Lieben und Leben in Jackson Hole (15-teilige Serie)

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Diese wunderbare Serie von Cindy Kirk spielt in einem kleinen aber quicklebendigen Dorf in Wyoming, in dem es so manchen jungen, gut aussehenden Arzt gibt …

Folgende Titel von Cindy Kirk sind in dieser 15-teiligen Serie enthalten:

  • Neun Monate und eine Nacht
  • Ich weiß bloß eins, ich liebe dich
  • Ein Weihnachtsengel namens Mickie
  • Ein Mann, ein Ring und mehr …
  • Geheimnis einer Valentinsnacht
  • Traumfrau mit Geheimnissen
  • Ein Rendezvous mit dem Boss
  • Mein Nachbar, seine Tochter und ich
  • Ein Ball wie ein Traum
  • Der wunderbarste Fehler meines Lebens
  • Ein Happy End für uns zwei
  • Nanny gesucht - Mommy gefunden
  • Drei kleine Worte vom Glück entfernt
  • Mit fünf Dates zum Happy End
  • Haltet die Braut!



  • Erscheinungstag 10.02.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751513852
  • Seitenanzahl 2400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Cindy Kirk

Lieben und Leben in Jackson Hole (15-teilige Serie)

IMPRESSUM

Neun Monate und eine Nacht erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2010 by Cynthia Rutledge
Originaltitel: „The Doctor’s Baby“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA EXTRA
Band 79 - 2020 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Rainer Nolden

Umschlagsmotive: GettyImages_Primorac91, Mshake

Veröffentlicht im ePub Format in 02/2021 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751505536

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Eine Entbindung in der Notaufnahme hatte July Greer gewiss nicht geplant –, ebenso wenig, dem diensthabenden Arzt zu begegnen, der gerade zur Tür hereinkam und zufälligerweise ihr einziger One-Night-Stand überhaupt gewesen war. Trotz der Maske, die seinen Mund und seine Nase bedeckte, hätte sie diese stahlblauen Augen überall erkannt. Einen Moment lang überwog der Schock die Schmerzen der Wehen, von denen ihr Körper gequält wurde.

Ich sollte eben nicht in Wyoming sein. Sie sprach die Worte nicht laut aus, stattdessen schrie sie auf, als sich ein weiterer stechender Schmerz durch ihren Unterleib bohrte. „Ich bin Dr. Wahl.“ Ohne seine Patientin genauer anzuschauen, ging er an ihr vorbei und setzte sich auf einen Stuhl am anderen Ende der Untersuchungsliege. Für einen Moment verschwand er aus ihrer Sicht, bis er das sterile Tuch zurückschob.

„Die Schwester hat recht. Wir haben keine Zeit mehr, Sie in den Kreißsaal zu bringen.“ Sein besorgter Blick konnte ihre Ängste nicht gerade beschwichtigen. Falls er sie erkannt haben sollte, ließ er es sich glücklicherweise nicht anmerken. „In welchem Monat sind Sie?“

Normalerweise war July stolz auf ihre Selbstbeherrschung, aber in diesem Moment hatte der Schmerz wieder die Oberhand über ihren Körper gewonnen, und sie verlor die Geduld. Sie hatte es bereits bei der Anmeldung und mindestens zwei Krankenschwestern aus der Notaufnahme gesagt. Hätte das nicht irgendjemand irgendwo notieren können?

„Sechsunddreißigste Woche.“ Ihr gereizter Ton mündete in ein verzweifeltes Keuchen, als sie versuchte, sich nicht von einer neuen Wehe überwältigen zu lassen, was ihr nicht gerade leichtfiel, zumal die Schwester neben ihr geradezu wie ein Mantra erneut wiederholte: Nicht pressen.

July nahm sich vor, stark zu bleiben und so lange wie ein Hund zu keuchen, wie es gut für ihr Baby war. Wenn es bloß eine Garantie gäbe, dass ihre Anstrengungen ausreichten. Ihr Geburtstermin war erst in einem Monat. Laut den Lehrbüchern machte ein Baby in diesen letzten Wochen einen enormen Wachstumsschub.

„Es ist doch nicht gefährlich für ihn, oder?“, fragte July, als sie wieder normal atmen konnte.

David, ähm, Dr. Wahl musste die Angst in ihrer Stimme gehört haben, denn er hob den Kopf. „Wenn die Daten stimmen, dürfte es keine Probleme mit der Lungenreife geben.“

„Heißt das Nein?!“, stieß July hervor, als eine weitere scharf schmerzende Wehe sie überfiel.

„Ich kann den Kopf des Babys sehen. Atmen Sie ein paar Mal tief durch, dann halten Sie den Atem an und pressen“, wies er sie an.

Obwohl es ihr wie eine Ewigkeit erschien, erblickte ihr Sohn ein paar Minuten später laut schreiend das Licht der Welt.

Das Baby, respektable zweitausenddreihundert Gramm schwer, wurde sorgfältig untersucht, ehe Schwester Rachel Milligan, die ihr beigestanden hatte, es July in den Arm legte. Ein Blick auf die Finger, Zehen und andere Körperteile bestätigten, dass ihr Sohn zwar klein, aber mit allem Notwendigen ausgestattet war.

Erleichtert atmete July tief aus. Die Opfer, die sie in den vergangenen acht Monaten erbracht hatte, waren die Mühen wert gewesen. Mit einem Blick in die Augen des Babys schwor sie sich, dass sie immer für ihn da sein würde, egal, wie schwer das Leben auch werden mochte.

Sie begann gerade, sich mit ihrem Sohn vertraut zu machen, als eine Krankenschwester, die sie zuvor noch nicht gesehen hatte, den Raum betrat. Mit geübtem Griff nahm sie ihr das Baby aus den Armen und legte es in einen Inkubator. Julys Herz verkrampfte sich, als es aus ihrem Blick verschwand.

„Das haben Sie ganz toll gemacht.“ Rachel tätschelte ihre Schulter. „Machen Sie sich keine Sorgen um Ihren kleinen Jungen. Bei uns ist er in besten Händen.“

Mein kleiner Sohn. Plötzlich wurde die Rührung übermächtig. „Ich nenne ihn Adam.“

Was Namen anging, war July ziemlich sentimental. Sie selbst hieß nur so, weil sie im Juli geboren worden war, aber der Name ihres Sohnes sollte mehr bedeuten.

„Adam gefällt mir.“ Rachel ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. „Heißt jemand in der Familie so?“

July nickte. Adam „A. J.“ Soto war wie ein Bruder für sie, seitdem sie gemeinsam von Kinderheim zu Kinderheim gereicht worden waren. Solange sie denken konnte, war A. J. ihr Vertrauter, ihr Gesprächspartner und vor allem ein sehr guter Freund.

„Er sieht wirklich sehr hübsch aus mit den dunklen Haaren“, bestätigte Rachel.

Die schwarzen Haare waren July auch als Erstes an ihrem Baby aufgefallen. Sie mochte zwar ihr rötlichbraunes Haar, war aber froh, dass Adam die Farbe von seinem Vater geerbt zu haben schien.

„Sieht er seinem Dad ähnlich?“

„Das tut er“, antwortete July spontan. Sie wusste nicht, was David da unten hinter dem sterilen Tuch noch tat, aber sie spürte, dass er innehielt. Obwohl sie seine Haare unter der blauen Kappe nicht sehen konnte, erinnerte sie sich noch gut daran, wie sie mit den Fingern durch die langen dunklen Strähnen gefahren war.

Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, als er die Maske herunterzog und July betrachtete. Zum ersten Mal, seit er das Zimmer betreten hatte, sah er sie wirklich an. Obwohl es noch nicht einmal Mittag war, wirkte er schon sehr erschöpft, aber in seinen Augen glomm auch ein Funke Neugier.

Unvermittelt bekam July es mit der Angst zu tun. Wenn David herausfand, dass Adam sein Sohn war …

Einen Moment lang begann sich das Zimmer um sie zu drehen, aber July weigerte sich, dem Angstgefühl nachzugeben.

Ich habe das Schlimmste hinter mir – und habe es ganz allein geschafft.

