ ihr sofort das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sie hatte heute noch nicht viel gegessen. Als das Rührei fertig war, hätte sie ein kleines Pferd verschlingen können. Sie ließ ihn die Eier nun vom Herd nehmen, den Speck auf Papiertüchern abtropfen, und dann das Essen auf zwei Tellern verteilen.

„Je nachdem, wie hungrig man ist, kann man auch noch Toast oder Brötchen dazu servieren“, sagte sie und setzte sich ihm gegenüber an den Frühstückstresen. „Guten Appetit.“

Er blickte zweifelnd auf seinen Teller, dann führte er vorsichtig die Gabel zum Mund.

„Das habe ich gemacht? Das ist echt ziemlich gut.“ Es klang geradezu erleichtert.

Gern hätte sie ihn gefragt, warum er tausend Dollar dafür zahlte, um ein paar Küchengrundlagen zu lernen, aber als sie ihn verstohlen betrachtete, bemerkte sie den harten Zug um seinen Mund und seinen verschlossenen Blick. Er wollte offensichtlich keine Fragen gestellt bekommen und er wollte auch nicht reden. Er wollte nur kochen lernen, und dafür zahlte er gutes Geld.

Na schön.

Sie probierte die Eier auf ihrem Teller und nahm dann ein Stück Speck. „Das ist besser als gut, das ist wirklich köstlich.“

Unter dem Frühstückstresen waren sich ihre Knie verflixt nah und hatten sich schon ein paar Mal aus Versehen berührt. Annabel hielt das Ganze nicht mehr länger aus.

„Wie wäre es denn mit Kaffee?“

„Gute Idee. Wir hatten wohl beide ziemlich Hunger, was?“ Er betrachtete die zwei leeren Teller. „Du hast bestimmt ziemlich viel um die Ohren mit dem Restaurant und der Sorge um deine Großmutter. Danke, dass du das hier trotzdem machst.“

„Na ja, wir brauchen das Geld wirklich dringend“, erklärte sie, ohne weiter auf seinen fragenden Blick einzugehen.

Er braucht nicht genau zu wissen, wie schlecht es um das Hurley’s wirklich steht. Mach einfach mit den Armen Rittern weiter.

Eine halbe Stunde später saßen sie erneut am Frühstückstresen, tranken den zweiten Kaffee und probierten die Armen Ritter, die sie gemeinsam gemacht hatten.

„Köstlich“, sagte er. „Ich wünschte, ich wäre nicht schon von den Rühreiern so satt.“

Sie lachte. „Das geht mir genauso. Aber du musst auf jeden Fall noch ein Stück mit Zimt und Puderzucker probieren.“

„Lucy wird begeistert sein“, sagte er und tauchte einen Bissen in den Ahornsirup, den sie ihm ans Herz gelegt hatte.

Als Nächstes kam ein Gemüse- Omelett an die Reihe. West schnitt und würfelte die Zutaten ganz alleine – Pilze, rote und grüne Paprika und Zwiebeln.

„Die Pilze müssen dünner sein“, sagte sie mit einem Seitenblick und schob seine Hand mit dem Messer ein wenig nach links. „Denn dann werden sie schneller gar.“

Beiläufig zog er seine Hand unter ihrer weg. „Verstanden.“

Annabel, du Idiotin, schalt sie sich selbst. Jetzt dachte er womöglich, sie wolle mit ihm flirten. Wie peinlich! In den sieben Jahren in Dallas hatte sie vielleicht ein paar Kurven bekommen und gelernt, mit leichtem Make-up und einem Föhn umzugehen, aber sie trug immer noch am liebsten Jeans und T-Shirts und das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden.

Sie hatte West schon damals nicht den Kopf verdreht, und nach einer Ehe mit einem halben Model, das morgens um zehn für den Gang zum Supermarkt Push-up-BHs und Stilettos trug, war er heute bestimmt erst recht nicht an ihr interessiert. Besonders jetzt, wo sie nach Bratfett und Zimt roch. Wirklich sexy.

Hastig wechselte sie auf die andere Seite der Kücheninsel. „Du kannst jetzt die Pilze mit den Zwiebeln in der Pfanne anbraten“, sagte sie und zeigte ihm, wie das ging. „Danach gibst du die Paprika hinzu.“

Er nickte und blickte sehnsüchtig aus dem Fenster, als wäre er überall lieber als hier. Verunsichert dachte Annabel darüber nach, ob sie ihm einen kleinen Vortrag darüber halten sollte, wie man die verschiedenen Gemüsearten fachgerecht lagerte, aber man sah West deutlich an, dass irgendetwas nicht stimmte.

War sie ihm etwa zu nahegetreten, weil sie flüchtig seine Hand berührt hatte? Vielleicht sollte sie ihn mal daran erinnern, wo er seine Hände überall gehabt hatte, bevor er sie am nächsten Tag vollkommen links liegen gelassen hatte, ohne ihr jemals zu erklären, warum.

„Gestern waren die Dunkins zum Essen hier“, sagte sie, um das Thema zu wechseln – zumindest das Thema, das sie innerlich so beschäftigte.

Er rührte schweigend in der Pfanne herum und sagte dazu nichts. Interessant.

Raina und Landon Dunkin hatten Clementine sogar ein ziemlich großzügiges Trinkgeld gegeben. Als Annabel neugierig durch das kleine runde Fenster in der Küchentür gespäht hatte, waren die beiden gerade bei ihren Cappuccinos in ein offenbar intensives Gespräch vertieft gewesen.

„Das Schild draußen könnte mal wieder frische Farbe vertragen“, sagte West unvermittelt und machte eine Kopfbewegung zum Aushängeschild des Restaurants, das zwischen zwei höheren Pfosten des weißen Lattenzauns hing. Das war wohl seine Art, das Thema zu wechseln. „Am Weg müsste auch etwas gemacht werden“, fuhr er fort. „Ein paar Steine sind locker. Wenn da jemand drüber stolpert, kann derjenige euch sofort verklagen.“

Panik stieg in ihr auf, und sie schloss die Augen. Für so etwas hatte sie nun wirklich kein Geld. Das Geschäftskonto war so gut wie leer. Alle in der Stadt wussten, dass Gram kürzertrat, und ohne sie war das Hurley’s einfach nicht dasselbe. Clementine hatte vorgeschlagen, eine Spendenaktion ins Leben zu rufen, schließlich war das Restaurant eine richtige Institution in der Stadt, doch Gram hatte es sofort rundheraus abgelehnt, um irgendetwas zu „betteln“.

„Du kochst doch genauso gut wie ich, wahrscheinlich sogar besser“, hatte sie zu Annabel gesagt. „Du machst aus jedem Gericht etwas Besonderes. Gib den Leuten einfach nur etwas Zeit, das zu merken, dann kommen sie auch wieder hierher.“

Besser, sie beeilten sich, bevor das Hurley’s ganz schließen musste.

„Ich kümmere mich darum“, sagte sie zu West. „Du musst die Pfanne mit dem Gemüse jetzt vom Herd nehmen“, schob sie hinterher. „Im Keller ist noch Farbe, dann kann ich das Schild auffrischen. Und auf Youtube gibt es bestimmt ein Video darüber, was man mit den Steinen anstellen muss.“

West trank einen Schluck Kaffee und schüttelte leicht den Kopf. „Ich brauche dafür nur zehn Minuten. Ich mache das für dich!“

Sie erklärte ihm jetzt die nächsten Omelett-Schritte und dachte über sein Angebot nach. Normalerweise hätte sie seine Hilfe sofort abgewiesen, aber das konnte sie sich im Moment einfach nicht leisten.

„Das ist sehr nett von dir. Danke.“

„Ist ja wohl das Mindeste“, murmelte er und ließ das fertige Omelett überraschend fachmännisch aus der Pfanne auf einen Teller gleiten. Dann schnitt er es durch und legte die zweite Hälfte auf ihren Teller. „Du weißt ja gar nicht, wie sehr du mir mit alledem hilfst.“

Stimmt. Vielleicht verrätst du es mir ja irgendwann mal? wollte sie am liebsten erwidern, aber sie hielt lieber den Mund.

Wieder setzten sie sich an den Frühstückstresen, und er kostete von seinem Werk. „Das ist tatsächlich lecker!“, sagte er erfreut. „Ich hoffe, ich kriege das auch hin, wenn du nicht neben mir stehst. Du bist eine wirklich gute Lehrerin, Annabel.“

Er trank seinen Kaffee aus und stand dann auf. „Können wir morgen Abend nach Restaurantschluss mit dem Unterricht für das Mittagessen weitermachen? Könntest du dann aber vielleicht zur Ranch kommen? Es wäre toll für mich, dass alles in meiner eigenen Küche lernen zu können. Lucy übernachtet morgen bei ihren Großeltern. Aber wenn dir das zu spät ist, kann ich auch gerne morgens kommen.“

Allein mit ihm in seinem Haus. Nachts.

Sie räusperte sich. „Nein, das geht schon. Ich bin dann so gegen halb zehn da. Wir schließen um neun, aber ich muss danach noch aufräumen.“

Er nickte, nahm seinen Hut vom Haken und verabschiedete sich.

Annabel konnte an nichts anderes mehr denken, als daran, wie es sich wohl anfühlen würde, auf der Montgomery- Ranch zu sein … zum zweiten Mal in ihrem Leben.

Den Dienstagnachmittag hätte West am liebsten aus dem Kalender gestrichen. Eben noch hatte Lucy auf dem unteren, stabilen Ast des Apfelbaums gesessen und ihm dabei zugesehen, wie er das Dach für das Puppenhaus baute, das er ihr versprochen hatte, und im nächsten Moment hatte er sie plötzlich rufen hören „Guck mal, wie weit oben ich bin!“, bevor sie mit einem spitzen Schrei aus dem Baum gefallen war.

Sofort war er mit ihr zu Doc McTuft gerast, der ihm versichert hatte, dass ihr bis auf einen tiefen Kratzer nichts fehlte. Doch als sie aus dem Untersuchungsraum gekommen waren, Lucy mit einem Verband, saß im Wartezimmer die verknöcherte Nachbarin der Dunkins. Bestimmt hatte diese sofort Raina angerufen, um sie wissen zu lassen, dass West seine Sorgfaltspflicht mal wieder verletzt hatte.

Aber Lucy fehlte nichts, und das war das Einzige, was für ihn zählte. Das nächste Mal würde er sie allerdings nicht eine Sekunde lang aus den Augen lassen, wenn sie im Baum herumkletterte.

„Daddy, gibt’s zum Abendessen Eis?“

„Wie wär’s mit deinem zweiten Lieblingsgericht und Eis zum Nachtisch?“

„Arme Ritter!“, jubelte Lucy.

Nach der gestrigen Kochstunde bei Annabel fühlte er sich gut gerüstet, sich an Lucys Lieblingsgericht zu versuchen, das sie sonst immer nur bekam, wenn sie auswärts frühstückten, und was sprach dagegen, es auch zum Abendbrot auf den Tisch zu bringen? Essen war schließlich Essen. Außerdem hatte Lucy sich nach dem Schrecken ja wohl eine kleine Belohnung verdient. Genau wie er.

Er hatte letzte Nacht stundenlang wach gelegen und über seinen Kochkurs nachgedacht. Annabel hatte zum Anbeißen ausgesehen mit ihren langen rotbraunen Haaren, die sie im Nacken gebunden als Pferdeschwanz getragen hatte. Ihr hochgewachsener, wohlproportionierter Körper hatte in den hochgekrempelten Hüftjeans und dem weißen Baumwollhemd verführerischer als manch andere Frau im aufwendigen Abendkleid gewirkt. Annabel war wie der Sommer … wie Sonne auf der Haut. Ihre Nähe, ihr Duft, die sanfte Wölbung ihrer Brüste, die sich unter dem Hemd abzeichnete – all das hatte ihn halb wahnsinnig gemacht. Er hatte sich sehr beherrschen müssen, sie nicht einfach an die nächste Wand zu drücken und zu küssen. Die ganze Zeit, während er Eier gequirlt und diese in der Pfanne verrührt hatte, hatte er an ihre Nacht auf dem Heuboden gedacht. Und dann hatte sie plötzlich ihre Hand auf seine gelegt.

Ihre beiläufige Berührung war wie ein elektrischer Schlag gewesen, der die Erinnerung mit voller Wucht zurückgebracht hatte. Daran, wie er eine süße Stunde lang in ihren Armen gedacht hatte, sein Leben könne doch noch gut werden. Aber dann war ihm wieder eingefallen, in welch einer Abwärtsspirale er sich befand. Er, der die Highschool nur mit Ach und Krach abgeschlossen hatte und danach sein Geld mit Gelegenheitsjobs verdient hatte. Auf keinen Fall durfte er Annabel mit in dieses Leben hineinziehen, hatte er damals gedacht.

Während Lucy im Wohnzimmer mit ihrem Malbuch beschäftigt war, blätterte West in dem Ordner, den Annabel ihm mitgegeben hatte, und suchte das Rezept für die Armen Ritter heraus.

So wie er es gelernt hatte, schlug er die Eier auf, zerließ die Butter, bereitete das Brot vor, indem er es in die verquirlten Eier tauchte und legte es anschließend in die Pfanne. Das war eigentlich gar nicht so schwer. Es duftete auch schon ziemlich lecker.

Er dachte plötzlich an all die Frauen, die nach Lornas Tod in den ersten paar Monaten mit Aufläufen vorbeigekommen waren und ihm angeboten hatten, für ihn zu kochen. Die meisten von ihnen hatten geflirtet oder sogar eine deutliche Einladung ausgesprochen. Ein paar davon hatte er tatsächlich angenommen – es war ein leichter Weg gewesen, um die Welt und seine Probleme für eine kurze Zeit vergessen zu können.

Ein paar Mal hatte er dabei allerdings auch Lucy vergessen – einmal hätte er seine Tochter früher von der Schule abholen sollen, um mit ihr zum Zahnarzt zu gehen, was ihm aber angesichts der vollbusigen Frau in seinem Bett komplett entfallen war. Ein anderes Mal hatte er sein Handy auf lautlos gestellt, um durch nichts von dem heißen Abend abgelenkt zu werden, der ihn erwartete, und hatte deshalb nicht mitbekommen, dass Lucy, die bei ihren Großeltern schlief, mehrfach versucht hatte, ihn anzurufen.

Die kalte Verachtung, die Raina ihm am nächsten Morgen entgegengebracht hatte, war schwer zu ertragen gewesen, aber noch schlimmer hatte ihn Lucys enttäuschter Blick getroffen. Sie hatte am Vorabend ihren ersten Zahn verloren und ihm davon erzählen wollen, aber er war nicht erreichbar gewesen.

Schluss damit, hatte er sich in diesem Moment geschworen. Schluss mit den Frauen, Schluss mit dem Alkohol, Schluss damit, vor seinen Aufgaben den Kopf in den Sand zu stecken. Er würde sich von jetzt an voll und ganz auf seine Tochter konzentrieren.

