Liebe, unendlich wie das Meer

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Das weite Meer bedeutet dem erfolgreichen Segelsportler Alex Moorehouse Glück und unendliche Freiheit! Bis sein bester Freund Reese bei einer Regatta ums Leben kommt. Schwere Schuldgefühle quälen Alex: Hätte er Reese retten können, wenn er nicht in diesem Moment an dessen Frau Cassandra gedacht hätte? Denn in die elegante Architektin ist er seit ihrer ersten Begegnung verliebt. Niemals darf sie erfahren, dass er sie begehrt, das ist er dem toten Freund schuldig. Doch als Cassandra ihn eines Tages überraschend besucht, gerät Alex’ ehrenhafter Vorsatz in Gefahr …


  • Erscheinungstag 08.09.2008
  • Bandnummer 1644
  • ISBN / Artikelnummer 9783863498801
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Alex Moorehouse dachte nicht im Traum daran, auf das Klopfen an seiner Zimmertür zu reagieren – und das nicht nur, weil er im Bett lag und sein Buch gerade besonders spannend war. Auch sonst konnte er auf Besucher gut verzichten. Im Moment kam die Störung sogar besonders ungelegen – gerade hatte er für sein eingegipstes Bein eine Position gefunden, in der der ständige Schmerz erträglicher wurde. Das kam selten genug vor, also würde er sich bestimmt nicht freiwillig bewegen.

Sein Unfall war jetzt über drei Monate her, aber noch immer wollte der mehrfach gebrochene Unterschenkel nicht heilen. In dieser Zeit hatte er vier Operationen über sich ergehen lassen, und noch immer waren die Ärzte nicht sicher, ob sie sein Bein überhaupt retten konnten. Alex hasste es, so unbeweglich und abhängig zu sein.

Wieder klopfte es, und wieder rührte er sich nicht. Wenn er nicht antwortete, dachten seine beiden Schwestern, er schliefe, und kamen später wieder. Sie schauten sowieso viel zu oft nach ihm und lagen ihm dabei ständig mit irgendwas in den Ohren: Er sollte mehr essen, sich nach unten zum Rest der Familie gesellen oder sich einen Therapeuten für die Trauerarbeit suchen.

Sosehr er die beiden liebte – manchmal wünschte er sich, sie würden ihn einfach in Ruhe lassen und sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.

Die Tür öffnete sich einen Spalt, und Joy, die jüngere der Schwestern, steckte den Kopf herein. Ihr erster Blick ging wie immer zur Whiskyflasche neben dem Bett. Er überlegte kurz, ob er ein Kissen darüberwerfen sollte, ließ es dann aber. Wozu die Mühe?

Abwartend und ein wenig trotzig schaute er Joy an. Sie schien ziemlich nervös zu sein, denn sie wich seinem Blick aus.

„Da ist jemand, der dich sehen will“, erklärte sie zögernd.

„Schick ihn weg“, verlangte er. Seine Stimme klang heiser. Der viele Whisky schlug ihm langsam auf die Stimmbänder. Seiner Leber ging es wahrscheinlich auch nicht sehr gut.

„Aber …“

„Ich habe niemanden eingeladen“, schnitt er ihr das Wort ab. „Niemand weiß, dass ich hier bin. Also schick ihn weg.“

Vor einigen Wochen hatte ein Brand sie aus ihrem bisherigen Zuhause White Caps vertrieben. Das große Herrenhaus am Saranac Lake war die ehemalige Sommerresidenz der Familie Moorehouse. Alex’ Eltern hatten den Landsitz jedoch zu einer Hotelpension umgebaut, um die Unterhaltungskosten bestreiten zu können, und wohnten mit ihren Kindern im Dienstbotenflügel. Jetzt führte Frankie das Geschäft zusammen mit ihrem Mann Nate. Gerade als es nach langen schweren Jahren endlich wieder aufwärtszugehen schien, hatte ein defekter Herd einen Küchenbrand verursacht, der auch den Dienstbotenflügel in Mitleidenschaft gezogen hatte.