Das Wissen darum gab ihr Zuversicht. Sie holte tief Luft und verjagte das Gefühl der Furcht. Eins nach dem anderen. So war sie bisher gut durchs Leben gekommen – und hatte auch diese Katastrophe bewältigt. Das Wichtigste war, ruhig zu bleiben und sich nicht verrückt machen zu lassen. David hatte keinen Grund zur Annahme, dass ihre einzige gemeinsame Nacht zu einer Schwangerschaft geführt hatte. Und sie hatte vor, diese Tatsache für sich zu behalten.

„Alles sieht gut aus.“ Er ließ sie nicht aus den Augen. „Das Baby ist so klein, dass Sie trotz der Sturzgeburt keinen Dammriss hatten.“

Vielleicht sollte ihr diese Bemerkung peinlich sein, aber David war Arzt. Und es gab nichts, was er nicht von ihr bereits gesehen oder berührt hatte. „Vielen Dank für alles.“

Wieder schaute er sie durchdringend an, ehe er kurz nickte. „Sie werden gleich auf Ihr Zimmer gebracht.“

Sein sachlicher Tonfall beruhigte sie. Doch dann wurde sein Blick weich, und July wusste, dass sie in Schwierigkeiten steckte. „Wenn meine Schicht zu Ende ist, schaue ich noch einmal nach Ihnen.“

July spürte einen Kloß im Magen. David erinnerte sich an sie. Und seinem Blick nach zu urteilen, hatte er soeben seine Rechenaufgabe gelöst.

Sie fröstelte. A. J. warf ihr andauernd vor, sie sei zu zynisch – ein Mensch, für den das Glas immer halb leer sei. July hielt sich einfach nur für eine Realistin. Das Leben hatte sie viel gelehrt – unter anderem, dass sie Männern nicht trauen konnte. Und ihre Bekanntschaft mit dem wortgewandten, verheirateten Arzt hatte sie nur darin bestätigt. Deshalb würde David nie erfahren, dass dies sein Kind war.

Ein Baby hatte sie nicht geplant. Bisher hatte sie auch noch keinen Gedanken an eine mögliche Mutterschaft verschwendet. Doch nun, da ihr Sohn auf der Welt war, liebte sie ihn von ganzem Herzen. Ihn mit einem gewissenlosen Mann zu teilen, kam allerdings nicht infrage.

David lehnte sich an den grauen Metallspind im Aufenthaltsraum des Jackson Hole Memorial Hospitals. Den ganzen Nachmittag hatte er operiert und sich permanent eingeredet, dass der Junge, den er vormittags um elf Uhr achtundzwanzig entbunden hatte, nicht sein Sohn sein konnte. Hatten sie nicht in jener Nacht in dem Chicagoer Hotel Kondome benutzt?

Als Arzt wusste er natürlich, dass sie kein hundertprozentiger Schutz waren. Missgeschicke passierten immer wieder, doch sofort verjagte er den Gedanken. Der kleine Junge war ein Wunder, kein Missgeschick. Und wenn es sein Baby war, würde er die Verantwortung dafür übernehmen.

„Warum wirkst du so ernst? Hattest du einen schlechten Tag?“

„Überhaupt nicht.“ David grinste seinen Kollegen und Freund Dr. Travis Fisher an. Travis war Davids Trauzeuge gewesen – und einer der Sargträger, als Davids Frau vor zwei Jahren gestorben war. „Ich habe nur gerade daran gedacht, dass Mary Karen mir die Hölle heißmachen wird, wenn ich zu spät zu Logans Geburtstagsparty komme.“

Davids Schwester hatte drei Söhne, die sie permanent auf Trab hielten und die dringend ein männliches Vorbild brauchten. Dummerweise hatte Mary Karens Mann sie vor einem Jahr sitzen lassen und führte in Boston das Junggesellenleben, das er so sehr vermisst hatte. David versuchte zwar, so viel Zeit wie möglich mit seinen Neffen zu verbringen, aber was die drei Kleinen wirklich brauchten, war seiner Meinung nach ein richtiger Dad.

Leider sah es damit nicht gut aus. Wenn Mary Karen nicht für die Kinder sorgte oder als Aushilfskraft im Krankenhaus arbeitete, musste sie sich ums Essen und den Haushalt kümmern – weder das eine noch das andere lag ihr besonders.

„Was gibt’s denn zu essen?“, wollte Travis wissen. „Etwa Tofu?“

David lachte. Travis spielte auf ein Essen an, das Mary Karen für sie gekocht hatte, als sie noch auf der Highschool gewesen waren. „Glücklicherweise nein. Logan steht im Moment auf Spaghetti.“

„Da kann man ja eigentlich nichts falsch machen. Na ja, deine Schwester vielleicht schon“, fügte Travis schmunzelnd hinzu.

„Komm doch mit!“, forderte David ihn auf. „Sie würde sich bestimmt freuen, dich zu sehen.“ Immerhin waren Travis und Mary Karen während der Schulzeit mal ein Paar gewesen.

„Würde ich gerne tun, aber ich habe Dienst.“ Travis zeigte in Richtung Entbindungsstation. „Sie bereiten gerade einen Kaiserschnitt vor.“

„Sieht so aus, als wäre heute ein hektischer Tag im Kreißsaal.“

„Du hattest ja heute Morgen auch einen Notfall, habe ich gehört.“

„Ja, stimmt, der Kleine konnte nicht bis zu deinem Dienstbeginn warten“, antwortete David leichthin.

„Die Mutter ist ja recht hübsch“, meinte Travis, „und dem Aufnahmeformular zufolge ist sie Single.“

„Ich hatte keine Zeit, sie länger anzusehen“, entgegnete David. „Ich musste schließlich deine Arbeit erledigen.“

Travis ließ nicht locker. „Nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass du kein Auge riskiert hast. Sie arbeitet übrigens freiberuflich, als Fotografin.“

David ließ sich nichts anmerken. „Aha“, sagte er nur. Er griff nach seiner Jacke. „Ich muss los. Ich schau noch mal nach ihr und dem Baby, bevor ich zu Mary Karen gehe.“

„Nicht nötig“, erwiderte Travis. „Das habe ich bereits getan.“

„Mir macht es aber nichts aus“, sagte David so gleichmütig wie möglich. „Ich führe schließlich nicht so viele Entbindungen durch. Ich will sichergehen, dass alles in Ordnung ist.“

Travis hob eine Augenbraue. „Bist du sicher, dass du es nur deswegen machst?“

David seufzte. Manchmal war sein Kollege wie ein Bluthund, der eine Spur meilenweit witterte. Vielleicht sollte er ihm die ganze Geschichte erzählen? Doch ehe er damit beginnen konnte, meldete sich sein Pieper – keine Zeit für Geständnisse. Mit Schwung schloss er seinen Spind und ging zur Tür. „Ich muss wirklich los.“

„Was soll ich den Schwestern sagen?“ Travis folgte ihm. „Das ist dir doch nicht egal, oder?“

„Was meinst du damit?“, fragte David, ohne stehenzubleiben.

„Ich nenne keine Namen, aber die Tagschicht hat mir erzählt, dass du die neue Mutter unentwegt angestarrt hast. Es kam ihnen vor, als würdest du sie kennen, und sie haben mich mit Fragen nur so gelöchert.“

Abrupt blieb David stehen. Er hasste diesen Krankenhausklatsch, aber er wusste schon seit Langem, wie er am besten damit umgehen konnte. „Erzähl ihnen einfach, dass die frischgebackene Mutter und ich eine heiße Affäre hatten und ich sie wahnsinnig liebe. Ach ja, und du kannst ihnen auch gleich sagen, dass das Kind von mir ist.“

Wie er erwartet hatte, gluckste Travis vor Lachen. „Okay, ich sag den anderen, dass es falscher Alarm ist.“ Er schlug David auf den Rücken. „Viel Spaß auf der Party, und gib deiner hübschen Schwester einen Kuss von mir.“

„Oh, oh, den musst du ihr schon persönlich geben!“, konterte David.