Schöne Frauen mit langen roten Haaren und warmen braunen Augen, die ihn in Versuchung brachten, ihnen das weiße Hemd vom Leib zu reißen, Frauen wie Annabel Hurley, sollten es also besser unterlassen, ihre Hand auf seine zu legen, egal, wie beiläufig es auch gewesen war.

„Daddy, ich glaube, Daisy hat meine Wachsmalkreide gefressen!“, rief Lucy erschrocken aus dem Wohnzimmer. „Sie macht ganz komische Geräusche!“

West eilte ins Wohnzimmer. Tatsächlich spuckte Daisy ein bisschen und versuchte mit der Pfote, etwas aus ihrem Maul zu holen.

„Geht es ihr gut?“, fragte Lucy besorgt.

„Lass mich erst mal schauen. Ich helfe ihr ja schon.“

Er kniete sich neben die Beagle-Hündin und öffnete ihr Maul. Tatsächlich klebte ein Stück der Wachsmalkreide flachgekaut an ihren Backenzähnen.

„Es gibt auch nichts, was dieser Beagle nicht frisst“, sagte er und pulte ihr die Masse mühsam aus den Zähnen. Die andere Hälfte spuckte Daisy von selbst aus – genau in dem Moment, als aus der Küche ein angebrannter Geruch ins Wohnzimmer zog.

Verdammt, die Armen Ritter!

Wie aufs Stichwort klingelte es genau jetzt an der Tür. West hastete in die Küche und sah sofort, dass er die Toastpackung zu nah am Gasherd hatte stehen lassen und sie gerade dabei war, Feuer zu fangen. Er drehte das Gas hastig ab und warf die schwelende Packung in die Spüle. Etwas außer Atem stützte er sich auf die Arbeitsplatte und wünschte sich, seine Kopfschmerzen würden endlich aufhören.

„Dad, es hat noch einmal geklingelt!“, rief Lucy, eine Sekunde, bevor der Rauchmelder mit einem schrillen Piepen anfing.

„Lucy, hier sind Nana und Pop-Pop“, hörte er Rainas schrille Stimme vor der Tür. „Mach uns doch bitte mal auf, Schätzchen.“

Verdammt. Einer von Rainas gefürchteten Kontrollbesuchen. Manchmal fragte er sich, ob diese Frau nichts anderes zu tun hatte, als darauf zu lauern, ihn beim Versagen zu ertappen. Vor allem da er Lucy nachher sowieso bei ihr hatte vorbeibringen wollen.

Er versuchte, den Rauch mit einer Zeitung vom Rauchmelder wegzuwedeln und eilte dann ins Wohnzimmer, wo Raina und Landon ihn bereits vorwurfsvoll anstarrten.

„Was stinkt denn hier so erbärmlich?“, fragte Raina und ging direkt in die Küche.

West hörte sie das Fenster öffnen, woraufhin der Rauchmelder endlich Frieden gab. Die angekokelte Brotpackung anklagend vor sich hertragend, kam Raina nun ins Wohnzimmer zurück.

„Ich hoffe, du hattest nicht vor, das angebrannte Brot auf dem Herd meiner Enkelin zum Abendbrot anzubieten. Angebranntes ist bekanntlich hochgradig ungesund! Genau wie dieser viele Rauch. Willst du etwa, dass sie eine Rauchvergiftung bekommt?“

„Es war ein Notfall. Daisy hat einen meiner Stifte gegessen“, erklärte Lucy und hielt ihr die zerkaute Wachsmalkreide hin.

„Lieber Himmel, nicht mal der Hund ist in diesem Haus sicher“, warf Landon kopfschüttelnd ein. „Ich bringe das mal lieber in den Müll, damit es nicht noch einen Notfall gibt.“

„Ich habe gehört, dass du heute mit Lucy beim Arzt warst“, warf Raina ein und betrachtete ihre Enkelin, die zerrissene Leggins und auf einer Wange einen Schmutzstreifen zu ihren zerzausten dunklen Locken trug.

„Ich bin vom Baum gefallen“, berichtete Lucy stolz und streckte Raina das verbundene Bein hin.

„Ja, das sehe ich“, erwiderte Raina und warf West einen tödlichen Blick zu. „Gehst du bitte kurz in deinem Zimmer spielen? Grandpa und ich müssen mit deinem Vater reden.“

Als Lucy gegangen war, senkte Raina die Stimme: „Du lässt mir keine andere Wahl, West. Du hattest ein Jahr, um die Dinge auf die Reihe zu kriegen. Aber du bist als alleinerziehender Vater ganz offensichtlich hoffnungslos überfordert. Landon und ich werden deshalb das Sorgerecht einklagen. Das hier war einfach eine Sache zu viel.“ Bevor er noch etwas erwidern konnte, hob sie die Hand. „Versuch gar nicht erst, dich zu verteidigen.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und stürmte mit Landon aus dem Haus.

Wie vom Donner gerührt ließ West sich auf das Sofa sinken. Niemand würde ihm seine Tochter wegnehmen! Aber wie konnte er sich gegen die Dunkins wehren, wenn es einfach zu viel gab, was gegen ihn sprach?

„Daddy, sind die Armen Ritter jetzt fertig? Ich habe Hunger!“ Lucy hüpfte ins Wohnzimmer und blickte sich suchend um. „Wo sind denn Nana und Pop-Pop?“

„Sie mussten noch dringend was erledigen“, sagte er, bemüht, sich nichts anmerken zu lassen.

Er würde alles tun, was in seiner Macht stand, damit sie ihm sein kleines Mädchen nicht wegnahmen. Wirklich alles.

„Aber weißt du was? Die Armen Ritter kann man nicht mal Daisy vorsetzen. Lass uns doch lieber zum Essen ins Hurley’s fahren, was meinst du? Aber wasch dir vorher noch schnell das Gesicht, okay?“

Strahlend rannte Lucy ins Bad, während sich in West kalte Angst ausbreitete. Konnten die Dunkins vor Gericht wirklich beweisen, dass er als Vater ungeeignet war? Immerhin hatte er sich schon sehr gebessert. In den furchtbaren Wochen nach Lornas Tod hatte er Lucy die meiste Zeit bei Lornas oder seinen Eltern gelassen. Dann waren seine Eltern weggezogen – und bald darauf hatte er sie ganz verloren. Er hatte versucht, mit Sex und Alkohol zu vergessen, wer er jetzt war – ein Mann, der sich mutterseelenallein auf der Welt fühlte und keine Ahnung hatte, wie er seiner Tochter ein guter Vater sein sollte.

Aber das war nun schon lange her. Inzwischen wusste er, dass das Wichtigste, was ein Kind brauchte, ganz viel Liebe war, und davon hatte er mehr als genug.

Er würde sich seine Tochter nicht wegnehmen lassen, komme was wolle.

Dafür würde er notfalls auch bis zum Äußersten gehen.

3. KAPITEL

Laut Clementine hätte abends um halb sieben jeder Tisch im Hurley’s Homestyle Kitchen besetzt sein sollen und weitere hungrige Gäste hätten draußen vor der Tür stehen müssen. Doch heute Abend war der Speisesaal fast leer.

Clementine stand wütend in der Küchentür. „So unterstützen sie alle Gram nach fünfzig Jahren? Indem sie zu Hause bleiben, nur weil sie krank ist und nicht selbst kochen kann?“, fragte sie kopfschüttelnd und enttäuscht.

„Nun ja, Gram ist eben einzigartig“, erwiderte Annabel, während sie beobachtete, wie Olivia Piedmont und ihr Mann durch das Küchenfenster spähten, Grams Zweitköchin Hattie sahen und wieder umdrehten, um zum Chinesen ein paar Häuser weiter zu gehen. Dabei hatte Hattie über dreißig Jahre lang an Grams Seite gekocht, und Annabel selbst hatte schließlich auch schon mit acht Jahren bei ihrer Großmutter in der Küche gelernt.

Nur fünf der fünfzehn Tische waren besetzt, und bis jetzt hatte nur eine einzige Person den Karamell-Schokoladenkuchen, Annabels neueste Kreation, als Nachtisch bestellt. Wenn es so weiterging, würde Hurley’s Homestyle Kitchen in zwei Monaten pleite sein. Denn wenn die Leute nicht mehr ins Hurley’s kamen, weil die beste Köchin der Welt nicht hinter dem Herd stand, dann halfen auch die originellsten neuen Gerichte nur wenig.

Im Moment stand gerade Danielle Tolliver mit den Damen ihres Buchclubs vom Tisch auf, und Annabel hörte, wie zwei von ihnen darüber tuschelten, dass die Bratensoße einfach nicht dieselbe sei.

Diese Soße hatte Annabel höchstpersönlich gemacht. Vielleicht schmeckte sie zu sehr nach Dallas und nicht genug nach Blue Gulch. Sie musste daran denken, dass sie jetzt wieder zu Hause war und die Leute hier das altmodische Essen mochten, und keine neumodischen Gewürze in leichten Sößchen. Hier zählte nämlich niemand jemals Kalorien.

Annabel wollte gerade in die Küche zurückgehen, als ihr Herz schneller zu schlagen begann, weil ein neuer Gast den Speisesaal betrat. West Montgomery! Er hatte seine kleine Tochter an der Hand. Clementine begrüßte die beiden lächelnd und führte sie dann zu einem Fenstertisch.

Wahrscheinlich hätte Annabel ihn ebenfalls persönlich begrüßen und ihm danken sollen. Offenbar war er schon früh aufgestanden und hatte das Schild draußen frisch angemalt. Auch die losen Steine waren auf einmal repariert. Ein Mann, der sein Wort hielt. Doch sie winkte ihm nur zu und verschwand dann wieder in der Küche. Dieser Mann machte ihr in all seiner Pracht im Moment einfach Angst.

Kurz darauf kam Clementine mit der Bestellung der Montgomerys in die Küche – ein Roastbeef Po’boy für West und eine Kinderportion Käsemakkaroni für Lucy – und Annabel machte sich sofort an die Arbeit. Während sie herumhantierte, kam ihr plötzlich der Gedanke, dass sie gerade dabei war, das Abendessen für die beiden zuzubereiten, was sich sehr hausfraulich anfühlte. Wie es wohl wäre, mit West und Lucy unter einem Dach zu leben? Aber sie verscheuchte diesen Gedanken schnell wieder.

Wie einsam war sie all die Jahre in Dallas gewesen, Erfolg hin oder her. Jetzt war sie wieder zu Hause, und sie durfte auf gar keinen Fall noch einmal auf West Montgomery hereinfallen. Ganz egal, wie viele Schilder er für sie anmalte oder wie liebevoll er mit seiner Tochter das Platzdeckchen ausmalte, auf das extra ein Malmotiv für Kinder gedruckt war. Ganz egal, wie gern sie sich auch zu ihnen gesetzt hätte.

Nachdem die beiden gegessen hatten, streckte sie den Kopf durch die Küchentür, um zu sehen, ob es ihnen geschmeckt hatte. West entdeckte sie und winkte sie daraufhin heran. Mit Soßenflecken übersät und mit Mehlstaub im Haar schlängelte sie sich zwischen den Tischen hindurch, begrüßte Bekannte und bedeutete Harold, der Aushilfe, die Getränke an Tisch drei aufzufüllen. Neben Lucys Stuhl ging sie schließlich in die Hocke.

„Hallo, ich bin Annabel Hurley, eine der Köchinnen hier. Ich hoffe, die Käsemakkaroni haben dir geschmeckt.“ Da der Teller der Kleinen komplett leer war, konnte sie mit dieser Frage wohl nichts falsch machen.

„Es war sehr lecker“, antwortete Lucy. „Wir wollten eigentlich Arme Ritter essen, aber die sind verbrannt, weil Daisy meine Wachsmalkreide gefressen hat.“

„Lange Geschichte“, warf West ein. „Wollen wir uns vielleicht ein Stück Schokoladenkuchen teilen, Lucy?“

„Oh ja! Mit Schlagsahne und einer Kirsche obendrauf!“

„Bei ihr muss alles immer wie ein Eisbecher aussehen“, erklärte West grinsend.

Annabel lächelte die Kleine an. „Warum kommst du denn nicht einfach mit in die Küche und hilfst mir, deinen Kuchen richtig zu dekorieren?“

„Ja!“, jubelte Lucy, sprang auf und schob vertrauensvoll ihre Hand in Annabels.

West folgte ihnen in die Küche, wo Annabel ihnen Hattie und Harold vorstellte und Lucy dann die gekühlte Glasvitrine mit den Kuchen zeigte. Sie schnitt ein Stück Schokoladentorte für Lucy ab und reichte ihr dann die Schüssel mit der Schlagsahne sowie einen Löffel, mit dem die Kleine sorgfältig einen Klecks Sahne auf das Tortenstück gab.

„Und jetzt noch die Kirsche“, sagte Annabel und hielt ihr ein Körbchen mit den frischen Früchten hin.

Strahlend suchte Lucy sich eine aus und platzierte sie mitten auf dem Sahnehäubchen.

„Und jetzt muss Ms. Hurley bestimmt wieder an die Arbeit“, sagte West und formte mit den Lippen ein Dankeschön für Annabel.

„Danke, Ms. Hurley“, sagte auch Lucy artig.

Annabel ging vor ihr in die Hocke. „Du kannst mich gern Annabel nennen. Du warst mir eine wirklich große Hilfe. Vergiss aber nicht, den Kuchen mit deinem Dad zu teilen!“

West warf Annabel einen langen Blick zu, bevor ihm aufzufallen schien, dass sie nicht allein waren, und sich räusperte. „Dann bis später bei mir“, sagte er, bevor er die Küche verließ, nur um Sekunden später wiederaufzutauchen. „Zum Kochunterricht“, fügte er hastig mit einem Blick zu Hattie und Harold hinzu.

Hattie konnte sich ein Lachen kaum verkneifen, und Annabel spürte, wie sie rot wurde, musste aber selbst lächeln – bis sie daran dachte, dass sie in ein paar Stunden mit West in seiner Küche allein sein würde, Seite an Seite mit ihm am Herd. Wie schaffte man es nur, sich nicht neu in jemanden zu verlieben, über den man eigentlich nie wirklich hinweggekommen war?

Als die letzten Gäste gegangen waren, begann Annabel, die Küche zu putzen. Sie wollte gerade mit dem Herd anfangen, als Clementine ihr den Putzschwamm aus der Hand nahm.

„Ich weiß, dass West Montgomery auf dich wartet, also mach dich besser mal auf den Weg. Ich kümmere mich schon um das hier.“

Dankbar drückte Annabel ihrer Schwester die Hand. „Schon okay. Du warst auch den ganzen Abend auf den Beinen. Ich mach das schon.“

„Nein, ich mache das. Auf dich wartet schließlich ein hungriger Mann, wenn es auch nur für eine Kochstunde ist. Aber wasch dir vorher die Bratensoße aus dem Haar, und an deinem Schuh klebt außerdem ein Stückchen Huhn.“

Annabel griff daraufhin nach dem Ordner mit den Rezepten für das Mittagessen, die sie für West zusammengestellt hatte, und ging hinauf in den dritten Stock. Gram hatte damals, als sie die verwaisten Mädchen bei sich aufgenommen hatte, den ganzen Dachboden für sie ausbauen lassen, und jede hatte dort immer noch ihren eigenen Bereich.