Nun wohnten sie auf Einladung von Joys Verlobtem Gray alle in seinem Sommersitz in Saranac Lake, bis das White Caps renoviert war.

„Alex …“, versuchte es Joy noch einmal.

Er hob eine Augenbraue. „Gibt es sonst noch was?“

Joy seufzte. „Es ist kein Er, sondern eine Sie“, erklärte sie. „Cassandra.“

Gequält schloss Alex die Augen. Sofort sah er die Frau vor sich, die ihm seit sechs Jahren nicht aus dem Kopf ging. Ihre kupferroten Haare und ihre großen grünen Augen. Ihr strahlendes Lächeln, ihre unvergleichliche Eleganz. Ihren Ehering.

Wie immer überwältigten ihn an dieser Stelle Schuldgefühle. Er sah sich wieder auf der Jacht, die wie ein Spielzeugschiffchen vom Hurrikan hin und her geworfen wurde. Hielt wieder die Hand seines Segelpartners und Freundes umklammert, den eine Welle über Bord gespült hatte. Durchlebte den entsetzlichen Moment, in der er ihn losließ und Reese von der See verschluckt wurde. Er hatte die Wellen abgesucht, seinen Namen gerufen, bis er heiser gewesen war. Vergeblich.

In jener schrecklichen Nacht blieb das Schicksal unerbittlich. Alex war schließlich selbst von einem herunterkrachenden Trümmerstück eingeklemmt und erst am nächsten Morgen von der Küstenwache gerettet worden. Reese Cutler jedoch war ertrunken und Cassandra Cutler zur Witwe geworden. Eine Schuld, die Alex bis zum Ende seines Lebens verfolgen würde.

„Du hast Cassandra zu deiner Hochzeit eingeladen?“, stieß Alex hervor.

Joy schluckte. „Ja.“

„Und sie wird hier wohnen?“

„Ja.“

„Dann ziehe ich aus.“ Er machte Anstalten, sich aufzusetzen, ließ sich aber zurücksinken, als der Schmerz in seinem Bein sich wieder meldete.

„Das geht doch nicht“, widersprach Joy.

„Und wie das geht.“ Wenn es sein musste, würde er auf dem Bauch zum White Caps robben. Das Haus selbst war zwar unbewohnbar, aber auf dem Gelände gab es noch eine große Scheune, an die sein Vater einen Werkstattschuppen angebaut hatte – mit einem Kanonenöfchen und einem kleinen Waschraum.

„Du hast aber versprochen, dass du hierbleibst, bis du beim Arzt warst …“

„Der Termin ist am Montag. Auf die drei Tage kommt’s ja wohl nicht an.“

Joy starrte zu Boden. „Ich hatte so gehofft, dass wir bei meiner Hochzeit alle zusammen sind“, sagte sie leise. „Du, Frankie und ich. Es ist so lange her, dass wir eine Familie waren.“

„Hör auf damit“, forderte er heiser.

Verdammt, damit blieb ihm dieser Fluchtweg wohl versperrt. So selbstsüchtig und stur er sein konnte, er würde seiner kleinen Schwester nicht den glücklichsten Tag ihres Lebens verderben. Schlimm genug, dass sie ihre Hochzeit ohne die viel zu früh verstorbenen Eltern feiern musste.

„Bitte bleib hier, Alex.“

„Nur, wenn ich diese Frau nicht sehen muss.“

„Aber sie möchte doch nur mit dir reden.“

„Dann sag ihr, dass ich sie später anrufe.“ Darauf konnte sie dann lange warten.