Im Hinausgehen dachte David jedoch weder an seine Schwester noch an die Geburtstagsfeier seines Neffen, sondern an die Frau in Zimmer 202. Und an das Baby auf der Säuglingsstation. Der Junge mit den langen dunklen Haaren. Genau wie seine eigenen …

Auf der Station wechselte David ein paar Worte mit den Schwestern, während er Julys übersichtliche Krankenakte überflog. Viel stand nicht darin. Beim Beziehungsstatus hatte sie ledig angekreuzt, als Beruf freiberufliche Fotografin eingetragen und als Wohnort Chicago in Illinois angegeben. Sie hatte auch keine Angehörigen genannt. Sollte sie tatsächlich mit jemandem zusammen sein, konnte ihr die Beziehung vermutlich nicht so wichtig sein.

Er fragte sich, was aus ihrer Stelle bei der Sun Times geworden war und was sie nach Jackson Hole verschlagen hatte. Nun, er würde es bald herausfinden. Mit dem Klemmbrett in der Hand schritt er zielstrebig über den Korridor. Erst vor ihrer Tür zögerte er. Travis kümmerte sich jetzt um sie. Es gab also wirklich keinen Grund für ihn, hier zu sein, abgesehen von der Tatsache, dass er sie entbunden hatte und dass sie alte Freunde waren … gewissermaßen.

Schüchtern wie ein Fünfzehnjähriger klopfte David an die nur angelehnte Tür und stieß sie auf.

July saß im Bett und trug ein schlichtes Krankenhausnachthemd. Vor ihr stand ein Essenstablett. Im Gegensatz zu Celeste war sie nicht atemberaubend schön, aber sie hatte etwas Verlockendes. Obwohl kaum größer als ein Meter sechzig, würde sie mit ihren grünen Augen, dem schulterlangen kastanienbraunen Haar und der hellen Hautfarbe in jeder Menschenmenge auffallen.

Falls sie überrascht war, ihn zu sehen, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie stellte die Orangencreme auf das Tablett und betrachtete den roten Namenszug auf seinem Kittel. „Ich dachte, dein Name würde W-A-L-L geschrieben.“

Erleichtert stellte er fest, dass sie sich an seinen Namen erinnerte – wenn auch nicht in der korrekten Schreibweise. Während der Geburt war er sich nicht sicher gewesen, ob sie ihn erkannt hatte. Er hätte auch nicht gewusst, wie er sie danach hätte fragen können.

„Viele Leute schreiben ihn falsch.“ Er trat näher an ihr Bett und hoffte, dass sie seine Nervosität nicht spürte. „Was habe ich gehört? Du bist noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden hier und hast die Schwestern schon gefragt, wann du entlassen wirst?“

„Ich habe eine Krankenversicherung mit enorm hoher Selbstbeteiligung.“ Sie hob das Kinn. „Ich bin eben eine kostenbewusste Patientin.“

Im Stillen verfluchte David sich. Seine Frage hätte das Eis brechen sollen, anstatt ihr ein schlechtes Gewissen zu machen. „Wenn du finanzielle Unterstützung brauchst – es gibt da gewisse Beihilfen. Ich könnte jemanden vorbeischicken …“

„Du verstehst mich nicht“, unterbrach sie ihn. „Ich habe durchaus Ersparnisse. Ich möchte nur so viel wie möglich davon behalten.“

„Natürlich, ausgezeichnet. Sag mir einfach Bescheid, wenn du deine Meinung änderst.“ Das Reden fiel ihm schwer. Normalerweise konnte er sich mit allen über alles Mögliche unterhalten, aber in diesem Moment fühlte er sich äußerst unbehaglich. Das war eigentlich gar nicht nötig, ebenso wenig ihre Reserviertheit. Immerhin hatten sie sich in aller Freundschaft getrennt.

„Falls nichts Unerwartetes eintrifft, kannst du morgen wahrscheinlich nach Hause gehen“, sagte er schließlich, als das Schweigen unerträglich wurde. „Eine unserer Schwestern wird vierundzwanzig Stunden lang bei dir bleiben. Das gehört zu unserem Spezialservice.“

Julys grüne Augen blickten ins Leere. „Ich muss eine Babyschale kaufen, bevor ich Adam abholen kann …“

„Das Baby muss noch eine Weile hierbleiben“, entgegnete er mit fester Stimme. „Du kannst dir also mit der Babyschale Zeit lassen.“

„Die Schwestern haben mir gesagt, es ginge ihm gut.“ Ihre Stimme zitterte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ist irgendetwas passiert?!“

„Seine Haut ist ein bisschen gelb. Das ist nicht ungewöhnlich bei einer Frühgeburt.“ David hoffte, dass er zuversichtlich klang. Obwohl er kein Spezialist für Geburten war, kannte er sich mit solchen allgemeinen Dingen aus. Er hätte sich bloß diplomatischer ausdrücken sollen.

„Als meine Fruchtblase platzte, war mir klar, dass es zu früh war.“ Die Stimme versagte ihr, und sie sank zurück aufs Kissen. Sie sah viel jünger aus als sechsundzwanzig. „Ich konnte nichts machen. Alles ging so schnell …“

„Du hast alles richtig gemacht.“ Er widerstand dem Drang, ihr auf die Schulter zu klopfen. „Dein Körper war bereit für die Geburt, als du hier zur Tür hereingekommen bist.“

„Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.“ July sprach mehr zu sich selbst. „Der Arzt hat mir versichert, dass der Termin eingehalten werden könnte.“

„Wann war der denn?“, fragte David so beiläufig wie möglich.

„Fünfzehnter April.“

Davids Herz wurde zu einem Stein in seiner Brust. Kaum hatte er ihren Namen auf dem Patientenblatt gelesen, hatte er auch schon im Stillen nachzurechnen begonnen. Wenn der Geburtstermin Mitte April gewesen sein sollte, musste sie zu der Zeit schwanger geworden sein, als sie zusammen in Chicago gewesen waren. Vergeblich versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen. Sie kniff die Augen zusammen.

„Mach dir keine Sorgen. Es ist nicht dein Baby.“

„Wie kannst du dir da so sicher sein? Der Zeitpunkt stimmt.“

„Wir haben Kondome benutzt“, erinnerte sie ihn. „Jedes Mal.“

„Willst du mir damit sagen, du hattest zur gleichen Zeit mit einem anderen Mann ungeschützten Sex?“

„Hör mal!“ Sie schob das Tablett beiseite. „Du brauchst jetzt hier nicht den anständigen Ritter zu spielen. Adam ist nicht dein Sohn.“

Sie klang aufrichtig, und ihre Argumente waren vernünftig. Dennoch erinnerte er sich an diese Nacht, als wäre sie gerade erst gewesen. Ihre Antwort hatte nichts Einstudiertes, woraus er schloss, dass sie schon länger nicht mit einem Mann zusammen gewesen war. Und jetzt erwartete sie, dass er glaubte, sie habe mit ihm geschlafen und kurz danach mit einem anderen Mann Sex gehabt? Möglich wäre es schon, aber irgendetwas sagte ihm, dass sie ihn anlog.

Ein halbes Dutzend Fragen gingen David durch den Kopf, aber er stellte keine einzige davon. Ihre Miene verriet ihm, dass er nicht mehr von ihr erfahren würde.

Er wippte auf den Fersen. „Willst du ihn wirklich Adam nennen?“

„Warum nicht?“

David verbiss sich ein Grinsen, als er ihren aggressiven Ton hörte. „Als ich noch klein war, hatten unsere Nachbarn zwei Bulldoggen. Sie hießen Adam und Eva.“

„Nun, ich habe einen guten Freund namens Adam, und er ist ganz gewiss kein Hund.“

Ein guter Freund? War er vielleicht mehr als das? Um ein Haar hätte David Eifersucht in sich aufkeimen lassen, doch dann fiel ihm ein, dass sie nicht einmal den Namen des Mannes angegeben hatte, damit dieser im Notfall hätte verständigt werden können. „Ein Nachbar?“

„Ich kenne ihn aus dem Kinderheim.“

David setzte sich auf ihre Bettkante. „Davon hast du mir nie erzählt.“

„In deinem Hotelzimmer haben wir auch nicht viel geredet, wie du dich vielleicht erinnerst.“

Sie hatte recht. Kaum war die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen, hatten sie schon im Bett gelegen und mehr gestöhnt als geredet. Offenbar hatte sie ihre stundenlangen Unterhaltungen zuvor in der Hotelbar jedoch völlig vergessen.