Nach einer heißen Dusche machte sich Annabel schließlich auf den Weg zur Montgomery-Ranch. Als sie die lange, von Bäumen gesäumte Auffahrt entlangfuhr, war sie überrascht, wie anders das Haus jetzt aussah. Damals hatte das grau vertäfelte Wohnhaus ziemlich heruntergekommen gewirkt, doch jetzt erstrahlte es in hellem Weiß, hatte glänzende schwarze Fensterläden und eine schmiedeeiserne Wetterfahne auf dem Dach. Auf einer Weide neben dem Haus graste eine Rinderherde, ein Paar weißer Gänse watschelte über den Hof und eine große gestreifte Katze jagte einem Blatt hinterher.

Die Lampe über der rot gestrichenen Haustür beleuchtete einen gepflegten Vorgarten. An dem Ast einer großen Eiche hing eine Schaukel, und darunter stand ein Kindertisch mit kleinen Stühlen, in denen Teddybären saßen.

Wehmütig fragte sich Annabel, ob sie wohl jemals selbst eine kleine Tochter haben würde. In den letzten sieben Jahren hatte sie nur zwei Beziehungen gehabt, die beide kläglich gescheitert waren. Der eine hatte sie viel zu sehr bedrängt, und der andere betrogen – also hatte Annabel ihm sofort den Laufpass gegeben, den Job gewechselt und fortan beschlossen, Beziehungen einfach aus dem Weg zu gehen. Vielleicht würde ihr ja eines Tages der Richtige begegnen, bei dem sie sich einfach wohlfühlte, ohne dass sie so angestrengt versuchen musste, stets das Richtige zu tun.

Vier Jahre war es jetzt her, dass sie das letzte Mal geküsst worden war. Dass jemand sie berührt oder im Arm gehalten hatte. Vier Jahre, in denen sie ständig an die Nacht mit West auf dem Heuboden gedacht und sich gefragt hatte, ob es jemals einen anderen Mann geben würde, der solche Gefühle in ihr hervorrufen könnte. Gefühle, als ob sie in Flammen stünde. Als ob sie schön und sexy wäre. Als ob sie alles sei, was ein Mann sich je wünschen könnte. In dieser einen Stunde mit West hatte sie sich besser gefühlt als jemals zuvor oder seitdem.

Aber das war nun einmal Vergangenheit. Dieses Mal war sie schlauer. Ganz gleich, wie sehr sich ihr Herz auch nach ihm sehnte, sie würde standhaft bleiben. Ihre Großmutter brauchte sie, das Restaurant brauchte sie, und das Letzte, was sie im Moment brauchen konnte, war ein gebrochenes Herz.

Sie strich sich den absichtlich straff gebundenen Pferdeschwanz und das weite, langärmlige gelbe T-Shirt über den alten Jeans glatt. Dann griff sie nach dem Ordner mit den Rezepten und der Tasche mit den Lebensmitteln, die sie in der Mittagspause eingekauft hatte, stieg aus und ging zur Eingangstür, wobei sie es bewusst vermied, zur alten Scheune hinüberzublicken, an deren Heuboden sie so wehmütige Erinnerungen hatte.

Nach einem tiefen Atemzug drückte sie schließlich auf den Klingelknopf.

Schon Sekunden später stand er vor ihr, begrüßte sie ernst und nahm ihr die Einkaufstasche ab. Aber bevor sie ihn fragen konnte, ob alles in Ordnung war, ging er schon in Richtung Küche. Sie folgte ihm durch das Wohnzimmer, in dem zwei bequeme rote Sofas und ein großer Couchtisch standen, der mit Kinderbüchern und Actionfiguren übersät war. Aus dem Hundekörbchen in einer Ecke beäugte sie halbherzig ein Beagle.

„Daisy ist kein großer Wachhund“, erklärte West lächelnd.

Die Küche war in einem warmen Gelbton gestrichen, die Schränke weiß, die Geräte aus Edelstahl. West stellte die Einkaufstasche auf die Kücheninsel in der Mitte, und Annabel legte den Ordner daneben.

Fragend hielt West eine Flasche Rotwein in die Höhe und goss zwei Gläser ein, als sie nickte.

„Je mehr wir heute Abend schaffen, desto besser“, sagte er und reichte ihr ein Glas. Sie nahm es und wünschte sich, sie könne seine Gedanken lesen. Irgendetwas beschäftigte ihn ganz offensichtlich.

„Wirst du mir irgendwann mal verraten, warum du tausend Dollar dafür zahlst, zu lernen, wie man einen Hühnersalat macht?“

Er lehnte sich an den Kühlschrank, an dem Zeichnungen seiner Tochter hingen, und nahm einen großen Schluck von seinem Wein. „Das ist kompliziert.“

Hühnersalat war kompliziert? Sie wartete darauf, dass er weitersprach, doch er schwieg.

„Okay“, sagte sie schließlich. „Dann fangen wir mal an.“

Sie zog ein Brathähnchen aus der Einkaufstasche. „Bei der Abendessen-Stunde braten wir selbst ein Huhn, aber für das Mittagessen nehmen wir ein fertig gebratenes. Die sind toll, wenn man es eilig hat und …“

Um sich von seinem Gesicht, seinem gut gebauten Körper und seiner verführerischen Nähe abzulenken, begann sie ihm einen Vortrag darüber zu halten, wie man Brathähnchen am besten aufbewahrte und welche Mittagsgerichte man daraus machen konnte.

„Hühnchensalat, Tacos, Frikassee, kalte und warme Sandwiches und …“ Sie verstummte, als ihr klar wurde, dass er die ganze Zeit aus dem Fenster starrte. Ganz offensichtlich war er überhaupt nicht bei der Sache.

„West? Ist alles in Ordnung?“

Er ging zum Fenster, dann zurück zum Kühlschrank, wo er die Zeichnungen seiner Tochter betrachtete und gequält die Augen schloss. Was immer an Hühnchensalat so kompliziert war, brachte ihn offenbar fast um.

„Genauso wird sich das anfühlen“, sagte er schließlich. „Diese verdammte Stille, wenn sie sie mir wegnehmen. Verdammt, verdammt, verdammt.“

Annabel trat zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Wenn wer sie dir wegnimmt? Sprichst du von deiner Tochter?“

Abrupt wandte er sich ab, durchquerte die Küche und blieb auf der anderen Seite der Kücheninsel stehen. „Lucys Großeltern, Raina und Landon Dunkin. Sie denken, dass ich nicht fähig bin, Lucy großzuziehen, deshalb wollen sie mir das Sorgerecht wegnehmen.“

„Was? Aber du bist doch ein ganz wunderbarer Vater, das sieht doch wohl jeder! Ich bin erst drei Tage wieder hier und weiß das! Wie du mit ihr gemalt hast, als ihr im Hurley’s auf euer Essen gewartet habt … dass sie sich ihren Kuchen selbst verzieren durfte … du gehst doch so gut auf sie ein!“

Er ließ sich auf einen der Stühle sinken, trank einen Schluck Wein und bedeutete ihr dann, sich ebenfalls zu setzen. „Die Dunkins würden stattdessen sagen, dass sie so spätabends den Kuchen gar nicht hätte essen dürfen, weil er viel zu viel Zucker enthält. Außerdem habe ich ihr auch noch erlaubt, Schlagsahne darauf zu tun. Vielleicht denke ich wirklich nicht genug nach. Vielleicht habe ich wirklich keine Ahnung, was es bedeutet, ein guter Vater zu sein.“

Düster starrte er ins Leere. „Sie halten mich für absolut unfähig. Aber ich liebe meine Tochter über alles. Sie dürfen sie mir nicht wegnehmen!“

Jetzt verstand Annabel plötzlich, warum er es sich so viel kosten ließ, zu lernen, wie man Rühreier machte. Er wollte den Dunkins beweisen, dass er seine Tochter ordentlich versorgen konnte.

„Vielleicht sollte ich sie wirklich nicht mehr auf Bäume klettern lassen. Vielleicht sollte ich dafür sorgen, dass sie öfter Kleider trägt, so wie Raina das möchte. Ich tue doch schon mein Bestes, aber es reicht eben nie aus. So wie immer“, murmelte er, stand auf und verließ die Küche.

Annabel folgte ihm. „Und wenn du mal mit ihnen redest und ihnen sagst, dass du jetzt kochen lernst …“

„Das habe ich schon versucht. Ich habe Raina vorhin erzählt, dass du mir Kochunterricht gibst. Sie meinte daraufhin nur, dafür wäre es jetzt zu spät, und hat mir einfach die Tür vor der Nase zugeschlagen, nachdem ich Lucy bei ihr abgegeben habe.“

Er ließ sich auf eins der Sofas sinken, und Annabel setzte sich neben ihn. Am liebsten hätte sie den Arm um ihn gelegt und ihm versichert, dass alles gut werden würde, aber ganz sicher war sie sich da nicht. Konnten die Dunkins ihm wirklich seine Tochter wegnehmen? Sie hatten immerhin das nötige Geld für die besten Anwälte …

„Es ist überhaupt nicht zu spät“, sagte sie. „Du bist ein guter Vater. Du kümmerst dich um Lucy. Du zahlst mir ein Vermögen, um für sie kochen zu lernen. Und vor allem liebst du sie über alles, und das ist doch letzten Endes das Einzige, was zählt.“

„Nicht für die Dunkins. Die haben eine lange Liste, was ich alles tun oder nicht tun würde, wenn ich Lucy wirklich lieben würde. Aber du hast recht. Es ist noch nicht zu spät. Schluss mit dem Jammern. Ich werde um Lucy kämpfen, und ich werde allen zeigen, dass ich mich sehr wohl gut um sie kümmern kann. Lass uns einfach weitermachen.“

Also kehrten sie in die Küche zurück, wo Annabel ihm zeigte, wie man Hühnchensalat, panierte Hühnerbrust-Streifen, einen Hähnchenburger und Frikassee zubereitete.

„Kinder lieben vor allem die panierten Hähnchenstücke“, sagte sie, während sie ein Blech davon in den Ofen schob. „In dem Restaurant, in dem ich in Dallas gearbeitet habe, haben wir Kochkurse extra für Kinder angeboten, und die Kinder haben sie dann immer selbst gemacht. Ich wette, Lucy würde es riesigen Spaß machen, mit dir zusammen zu kochen.“

„Ja, bei dir in der Restaurantküche war sie auch komplett begeistert. Du wärst eine tolle Mutter. Kaum zu glauben, dass du nicht längst verheiratet bist und selbst Kinder hast.“

Verlegen starrte sie auf den Boden. Das war eine gute Erinnerung daran, diesen Mann nicht noch einmal zu nah an sich heranzulassen.

„Ich sollte jetzt wirklich gehen“, sagte sie mit einem deutlichen Blick auf die Uhr. „Vielleicht kannst du die Dunkins ja morgen mal zum Frühstück einladen und sie mit deinen neuen Omelett-Künsten beeindrucken.“

„Nein, sie bringen Lucy immer direkt zur Schule“, erwiderte er. „Aber ich danke dir für alles. Ich weiß, ich verlange eine Menge von dir, und das, wo du mich wahrscheinlich nicht mal besonders gut leiden kannst.“

Sie zuckte zusammen. „Das Ganze ist schon lange her.“

„Ja, das stimmt.“

Sofort kamen die Erinnerungen zurück: Wie West sie leidenschaftlich geküsst hatte, sodass ihr die Knie ganz weich wurden, und wie ihr ganzer Körper vor Verlangen gezittert hatte, etwas, was ihr niemals zuvor und auch seitdem nicht mehr passiert war. Sie betrachtete Wests Gesicht, die warmen braunen Augen, das zerzauste schwarze Haar, den leichten Bartschatten auf seinen Wangen. Wie gern hätte sie die Hand ausgestreckt und dieses geliebte Gesicht einfach nur gestreichelt!

Halt dich im Zaum, befahl sie sich streng. Du steuerst direkt auf eine Katastrophe zu.

Hastig senkte sie den Kopf und widmete sich wieder der Betrachtung der Bodenfliesen, bis sie sich besser im Griff hatte.

Schließlich blickte sie erneut zu ihm auf. „Du bist ein guter Vater, das kann jeder sehen“, betonte sie noch einmal. „Es ist doch klar, dass ich dir helfe.“

Er brachte sie zum Auto, wo er herzlich ihre Hand drückte. „Ich danke dir, Annabel. Für alles.“

Aber anstatt ihre Hand nach diesem Dankeschön wieder loszulassen, hielt er sie weiterhin fest, und ließ den Blick dann langsam von ihren verschränkten Händen zu ihrem Gesicht, ihren Lippen und ihren Augen wandern. Als er die freie Hand ausstreckte und sie auf ihre Wange legte, schmiegte sie sich instinktiv hinein, überwältigt von dem warmen Gefühl auf ihrer Haut.

Plötzlich schob er sie langsam in Richtung Auto, bis sie mit dem Rücken dagegen lehnte, und küsste sie. Seine Lippen endlich wieder auf ihren zu spüren war einfach unbeschreiblich, und Annabel schloss die Augen, um das Gefühl ganz und gar auskosten zu können. West, oh West, dachte sie.

„Was mache ich da nur?“ Hastig gab West sie frei und wich zurück.

Und was mache ich? dachte sie schockiert. Nichts gelernt, was?

„Das geht nicht.“ Er trat noch einen Schritt zurück. „Es tut mir leid, Annabel. Es war nur … ich glaube, ich wollte einfach mal kurz vergessen, wie schwierig mein Leben gerade ist.“

Heißer Ärger stieg bei diesen Worten in ihr auf, versetzt mit einer Spur von Traurigkeit. Schon waren sie wieder an derselben Stelle angekommen wie damals – sie war lediglich ein Trostpflaster, sonst nichts. Aber nicht mit ihr. Nicht noch einmal.

Bevor sie sich dazu hinreißen ließ, ihn zu ohrfeigen oder sieben Jahre unterdrückte Wut auf ihn loszulassen – Wie kannst du es nur wagen! – drehte sie sich hastig um und öffnete die Autotür.

Sein Leben war schwierig, genau wie damals. Aber das hieß schließlich noch lange nicht, dass er sie einfach so benutzen konnte, um sich eine kleine Auszeit zu verschaffen. Er wollte gar nicht wirklich etwas von ihr – weder damals noch jetzt. Er stand einfach nicht auf sie … aber trotzdem nahm er es sich heraus, sich ihrer zu bedienen, wann immer er eine Ablenkung brauchte? Das war einfach unglaublich.