„Sag’s ihr doch selbst“, murmelte Joy. Nach einer Weile fügte sie hinzu: „Sie trauert genau wie du. Sie braucht Unterstützung.“

„Aber bestimmt nicht von mir.“

Sicher legte Cassandra keinen Wert auf den Trost eines Mannes, der sie schon jahrelang begehrte. Der sich jede Nacht vorstellte, wie es wäre, ihre seidige Haut zu streicheln und ihre Lippen zu berühren. Was nützten ihr Beileidsbekundungen von dem Mann, der sie erst zur Witwe gemacht hatte?

Angewidert schloss Alex die Augen, als Übelkeit in ihm aufstieg.

„Alex …“, sagte Joy bittend.

„Ich kann ihr nichts geben“, stieß er hervor. „Weder Trost noch Unterstützung. Also sag ihr, sie soll mich in Ruhe lassen.“

„Wie kannst du nur so grausam sein?“

„So bin ich nun mal.“

Als Joy endlich gegangen war, setzte Alex sich vorsichtig auf. Dann hob er das Gipsbein mit beiden Händen aus dem Bett, griff nach seinen Krücken, stellte sich mühsam hin und humpelte zum Spiegel.

Er sah furchterregend aus. Seine Augen waren blutunterlaufen und lagen tief in den Höhlen. Das Gesicht war leichenblass und eingefallen, was durch die Bartstoppeln noch betont wurde.

Ich bin ein Wrack, dachte er.

In ein paar Tagen würde er erfahren, ob sein Bein nun endlich heilte oder unterhalb des Knies amputiert werden musste. Schon bei einer der ersten Operationen war ihm anstelle des mehrfach zertrümmerten Schienbeins ein Titanstab eingesetzt worden – der jedoch wegen einer Infektion wieder entfernt werden und durch einen anderen ersetzt werden musste. Dies war der zweite und letzte Versuch. Wenn sich bei dem Termin am Montag herausstellte, dass unter dem Gips wieder eine Infektion schwelte oder der Stab nicht angewachsen war, würde er das Bein unterhalb des Knies verlieren.

Nicht, dass es einen Unterschied machte. Ob mit einer Beinprothese oder einem künstlich aufgebauten Knochen – wie er je wieder in seinem Beruf arbeiten sollte, stand völlig in den Sternen. Als professioneller Regattasegler musste man körperlich und geistig fit sein. Auf ihn traf im Moment beides nicht zu.

Wieder klopfte es an der Tür.

„Ich hab doch gesagt, dass ich sie nicht sehen will“, rief er.

„Ja, das habe ich gehört“, erwiderte Cassandra leise von draußen.

Alex schloss die Augen. Das fehlte ihm gerade noch!

Entmutigt legte Cassandra Cutler die Stirn an den Türrahmen. Alex klang genau wie früher: ungeduldig, unwirsch und genervt von ihr. Der Mann hatte sie noch nie gemocht, was sie nicht weiter gestört hätte – wenn er nicht gerade Reeses bester Freund und Vertrauter gewesen wäre.

Reese hatte ihr oft versichert, dass Alex auch auf andere unnahbar wirkte, doch sie wusste genau, dass es an ihr lag. Meist ging er ihr aus dem Weg – und wenn es doch mal zu einer Begegnung kam, starrte er sie finster an. Offenbar konnte er sie einfach nicht leiden, auch wenn sie ihm nie etwas getan hatte.

Deshalb überraschte es sie auch nicht, dass er sie jetzt nicht sehen wollte – aber es verletzte sie. Obwohl sie es nun wirklich nicht nötig hatte, um Alex’ Zuneigung oder Respekt zu betteln, hoffte sie immer noch, dass sich ihr Verhältnis bessern würde. Mit seiner unglaublichen Disziplin und seinen hohen Ansprüchen, seinem durchtrainierten Körper und seinem wachen Intellekt war Alex ein Mann, der fast allen Menschen Respekt und Bewunderung einflößte. Seine Crew liebte und fürchtete ihn, und selbst Reese war ins Schwärmen geraten, wann immer er von ihm sprach.