„Vorher haben wir aber über alles Mögliche gesprochen!“, wandte David ein. „Lieblingssportarten, Lieblingsessen, Lieblingsfilme.“

„Aber kaum etwas Privates.“

Stimmt. Sie hatte ihm nichts über ihre Kindheit erzählt. Und er hatte ihr verschwiegen, dass seine Frau zwei Jahre zuvor gestorben war. „Das Leben im Kinderheim war bestimmt nicht schön.“

Ihr Blick war unergründlich. „Was uns nicht umbringt, das macht uns nur stärker.“

Unvermittelt musste sich David an die entsetzlichen Tage nach dem Autounfall erinnern. Obwohl er sich nicht stärker fühlte, dachte er zumindest nicht unentwegt an etwas, das nicht mehr geändert werden konnte.

„Wie bist du denn hier gelandet? Als wir uns kennenlernten, hast du doch angeblich in Minneapolis gewohnt und wolltest nach Chicago ziehen?“

David schaute aus dem Fenster. Nach Celestes Tod hatte er sich so einsam gefühlt und gehofft, den Verlust in Chicago leichter verarbeiten zu können. Celeste war auf einer Dienstfahrt von einem betrunkenen Autofahrer gerammt worden und auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Gary, ihr Chef, hatte sie um diese Fahrt gebeten, weil ein Kollege erkrankt gewesen war. Wie oft hatte sich David hinterher mit dem Gedanken gequält: Wenn der Kollege nicht krank geworden wäre und Gary sie nicht gebeten hätte, für ihn einzuspringen. Wenn …

„Einen Tag nachdem wir … zusammen waren, habe ich einen alten Freund getroffen. Er wusste von meiner … Situation. Nachdem ich mich länger mit ihm unterhalten hatte, war mir klar geworden, dass ich nach Jackson Hole gehöre – zu meiner Familie.“

„Ich will dich nicht von deiner Familie fernhalten.“ Ihr Tonfall war so kühl wie ihre grünen Augen.

„Ich habe noch ein bisschen Zeit.“ Er wollte noch ein wenig länger in ihrer Gesellschaft sein. „Was hat denn dein Freund Adam gesagt, als er die gute Nachricht erfuhr?“

„Ich habe ihn noch gar nicht erreichen können“, antwortete sie ganz sachlich.

Durch den Lautsprecher wurde das Ende der Besuchszeit verkündet. David schaute auf die Uhr an der Wand. Zehn Minuten brauchte er bis zum Haus seiner Schwester. Er erhob sich. „Ich gehe dann mal.“

July lächelte nur höflich, sagte aber nichts. Sie behandelte ihn wie einen flüchtigen Bekannten, von dem sie nicht glaubte, ihn wiederzusehen.

„Morgen schau ich noch mal nach dir“, versprach er auf dem Weg zur Tür.

„Das ist nicht nötig …“

Es klopfte, und eine Schwester betrat das Zimmer. Im Arm trug sie ein blaues Bündel. „Mrs. Greer, Sie bekommen Besuch.“ Die Schwester blieb stehen, als sie David sah. „Dr. Wahl?! Ich wollte nicht stören. Ich wusste nicht, dass Sie noch hier sind.“

„Kein Problem. Ich bin so gut wie weg.“ David wusste, dass seine Schwester und die restliche Familie auf ihn warteten und dass seine Neffen die Geburtstagsparty nicht ohne ihn beginnen würden. Trotzdem nahm er sich noch ein paar Sekunden Zeit, um das Baby zu bewundern, das durchaus sein eigenes sein konnte.

2. KAPITEL

„Danke, dass du gekommen bist.“ Mary Karen Vaughn stand neben David auf der Terrasse des einstöckigen, mit Schindeln gedeckten Hauses, in dem sie mit ihren drei Söhnen, ihren Eltern Linda und Bob und ihrer Großmutter – Granny Fern – und dem riesigen Cockapoo lebte, einem Mischling aus Cockerspaniel und Pudel. „Logan hat sich wahnsinnig auf dich gefreut.“

„Ach, ich hätte nur ungern darauf verzichtet zu sehen, wie sich drei kleine Jungs mit Kuchen bewerfen.“ David zwinkerte ihr zu.

„Du kannst wirklich gut mit den Jungs umgehen.“ Er hatte seiner Schwester dabei geholfen, die Kinder ins Bett zu bringen. „Du und Celeste, ihr hättet auch Kinder haben müssen.“

„Ja, ich wünschte, wir hätten ein Baby gehabt“, seufzte David, „aber wir wollten auf den richtigen Zeitpunkt warten. Wir glaubten, alle Zeit der Welt zu haben.“

„Wir haben wohl beide unsere Lektion gelernt, oder? Wir führen ein herrliches Leben, und von einer Sekunde auf die nächste ändert sich alles.“ Die Trauer in ihrer Stimme ließ Davids Wut auf seinen Exschwager noch größer werden. „Aber manchmal können Veränderungen auch positiv sein. Unerwartet bedeutet nicht immer unerwünscht!“

David musste an die Frau und das Baby auf der Säuglingsstation denken. War es seines? Oder das eines anderen Mannes?

Er hatte nicht vorgehabt, Vater zu werden, aber falls es sein Kind war, würde er es nicht verleugnen. Unerwartet bedeutet nicht immer unerwünscht!

July schlüpfte in ihre bequeme Hose und zog sich ein grünes Baumwollhemd über den Kopf. Obwohl sie während der Schwangerschaft nur gut neun Kilo zugenommen hatte, war sie noch nicht bereit für eng anliegende Jeans. Glücklicherweise sah das Meiste, das sie in den vergangenen Monaten gekauft hatte, nicht wie Schwangerschaftsmode aus.

Kleidung beschäftigte sie derzeit allerdings am wenigsten, sondern vielmehr eine Frage. Wo würde sie mit Adam in Chicago wohnen? Ehe sie mit ihrer „Vier Nationalparks in vier Monaten“-Fotoreportage begonnen hatte, war sie bei einer Freundin und Exkollegin untergekommen. Diese hatte ihr allerdings gesagt, nur bis zur Geburt ihres Babys bei ihr wohnen zu können. Deren Mann hatte offenbar eine sehr starke Abneigung gegen schreiende Säuglinge.

A. J. hatte ihr angeboten, bei ihm zu wohnen, wenn sein Mitbewohner Ende April oder Ende Mai ausziehen würde. Dies wäre die perfekte Lösung gewesen – wenn sich das Baby an den errechneten Termin gehalten hätte.

Das Handy in ihrer Tasche klingelte. Auf dem Display stand Nylah. Ihr Herz schlug schneller. Nylah war die Redakteurin beim Outdoor Magazine, für das July die Fotoreportage gemacht hatte. Vor zwei Tagen hatte sie ihr die Bilder ihrer letzten Station geschickt: Aufnahmen aus dem Yellowstone-Nationalpark. Hoffentlich gefielen sie Nylah.

Ehe July das Gespräch annahm, schloss sie die Tür ihres Zimmers. „Hallo, Nylah.“

„Himmel, ich kann es kaum glauben, dass ich dich erreiche. Ich habe schon befürchtet, du wärst von Aliens entführt worden?!“ Vor Aufregung sprudelten die Worte nur so aus der Redakteurin heraus. „Seit gestern rufe ich dauernd in deinem Motel an. Ich war total panisch, als man mir an der Rezeption sagte, sie hätten dich seit dem Morgen nicht gesehen. Und bei deinem Handy ging die ganze Zeit nur die Mailbox dran.“

„Ja, ich habe vergessen, es aufzuladen. Geht es um die Fotos? Falls ich noch andere liefern soll …“

„Nein, nein, es geht nicht um die Fotos. Die sind fantastisch, ich liebe sie geradezu.“

„Dein Boss auch?“

„Ja. Ich muss mit dir über etwas anderes reden. Bist du bereit?“

July lehnte sich an das Kissen. „Wozu?“

„Wusstest du, dass ich mehrere Fotografen in den Yellowstone-Nationalpark geschickt habe?“

„Nein.“ Julys Finger umklammerten das Telefon.