Sie drehte sich herum, um ihn jetzt doch daran teilhaben zu lassen, was sie die letzten sieben Jahre lang von ihm gedacht hatte, doch als sie sein Gesicht sah und seine Augen, in denen Sorge, Angst und Qual standen, verrauchte ihr Zorn sofort wieder und sie drückte stattdessen seine Hand.

„Ich verstehe zwar nicht alles, was du tust“, sagte sie, „aber ich bleibe trotzdem dabei, dass du ein guter Vater bist. Deine Schwiegereltern müssen einfach nur erkennen, wer du wirklich bist.“

„Vielleicht habe ich ja genau davor solche Angst“, erwiderte er so leise, dass sie nicht sicher war, ob sie ihn tatsächlich richtig verstanden hatte.

Sie drückte seine Hand zum Abschied und stieg dann in ihr Auto. Tränen brannten in ihren Augen, als sie die lange Auffahrt hinunterfuhr. Im Rückspiegel sah sie, dass er noch lange dastand und ihr nachblickte.

Als West am nächsten Morgen aufwachte, verfluchte er sich innerlich noch immer wegen seiner Dummheit. Wieso hatte er Annabel überhaupt geküsst? Die Dinge zwischen ihnen waren schon vorher etwas kompliziert gewesen, aber nun waren sie es erst recht.

Du bist ein guter Vater. Das von einer Frau zu hören, es überhaupt einmal von irgendjemandem zu hören, hatte sich so gut angefühlt, dass er auf einmal einfach mehr gewollt hatte. Also war ihm nichts Besseres eingefallen, als sie einfach zu küssen wie ein Idiot. Dabei hatte er sich doch fest geschworen, die Finger von Frauen zu lassen. Ausgerechnet Annabel Hurley! Annabel, die ihn stets daran erinnerte, was seine Eltern wirklich von ihm gedacht hatten. Die ihm bewusst machte, was er hätte haben können, wenn er sich nicht für Lorna entschieden hätte, die er gar nicht geliebt hatte, obwohl sie ihm seine Tochter geschenkt hatte. Niemals hatte er sie so geliebt wie Annabel, mit der er stundenlang reden wollte, um sie anschließend in die Arme zu nehmen und in sein Bett zu tragen.

Dennoch, seine Gefühle für Annabel waren viel zu intensiv und kompliziert. Er musste unbedingt versuchen, sie zu vergessen und sich stattdessen auf Lucy konzentrieren. Darauf, dass ihm seine Tochter nicht weggenommen wurde, und was tat er? Er machte sich wie ein liebestoller Teenager an Annabel ran.

„Du bist ein Rabenvater“, murmelte er. „Vergiss Annabel, und zwar schnell.“

Umso schlimmer, dass Lucy nicht hier war. Das Haus kam ihm immer viel zu groß und still vor, wenn sie bei ihren Großeltern übernachtete. Normalerweise stand er um halb sechs auf, ließ die Rinder auf die Weide, duschte und zog sich dann um, bevor er Lucy weckte, sie umarmte und sie dann kurz allein ließ, damit sie sich anziehen konnte.

Manchmal trug sie dann ein rosa Kleid mit roten Strümpfen, wenn sie herunterkam, oder ein T-Shirt, das einen Fleck hatte, das sie aber besonders mochte, und nein, er sagte ihr tatsächlich nie, sie solle sich etwas anderes anziehen, denn sie sah trotz allem immer zauberhaft aus. Anschließend versuchte er, ihr die Haare zu kämmen, aber oft schaffte er es einfach nicht, ihre krausen Locken zu entwirren, und sie sahen dann aus wie ein Vogelnest.

Heute Morgen würde sie allerdings in einem makellosen Outfit zur Schule gehen, ordentlich gekämmt sein und einen äußerst gesunden Snack in der Brotdose haben. Dafür würde Raina zweifellos sorgen.

Was, wenn Lucy sich tatsächlich einfach so anzog, weil sie es nicht besser wusste, und nicht, weil es ihr gefiel, alle Farben des Regenbogens auf einmal zu tragen? Lorna hatte immer sehr darauf geachtet, dass Lucy schick aussah, aber schon als kleines Kind hatte Lucy stur den Kopf geschüttelt und auf die Sachen gezeigt, die Lorna sie nicht tragen lassen wollte. Aber Lorna hatte sich natürlich letzten Endes immer durchgesetzt, denn sie war schließlich die Erwachsene gewesen.

Jetzt bist du der Erwachsene im Haus, West. Jetzt ist es an der Zeit, dass du dich endlich gegen Raina durchsetzt.

Nachdem seine Helfer eingetroffen waren, ging West nach oben und zog den einzigen Anzug an, den er besaß. In der Stadt gab es einen Anwalt, Winston Philips, der berüchtigt dafür war, mit seinen Winkelzügen jeden Fall zu gewinnen. Er kostete natürlich ein Vermögen, aber das war ihm egal. Wenn Winston Philips seine Sache tatsächlich vertrat, würden die Dunkins niemals das Sorgerecht für Lucy bekommen.

Doch als West auf den Parkplatz des Anwalts fuhr, sah er gerade noch, wie Raina und Landon Dunkins die Kanzlei des Anwalts verließen. Verdammt!

West fuhr daraufhin zur Grundschule und hielt so an, dass er den Pausenhof vom Auto aus überblicken konnte. Die ersten zwei Stunden waren schon vorbei, und die Kinder rannten gerade wild auf dem Hof herum. Er entdeckte Lucy und ihre Freundinnen schließlich bei der Schaukel. Am liebsten wäre er ausgestiegen und hätte seine Tochter in den Arm genommen, so sehr vermisste er sie nach der kurzen Zeit der Trennung.

Am Eingang wurde gerade ein Kind aus einer der anderen Klassen von seinen Eltern zur Schule gebracht. Die Kleine rannte los, doch ihre Mutter rief sie noch einmal zurück und drückte ihr die vergessene Pausenbrotdose in die Hand.

Auch Lucy hatte mindestens fünf Mal im letzten Monat ihr Pausenbrot vergessen – genau wie er. Lucy brauchte wirklich dringend eine Mutter, dachte West düster. Jemanden, der ihre Haare entwirren konnte, der an ihr Pausenbrot dachte und der sie sanft dazu überredete, Sachen anzuziehen, die farblich zueinanderpassten oder zumindest keine Löcher hatten.

Eine Mutter wäre die Lösung für all seine Probleme.

West setzte sich plötzlich kerzengerade hin, als der Gedanke in ihm Gestalt annahm. Kein Anwalt der Welt, nicht einmal Winston Philips, würde einen Sorgerechtsfall gewinnen, wenn das betreffende Kind eine Mutter hatte, und West kannte sogar eine Frau, die diese Rolle perfekt ausfüllen würde: Annabel Hurley!

Die Dunkins mochten Annabel. Wenn Annabel seine Frau wäre und ihm helfen würde, sich um Lucy zu kümmern, dann hatten sie schließlich gar keinen Grund mehr, ihm das Sorgerecht wegnehmen zu wollen, und selbst wenn – würden sie niemals gewinnen.

Annabel brauchte doch dringend Geld, um das Hurley’s retten zu können, und er brauchte dringend eine Frau, um seine Tochter behalten zu können. Eine Heirat wäre also für sie beide eine echte Win-win-Lösung, und wenn sich die Wogen dann irgendwann wieder etwas geglättet hätten, könnten sie ja wieder getrennte Wege gehen.

Heute standen bei seinem Kochkurs im Hurley’s Snacks und Zwischenmahlzeiten auf dem Programm, und zwischen diesen kleinen Mahlzeiten würde er Annabel einfach bitten, ihn zu heiraten.

Das hatte er sogar schon einmal vorgehabt … damals auf dem Heuboden der Ranch vor sieben Jahren, als Annabel Gefühle in ihm ausgelöst hatte, die er bis dahin nie gekannt und auch seitdem nie wieder empfunden hatte … schon gar nicht bei Lorna. Aber das hier hatte rein gar nichts mit Gefühlen zu tun, sondern nur damit, dass ihnen das jeweils Wichtigste in ihrem Leben nicht weggenommen wurde.

Er hatte allerdings keine Ahnung, wie Annabel auf seinen Vorschlag reagieren würde. Möglicherweise warf sie ihn ja auch hochkant raus und drohte ihm mit einer einstweiligen Verfügung, wenn er sich ihr jemals wieder nähern sollte. Aber er musste es trotzdem versuchen, denn er hatte sich geschworen, alles zu tun, was in seiner Macht stand, um Lucy behalten zu können – und mit Winston Philips als Anwalt für die Gegenseite blieben ihm leider nicht mehr sehr viele Möglichkeiten.

Nein, das Ganze konnte leider nicht bis zu seiner nächsten Kochstunde warten. Er brauchte ihre Antwort sofort.

Es waren lediglich drei Minuten Fahrtzeit von der Schule bis zum Hurley’s. Er hatte also genau drei Minuten Zeit, sich zu überlegen, wie er Annabel diese verzweifelte Idee gut verkaufen konnte. Falls sie nach dem Kuss und seiner anschließenden Reaktion gestern überhaupt noch mit ihm redete.

4. KAPITEL

Annabel war in der Küche des Hurley’s gerade damit beschäftigt, Kartoffelbrei für die berühmten Knoblauch-Kartoffeltaler herzustellen. Sie zerquetschte die Kartoffeln von Hand und stellte sich dabei vor, es wären ihre Gefühle für West, die sie da in Grund und Boden stampfte. Auf der anderen Seite der Kücheninsel knetete Hattie gerade Hackfleisch mit Zwiebeln und Semmelbröseln zusammen, denn Hackbraten war ein beliebtes Mittagsgericht.

„Sieht ganz so aus, als ob jemand schräg gegenüber in den leeren Laden einzieht“, meinte Hattie.

Annabel spähte aus dem Fenster. Zwischen der Bäckerei und der Yoga-Schule hatte schon lange ein Geschäft leer gestanden, ein ehemaliger Imbiss.

Jetzt hing im Schaufenster ein Plakat: Neueröffnung in Kürze! Clyde’s Burgertopia.

Auch das noch! Annabels Magen verkrampfte sich sofort. Clyde Heff machte wirklich fantastische Burger – normalerweise allerdings nur bei seinen privaten Grillpartys. Der besondere Geschmack kam angeblich von einer „Geheimzutat“, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Annabel war sich ziemlich sicher, dass es sich dabei um eine Mischung aus Bourbon und Dill handelte, aber das war jetzt auch egal. Wenn Clyde tatsächlich schräg gegenüber ein Burger-Restaurant eröffnete, dann würden noch weniger Gäste ins Hurley’s kommen, selbst, wenn der kleine Laden gerade mal Platz genug für einen Tresen bot, an dem man entweder im Stehen essen oder einen Burger zum Mitnehmen bestellen konnte.

Trotzdem, Wettbewerber konnte das Hurley’s gerade überhaupt nicht gebrauchen. Das Schlimmste daran war, dass Clydes Tochter Francie damals auf der Highschool zu Lornas Clique gehört hatte und ihren Spaß daran gehabt hatte, Annabel zu quälen. Hoffentlich hatte sie nicht vor, ihrem Vater im „Burgertopia“ zu helfen, denn Annabel konnte sich wirklich Schöneres vorstellen, als ihrer alten Feindin ständig über den Weg laufen zu müssen.

Wobei das im Moment noch ihre kleinste Sorge war. Heute Morgen hatte sie erfahren, dass in Kürze die nächste Rate für die vierteljährliche Kreditabzahlung für das Hurley’s fällig war. Eine Rate, die mehr betrug, als auf Grams Geschäftskonto überhaupt noch vorhanden war.

Panik breitete sich in ihr aus. Wie sollte sie das Restaurant bloß attraktiver machen, wenn sie nicht einmal genügend Geld hatte, die Lebensmittel für die nächste Woche einzukaufen? An Ideen für eine Renovierung mangelte es ihr nämlich beileibe nicht. Mit genügend Geld würde sie allerdings zuallererst Martha ein unschlagbares Angebot machen und sie damit dazu bringen, wieder als Grams Köchin zu arbeiten. Martha hatte lange Jahre im Hurley’s gearbeitet, und einige der beliebten Rezepte auf der Karte stammten sogar von ihr. Gram und Martha waren ein unschlagbares Duo und bei allen in der Stadt als Köchinnen beliebt gewesen. Aber dann hatte Marthas Tochter Drillinge bekommen, und Martha war nach Austin gezogen, um ihr zu helfen. Seitdem hatte die ganze Last allein auf Grams Schultern gelegen, was bestimmt auch zu ihrem geschwächten Zustand beigetragen hatte.

Ein neuer Anstrich im Speisesaal, schickeres Essgeschirr und Besteck, vielleicht sogar eine Vergrößerung des Gastraumes, indem man die Wand zum viel zu breiten Flur herausriss …

Aber nichts von alledem würde passieren, denn wenn die Kreditrate in einem Monat fällig war und sie diese nicht bezahlen konnte, würde sie das Hurley’s womöglich ganz verlieren.

Hattie kam jetzt zu ihr hinüber und drückte aufmunternd ihre Hand. „Wir können nichts machen, außer dafür zu sorgen, dass die Leute bei uns weiterhin das beste Essen in der Stadt bekommen“, sagte sie.

Richtig. Und nicht nur in dieser Stadt, sondern im ganzen Umkreis. Das hatte Gram auch immer zu ihr gesagt: Konzentriere dich darauf, dein Bestes zu geben, und mach dir um die anderen keine Sorgen.

„Na, das ist ja mal ein viel netterer Anblick als unser neuer Nachbar“, sagte Hattie plötzlich, und Annabel blickte verwirrt von ihrem Kartoffelbrei hoch.

West? Was machte der denn hier? Noch dazu in einem Anzug, und was um alles in der Welt tat er da? Er hatte auf der anderen Straßenseite geparkt, die Straße überquert, und war gerade dabei, durch das Tor zu treten, das den Vorgarten des Hurley’s vom Bürgersteig trennte, als er sich abrupt wieder umdrehte. Anschließend ging er aufgeregt vor dem Yoga-Studio auf und ab, als studiere er eine Rede ein.

Oh nein, er kam doch nicht etwa hierher, um sein Geld für die Kochstunden zurückzuverlangen? Oder hatten die Dunkins ernst gemacht und ihn vor Gericht gezerrt? Das würde auch den Anzug erklären.

„Jetzt aber“, meinte Hattie grinsend, als West erneut die Straße überquerte und den Vorgarten betrat. Er spähte zuerst durch das Küchenfenster und hob die Hand, als er Annabel sah, dann ging er zum Haupteingang.

Annabel zuckte mit den Achseln, wischte sich die Hände an der Schürze ab und ging dann durch den Gastraum zur Vordertür.

„Hast du vielleicht ein paar Minuten Zeit für mich?“, fragte West statt einer Begrüßung. „Oder vielleicht auch ein bisschen länger. Ich muss nämlich unbedingt mit dir reden.“

„Dann sage ich nur eben Hattie Bescheid, dass sie sich in der Zeit um die Kartoffeln kümmert“, erwiderte Annabel. „Einen Moment.“

Als sie kurz darauf wieder bei ihm war, gingen sie die Hauptstraße hinunter bis zum Park, wo West vor einer Steinbank stehen blieb, und Annabel bat, sich zu setzen. Anschließend nahm er neben ihr Platz.