Wenn man von Alex akzeptiert oder gemocht wurde, hatte man eine Art Persönlichkeitstest bestanden – so empfand es jedenfalls Cassandra. Deshalb machte ihr seine offene Ablehnung mehr zu schaffen, als sie zugeben wollte.

Sie fragte sich gerade, ob sie es nicht einfach aufgeben und wieder nach unten gehen sollte, als die Tür von Alex’ Zimmer plötzlich von innen aufgerissen wurde. Erschrocken prallte sie zurück. Dann erkannte sie Alex und schlug entsetzt die Hand auf den Mund.

„Oh mein Gott.“

In Seglerkreisen hatte man Alex „den Krieger“ genannt. Mit seiner beeindruckenden Größe, seiner Muskelmasse, den Raubtieraugen und seiner starken Ausstrahlung wirkte er auf manche geradezu einschüchternd.

Doch jetzt stand ein Halbtoter vor ihr. Er trug ein T-Shirt und Schlafanzughosen, war unrasiert, abgemagert und leichenblass. Sein dichtes dunkles Haar, sonst militärisch kurz geschnitten und von sonnengebleichten Strähnen durchzogen, hing ihm unordentlich auf die Schultern.

Am schlimmsten jedoch fand sie seine Augen. Sie waren dunkelblau wie das Meer an einem sonnigen Tag und hatten immer vor Tatendurst und Abenteuerlust gestrahlt. Doch jetzt war der Glanz erloschen. Sogar die Farbe wirkte stumpf und grau.

„Alex …“, flüsterte sie erschüttert. „Oh Gott, Alex …“

„Ich sehe umwerfend aus, was?“

Er humpelte zum Bett zurück, als könne er sich nicht länger auf den Beinen halten, und bewegte sich dabei mühsam wie ein alter Mann.

„Kann ich dir helfen?“, fragte sie.

Statt einer Antwort stellte er die Krücken ab und ließ sich langsam aufs Bett sinken, hob dann sein Gipsbein mit den Händen hinauf. Als er sich schließlich an die aufgetürmten Kissen lehnte, atmete er schwer, als hätte er große Schmerzen.

So hatte sie sich das Wiedersehen wirklich nicht vorgestellt.

„Ich habe mir … Sorgen gemacht“, sagte sie zögernd.

Schweigend starrte er an die Decke.

Cassandra trat ein und schloss die Tür hinter sich. „Es gibt einen Grund, warum ich dich sprechen wollte“, erklärte sie.

Keine Antwort.

„Hat Reese dir gegenüber mal sein Testament erwähnt?“

„Nein.“

„Er hat dir …“

„Ich will kein Geld.“

„… die Boote hinterlassen.“

Die Lippen fest aufeinander gepresst, hob Alex kurz den Kopf. „Was?“, stieß er hervor.

„Er hat dir alle zwölf Boote vermacht. Die zwei Segeljachten, den Schoner, den historischen Viermaster. Die anderen … na ja, alle eben.“

Alex hob die Hand, um sich über die Stirn zu fahren. Cassandra bemerkte, dass er trotz des Gewichtsverlusts noch muskulös wirkte. Sein Bizeps spannte den Ärmel des T-Shirts, und auf seinem kräftigen Unterarm zeichneten sich die Venen ab. Als er sich hingelegt hatte, war das T-Shirt hochgerutscht, sodass sie seine beeindruckenden Bauchmuskeln sah.

Hastig wandte sie den Blick ab. „Ich dachte nur, du solltest es wissen“, fuhr sie fort. „Wegen der Liegegebühren brauchst du dir allerdings so bald keine Sorgen zu machen. Bei Reeses umfangreichem Vermögen wird es eine Weile dauern, bis der Nachlass geregelt ist.“

Wieder antwortete ihr nur Schweigen.

Seine Schwestern hatten sie schon vorgewarnt, dass Alex niemanden an sich heranließ. Allerdings war das nichts Neues. Selbst Reese hatte sich beklagt, dass Alex nie seine Gedanken oder Gefühle mit ihm teilte.