„Es war eine Art Wettbewerb.“ Nylah wurde lauter. „Und du hast gewonnen!“

July lockerte den Klammergriff um ihr Handy. „Wirklich?“

„Wenn ich’s dir doch sage! Ein bekannter Schriftsteller hat mich letztens kontaktiert. Er hat einen Vertrag über eine Buchserie, in der es um wilde Tiere in Amerika geht. Ihm haben deine Fotos auch gefallen, und er möchte, dass du die Bilder zu den Büchern beisteuerst. Und er zahlt …“

Die Summe, die Nylah nannte, ließ July den Atem stocken. Während Nylah weiterredete, wurde ihr bewusst, dass sie mindestens noch einen Monat in Jackson Hole würde bleiben müssen. Dabei handelte es sich vielleicht nicht um die klügste Entscheidung – angesichts von David und dessen Familie, die hier lebte –, aber das Geld war zu verlockend, um es abzulehnen.

„Kannst du heute schon anfangen?“, fragte Nylah.

„Ähm … heute ist es nicht günstig.“ July wusste zwar, dass manche Frauen gleich nach der Geburt weiterarbeiteten, doch sie hatte das Gefühl, ein bisschen Erholung zu benötigen, ehe sie wieder über Bergpfade stapfen konnte. „Wie wäre es mit nächster Woche?“

Bis dahin würde sie mit ihrem Baby wieder zu Hause sein und sich an die neue Situation gewöhnt haben.

„Ich denke, das geht in Ordnung.“ Nylah klang nicht gerade glücklich über die Verzögerung. „Ist es wegen der Schwangerschaft? Ich weiß, der Termin ist bald …“

„Ich habe das Baby gestern bekommen.“ Sie wollte so sachlich wie möglich klingen, konnte aber die Freude in ihrer Stimme nicht verbergen. Kein Wunder – jedes Mal, wenn sie an ihren Sohn dachte, musste sie lächeln.

„Oh, das sind ja tolle Neuigkeiten!“, kommentierte Nylah. „Ich hatte schon befürchtet, dass die Geburt dazwischenkommen könnte, aber es hört sich ja so an, als hättest du alles unter Kontrolle.“

„Danke“, erwiderte July. Erst dann wurde ihr klar, dass Nylah ihr gerade gar nicht gratuliert hatte.

„Wie ich dich kenne, hast du dich bestimmt schon um eine Kinderbetreuung bemüht“, fuhr Nylah fort.

„Kinderbetreuung?“, entgegnete July konsterniert.

„Du willst das Baby doch bestimmt nicht mitnehmen.“

„Ähm … Nein, natürlich nicht“, murmelte July. In ihrem Kopf überstürzten sich die Gedanken. Bis zu diesem Augenblick hatte sie noch gar nicht darüber nachgedacht, dass sie jemanden für ihr Baby finden musste. Wenn sie ein Dach über dem Kopf und genügend zu essen haben wollte, dann blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als weiterzuarbeiten.

„Gut.“ Nylah klang erleichtert. „Und nochmals Glückwunsch. Ich brauche dir nicht zu erzählen, dass das die Chance für dich ist. Die anderen Fotografen hatten auch beeindruckende Portfolios, aber deine Bilder waren eindeutig die besten.“

„Mrs. Greer – komme ich ungelegen?“

Julys Blick wanderte zu der jungen dunkelhaarigen Frau, die einen Besucherausweis des Krankenhauses auf dem hellgelben Leinenkleid trug, das perfekt zu ihrem Haarton passte. Sie hatte feine Gesichtszüge und ein dezentes Make-up, das ihre bernsteinfarbenen Augen groß und leuchtend erscheinen ließ.

„Nylah, ich muss Schluss machen. Ich melde mich nachher noch einmal.“ July legte das Telefon auf das Essenstablett.

„Das wäre aber nicht nötig gewesen“, sagte die Frau. „Ich hätte später wiederkommen können.“

„Ist schon in Ordnung. Wir waren sowieso fast fertig.“

„Ich bin Lexi.“ Die Frau trat ans Bett und streckte die Hand aus. „Ich bin Sozialarbeiterin hier im Krankenhaus und gehöre zu dem Team, das über die Entlassungen entscheidet.“

July zwang sich zu einem Lächeln. Die Frau schien nett zu sein – ganz anders als die Sozialarbeiter, die sie während ihrer Kindheit erlebt hatte. Die hatten sich stets an die Richtlinien gehalten, selbst wenn diese besagten, dass ein kleines Mädchen zurück in die Obhut einer drogensüchtigen Mutter gegeben werden sollte.

Lexi deutete auf den Stuhl neben dem Bett. „Darf ich mich setzen?“

„Bitte.“ Neugierig schwang July die Beine aus dem Bett. War die Frau wegen der Krankenhausrechnung gekommen oder wegen Adams Wohlergehen? „Worum geht es denn?“ July klang ruppiger, als sie wollte, und fühlte sich dementsprechend schlecht, als die Frau ganz freundlich blieb.

„Ich wollte mich nur erkundigen, ob Sie nach der Geburt Unterstützung benötigen.“ Sie schaute auf das Klemmbrett in ihrer Hand. „Sie haben als Heimatadresse Chicago angegeben. Werden Sie nach Ihrer Entlassung sofort dahin zurückkehren?“

Noch ehe July antworten konnte, summte der Pager, den Lexi am Gürtel ihres Kleides befestigt hatte. Sie schaute kurz darauf und runzelte die Stirn. „Es tut mir leid, aber die Familie eines unserer Patienten auf der Intensivstation ist gerade eingetroffen, und ich muss unbedingt mit ihnen reden. Wäre es okay für Sie, wenn ich in einer halben Stunde wiederkomme?“

July wünschte, sie könnte ihr sagen, das sei nicht nötig, denn sie habe alles im Griff. Doch das wäre gelogen. Sie musste eine Wohnung finden und jemanden, der auf Adam aufpasste. Die Sozialarbeiterin würde ihr wahrscheinlich am besten bei der Lösung ihrer Probleme helfen können.

„Gerne.“

Lexi erhob sich. „Danke für Ihr Verständnis. Ich bin so schnell wie möglich wieder hier.“

Kaum war Lexi verschwunden, klopfte es, und David betrat das Zimmer. „Du siehst gut aus.“

July unterdrückte einen Seufzer. Sie hatte gehofft, entlassen zu werden, ehe seine Schicht endete. Pech gehabt! „Ich dachte, du musst noch arbeiten?“

Oder du seist zu Hause bei deiner Frau. Bei diesem Gedanken spürte sie eine gewisse Bitterkeit. Was sie besonders wütend machte, war die Tatsache, dass sie nach seinem Beziehungsstatus gefragt hatte, kaum dass er mit ihr in der Hotelbar zu flirten begonnen hatte. Erst als sie festgestellt hatte, dass sie mit seinem Baby schwanger war, hatte sie Nachforschungen angestellt und entdeckt, dass er sie belogen hatte. Einem ehemaligen Kollegen zufolge war der gutaussehende Doktor überhaupt nicht alleinstehend. Allem Anschein nach hatte Dr. David Wahl eine fantastische Frau, die zu Hause auf ihn wartete.

„Mein Dienst geht bis fünfzehn Uhr.“ Er schloss die Tür hinter sich. Statt des weißen Kittels trug er eine Khakihose und ein königsblaues Polohemd, welches das Blau seiner Augen noch stärker betonte. „Ich wollte fragen, ob du vielleicht mit mir in die Krankenhauscafeteria gehen möchtest. Das Essen dort ist ganz okay, und wir könnten miteinander reden.“

Miteinander reden? Worüber denn? Vielleicht wollte er ihr gestehen, dass er vergessen hatte, seine Frau zu erwähnen, was sie allerdings bezweifelte. „Dieser Einladung kann ich ja kaum widerstehen.“

„Also begleitest du mich?“

Sein strahlendes Lächeln brachte sie ganz aus der Fassung. Sie spürte das gleiche erotische Knistern wie vor acht Monaten in dem Hotelzimmer. Dieses Mal ignorierte sie es allerdings. Mit einem Ehebrecher wollte sie nichts zu tun haben.