„Ich bin so schick angezogen“, begann er als Erstes, „weil ich heute Morgen eigentlich zu Winston Philips wollte, um ihn als Anwalt für meinen Sorgerechtsstreit zu verpflichten. Aber als ich auf den Parkplatz fuhr, kamen die Dunkins gerade aus seiner Kanzlei. Sie meinen es ernst, Annabel!“ Er räusperte sich. „Aber ich gebe nicht so schnell auf. Deshalb habe ich einen Vorschlag für dich. Ein Angebot, sozusagen.“

Verständnislos blickte sie ihn an. Was denn für ein Angebot?

„Du hast gesagt, dass das Hurley’s in finanziellen Schwierigkeiten steckt. Ich bin bereit, sämtliche Kosten zu übernehmen – die Rechnungen, die Gehälter, eventuelle Kreditraten, was auch immer – und das Restaurant außerdem noch mit genügend Kapital auszustatten, damit du dringend nötige Investitionen machen kannst. Ich sorge dafür, dass das Hurley’s geöffnet bleibt und du genügend Zeit hast, es wieder auf Vordermann zu bringen.“

Einen Moment lang war sie sprachlos. Das klang viel zu schön, um wahr zu sein. All ihre Probleme auf einen Schlag gelöst, all ihre Sorgen vorbei! Doch dann fiel ihr wieder ein, dass West von einem Angebot gesprochen hatte. Das hieß also, er erwartete eine Gegenleistung dafür. Natürlich.

„Und was muss ich dafür tun?“, fragte sie.

„Du heiratest mich!“

Sie riss fassungslos die Augen auf. „Wie bitte?“

„Ich brauche unbedingt eine Frau – und zwar eine Ehefrau, die auch den Dunkins gefällt – damit sie nicht mehr versuchen, mir das Sorgerecht wegzunehmen. Dich mögen sie und sie respektieren auch deine Familie. Du bist eine wunderbare Köchin, du siehst immer toll aus, und du kennst dich offenbar mit Kindern aus. Lucy mag dich, sie schwärmt immer noch von ihrem Ausflug in deine Küche. Ich bin vollkommen verzweifelt, Annabel. Du musst mich heiraten und bei mir bleiben, bis sie endlich glauben, dass ich ein guter Vater bin, und bis ich gelernt habe, auch eine bessere Mutter zu sein. In sechs Monaten oder einem Jahr ist dieser Albtraum dann vorbei und wir können wieder getrennte Wege gehen. Ich weiß, es ist wirklich viel verlangt, aber ich habe im Gegenzug ja auch viel anzubieten.“

Überwältigt lehnte sich Annabel an die kühle Lehne der Bank. Du lieber Himmel. Der Mann, den sie immer geliebt hatte, und den sie, verdammt noch mal, noch immer liebte, wollte sie heiraten … zum Schein … weil es der einzige Weg zu sein schien, seine Tochter behalten zu können. Das war gleichermaßen schrecklich und verständlich.

„Viel verlangt“ war da aber doch noch eine deutliche Untertreibung. Andererseits war das, was er ihr anbot, ja auch keine Kleinigkeit.

„Ich muss jetzt erst einmal gehen“, sagte sie mit brüchiger Stimme, bemüht, die Tränen zurückzuhalten, „und darüber nachdenken, okay?“

Er legte ihr behutsam die Hände auf die Schultern. „Ich würde dich nicht darum bitten, wenn ich irgendeinen anderen Ausweg wüsste.“

Ja, das wusste sie. So ein Idiot! Wie schaffte er es nur immer so zielsicher, alles noch ein kleines bisschen schlimmer machen zu können?

„Ich muss jetzt wirklich gehen“, wiederholte sie, sprang auf und rannte davon.

Die Mittagszeit war eine absolute Katastrophe. Annabel brachte Bestellungen durcheinander, vergaß andere komplett und ließ bereits angerichtete Teller fallen.

„Fehlt dir irgendwas?“, fragte Clementine besorgt. „Du bist ja vollkommen durch den Wind.“

„Geht schon“, murmelte Annabel. „Ich muss nur gerade über etwas Wichtiges nachdenken, und das lenkt mich offenbar ganz schön ab.“

„Ich frage Hattie, ob sie kommen kann“, entschied Clementine.

Annabel widersprach ihr nicht. „Danke“, sagte sie erleichtert.

Zehn Minuten später erschein die Zweitköchin und brachte Annabels Chaos in Ordnung. Gegen zwei Uhr verließen die letzten Mittagsgäste satt und zufrieden das Restaurant.

Annabel bereitete nun ein Essenstablett für ihre Großmutter vor und trug es nach oben. Nur zu gern hätte sie Gram von Wests Angebot erzählt, aber zum einen war Essie viel zu schwach, um sich mit solchen Problemen herumzuschlagen, und außerdem hätte sie sowieso nur gesagt, dass Annabel auf keinen Fall einen Mann heiraten sollte, der sie nicht liebte, nur um das Familienrestaurant zu retten.

„Gute Neuigkeiten“, sagte sie stattdessen. „Wir waren heute Mittag voll ausgebucht und es standen bis halb zwei Leute draußen und haben auf einen Tisch gewartet. Die Kartoffel-Lauchsuppe ging besonders gut.“

„Kein Wunder“, erwiderte Gram und kostete sie. „Keiner macht so leckere Suppen wie du, Annabel.“

„Das habe ich bei dir gelernt“, sagte Annabel lächelnd.

Essie legte den Löffel weg und wirkte auf einmal ganz betrübt. „Es ist schön, dass es heute voll war, aber ich muss dir etwas sagen … Ich habe nachgedacht. Mit all den finanziellen Problemen, die wir im Moment haben … vielleicht wäre es da besser, wenn wir das Restaurant einfach schließen. Ich weiß schließlich nicht, ob ich jemals wieder auf die Beine komme, und warum solltet ihr euch mit so etwas Großem belasten? Du hast dein Leben in Dallas, und Clementine käme auch endlich mal hier raus und würde etwas von der Welt sehen, anstatt für den Rest ihres Lebens im Hurley’s bedienen zu müssen.“

Annabel sah, wie viel Überwindung dieser Vorschlag ihre Großmutter kostete. Essie hatte das Hurley’s vor fünfzig Jahren eröffnet, als sie fünfundzwanzig und frisch verheiratet gewesen war. In den darauffolgenden Jahren hatte sie ihren Mann verloren, dann ihren einzigen Sohn und ihre Schwiegertochter, und es würde ihr garantiert das Herz brechen, wenn sie nun auch noch ihr Lebenswerk aufgeben müsste.

„Gram, sieh doch nicht gleich alles so schwarz. Clementine ist genau dort, wo sie sein will. Sie liebt Blue Gulch und würde nie von hier wegwollen. Und ich will auch nicht nach Dallas zurück. Ich war schon viel zu lange von zu Hause fort. Wir werden nicht zulassen, dass das Hurley’s schließen muss. Wir schaffen das schon. Außerdem läuft es doch jetzt gerade wieder besser!“

Ihrer Großmutter rollten dicke Tränen über die Wangen. „Aber wenn du in die Bücher schaust, wirst du sehen, dass das nicht reicht. Ich hatte fünfzig gute Jahre, Annabel. Wunderbare Jahre. Es ist wirklich okay, Liebes.“

Auch in Annabels Augen brannten nun Tränen, aber sie zwinkerte sie weg. Es war Gram deutlich anzusehen, dass es überhaupt nicht okay für sie war, das Hurley’s zu verlieren – ganz im Gegenteil, und in ihrem geschwächten Zustand könnte ihr das womöglich sogar den letzten Rest geben.

„Gram, ich werde nicht zulassen, dass das Hurley’s schließen muss. Ich weiß von der Kreditrate, und ich werde mich mit der Bank schon irgendwie einigen. Aber wir werden nicht schließen!“

Gram nahm daraufhin ihre Hand und drückte sie leicht. Annabel würde alles tun, um ihr den Schmerz zu ersparen, zusehen zu müssen, wie ihr Lebenswerk bankrottging.

Wirklich alles?

Ich bin bereit, sämtliche Kosten zu übernehmen – die Rechnungen, die Gehälter, eventuelle Kreditraten, was auch immer – und das Restaurant außerdem mit genügend Kapital auszustatten, damit du nötige Investitionen machen kannst. Ich sorge dafür, dass das Hurley’s geöffnet bleibt und du genügend Zeit hast, es wieder auf Vordermann zu bringen, hörte sie Wests Stimme in ihrem Kopf.

West brauchte sie und sie brauchte ihn.

Es waren schließlich keine unmöglichen Aufgaben, die von ihr verlangt wurden, um das Hurley’s zu retten. Kein jahrelanger Kampf gegen Windmühlen, kein tägliches Hoffen und Bangen, ob genügend Gäste kamen.

Sie musste nur eine sehr einfache Sache tun: Sie musste den Mann heiraten, den sie liebte.

Ein Kinderspiel.

Essie fielen langsam die Augen zu, also räumte Annabel das Essenstablett leise weg und trug es zurück in die Küche. Anschließend nahm sie ihr Handy und schickte West eine SMS: Ich komme heute um Viertel nach neun zu dir für die nächste Unterrichtsstunde.

Nachdem sie mit den Vorbereitungen für die Abendkarte fertig war, setzte sie sich hin und ging im Kopf noch einmal die Fragen durch, die sie West zu dieser „Ehe“ stellen wollte. Man konnte damit bestimmt viele Leute hinters Licht führen, aber kein aufgewecktes Kind wie Lucy. Mal ganz abgesehen davon, dass Lucy natürlich unter dieser Sache auf keinen Fall leiden durfte.

Ist das ein Nein zu meinem Angebot? textete West zurück.

Du musst so oder so lernen, wie man gesunde Snacks für Lucy zubereitet, schrieb sie zurück. Ob mit oder ohne Ehefrau.Dann schickte sie hinterher: Ich habe auch noch viele Fragen dazu.

Ich auch, kam als Antwort. Aber jetzt habe ich Hoffnung, dass du vielleicht Ja sagen wirst.

Verrückt genug dafür wäre ich wahrscheinlich, dachte sie resigniert. Gott helfe mir.

Wie sollte dieser vollkommen verrückte Plan bloß funktionieren? fragte sich West, während er auf Zehenspitzen zu Lucys Bett schlich, seiner schlafenden Tochter eine Locke aus dem Gesicht strich, ihr einen Kuss auf die Stirn hauchte und die verrutschte Bettdecke wieder hochzog.

Danach ging er in die Küche und setzte einen starken Kaffee auf – den würden er und Annabel vermutlich gleich brauchen. Wie würde so eine geschäftliche Ehe aussehen? Natürlich musste alles echt wirken, also mussten sie auf jeden Fall zusammenwohnen, und auch in einem Bett schlafen.

Sein Handy vibrierte, und er entdeckte eine SMS von Annabel. Stehe vor der Tür.

Er eilte zum Eingang und öffnete ihr. Wie letztes Mal hielt sie eine Einkaufstasche in der Hand, aber ansonsten wirkte sie verändert. Sie trug das schulterlange rotbraune Haar heute offen und hatte das weiße T-Shirt in die enge Jeans gesteckt. Ihre Füße steckten in Flip-Flops, und ihre Zehennägel waren schimmernd rot lackiert. Am liebsten hätte er sie an sich gezogen und die Nase in ihrer Halsbeuge vergraben, um ihren Duft einzuatmen. Dieses dringende Verlangen war wirklich beunruhigend, deshalb trat er hastig einen Schritt zurück und bedeutete ihr, einzutreten.

Sie lächelte ihn etwas gezwungen an. „Ich habe extra nicht geklingelt, um Lucy nicht zu wecken.“

„Deshalb bist du ja auch die perfekte Frau für diese Rolle“, erwiderte er und nahm ihr die Einkaufstasche ab. „Du denkst an solche Dinge, und dabei bist du noch nicht einmal Mutter.“

Ein angespannter Ausdruck huschte daraufhin über ihr Gesicht, sie zuckte mit den Achseln und ging direkt in die Küche. „Ich habe jede Menge Obst und Gemüse mitgebracht“, verkündete sie und packte die Tasche aus. Sie zog den fast leeren Obstkorb heran und füllte ihn mit Äpfeln, Orangen und Bananen. „Wenn Lucy aus der Schule kommt, kannst du ihr einfach einen Apfel aufschneiden und sie kann sich etwas Erdnussbutter auf die Stücke streichen, damit bekommt sie gesunde Proteine.“

„Annabel“, unterbrach er sie und nahm ihre Hände, um sie etwas zu beruhigen. Sie sprach schnell und fast ohne Atem zu holen – wahrscheinlich war sie wegen des eigentlichen Themas genauso nervös wie er, und dabei ging es nicht um Snacks.

„Ich würde also wahrscheinlich hier einziehen müssen?“, fragte sie.

Er nickte und ließ ihre Hände los. „Nach außen hin würde es wie eine echte Ehe aussehen. So lange, wie es eben nötig ist“, fügte er hastig hinzu, um klarzustellen, dass sie nicht für ewig an ihn gebunden war. „Wollen wir erst einmal einen Kaffee zusammen trinken und alles in Ruhe besprechen?“

Sie nickte, wickelte sich enger in ihre dicke Strickjacke, die sie über dem T-Shirt trug, und setzte sich an den Küchentisch, wo sie nachdenklich Milch und Zucker in die volle Tasse gab, die er ihr reichte.

„Eine echte Ehe also“, wiederholte sie langsam. „Das ist etwas verwirrend, denn eine echte Ehe beinhaltet ja einige Dinge, die zwischen uns nicht stattfinden werden.“

Er setzte sich ihr gegenüber. „Na ja, ich denke, es geht vor allem darum, dass wir zusammenwohnen, im selben Zimmer schlafen und uns in der Öffentlichkeit wie ein richtiges Ehepaar verhalten.“

„Wir schlafen im selben Zimmer? Aber nur zum Schein, oder?“

Eindringlich blickte er sie an, und als ihre Wangen sich leicht röteten, wäre er am liebsten aufgestanden und hätte sie geküsst … wäre diese dicke Strickjacke losgeworden und hätte Annabel langsam ausgezogen, ihre Haare auf seiner Haut gespürt und ihren wunderbaren Körper mit den Händen erforscht.

Sie senkte hastig den Blick und umklammerte ihre Kaffeetasse.

Ja, darüber hatte er auch den ganzen Tag schon nachgedacht. Natürlich war es das Schlaueste, ihre geschäftliche Ehe so professionell wie nur irgend möglich zu gestalten, schließlich ging es hier um Lucy und nicht um Sex. Aber wenn er daran dachte, wie er stets auf Annabel reagierte und wie sehr sich das vermutlich noch verstärken würde, wenn er jede Nacht neben ihr schlafen würde … Vielleicht konnten sie ja auch gewisse Vorteile ausnutzen, ohne ihre geschäftliche Abmachung dabei aus den Augen zu verlieren.