„Tja, dann gehe ich jetzt wieder“, sagte sie schließlich.

Sie hatte die Hand schon an der Türklinke, als Alex sich räusperte. „Er hat dich geliebt. Aber das weißt du, oder?“

Als sie sich zu ihm umsah, traten ihr Tränen in die Augen. Es tat weh, diesen großen Mann so gebrochen zu sehen.

„Ja“, flüsterte sie.

Endlich schaute Alex sie richtig an, und es erschreckte sie, wie tief verzweifelt er wirkte. Ohne nachzudenken, eilte sie zu ihm – was keine gute Idee war, denn er wich vor ihr bis an die Bettkante zurück.

Erschüttert von seiner offenen Abneigung blieb sie stehen. „Ich begreife einfach nicht, warum du mich so hasst“, sagte sie mit zitternder Stimme.

„Das war nie das Problem“, gab er zurück. „Und jetzt geh bitte. Es ist besser für uns beide.“

„Wieso ist das besser? Du warst sein bester Freund, ich seine Frau.“

„Keine Sorge, das habe ich nicht vergessen.“

Kopfschüttelnd gab sie auf. „Die Rechtsanwälte werden sich wegen der Erbschaft mit dir in Verbindung setzen.“

Mit schnellen Schritten ging sie zur Tür und dann weiter in das Gästezimmer, das Gray ihr zu Verfügung gestellt hatte. Dort ließ sie sich auf die Bettkante sinken, strich sich den Rock glatt, stützte die Ellenbogen auf die Knie – und brach in Tränen aus.

Am folgenden Nachmittag versammelten sich Familienmitglieder und Gäste im großen Salon des Hauses, um der Trauung von Joy Moorehouse und Gray Bennett beizuwohnen. Cassandra schaute sich nach bekannten Gesichtern um, als sie durch die verzierte Flügeltür trat. Mit Gray war sie schon seit langen Jahren befreundet, deshalb kannte sie auch seinen Vater, der in einem bequemen Sessel saß, weil er erst vor einem halben Jahr einen Schlaganfall überstanden hatte. Über Gray hatte sie Joy und ihre Familie kennengelernt. Joy war eine äußerst talentierte Modedesignerin, und Cassandra hatte sie in die New Yorker Gesellschaft eingeführt und ihr einige Aufträge vermittelt. Nate Walker, der Mann von Joys Schwester Frankie, stand neben seinem Freund und Souschef Spike, mit dem er die Küche des White Caps führte. Zwar sah Spike mit seinen vielen Tätowierungen und Piercings nicht gerade aus wie ein typischer Koch, zauberte aber als Spezialist für Gebäck und Desserts die herrlichsten Kreationen und war ein gutmütiger, freundlicher Kerl.

Hinter ihm hielt Libby, die ältere Haushälterin der Bennetts, ihren Golden Retriever Ernest an der Leine, der ein kleines Blumenbouquet am Halsband trug.

Der Pfarrer hatte vor dem offenen Kamin Aufstellung genommen, flankiert von Frankie und Grays altem Freund Sean O’Banyon als Trauzeugen. Gray stand vor ihnen und wartete auf seine Braut, und Cassandra winkte ihm lächelnd zu. Sie freute sich ehrlich für ihn, dass er mit Joy sein Glück gefunden hatte.

Neben Spike, der dem Hund ein Ohr kraulte, reihte sie sich in die Gästeschar ein. Der Mann mit den eigenartigen gelblichen Augen lächelte ihr zu.

„Wollen Sie vielleicht Ernests anderes Ohr übernehmen?“, fragte er leise, als spüre er ihre Nervosität.

Dankbar legte sie eine Hand auf das weiche Hundefell, sah sich dabei aber unruhig um.