„Ich werde heute entlassen.“ Sie schaute auf ihre Uhr. „Ich warte nur noch, bis Dr. Fisher vorbeikommt.“

„Was ist denn mit deinem Freund?“ Durchdringend sah er sie an. „Hast du ihn inzwischen erreicht?“

„Ja. Ich habe ihn bei einer Feier erwischt. Er hat gerade eine Rolle in einer Broadwayshow bekommen, mit der er durchs Land tourt.“ July klang betont neutral.

„Freut er sich über das Baby?“

„Oh ja, sehr!“ July bemühte sich um einen enthusiastischen Tonfall. A. J. freute sich allerdings mehr über seine Rolle als über ihren Sohn, aber sie hatte Verständnis dafür. Das Theater war eben sein Lebensinhalt. Außerdem war er mit zu vielen Kindern aufgewachsen, um über ein weiteres aus dem Häuschen zu geraten – selbst wenn es ihr Kind war.

„Und wann kommt er?“

„Gar nicht.“ July wischte sich eine Fussel von der Jeans. „Die Tournee beginnt in zwei Wochen. A. J. ist kurzfristig für einen Kollegen eingesprungen, sodass er noch viel proben muss.“

July verstand zwar, wie wichtig dieses Engagement für ihn war. Das war seine große Chance. Dennoch hätte sie sich über ein bisschen mehr Begeisterung seinerseits durchaus gefreut.

Davids Miene verriet, dass er ebenso wenig Verständnis für dieses Verhalten hatte. July wünschte, sie hätte den Mund gehalten – je weniger David über ihr Privatleben wusste, umso besser.

„Wie lange wirst du denn in Jackson Hole bleiben?“, fragte David so beiläufig, dass sie misstrauisch wurde.

„Ich weiß es noch nicht“, antwortete sie ausweichend.

July hatte keine Ahnung, warum er sich um sie bemühte. Wäre sie an seiner Stelle, hätte sie jedes weitere Treffen vermieden. Im Gegensatz zu Chicago war Jackson Hole ein Kaff, und jeder wusste, dass Klatsch und Tratsch an solchen Orten besonders ins Kraut schoss. Falls David nicht vorsichtig war, würde jemandem sein großes Interesse an ihrem Baby auffallen und es vielleicht Davids Frau gegenüber erwähnen.

„Ehe Adam das Krankenhaus verlässt, würde ich gerne einen Test mit ihm machen. Dafür brauche ich allerdings dein Einverständnis.“

July zog die Augenbrauen zusammen. „Wenn du das Neugeborenenscreening und andere Untersuchungen meinst, die für Neugeborene empfohlen werden – darüber hat die Krankenschwester schon mit mir gesprochen. Damit habe ich kein Problem.“

„Von diesen Tests rede ich nicht.“

„Sondern?“

„Von einem Vaterschaftstest.“ Seine blauen Augen nagelten sie fest. „Ich muss wissen, ob Adam mein Sohn ist.“

July blieb regelrecht die Luft weg. Als sie sich von dem Schrecken erholt hatte, versicherte sie David: „Ich habe dir doch schon gesagt, dass er nicht von dir ist. Die meisten Männer würden bei einer solchen Nachricht vor Freude an die Decke springen.“

„Ich bin aber nicht wie die meisten Männer.“ Er wandte den Blick nicht von ihr. „Wenn Adam mein Sohn ist, dann möchte ich ein Teil seines Lebens sein. Er soll mich kennen. Ich möchte sein Dad sein.“

Sein aufrichtiger Ton traf July mitten ins Herz, das sich einst nach der Liebe eines Vaters gesehnt hatte. Lange hatte sie gehofft, dass ihr Vater – wer immer es sein mochte – eines Tages vor ihr stehen und sie aus dem Elend retten würde, das ihre Kindheit gewesen war.

Aber hier ging es nicht um sie, sondern um Adam. Und sie wollte nicht wie ihre Mutter sein – ihr Kind würde stets ihre Liebe und Unterstützung erhalten.

„July.“ Davids Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Stimmst du dem Test zu?“

Seine Hartnäckigkeit irritierte sie. Offenbar hatte er die Sache nicht zu Ende gedacht. „Ich möchte dich erst etwas fragen.“

„Klar.“ Er ließ sich auf den Stuhl neben dem Bett fallen. „Du kannst mich alles fragen.“

„Warum willst du das tun? Ich habe dir bereits gesagt, dass Adam nicht dein Sohn ist.“ Äußerlich blieb July ruhig. Nichts war zu spüren von ihrer Nervosität. „Wenn du es trotzdem tust, wird deine Frau es bestimmt herausfinden. Möchtest du das wirklich?“

Sie hatte ihre Argumente ganz sachlich vorgebracht. Dennoch wartete sie auf eine harsche Reaktion. Mehr als einmal hatte sie schließlich erlebt, was geschehen konnte, wenn sie an der Entscheidung eines anderen zweifelte. Dieses Mal jedoch erntete sie nur einen verständnislosen Blick.

„Wovon redest du? Ich bin nicht verheiratet.“

July atmete tief aus. Er war wirklich sehr gut. Würde sie nicht die Wahrheit kennen, hätte sie seine Antwort durchaus glaubwürdig gefunden. Doch ein zweites Mal ließ sie sich nicht zum Narren halten.

„Du brauchst dieses Spiel nicht weiterzuspielen.“ Wieder klangen ihre Worte ganz gelassen. „Erinnerst du dich noch an den Arzt, der an unseren Tisch gekommen ist – an jenem Abend, als wir uns begegnet sind? Der Arzt, den mein Reporterkollege kannte?“

David dachte nach. Dann nickte er. „Ja, das war Kevin Countryman.“

„Genau der. Nun, mein Kollege hat ihn ein paar Monate später noch einmal getroffen.“ Als July festgestellt hatte, dass sie schwanger war, hatte sie Krankenhäuser in Minneapolis und Chicago angerufen und sich nach einem Dr. David Wall erkundigt. Natürlich war die Suche erfolglos geblieben, da sie seinen Namen falsch buchstabiert hatte. Dann war ihr Dr. Countryman wieder eingefallen. Sie hatte ihren Kollegen gebeten, Kontakt mit ihm aufzunehmen – in der Hoffnung, dass der vielleicht wusste, wo sie David finden konnte.

„Und?“, fragte David.

„Im Laufe ihres Gesprächs hat er erwähnt, dass du verheiratet bist.“ July hatte sich belogen und betrogen gefühlt und sofort ihre Suche eingestellt.

„Warte. Das hast du falsch verstanden …“

„Er sagte, dass deine Frau fantastisch aussehe – wie ein Model. Und er hat meinem Kollegen auch erzählt, dass er überrascht war, dich mit mir flirten zu sehen.“ Die Worte waren wie ein Messer in ihr Herz gedrungen. Als sie die Worte nun wiederholte, spürte sie den gleichen Schmerz erneut. Gut, sie war nicht gerade Amerikas nächstes Topmodel, aber man hatte ihr oft gesagt, dass sie süß aussehe und wunderschöne Augen habe.

„July, hör mir zu!“

„Ich bitte dich nur, auf die Gefühle deiner Frau Rücksicht zu nehmen.“ Sie hatte sich vollkommen unter Kontrolle. Darin hatte sie schließlich jede Menge Übung. „Stell dir nur mal den Skandal vor, wenn bekannt wird, dass du einen DNA-Test gemacht hast. Sie wird zutiefst verletzt sein. Und das alles wegen nichts, denn Adam ist nicht dein Sohn.“

Sein Blick verdunkelte sich. Es sah fast so aus, als wollte er, dass Adam sein Sohn wäre. Das war absurd. Welcher verheiratete Mann würde ein Baby willkommen heißen, welches das Ergebnis eines One-Night-Stands war?

„Wir müssen etwas klären“, erwiderte David mit fester Stimme. „Ich bin nicht verheiratet.“

Als sie protestieren wollte, hob er die Hand.