„Nicht unbedingt nur zum Schein“, erwiderte er. „Ich meine, wir schlafen im selben Bett. Jede Nacht. Aber wenn du es lieber rein platonisch angehen möchtest, halte ich mich natürlich daran. Ich meine ja nur … ich bin ein Mann und du bist eine Frau, und wir werden uns eine ganze Zeit lang sehr nahe sein.“

Die Erinnerung daran, wie sie auf dem Heuboden halb ausgezogen in seinen Armen gelegen hatte, nahm ihm kurz den Atem. Er wusste noch zu gut, wie weich ihre Haut gewesen war und wie sehr er sie gewollt hatte.

Sie nickte nun langsam, und er hätte alles dafür gegeben, ihre Gedanken lesen zu können. Hatte er sie jetzt vielleicht beleidigt? War es zu viel verlangt, auch noch Sex in das Arrangement mit aufzunehmen? Sie musste doch wissen, wie er auf sie reagierte, damals wie heute. Wie sollte er ihr denn die ganze Zeit widerstehen? Aber wenn sie es so wollte, würde er das natürlich auch hinkriegen.

„Besprechen wir diesen Teil lieber später“, antwortete sie. „Was ist mit Lucy? Was willst du ihr sagen?“

„Dass die nette Frau, in deren Küche sie im Hurley’s ihren Nachtisch selbst machen durfte, ein wunderbarer Mensch ist und ich deshalb beschlossen habe, sie zu heiraten. Das ist doch genug Information für eine Sechsjährige, oder?“

Annabel nickte. „Und die Dunkins? Willst du denen dasselbe erzählen?“

Schon bei dem Gedanken an seine Schwiegereltern lief ihm ein Schauer über den Rücken. „Denen sage ich einfach, dass ich mich dafür entschieden habe, mir eine gute Frau zu suchen, die gleichzeitig eine wunderbare Mutter für Lucy sein wird.“

„Und du meinst, sie werden nicht fragen, ob du diese gute Frau auch liebst?“

„Das ist ihnen ziemlich egal, glaube ich. Sie interessiert doch nur, ob du einen guten Einfluss auf Lucy hast und dich auch ausreichend um sie kümmerst.“

Wieder nickte Annabel. „Also koche ich gesunde Mahlzeiten, entwirre Lucys Locken, sorge dafür, dass sie Sachen anzieht, die Raina gefallen, fange sie auf, wenn sie vom Apfelbaum fällt – und dann schauen wir in ein paar Monaten, ob die Ehe noch nötig ist?“

Einen Moment lang war in ihren braunen Augen ein so trauriger Ausdruck zu sehen, dass West zusammenzuckte, aber dann nahm sie einen Schluck Kaffee und wirkte wieder ganz geschäftsmäßig.

„Genau“, erwiderte er erleichtert, weil sie so wunderbar zusammengefasst hatte, worum es ihm ging. Abgesehen davon, dass die ganze Sache ein totaler Albtraum war. Denn West hasste es von jeher, zu etwas gezwungen zu werden.

Er stand auf und ging in der Küche auf und ab, weil er plötzlich wütend war, dass all das überhaupt nötig war und er Annabel um so etwas Verrücktes bitten musste. Wobei „bitten“ eigentlich kaum das richtige Wort war, denn war es nicht eigentlich sogar schon Erpressung, wenn er ihr anbot, ihr finanziell aus der Patsche zu helfen, damit sie den Familienbetrieb retten könnte? Was blieb ihr da schon großartig anderes übrig?

Manchmal benahm er sich wirklich wie der Mistkerl, für den seine Eltern, die Dunkins und einige Frauen in der Stadt ihn hielten. Und Annabel jetzt wahrscheinlich auch.

Verdammt!

Ihm wurde plötzlich übel, so heiß brannte die Wut in seinem Magen. „Weißt du was, Annabel, ich denke, für heute sind wir fertig. Erdnussbutter auf Apfelschnitze. Verstanden. Du hast die Details zu der Eheabmachung. Genug für heute.“

Sie starrte ihn einen Moment lang sprachlos an. „Nun ja, dann wäre ja alles unter Dach und Fach.“

War da ein sarkastischer Unterton in ihrer Stimme? Er seufzte und wünschte sich, er könnte ihr erklären, was gerade in ihm vorging. „Hast du denn noch Fragen? Haben wir etwas Wichtiges noch nicht besprochen?“

Es überraschte ihn selbst, wie resigniert er dabei klang.

Sie dachte kurz nach, doch dann stand sie auf und wickelte sich wieder fest in ihre Strickjacke. „Nein, alles klar“, erklärte sie, streichelte noch einmal Daisy und ging dann in Richtung Tür.

„Wenn wir etwas noch nicht abgedeckt haben, dann kümmern wir uns einfach darum, wenn es so weit ist“, rief er, während ihm Bilder von Annabel im Kopf herumspukten, wie sie nackt und atemberaubend schön neben ihm im Bett lag. Obwohl sie wahrscheinlich nicht nackt sein würde. Verdammt. Er würde sich unglaublich beherrschen müssen. Schlimm genug, dass er sie überhaupt in diese Lage brachte. Wie konnte er dann auch nur daran denken, mit Sex alles noch komplizierter zu machen, als es ohnehin schon war? Ganz gleich, wie sehr er sie begehrte … dafür gab es eiskalte Duschen und reichlich Ställe, die ausgemistet werden mussten.

Na also, war doch gar nicht so schwer. Kein Sex. Ein rein platonisches Geschäftsabkommen.

„Ich nehme mal an, du möchtest so schnell wie möglich heiraten“, sagte sie auf dem Weg zur Haustür.

Er folgte ihr. „Vielleicht diesen Freitag im Rathaus?“

Erneut bemerkte er einen Gesichtsausdruck bei ihr, den er nicht zuordnen konnte, als sie sich zu ihm umdrehte. Nun ja, eine Eheschließung auf dem Standesamt von Blue Gulch war wohl nicht die Hochzeit, von der eine Frau träumte, nicht einmal, wenn es nur eine rein geschäftliche Heirat war.

„Kein Problem“, erwiderte sie ein wenig spitz. „Hattie und Harold können mich in der Zeit vertreten. Bis zur Abendschicht bin ich ja locker wieder im Restaurant.“

Sarkasmus. Definitiv.

Dann brach sie in Tränen aus und bedeckte hastig ihr Gesicht mit den Händen.

Er trat zu ihr, zog sanft ihre Hände weg und blickte sie an. Sie war so nett, so hilfsbereit, und nun weinte sie nur seinetwegen!

„Es tut mir leid, Annabel. Es tut mir so leid, dass ich dich darum bitten muss.“

Sie atmete einmal tief durch. „Du wirst das Hurley’s retten und ich deine Familie. Ich denke, das ist es wert.“

„Ja, das schon.“ Er nickte. „Wir kriegen das hin, egal wie, okay?“

Noch ein tiefer Atemzug, dann nickte sie. „Okay. Aber wenn ich recht darüber nachdenke, ist eine Eheschließung im Rathaus hier in der Stadt vielleicht nicht die allerbeste Idee. Vielleicht sollten wir lieber nach Las Vegas fliegen. Dann gibt es auch keinen Klatsch darüber, ob die Zeremonie womöglich zu unspektakulär gewesen ist.“

„Vegas“, sagte er daraufhin nachdenklich. Ein Kurztrip zu der Stadt der Lichter und luxuriösen Hotels war sicher viel besser als das Rathaus vor Ort.

„Gute Idee“, antwortete er. „Ich werde sofort alles buchen.“

Annabel nickte und verschwand dann so schnell, dass er es nicht einmal mehr schaffte, sie zum Wagen zu begleiten. Er sah nur noch die roten Schlussleuchten in der Nacht verschwinden.

5. KAPITEL

Am nächsten Morgen nahmen Annabel und Clementine ihr Frühstück wie immer in Grams Zimmer ein. Annabel saß auf einem Stuhl vor dem Fenster, schob ihr Rührei auf dem Teller hin und her und fragte sich zum wohl hundertsten Mal, ob sie den beiden nicht einfach die Wahrheit sagen sollte. Die ganze Wahrheit. Aber das ging nicht, denn es wäre West gegenüber unfair. Es hing für ihn schließlich viel davon ab, dass alle glauben sollten, dass die Ehe echt war.

Wenigstens brauchte sie nicht zu lügen, wenn die beiden sie fragten, ob sie West liebte. Oh ja, sie liebte ihn. Er erwiderte ihre Gefühle nur leider nicht.

Im Moment war Clementine gerade dabei, ihrer Großmutter die wichtigsten Ereignisse vom Vorabend und den Klatsch und Tratsch der Stammgäste zu erzählen.

„Du bist ganz schön still heute, Annabel“, meinte Gram schließlich. „Ist alles okay mit dir?“

Annabel lächelte. Das war ihr Stichwort! „Nun ja, ich habe Neuigkeiten“, sagte sie. „Große Neuigkeiten.“

Gram setzte sich interessiert auf, und Clementine stellte sofort die Kaffeetasse weg. Jetzt wird’s ernst, dachte Annabel.

„West Montgomery hat mir einen Antrag gemacht und ich habe ihn angenommen.“

„Einen Antrag?“, fragte Clementine verwirrt.

„Einen Heiratsantrag“, fügte Annabel erklärend hinzu.

Clementine riss fassungslos die Augen auf. „Wie bitte? Du willst West Montgomery heiraten? Einfach so?“

Natürlich klang es vollkommen verrückt. Sie war ja schließlich erst seit ein paar Tagen wieder in der Stadt.

„Na ja, der Kochunterricht …“, sagte Annabel. „Eins führte zum anderen …“ Das war zumindest nicht gelogen. „… und dann hat er mir plötzlich den Antrag gemacht.“

Gram streckte den Arm aus und drückte Annabels Hand. „Ich weiß ja noch gut, wie sehr du ihn damals geliebt hast. Dann habt ihr offenbar einfach da weitergemacht, wo ihr vor sieben Jahren aufgehört habt, genauso, wie es sein sollte. Endlich seid ihr zusammen. Ich freue mich so sehr für dich, mein Kind.“

„Ich mich auch“, warf Clementine ein und stand auf, um Annabel zu umarmen. „Habt ihr denn schon ein Datum? Im Juni vielleicht? Bis dahin findest du bestimmt das perfekte Kleid, und ich kümmere mich dann um die Feier. Ich muss sofort …“

„Wir haben beschlossen, am Freitag nach Las Vegas zu fliegen“, unterbrach Annabel sie schnell. „Wir wollen einfach nicht mehr warten und unser gemeinsames Leben endlich beginnen.“

Annabel fing zwar den Blick auf, den Gram und Clementine wechselten, aber sie schienen sich dennoch wirklich für sie zu freuen. Sie wussten schließlich beide, welch tiefe Gefühle sie für West gehabt hatte und kannten sie als vernünftigen Menschen, also gingen sie automatisch davon aus, dass sie genau wusste, was sie tat. Sie zuckten nicht mal mit der Wimper, als sie die beiden bat, niemandem etwas von der Hochzeit zu erzählen, bis sie und West am Freitag abgeflogen waren, damit West es Lucy und den Dunkins selbst sagen könnte.

„Richte deinem hübschen Verlobten aus, dass er bei mir vorbeikommen soll, bevor ihr abfliegt“, verlangte Gram. „Ich will ihm wenigstens meinen Segen geben.“

Annabel nickte, da sie wusste, dass dies keine Bitte war. Gram war vielleicht nicht mehr so gut auf den Beinen wie früher, aber wenn sie etwas wollte, dann setzte sie es auch durch. West würde sich diesen Segen hart verdienen müssen.

Donnerstagabend versuchte West sich noch einmal an den Armen Rittern, und dieses Mal blieb der Rauchmelder stumm und das Gericht war tatsächlich genießbar, wenn auch nicht so lecker wie das, was er bei Annabel gezaubert hatte.

Als Lucy zufrieden etwas Ahornsirup über ihren Toast träufelte, räusperte sich West.

„Süße, erinnerst du dich noch an die nette Frau, die dich im Hurley’s in die Küche geführt hat, damit du dir deinen Nachtisch selbst machen konntest?“

Lucy nickte. „Annabel Hurley. Ich habe sie gestern gesehen, als Nana und ich am Restaurant vorbeigekommen sind. Sie hat gewinkt und Nana hat zurückgewinkt.“

Das waren ja schon mal gute Neuigkeiten. „Sie und ich werden heiraten.“

Lucy riss erstaunt die Augen auf. „Ich bekomme eine Stiefmutter?“

„Ja. Was hältst du davon?“

Begeistert klatsche Lucy in die Hände, doch dann wurde ihr Gesichtsausdruck plötzlich traurig. „Maddy Higgins hat auch eine Stiefmutter bekommen, weil ihre Mom gestorben ist. Ich vermisse Mommy.“

„Deine Mom wird immer deine Mommy bleiben“, sagte West, stand auf und schloss Lucy fest in die Arme. „Niemand wird je etwas anderes von dir verlangen.“

„Und was machen Stiefmütter so?“

„Also, zum einen kann Annabel viel besser kochen als ich, deshalb wird sie dir auch immer ganz leckere Pausenbrote machen. Sie wird dir die Haare kämmen und dir bei den Hausaufgaben helfen, mit dir Verstecken spielen, dir Gutenacht-geschichten vorlesen und dich in den Arm nehmen, wenn du traurig bist.“

„Das klingt gut, Daddy, und ab wann wird sie meine Stiefmutter?“

Erleichterung machte sich in ihm breit. „Wir heiraten morgen“, sagte er. „Am Samstagabend sind wir wieder zurück. Also wird sie am Sonntag, wenn du aufwachst, bereits hier sein.“

„Ich freue mich, dass es Annabel ist“, sagte Lucy ernst. „Sie ist so nett.“

Gerührt drückte West seine Tochter noch einmal an sich. „Ich werde es morgen deinen Großeltern sagen. Ich glaube, die werden sich auch darüber freuen.“

Vor allem setzte er darauf, dass sie daraufhin nicht nur die Sorgerechtsklage fallen ließen, sondern sich in Zukunft auch weniger einmischen würden.

Später, als er Lucy ins Bett gebracht und ihr etwas vorgesungen hatte, stand er draußen auf der Veranda und blickte zum sternenübersäten Himmel hinauf. Hoffentlich würde das alles so funktionieren, wie er es sich vorstellte. Oder hatte er einen furchtbaren Fehler gemacht?

Am Freitagmorgen stand Annabel vor dem Hurley’s und wartete darauf, dass West sie abholte. Atme, sagte sie sich immer wieder. Atme und beruhige dich. Doch als sein silberner Pick-up um die Ecke bog, begann ihr Magen sofort Saltos zu schlagen und es rauschte in ihren Ohren.