„Keine Sorge“, flüsterte Libby. „Joy ist draußen und wird jeden Moment kommen.“

Tatsächlich öffnete sich wie aufs Stichwort die Flügeltür, und die Braut trat ein. Joy trug ein schlichtes weißes Satinkleid und einen kleinen Brautstrauß aus cremefarbenen Rosen. Strahlend schritt sie auf Gray zu.

Doch nicht nach ihr hatte Cassandra Ausschau gehalten. Sicher, Alex war nicht in Bestform, aber es ging ihm ja wohl nicht so schlecht, dass er Joys Hochzeit verpasste?

Gerade, als der Pfarrer sein Buch aufschlug, sah sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Langsam humpelte Alex auf Krücken in den Raum, lehnte sich ganz hinten in eine Ecke und streckte das Gipsbein aus. Er hatte sich rasiert und das Haar zurückgekämmt, wodurch seine markanten Gesichtszüge noch deutlicher hervortraten.

Zur schwarzen Schlafanzughose, die an einem Bein aufgeschnitten war, trug er ein weißes, frisch gebügeltes Oberhemd, das ordentlich im Hosenbund steckte. Viel zu spät merkte Cassandra, wie lange sie ihn schon anstarrte, und war froh, dass er aufmerksam der Zeremonie folgte. Hastig richtete auch sie den Blick wieder nach vorn.

Erleichtert atmete Alex auf, als Cassandra sich endlich wieder umdrehte, und gab sich Mühe, auf das Geschehen vorne zu achten. Doch dann stellte der Pfarrer die berühmte Frage – „wirst du sie lieben und ehren, in guten wie in schlechten Tagen, sie trösten und bewahren …“ –, und automatisch stahl sich sein Blick doch wieder zu Cassandra.

Sie trug ein dunkelrotes, maßgeschneidertes Kostüm, das ihre Figur an genau den richtigen Stellen betonte. Doch wie immer war es ihre wunderbare, natürliche Art, die ihn faszinierte. Sie stand auf ihren hohen Absätzen etwas schief, weil sie mit einer Hand den Hund streichelte, der sich eng an sie drängte. Dabei schien es sie nicht zu stören, dass er seine blonden Hundehaare auf ihrem Rock verteilte. Ganz im Gegenteil, sie lächelte auf ihn hinunter und drückte ihn noch enger an sich.

Wirst du sie lieben …

Ja, das werde ich, dachte er. Für den Rest meines verpfuschten Lebens. Und er hätte sie auch gerne getröstet, aber das ging nun mal nicht, wenn er seinen Freund nicht noch im Tod hintergehen wollte. Cassandra war und blieb für ihn Reeses Frau.

Nachdem das Brautpaar sich geküsst hatte, wandte es sich der kleinen Gästeschar zu. Joys Augen leuchteten auf, als sie Alex sah, und er war froh, dass er sich doch noch überwunden hatte herunterzukommen.

Er lächelte seiner Schwester zu und wandte sich dann ab, um wieder in sein Zimmer hinaufzugehen. Auf keinen Fall wollte er mit irgendjemandem reden müssen.

In der großen Halle starrte er nachdenklich auf die geschwungene Freitreppe. Sein Zimmer lag im dritten Stock. Er würde mindestens zehn Minuten brauchen, die vielen Stufen zu überwinden, und dabei gewaltig ins Schwitzen kommen.

„Hey, kann ich dir helfen?“, fragte Spike beiläufig hinter ihm. Natürlich hatten Nate und er es sich nicht nehmen lassen, das Hochzeitsmenü selbst zuzubereiten.

„Danke, es geht schon.“ Zielstrebig humpelte Alex in Richtung Küche, um die Hintertreppe zu nehmen. Die hatte zwar genau so viele Stufen, aber wenigstens würde niemand sehen, wie er sich abmühte.

Als er die Küchentür aufstieß, stieg ihm ein fantastischer Duft in die Nase. Überrascht stellte er fest, dass sein Magen knurrte und ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Trotzdem ging er weiter, bis er Joy seinen Namen rufen hörte.