„Bitte, lass mich ausreden. Ich war verheiratet, aber meine Frau ist ein Jahr vor unserer Begegnung gestorben.“ Unverwandt schaute er sie an. „Ich hätte niemals mit dir geschlafen, wenn ich verheiratet gewesen wäre. Celeste und mir hat das Eheversprechen sehr viel bedeutet.“

July wusste nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Davids Miene ließ keinen Zweifel daran, dass er die Wahrheit sagte. Doch es gab noch die Aussage eines Dritten, die das Gegenteil behauptete. „Dr. Countryman kannte dich“, brachte sie schließlich hervor. „Wie konnte er nichts vom Tod deiner Frau wissen?“

„Kevin und ich haben zusammen die Facharztausbildung gemacht. Es ist lange her, dass wir miteinander gesprochen haben. Celeste lebte noch, als wir uns das letzte Mal getroffen hatten.“

„Ich weiß nicht. Das scheint mir …“

„Du glaubst mir noch immer nicht?!“ David erhob sich frustriert und begann, im Zimmer auf und ab zu laufen. „Du kannst jeden fragen. Lexi oder Dr. Fisher. Sie werden dir bestätigen, dass ich die Wahrheit sage.“

July wurde eiskalt. Die Erleichterung darüber, dass sie nicht mit einem verheirateten Mann geschlafen hatte, war minimal im Vergleich zur Erkenntnis, dass sich die Situation vollkommen verändert hatte. Sie war nun diejenige, die sich entschuldigen musste. Sie hatte David erzählt, dass Adam nicht sein Sohn sei. Und das nicht nur einmal, sondern immer wieder.

Ich muss ihm sagen, dass es mir leid tut. Ich muss ihm sagen, dass ich einen Fehler gemacht habe. Er wird es schon verstehen. Ich habe eben geglaubt, er sei verheiratet.

July öffnete den Mund, brachte allerdings kein Wort hervor. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte.

„July.“ Davids Stimme, leise, aber eindringlich, riss sie aus ihren Grübeleien. „Bist du mit einem Vaterschaftstest einverstanden?“

Sie nickte nur stumm.

„Der Test läuft ganz einfach ab.“ Obwohl sein Ton professionell war, konnte er seine Aufregung und Erleichterung nicht verbergen. „Ein Stäbchen in den Mund stecken, eine Probe von deiner Wange und eine Probe von Adams Wange, fertig.“

„Meine Wange?“ Fast versagte ihr die Stimme.

„Das wird eben empfohlen!“, entgegnete er schnell. „Aber wenn du nicht willst …“

„Kein Problem.“ Judy nahm ein Glas Wasser vom Tablett und spülte den Inhalt hinunter, um ihre ausgetrocknete Kehle zu befeuchten. „Ruf mich einfach an, wenn du so weit …“

„Wir können es sofort tun.“ Er zog zwei Glasröhrchen und ein Formular aus seiner Tasche. „Doch zuerst brauche ich deine Unterschrift.“

Sie hatte das Gefühl, dass die Wände des Zimmers immer näher auf sie zukamen. Schweißtropfen rannen ihr über den Rücken, als sie das Papier in die Hand nahm. „Wie lange dauert es, bis du das Ergebnis hast?“

„Drei bis fünf Tage.“

Die Wände kamen noch näher.

Judy tat, als studiere sie das Blatt, dessen Buchstaben ihr vor den Augen verschwammen. Schließlich faltete sie es zusammen und steckte es in ihre Handtasche.

Verwirrt sah er sie an. „Was tust du? Du hast doch zugestimmt.“

Sie bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall, obwohl sie innerlich zitterte. „Du verstehst bestimmt, dass ich ein solches offizielles Dokument erst einmal in Ruhe durchlesen muss. Ich bin mindestens noch einen Monat in Jackson Hole. Bevor ich abreise, werden wir den Test machen, ganz bestimmt.“

„Warum willst du so lange warten?“ Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Du brauchst doch keinen Monat, um dieses Papier zu lesen …“

„… weil ich die Antwort schon kenne, und ich habe es nicht eilig!“ Und weil ich dir die Wahrheit gestehen muss, ehe du das Ergebnis bekommst.

„Aber du tust es, bevor du wieder fährst, oder?“

„Ganz bestimmt.“ July wünschte, ihm sagen zu können, dass der Test überflüssig war. Schließlich war er der einzige Mann, mit dem sie in den vergangenen drei Jahren zusammen gewesen war. Doch jedes Mal, wenn sie einen Anlauf nahm, sich endlich zu offenbaren, wurde ihre Angst immer größer und drohte, ihr den Atem zu nehmen.

Sie würde es David ganz bestimmt erzählen, sobald sie den richtigen Zeitpunkt für gekommen hielt. Es musste bald sein, das leuchtete ihr ein – vor dem DNA-Test und bevor er noch misstrauischer wurde und ehe er die Wahrheit noch selbst herausfand …

3. KAPITEL

David verließ Julys Krankenzimmer verunsicherter, als er es betreten hatte. Während einer schlaflosen Nacht hatte er über seine Optionen nachgegrübelt. Er konnte Julys Worte, Adam sei nicht sein Sohn, einfach für bare Münze nehmen. Aber falls sie log, dann würde sein eigen Fleisch und Blut für immer aus seinem Leben verschwinden, wenn sie Jackson Hole verließ. Oder er konnte auf eigene Faust herausfinden, ob das Baby auf der Säuglingsstation sein Sohn war.

Ein Test würde die Wahrheit ans Licht bringen. Falls sie sich ihm verweigerte, würde es ihn in seinem Verdacht bestärken, dass sie log. Doch sie hatte sich nicht geweigert, jedenfalls nicht direkt.

„Kann ich Ihnen helfen, Doktor?“ Rachel Milligan fragte ihn dies – die Krankenschwester, die bei Julys Entbindung assistiert hatte.

Er sah sich auf der Station um. „Was tun Sie hier? Das ist doch nicht die Notaufnahme.“

„Messerscharf erkannt.“ Rachel schmunzelte. „Unten ist im Moment nicht viel zu tun, deshalb haben sie mich als Unterstützung hierher geschickt. Und was machen Sie auf der Säuglingsstation?“

„Ich wollte mal nach dem Greer-Baby schauen.“

„Natürlich.“ Rachel lächelte, und schlagartig wurde ihm klar, dass sie eigentlich recht hübsch war mit ihrem honigblonden Haar und den großen blauen Augen. Es war egal, es knisterte überhaupt nicht. Ganz anders als bei July …

Während sie das Baby holte, wusch David sich die Hände und schlüpfte in einen Kittel. Dabei fragte er sich, warum er sich selbst quälte. Nach allem, was ihm erzählt wurde, war dies der Sohn eines anderen Mannes.

„Hier ist er.“

Rachel legte David das Baby in die ausgestreckten Arme. Es war in eine blaue Decke gehüllt, hatte eine gleichfarbige Mütze auf dem Kopf und sah David aus ernsten Augen an.

David war überrascht von dem starken Gefühl, das ihn bei der Berührung des Babys durchflutete. Schützend hielt er die Arme um das winzige Kind, das er vor kaum vierundzwanzig Stunden in die Welt gebracht hatte. „Er ist ganz leicht.“

„Er ist klein“, bestätigte Rachel, „aber er macht sich ganz gut. Sobald der Bilirubinspiegel im Blut sinkt, kann er nach Hause.“

David betrachtete das winzige Gesicht auf der Suche nach familiärer Ähnlichkeit. Abgesehen von den schwarzen Haaren, die nun unter der Mütze steckten, konnte jeder der Vater sein.

In diesem Moment betrat Lexi den Raum. „Hallo“, grüßte sie.

David drehte sich zu ihr um. Erstaunt betrachtete sie das Bündel auf seinem Arm. Rasch übergab David das Baby an Rachel. „Ich muss los.“

Lexi trat einen Schritt näher. „Wer ist denn dieser kleine Kerl?“

„Das ist Adam Greer“, erwiderte Rachel. „Unser Baby aus der Notaufnahme.“

„Ich dachte, Dr. Watson kümmert sich um ihn.“

„Das tut er auch“, antwortete David. „Da ich nicht so viele Babys auf die Welt bringe, ist der Kleine für mich schon etwas Besonderes.“

Lexi zog die Augenbrauen hoch. „Wie geht es ihm denn?“

„Immer noch ein bisschen gelb, aber in ein oder zwei Tagen werden wir ihn entlassen können“, sagte David.

„Ich frage mich, wohin“, überlegte Rachel.