West kam den schmalen Weg hinauf. „Bereit?“

„Meine Großmutter würde dir gern vorher noch ihren Segen geben“, sagte Annabel. „Ich bin mir nicht sicher, was sie genau vorhat, also fühl dich besser vorgewarnt.“

„Verstanden“, sagte er und folgte ihr ins Haus.

„Und, hast du schon mit allen gesprochen?“, fragte sie ihn im Flur.

West nickte. „Lucy ist komplett begeistert, und Raina habe ich heute Morgen angerufen. Sie hat mindestens drei Mal gesagt, dass diese Hochzeit alles ändert, und immer wieder betont, wie toll sie dich und deine Familie findet und dass sie sich keine bessere Stiefmutter für Lucy vorstellen könnte. Ach ja, und wir sind am Sonntag zum Essen bei ihnen eingeladen.“

„Oha.“ Annabel schluckte. „Na ja, das müssen wir wohl irgendwie hinter uns bringen, was?“

„Das gehört fürchte ich dazu.“

Die Erinnerung daran, dass sie nur eine Art Scharade spielten, versetzte ihr erneut einen Stich ins Herz. Sie brauchte einen Moment, um sich zu fassen, also klopfte sie an die Zimmertür ihrer Großmutter, kündigte West an und schob ihn dann einfach in den Raum.

Sie selbst hatte sich schon von Gram verabschiedet, die ihr daraufhin ihr eigenes wunderschönes Hochzeitskleid mitsamt einem Spitzenschleier überreicht hatte. Zuerst war sich Annabel nicht sicher gewesen, ob es wirklich angebracht war, ein solches Symbol der wahren Liebe bei ihrer eigenen falschen Hochzeit zu tragen, aber als Gram ihr sagte, wie viel es ihr bedeuten würde, konnte sie natürlich nicht Nein sagen. Der Kleidersack mit dem kostbaren Stück hing jetzt an der Garderobe.

Während Gram mit West sprach, ging Annabel nervös im Flur auf und ab, doch er tauchte schon kurz darauf wieder auf. „Bereit?“, wiederholte er.

Clementine begleitete sie noch nach draußen, umarmte sie beide und wünschte ihnen viel Glück, dann nahm West ihre Tasche und den Kleidersack und trug beides zum Auto. Er öffnete Annabel die Autotür, wartete, bis sie angeschnallt war, und setzte sich dann hinters Steuer.

Annabel blickte noch einmal zu dem hübschen apricotfarbenen Haus hinüber, in dem sie ihre Teenagerzeit verbracht und an der Seite ihrer Großmutter kochen gelernt hatte. Alles würde in ein paar Stunden wieder in Ordnung sein – das Hurley’s würde gerettet werden, und West würde seine Tochter behalten können. Sie brauchte einfach nur „Ich will“ zu sagen.

„Und, was hat meine Großmutter zu dir gesagt?“, fragte sie neugierig, als West losfuhr.

„Dass sie mich umbringen wird, wenn ich dir das Herz breche.“

Annabel lächelte. Gram meinte es gut, aber leider stand schon jetzt fest, dass genau das geschehen würde – und zwar zum zweiten Mal.

West hatte tatsächlich Wort gehalten und sich um alles gekümmert. Er hatte ein Hotelzimmer gebucht – ein gemeinsames, damit sie sich schon einmal daran gewöhnen konnten, im selben Zimmer zu schlafen, wie er sagte – und hatte einen Termin in einer schlichten, aber eleganten Hochzeitskapelle reserviert. Nach der Ankunft im Hotel hatten sie noch fast eine Stunde Zeit, um sich umzuziehen.

West hatte offenbar keine Kosten gescheut und ein richtig teures Hotel ausgesucht. Während er sich im Bad umzog – wofür sie dankbar war, denn ihn jetzt auch noch halb nackt zu sehen, wäre vielleicht doch ein wenig zu viel für sie gewesen – starrte sie auf das riesige Doppelbett, das fast die Hälfte des Raumes einnahm.

Wenn sie heute Abend ins Bett ging, würde sie Mrs. Annabel Hurley Montgomery sein. Wie oft hatte sie diesen Namen schon in Schönschrift in ihr Tagebuch gemalt, anstatt ihre Hausaufgaben zu machen? Bestimmt tausend Mal.

„Ist es okay für dich, wenn ich meinen Mädchennamen als Zweitnamen behalte?“, rief sie durch die geschlossene Badezimmertür. „Die Dunkins erwarten bestimmt, dass ich mich nur Annabel Montgomery nenne, aber ich habe keinen zweiten Vornamen, deshalb gefällt mir Annabel Hurley Montgomery ganz gut.“

„Natürlich“, rief er aus dem Bad. „Annabel Hurley Montgomery, kein Problem. Das ist wahrscheinlich auch besser für das Geschäft.“

Das Geschäft, richtig. Wie gut, dass wenigstens einer sie ständig daran erinnerte, worum es hier eigentlich in Wirklichkeit ging.

Als West aus dem Bad kam, trug er einen eleganten Smoking, und sah darin so umwerfend aus, dass es ihr den Atem verschlug.

„Im Anzug mache ich mich nicht schlecht, was?“

Sie konnte den Blick einfach nicht von ihm abwenden. „Kann man so sagen.“

Er lachte. „Jetzt bist du dran. Es sei denn, du möchtest in Jeans und Flip-Flops heiraten.“

Lächelnd griff sie nach ihrem Kleidersack und verschwand im Bad. Clementine hatte passend zum Kleid noch ein paar Pumps spendiert, die sie einmal als Trauzeugin getragen hatte. Zum Glück hatten sie beide dieselbe Größe.

Etwas Altes: Grams Kleid und Schleier.

Etwas Neues: Den Spitzen-BH und das dazu passende Höschen, die sie mal in Dallas gekauft, aber bis jetzt niemals getragen hatte.

Etwas Geborgtes: Clementines Schuhe.

Etwas Blaues: das Saphirarmband ihrer Mutter.

Sie schlüpfte aus ihren Alltagskleidern und in das zarte Spitzenkleid, das aussah wie aus einem Film mit Grace Kelly oder Audrey Hepburn. Es war knielang und ärmellos, und sie sah so schön darin aus, dass sie beinah in Tränen ausgebrochen wäre. Ihre Großmutter hatte vor fünfzig Jahren in genau diesem Kleid die Liebe ihres Lebens geheiratet.

Und jetzt war es an ihr: Sie heiratete zwar den richtigen Mann im richtigen Kleid, aber leider nur aus rein geschäftlichen Gründen.

Hastig setzte sie den Schleier auf und fing fast wieder an zu weinen, als sie sich im Spiegel betrachtete. Sie sah aus wie eine richtige Braut.

Wenn doch nur ihre Großmutter, ihre Schwester und ihre Eltern hier sein könnten! Sie hatte Clementine aber wenigstens ein paar Fotos versprochen, also machte sie einige Selfies, was allerdings so albern war, dass sie lachen musste. Etwas leichtes Make-up, und sie war fertig.

Als sie die Badezimmertür öffnete, starrte West sie sprachlos an.

„Oh mein Gott, Annabel, du bist unglaublich schön“, sagte er schließlich. „Zu schön, um wahr zu sein.“

Mühsam brachte sie ein Lächeln zustande. Auf keinen Fall durfte sie jetzt anfangen zu weinen, denn dann würde ihre ganze Wimperntusche verlaufen.

„Na, dann lass uns mal heiraten!“, sagte West.

Kurz darauf standen sie bereits in der kleinen Hochzeitskapelle. Ein schmaler roter Teppich führte von der Tür zu einem Platz vor einem Buntglasfenster, wo neben einem Bukett aus roten Rosen die Standesbeamtin wartete. Sie stellte Annabel und West kurz die Trauzeugen vor, da sie selbst keine mitgebracht hatten, und begann dann mit der Zeremonie.

Annabel stand West gegenüber und schluckte schwer. Es würde ihr nicht leichtfallen, einen Eid nachzusprechen, in dem es darum ging, den anderen zu lieben und zu ehren, bis dass der Tod sie schied, wenn es in Wahrheit doch eigentlich um etwas ganz anderes ging.

Eigentlich sollte das Ganze so ablaufen … Annabel: Ich gelobe, deiner Tochter immer ein gesundes Frühstück zuzubereiten, ihr die Haare zu kämmen und ihre Kleidung in Ordnung zu halten.

West: Ich gelobe, Hurley’s Homestyle Kitchen vor dem Bankrott zu retten.

Als der Teil mit den Ringen kam, bekam Annabel einen Moment lang Panik, doch West hatte auch daran gedacht. Er holte nun zwei Ringe aus seiner Tasche. Einen schlichten Goldreif für ihn und einen wunderschön mit Diamanten besetzten für sie.

„Nehmen Sie diese Frau, Annabel Hurley, zu Ihrer gesetzlich angetrauten Ehefrau?“, fragte die Standesbeamtin jetzt.

Offenbar hatte West bei der Terminabsprache darauf hingewiesen, dass es in der Zeremonie nicht um Liebe und Treue gehen sollte. Er nahm Annabels linke Hand in seine, streifte ihr den Ring halb über den Finger und räusperte sich kurz.

„Ja“, sagte er dann und schob ihr den Ring ganz auf den Finger. Er passte perfekt, was erstaunlich war. Er musste Clementine gebeten haben, heimlich den Ring auszumessen, den sie liebte, aber wegen ihrer Arbeit in der Küche nicht oft tragen konnte. Einen Silberring mit einem Türkis, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte.

Annabel versuchte nun, West in die Augen zu blicken, brachte es aber einfach nicht fertig, also starrte sie auf ihren Ring und dann auf ihre Schuhe.

Nun war sie dran. West reichte ihr seinen Ring und streckte die Hand aus. Sie tat es ihm gleich und streifte ihm den Ring halb über.

„Und nehmen Sie diesen Mann, Weston Dallas Montgomery, zu Ihrem gesetzlich angetrauten Ehemann?“

Sie hatte gar nicht gewusst, dass sein zweiter Vorname Dallas war. Sie heiratete einen Mann, von dem sie eigentlich so gut wie gar nichts wusste. Jetzt blickte sie ihm doch in die Augen, und ein Teil von ihr wollte jubeln: „Ja, natürlich tue ich das! Er ist schließlich West Montgomery, die Liebe meines Lebens!“

Aber sie war vernünftig genug zu wissen, dass er sie nicht aus Liebe heiratete, und daher fühlte sich das alles hier vollkommen falsch an. So falsch, dass ihr sogar leicht übel wurde und ihr Tränen in die Augen traten.

„Ist alles okay bei dir?“, flüsterte West ihr nun besorgt zu.

„Ich bin nur ein wenig von den Gefühlen überwältigt“, presste sie hervor, dann atmete sie tief durch, sagte laut Ja und schob den Ring ganz auf seinen Finger.

Er nickte und drückte anschließend leicht ihre Hand.

„Ich erkläre Sie hiermit zu Mann und Frau“, verkündete die Standesbeamtin. „Sie dürfen die Braut jetzt küssen.“

West beugte sich vor, umschloss ihr Gesicht mit den Händen und tat genau das – und zwar leidenschaftlich. Auch Annabel hielt sich nicht zurück und erwiderte den Kuss aus vollstem Herzen. Dieser Kuss hatte nichts Gespieltes, nichts Unechtes und nichts Geschäftliches an sich. Er zeigte ihr außerdem, dass West zumindest Verlangen für sie empfand. Aber dann war er vorüber und West trat einen Schritt zurück.

Die Trauzeugen machten im Anschluss viele Fotos mit Wests und Annabels Handy, von denen er sofort welche an die Dunkins schicken würde, damit diese sie Lucy zeigten. Danach war schon das nächste Brautpaar dran, und Mr. und Mrs. Montgomery fanden sich auf der Straße wieder.

„Nun denn, Mrs. Annabel Hurley Montgomery, wie haben Sie sich Ihren Hochzeitsabend denn vorgestellt? Möchten Sie die Stadt unsicher machen oder lieber auf dem Balkon des Hotelzimmers zu zweit zu Abend essen?“

„Was ist dir denn lieber?“, fragte sie und hoffte im Stillen, er würde sich für die zweite Variante entscheiden.

„Nur wir beide auf dem Balkon.“

„Ja, das gefällt mir auch.“

Zu Fuß gingen sie zum Hotel zurück und ließen sich auf dem Weg von den Passanten gratulieren. Im Fahrstuhl dachte Annabel aufgeregt darüber nach, dass sie in puncto Sex noch zu keiner vollständigen Einigung gekommen waren. Erwartete West jetzt eine richtige Hochzeitsnacht? Und was wollte sie eigentlich selbst? War es besser, sich zurückzuhalten, weil die Sache sowieso keine Zukunft hatte, oder sollte sie einfach kurzerhand nehmen, was sie kriegen konnte und einfach glücklich damit sein? Würde Sex diese geschäftliche Vereinbarung vielleicht nur unnötig verkomplizieren? Gab es andererseits überhaupt etwas, was Sex nicht verkomplizierte?

Ihre Gedanken wurden nun immer mehr davon abgelenkt, dass West in dem engen Fahrstuhl so dicht neben ihr stand und sie ständig die Bilder davon im Kopf hatte, wie sie auf dem Heuboden in seinen Armen lag. Der Mann ihrer Träume war jetzt ihr Ehemann und sie wollte ihn. Sie wollte ihn so sehr, dass es fast wehtat!

West trug sie nicht über die Schwelle, aber er führte sie auf den Balkon, wo sie weitere Selfies machten, auf denen die Ringe zu sehen waren. Anschließend bestellten sie das Abendessen und beschlossen, sich etwas Bequemeres anzuziehen, während sie auf den Zimmerservice warteten. West ging zuerst ins Bad und kam in sehr sexy Jeans und einem dunkelblauen T-Shirt wieder heraus. Annabel verstaute das kostbare Kleid wieder sorgfältig in dem Kleidersack, bevor sie in ihre auf Figur geschnittenen Jeans und ein weißes Trägerhemd schlüpfte. Die Spitzenwäsche darunter ließ sie an.

Einen Moment lang war sie versucht, auch den Ehering abzustreifen, aber den musste sie wohl weiterhin tragen, wenn ihre Geschichte überzeugen sollte. Wie lange es wohl dauern würde, bis sich der Ring nicht mehr wie ein Fremdkörper an ihrem Finger anfühlte?

West erwartete sie bereits auf dem Balkon, wo er ihnen zwei Gläser Sekt einschenkte und ihr eines davon reichte. Offenbar war ihr Abendessen inzwischen gebracht worden.

„Auf dich“, sagte er. „Denn ohne dich …“ Er wandte den Kopf und ließ den Blick über das atemberaubende Panorama schweifen. „Manchmal kann ich es gar nicht glauben, dass wir wirklich so drastische Maßnahmen ergreifen mussten.“

Es klang, als hätte er ein riesiges Opfer bringen müssen.