Lächelnd drehte er sich zu ihr um. „Na, wie fühlt man sich als verheiratete Frau?“

„Danke, dass du dabei warst“, rief sie, schlang die Arme um ihn und drückte ihn so fest, dass er kaum noch Luft bekam. Weil er die Umarmung wegen der Krücken nicht erwidern konnte, legte er den Kopf auf ihre Schulter. Es erschütterte ihn ein wenig, wie viel ihr seine Anwesenheit bedeutete.

„Danke“, wiederholte sie leise.

„Ich hätte doch nie die Hochzeit meiner kleinen Schwester verpasst“, murmelte er.

Draußen hörte man Gelächter, dann öffnete sich die Tür, und Grays Trauzeuge platzte herein – einen Arm um Cassandra gelegt.

„Tja, dann werden wir die beiden Spitzenköche mal für eine Weile ablösen und das Büfett aufbauen, Schätzchen“, sagte er lachend, als er mit Cassandra herankam.

Alex kniff die Augen zusammen und starrte den Kerl feindselig an. Am liebsten hätte er sich mit ihm geprügelt, aber das war natürlich lächerlich. Schließlich ging es ihn überhaupt nichts an, von wem Cassandra sich anfassen und „Schätzchen“ nennen ließ. Und außerdem schien der Mann mit Prügeleien Erfahrung zu haben, denn obwohl er einen teuren Maßanzug trug, nahm er reflexartig eine unauffällige Kampfpose ein, als er Alex’ finsteren Blick auffing.

Früher hatte es Alex nie etwas ausgemacht, auf einen würdigen Gegner zu treffen. Jetzt wurde er sich wieder einmal schmerzlich bewusst, dass er nicht mehr der Alte war. Ganz abgesehen davon, dass er am Hochzeitstag seiner Schwester schlecht eine Schlägerei anfangen konnte.

Joy schien von der angespannten Lage gar nichts mitzubekommen. „Alex, darf ich dir Sean O’Banyon vorstellen? Er ist ein guter Freund von Gray.“

Erst jetzt ließ der Mann Cassandra endlich los und streckte Alex die Hand hin, die gerade noch auf ihrer Hüfte geruht hatte.

„Ich habe leider keine Hand frei“, bemerkte Alex mit eisigem Lächeln.

O’Banyon nickte kurz und ließ den Arm sinken. Verwirrt schaute Cassandra erst ihn, dann Alex an.

Joy dagegen schien nun doch zu merken, was los war, denn sie trat entschlossen zwischen die beiden. „Soll ich dir etwas zu essen raufbringen?“, fragte sie an ihn gewandt.

„Nein. Schließlich ist das deine Feier.“ Und bevor er zum Nachdenken kam, fuhr er fort: „Cassandra wird mir was bringen. Das machst du doch gern, nicht wahr? Schätzchen.“

Cassandra runzelte die Stirn und sah ihn verständnislos an, doch sie nickte. „Sicher.“

Ohne ein weiteres Wort humpelte Alex zur Treppe. Bestimmt würden die anderen über sein seltsames Verhalten reden, kaum, dass er außer Hörweite war. Das störte ihn nicht. Aber wie hatte er so dumm sein können, ausgerechnet Cassandra mit dem Essen in sein Zimmer zu bitten?

Weil dieser irische Kerl im Maßanzug wenigstens nicht seine schmierigen Hände auf ihr haben kann, solange sie bei mir ist, gab er sich selbst die Antwort.

Alex fluchte leise vor sich hin, während er die ersten Stufen in Angriff nahm. Idiotisch. Einfach idiotisch. Er hätte wohl besser doch die Freitreppe nehmen sollen, als noch Zeit dazu gewesen war.

2. KAPITEL

Nachdem Cassandra zusammen mit Sean die vorbereiteten Speisen auf dem Büfett angerichtet hatte, wartete sie, bis alle beim Essen saßen, und nahm sich dann einen der edlen Porzellanteller.