„Ich dachte wirklich, ich würde nie wieder heiraten“, fuhr er fort. „Gebranntes Kind scheut das Feuer … du weißt schon.“

Sie setzten sich an den kleinen runden Tisch und er hob die silberne Haube von seinem Teller. Er hatte sich für Rinderfilet entschieden.

„Wieso gebrannt?“, fragte sie. Erneut fiel ihr auf, wie wenig sie eigentlich über ihn und seine erste Ehe wusste.

Sie nahm jetzt ebenfalls die Haube von ihrem Teller. Die Seezunge sah köstlich aus, aber viel Appetit hatte Annabel nicht.

„Vielleicht sollten wir zuerst einmal unseren Toast aussprechen“, sagte er und stieß mit ihr an. „Darauf, dass diese Heirat ihren Zweck erfüllt.“

Du lieber Himmel. Je weniger dieser Mann redete, desto besser war es. Ob zum Serviceangebot dieses schicken Hotelzimmers auch Ohrenstöpsel gehörten?

Natürlich war ihr klar, dass es sich bei ihrer Ehe lediglich um ein Geschäftsabkommen handelte, aber immerhin würden sie zusammenwohnen, im selben Bett schlafen und in der Öffentlichkeit als glückliches, frisch vermähltes Paar auftreten. West könnte doch wenigstens versuchen … was auch immer. Das hier war einfach frustrierend. Aber was erwartete sie denn? Dass er jetzt plötzlich so tat, als ob er sie lieben würde? Natürlich nicht.

Er schnitt einen Bissen von dem Filet ab. „Ich habe Lorna nur geheiratet, weil sie schwanger war. Ehrlich gesagt mochte ich sie zu diesem Zeitpunkt nicht mal besonders. Aber sie trug mein Kind in sich, also habe ich ihr einen Heiratsantrag gemacht. Weißt du, was sie darauf geantwortet hat? ‚Wenn du mir diesen Zweikaräter aus dem Schaufenster vom Blue Gulch Juwelier besorgst, okay, dann heirate ich dich.‘ Also habe ich mein damals einziges Rind verkauft, und sie bekam ihren Ring.“

„Also hätte sie dich gar nicht geheiratet, wenn du ihr diesen Ring nicht gekauft hättest?“

West lachte. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht.“

„Du hast gesagt, du mochtest sie zu diesem Zeitpunkt nicht besonders. Das hat sich dann aber später geändert, oder?“

Wenn sich in dieser ersten ungewollten Ehe zwischen ihm und Lorna die Dinge irgendwann verbessert hatten, dann gab es für sie ja vielleicht auch noch Hoffnung. Vielleicht.

„Sie hatte auch ihre guten Seiten, und bald nach der Hochzeit verkündeten mir meine Eltern, dass sie nach Austin ziehen würden und ich das Haus und ihre kleine Rinderherde haben könnte. Eine Art Hochzeitsgeschenk, nehme ich mal an. Lorna hasste die Idee, aber entweder wäre sie bei mir eingezogen oder wir hätten bei ihren Eltern wohnen müssen, also entschied sie sich letzten Endes für die Ranch.“

Annabel versuchte gerade, sich Lorna Dunkin mit ihren zehn Zentimeter hohen Absätzen auf einer Ranch vorzustellen.

„Jedenfalls gefiel es ihr während der Schwangerschaft zuerst ganz gut dort“, erzählte West weiter „aber dann wurde ihr plötzlich alles zu viel. Kurz vor der Entbindung wollte sie unbedingt wieder in die Stadt ziehen, was ich mir aber nicht leisten konnte. Außerdem waren meine Eltern erst ein paar Monate zuvor gestorben. Das Haus und das Land waren das Einzige, was mir von meiner Familie noch geblieben war, und es kam deshalb für mich nicht infrage, es zu verkaufen, obwohl ich mich mit meinen Eltern nicht einmal besonders gut verstanden hatte.“

„Das verstehe ich. Mir fiel es damals auch schwer, zu Gram zu ziehen, nachdem meine Eltern gestorben waren.“

West nickte. „Dann kam Lucy auf die Welt, und ich empfand so viel Liebe für dieses kleine Bündel Baby, dass ich alles versucht habe, damit es zwischen mir und Lorna gut läuft. Sie hatte durchaus Humor und hatte gern Spaß, und ab und zu kümmerte sie sich wirklich rührend um Lucy. Aber sie hasste die Ranch, wollte andauernd mit ihren Freundinnen ausgehen und blieb schließlich immer öfter über Nacht in der Stadt. Ich habe alles versucht, um sie glücklich zu machen, damit Lucy ein richtiges Elternhaus hat, aber kurz vor dem Autounfall erklärte Lorna mir schließlich, dass sie es nicht noch eine Minute länger aushalten würde und mich verlassen würde. Sie könne einfach keine gute Mutter sein, wenn sie so unglücklich war, also würde sie stattdessen nach New York gehen, um dort Sängerin zu werden.“

Er schüttelte den Kopf, als könne er es immer noch nicht glauben. „Kannst du dir vorstellen, dein eigenes Kind einfach so zu verlassen? Lucy war damals erst fünf Jahre alt!“

„Nein!“

„In diesem Moment erloschen alle Gefühle, die ich jemals für Lorna gehabt haben mochte“, sagte er und trank einen Schluck Sekt.

Annabel wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Appetit hatte sie schon längst keinen mehr, also nippte sie ebenfalls an ihrem Glas.

„Wenigstens weiß ich dieses Mal, von Anfang an, was Sache ist“, erklärte er und streckte die linke Hand aus, an der sein Ehering glänzte. „Glaub mir, dass hier ist mir viel lieber. Wir wissen genau, was wir tun, was ich empfinde und was du empfindest.“

„Ach ja?“, sagte sie. „Was empfinde ich denn?“

Überrascht blickte er sie an. „Dir bedeutet es alles, das Hurley’s zu retten. Du würdest alles, was in deiner Macht steht, für deine Großmutter tun, und das tust du auch – du heiratest dafür einen Mann, den du kaum kennst und den du nicht liebst und wahrscheinlich nicht einmal besonders magst.“ Er ließ den Kopf sinken. „Wenn ich daran denke, wie es vor sieben Jahren zwischen uns war, hasst du mich wahrscheinlich sogar.“

Annabel war sich nicht sicher, ob sie jetzt darüber reden wollte. „Ich hasse dich nicht“, stellte sie klar. „Ganz offensichtlich“, fügte sie mit einem kleinen Lächeln hinzu.

„Offensichtlich. Sonst hätte dich auch alles Geld der Welt nicht dazu gebracht, mich zu heiraten.“

Am liebsten hätte sie ihm erwidert, dass sie ihn auch ohne einen Cent geheiratet hätte, damit er seine Tochter behalten konnte. Aber so verletzlich wollte sie sich dann doch nicht machen.

„Es tut mir sehr leid, was ich dir damals angetan habe. Ich hätte später wenigstens mit dir darüber reden müssen“, sagte er.

„Das alles ist schon so lange her. Fast ein ganzes Leben.“

Zumindest für ihn. Sie stand auf und stützte sich auf das Balkongeländer. Die Frage, warum er damals so plötzlich aufgehört und sie dann nie wieder angeschaut hatte, beschäftigte sie nun schon seit sieben Jahren. Vielleicht würde sie ja nun eine Antwort bekommen.

„Was ist damals denn passiert?“, fragte sie leise, während sie den Blick starr auf das Stadtpanorama richtete.

Er stellte sich neben sie. „Mir wurde plötzlich klar, dass ich dich nur ausnutzte, also habe ich aufgehört.“

Überrascht drehte sie sich zu ihm um. „Was?“

„In der Nacht war ich ja kaum noch bei Sinnen. Ich hatte gerade meinen Bruder verloren. Meine Eltern hatten mich ignoriert, weil ich das schwarze Schaf der Familie war, der Rebell und der Unruhestifter. Sie haben es zwar nie laut gesagt, aber ich wusste genau, was sie dachten: Warum hat es nicht West treffen können?

Ihr Herz zog sich sofort vor Mitgefühl zusammen. Was für ein furchtbarer Gedanke!

„Niemals!“, widersprach sie ihm vehement. „Niemand hat das je gedacht, West.“ Sie legte eine Hand auf seinen Arm, doch er zuckte zusammen und zog ihn hastig weg.

„Es ist tatsächlich schon lange her“, sagte er mit belegter Stimme.

Über seine Eltern zu sprechen war wohl immer noch schwierig für ihn, also wechselte sie lieber das Thema. „Du hast mich übrigens nicht ausgenutzt. Ich war schließlich auch sehr bereitwillig bei der Sache.“

„Ich weiß, aber trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass du direkt vom ersten Gespräch, das wir jemals hatten, zu Sex übergehen wolltest. Du warst du … du warst wunderschön und ich konnte die Hände einfach nicht von dir lassen. Aber dann wurde mir zum Glück gerade noch rechtzeitig klar, wie falsch das alles war.“

Er hatte sie schön gefunden? „Ich dachte immer, es war die Trauer, die dich dazu gebracht hat“, sagte sie. „Ich meine, ich war schließlich Freakabel, und du warst der große West Montgomery.“

„Freakabel?“, fragte er und zog eine Augenbraue hoch.

„Einige Mädchen in der Schule haben mich so genannt. Ich habe immer gedacht, du siehst mich auch so.“

Offenbar hatte er keine Ahnung, was sie damit meinte, denn er wirkte verwirrt. „Ich weiß nur, dass das schöne, große, rothaarige Mädchen, dass ich in der Stadt gesehen hatte und das im Hurley’s arbeitete, plötzlich mit mir auf dem Heuboden war und mir zuhörte, wie es nie zuvor jemand getan hatte. Als ob das, was ich sagte, auf einmal eine Bedeutung hätte. Ich wollte dich an dem Abend so sehr. Und als ich dir das T-Shirt ausziehen durfte und deinen Spitzen-BH gesehen habe, verlor ich einfach komplett die Kontrolle und machte mich über dich her.“

Oh ja, daran erinnerte sie sich nur zu gut.

„Aber dann habe ich dir in die Augen geschaut, und du sahst so unglaublich unschuldig und vertrauensvoll aus, und mir wurde bewusst, dass ich mich wie ein Dreckskerl benahm. Also habe ich sofort aufgehört.“

„Oh West“, sagte sie und legte ihm wieder die Hand auf den Arm.

Er drehte sich zu ihr um und zog sie in die Arme, dann küsste er sie ohne weitere Umschweife. Sie schloss die Augen und schlang ihm die Arme um den Hals. Mühelos hob er sie hoch – sie war keine kleine Frau – und trug sie zu dem riesigen Bett, wo er sich ohne zu zögern auf sie legte, sich rechts und links von ihr aufstützte und sie fordernd und besitzergreifend küsste.

Sie schloss genüsslich die Augen, als er sich kurze Zeit später neben sie legte, sich auf einen Ellenbogen aufstützte und die andere Hand langsam unter ihr Top schob, um ihre Brüste zu streicheln. Quälend langsam ließ er die Finger danach zu ihrem Bauch hinuntergleiten und schließlich zum Bund ihrer Jeans. Geschickt öffnete er die Knöpfe, dann streifte er ihr die Hose ab.

Atemlos spürte sie seine Lippen auf der empfindlichen Haut über ihrem Hüftknochen, und eine wohlige Gänsehaut überlief sie. Sie konnte es nicht abwarten, ihn endlich in sich zu spüren, doch er nahm sich alle Zeit der Welt. Spielerisch schob er zuerst einen Finger unter den Bund ihres Spitzenhöschens und bewegte es dann zentimeterweise nach unten. Überwältigt schloss sie die Augen und genoss die Empfindungen, die durch ihren Körper schossen. Sie seufzte leise und protestierend, als West die Hände wegnahm. Zum Trost bedeckte er ihren Bauch mit unzähligen kleinen Küssen, während er sich selbst das T-Shirt und die Hose auszog.

Nackt legte er sich wieder auf sie, und nur noch der Spitzenstoff ihres BHs war jetzt zwischen ihnen. Verlangend rieb sie sich an seiner Brust. Er schien ihre Gedanken lesen zu können, denn er schob nun eine Hand in ihren Nacken und hob sie so weit hoch, dass er den Verschluss öffnen und ihr den BH abstreifen konnte. Anschließend beugte er sich über sie und küsste zärtlich ihre Brüste, bis sie vor Verlangen aufstöhnte.

„Ich kann nicht mehr warten“, flüsterte er schließlich heiser, griff zum Nachttisch hinüber und streifte sich ein Kondom über. „Du bist einfach so unglaublich wunderschön.“

Erneut spürte sie seine Lippen auf ihren, und dann war er endlich in ihr! Es fühlte sich so vertraut und gleichzeitig so unglaublich erregend an. Endlich war sie vereint mit dem Mann, den sie so sehr liebte! Und nicht nur vereint, sondern sogar verheiratet. Das war der letzte Gedanke, bevor Annabel sich ganz ihren Gefühlen hingab und sich mit einem erleichterten Seufzen zu einem unglaublichen Höhepunkt tragen ließ.

6. KAPITEL

Als West am nächsten Morgen aufwachte und Annabel nackt und schlafend neben sich vorfand, hätte er ihr am liebsten eine rotbraune Strähne aus dem Gesicht gestreichelt und sie dann sanft in die Arme gezogen, um sie mit zärtlichen Küssen zu wecken. Doch sie sah so friedlich und unschuldig aus, dass er sich umso mehr dafür schämte, sie schon wieder ausgenutzt zu haben. Und dieses Mal hatte er die Kontrolle vollkommen verloren und tatsächlich mit ihr geschlafen. Ihre Heirat war doch eigentlich ein reines Geschäftsabkommen, und deshalb war es vollkommen idiotisch, dies mit Sex zu verkomplizieren. Einer von ihnen beiden würde dabei unweigerlich verletzt werden, und es stand noch nicht fest, wer.

Er durfte nicht vergessen, dass er Annabel nur wegen Lucy geheiratet hatte. Auf sie sollte er sich jetzt konzentrieren und nicht auf sein Verlangen. In Zukunft würde er sich zurückhalten – körperlich sowie emotional. In drei, sechs oder zwölf Monaten – je nachdem, wie lange es dauerte, bis er alles gelernt hatte, was ein alleinerziehender Vater wissen musste – würde Annabel wieder ausziehen und sich um ihr eigenes Leben kümmern. Sie verdiente etwas Besseres als das hier – einen Scheinehemann, der sich so wenig unter Kontrolle hatte, dass er die erste Gelegenheit ausnutzte und mit ihr schlief.

Er hob leise seine Jeans vom Boden auf und zog das Handy aus der Gesäßtasche. Es war noch nicht einmal sechs Uhr, und ihr Flug ging erst um zehn. Sehnsüchtig blickte er zu Annabel hinüber. Am liebsten wäre er sofort wieder zu ihr ins Bett geschlüpft, um zu wiederholen, was sie letzte Nacht getan hatten, und das mehrmals.

Autor

Meg Maxwell
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