Nachdenklich betrachtete sie das reichhaltige Angebot und versuchte zu erraten, was Alex gern aß. Mochte er sein Roastbeef lieber medium oder durchgebraten? Lieber Reis oder gratiniertes Gemüse? Viel Soße oder gar keine?

Von den frisch gebackenen, noch warmen Brötchen legte sie ihm gleich zwei auf den Teller und fügte ein extra großes Stück Butter hinzu.

„Bin gleich wieder da“, sagte sie zu niemand Bestimmtem.

Trotzdem schienen die anderen sie gehört zu haben, denn plötzlich verstummten die Gespräche, und alle sahen sie mitleidig an. Als ob sie in die Höhle des Löwen ginge.

Wieso hat er gerade mich ausgesucht?, fragte sie sich, als sie die Treppe hinaufstieg. Ob es ihm Spaß macht, mich zu quälen?

Vor seiner Tür hielt sie inne und versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass er ein ganz normaler Mann war. Aber das stimmt nicht, widersprach ihre innere Stimme. Alex ist anders als andere Männer. Wild und ungezähmt, nicht zivilisiert und angepasst. Kein Wunder, dass er das Meer liebt. Die See ist genauso unberechenbar und frei wie er, und nur dort kann er sein ungezügeltes Wesen ausleben.

Unwillkürlich musste sie an Reese denken. Ihr Mann war passionierter Segler gewesen, doch ebenso gern hatte er sein erfolgreiches Unternehmen geführt und sein Leben an Land genossen. Wenn er eine Woche oder länger gesegelt war, hatte er sich immer gefreut, wieder zu Hause zu sein.

Alex dagegen ging nur an Land, wenn es unbedingt sein musste – alles in allem vier oder fünf Wochen im Jahr. Den Rest der Zeit trainierte er Mannschaften, überführte Jachten von einem Hafen zum anderen oder nahm an Regatten teil.

Die letzten drei Monate mussten die Hölle für ihn gewesen sein.

„Soll ich im Flur essen?“, rief Alex von drinnen.

Erschrocken zuckte sie zusammen und öffnete die Tür. „Woher wusstest du …“

„Es duftet.“

Suchend sah sie sich um. „Wo soll ich das hinstellen?“

„Hier.“ Er schob Tablettenröhrchen und ein leeres Glas auf seinem Nachttisch zur Seite.

„Ich wusste nicht, was du magst, also habe ich von allem etwas gebracht.“ Sie stellte den Teller ab und griff nach dem Glas. „Soll ich dir Wasser holen?“

„Ja, danke.“

Erleichtert ging sie ins angrenzende Badezimmer, ließ das Wasser laufen, bis es kalt war, und füllte das Glas. Als sie zurückkam, hatte er das Essen noch nicht angerührt.

„Du solltest anfangen, bevor es kalt wird“, sagte sie verunsichert, als sie seinen durchdringenden Blick auffing.

„Ja, wahrscheinlich.“ Noch immer sah er sie unverwandt an. „Wie gut kennst du diesen Kerl?“

„Wen?“

„O’Banyon. So hieß er doch, oder?“

Darauf war sie nun gar nicht gefasst. „Ganz gut, würde ich sagen“, stotterte sie überrascht. „Er war Reeses Investmentbanker, aber er ist auch eng mit Gray befreundet. Sie sind zusammen zur Schule gegangen. Willst du nichts essen?“

Autor

Jessica Bird
Ihren ersten Liebesroman las Jessica Bird als Teenager ganz romantisch in einem Rosengarten. Sie wurde augenblicklich süchtig nach mehr. Als sie mit dem College begann, besaß sie bereits Kartons über Kartons mit Romances. Ihre Mutter fragte sie jedes Jahr, warum alle diese Bücher das Haus vollstellen mussten – und Jessica...
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