„Was meinen Sie damit?“, wollte Lexi wissen.

David spitzte die Ohren.

„Seine Mutter hat vor der Geburt in dem Motel gegenüber vom Stadttheater gewohnt“, erklärte Rachel. „Nicht unbedingt der passende Ort für ein Baby, oder?“

„Da stimme ich Ihnen zu“, pflichtete Lexi ihr bei. „Ich werde einen Vermerk in die Akte machen, dass wir ein Auge auf ihn haben sollten. Ich werde die Mutter gleich noch mal besuchen.“

July starrte auf die Geburtsurkunde, welche die Schwester ihr gegeben hatte. Sie musste sie ausfüllen, bevor sie entlassen werden konnte.

Ihre persönlichen Angaben hatte sie schnell notiert, ebenso die Spalte, in die sie den Namen des Babys schreiben musste. Doch was sollte sie in die Rubrik Vater des Kindes schreiben?

Sie konnte nicht David als Vater angeben, bevor sie ihm die Wahrheit gestanden hatte. Allerdings konnte sie sich auch nicht dazu überwinden, unbekannt zu notieren – das Wort, das sie in ihrer eigenen Geburtsurkunde gefunden hatte und das all ihre Träume von einem Vater zerplatzen ließ wie eine Seifenblase – von einem Vater, der eines Tages auf einem weißen Pferd auftauchen würde, um sie zu retten.

July atmete tief ein und ließ die Luft langsam aus ihren Lungen entweichen. Immer noch unsicher griff sie zum Stift. Anders als bei ihrer Mutter gab es in ihrem Fall keinerlei Zweifel an der Vaterschaft. Aber was, wenn David das Dokument in die Hände fiel? Oder wenn jemand vom Krankenhauspersonal seinen Namen auf dem Papier entdeckte und es ihm gegenüber erwähnte?

Die Tür wurde geöffnet, und die Sozialarbeiterin steckte den Kopf ins Zimmer. „Kann ich reinkommen?“

„Natürlich“, antwortete July.

„Entschuldigen Sie die Verspätung.“ Lexis Absätze klackerten laut über das glänzende Linoleum. „Es hat länger gedauert, als ich gedacht habe.“

„Kein Problem.“ Dankbar für die Unterbrechung, ließ July den Stift sinken. „Ich warte immer noch auf Dr. Fisher. Er muss doch meine Entlassung unterschreiben.“

„Was machen Sie denn da?“, wollte Lexi wissen.

July unterdrückte einen Seufzer. „Die Geburtsurkunde. Ich muss sie ausfüllen.“ Lexi schaute auf das Blatt Papier. Einige Spalten waren noch leer. „Es ist gar nicht so einfach zu entscheiden, wo man was hinschreiben muss. Ich kenne das.“

„Sie haben ein Kind?“

„Addie ist sieben.“ Lexis perfekt geschminkte Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Es klingt vielleicht ein bisschen kitschig, aber sie ist das Licht meines Lebens.“

Das klang überhaupt nicht kitschig. Obwohl ihr Sohn erst einen Tag alt war, glaubte July, die Frau zu verstehen, und erwiderte deren Lächeln.

„Wohnt Addies Vater auch in Jackson Hole?“ July hatte gehört, dass die Sozialarbeiterin nicht verheiratet war, was ja nicht hieß, dass der Mann keine Rolle in ihrem Leben spielte.

„Drew lebt in Columbus in Ohio“, antwortete Lexi nüchtern. „Er kümmert sich nicht um seine Tochter.“

„Steht sein Name denn auf der Geburtsurkunde?“ Kaum hatte sie die Frage gestellt, hätte July sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Das war nun wirklich zu persönlich.

„Ja.“ Mit einer geschmeidigen Bewegung setzte Lexi sich auf den Stuhl neben dem Bett. „Ich hatte erst überlegt, ihn wegzulassen. Immerhin wollte er nichts mehr mit mir zu tun haben, als er erfuhr, dass ich schwanger war.“

„Und trotzdem haben Sie den Namen auf die Geburtsurkunde gesetzt.“

„Drew ist ihr Vater. Dass er ein Blödmann ist, ändert nichts an der Tatsache.“ Lexis Miene verriet nichts von ihren Gefühlen. „Unbekannt hinzuschreiben, wäre eine Lüge gewesen, und ich wollte nicht, dass Addies Leben mit einer Lüge beginnt.“

July lehnte sich an ihr Kissen und dachte über diese Antwort nach. Falls sie Davids Name nicht auf die Geburtsurkunde schrieb, würde Adams Leben mit einer Lüge beginnen.

„Adams Vater ist aus Jackson Hole“, gestand July unvermittelt. „Und ich möchte nicht, dass irgendjemand weiß, dass er der Vater meines Babys ist.“

Lexi wurde ernst. „Ich kann Ihnen versichern, dass die Krankenhausleitung absolute Vertraulichkeit garantiert. Die Urkunde wird sofort in einen Umschlag gesteckt und versendet.“

Ja, aber wer steckt sie in den Umschlag?

Lexi musste gespürt haben, dass July noch nicht überzeugt war, denn sie beugte sich vor und legte eine Hand auf ihren Arm. „Wenn Sie möchten, kann ich mich persönlich darum kümmern. Keine andere Person wird die Urkunde sehen.“

July legte den Kopf schräg. „Und was ist mit Ihnen? Werden Sie den Text lesen?“

„Wir müssen das Formular kontrollieren und darauf achten, dass alle Rubriken korrekt ausgefüllt sind“, antwortete Lexi, „aber Sie können sich auf meine Diskretion verlassen. Ich würde Ihr Vertrauen niemals missbrauchen.“

July holte tief Luft. Sie hätte niemals gedacht, eine solche Entscheidung treffen zu müssen. Natürlich hatte sie auch niemals damit gerechnet, dass David ihr Geburtshelfer sein würde.

„Okay“, sagte July. „Eine Sekunde.“

Ohne weiter darüber nachzudenken, vervollständigte July die Urkunde. Nur bei Davids Geburtstag zögerte sie kurz. Sie wusste, dass er zweiunddreißig war, aber das genaue Datum kannte sie nicht. Doch dann fiel ihr wieder ein, dass er ihr gesagt hatte, am vierten Juli geboren zu sein.

Sie füllte die Leerstellen aus und überreichte Lexi das Blatt. Ihre Hände waren feucht, und das Herz hämmerte wie verrückt in ihrer Brust. „Könnten Sie noch die Heimatadresse ergänzen? Sie muss irgendwo in der Krankenhausakte stehen.“

„Der Vater arbeitet hier?!“ Lexis Überraschung war nicht zu überhören.

July nickte und widerstand dem Drang, ihr die Urkunde aus den Händen zu reißen. Hoffentlich war es kein Fehler gewesen, Lexi zu vertrauen.

Lexi überflog das Blatt. Als sie ihre Augen vor Erstaunen aufriss, wusste July, dass sie Davids Namen entdeckt hatte. Lexi schaute auf. „Dr. Wahl ist der Vater Ihres Babys?“

„Er weiß nicht, dass Adam sein Sohn ist – noch nicht!“, antwortete July. „Aber er vermutet es.“

Lexi schaute sie an. In ihren braunen Augen sah July keinerlei Verurteilung und nicht die geringste Spur von Missbilligung. „Ihre Gründe sind natürlich Ihre persönliche Angelegenheit, aber falls Sie reden möchten …“

„Nein“, antwortete July mit fester Stimme, um klarzumachen, dass das Thema für sie beendet war.

Lexi schob die Geburtsurkunde in ihre Aktenmappe. „Ich werde seine Adresse ausfindig machen und das Dokument zur Post geben.“

„Danke“, erwiderte July. „Bevor Sie gehen, hätte ich gern ein paar Tipps von Ihnen, wo ich wohnen kann.“

July erzählte Lexi von ihrem neuen Job. „Am liebsten hätte ich eine Wohnung in der Nähe von anderen Familien mit Kindern. Ich möchte Adam nicht länger als unbedingt nötig alleinlassen.“

Lexi überlegte kurz. „Oh, ich kenne den perfekten Ort. Ich habe eine geschiedene Freundin, die ebenfalls Kinder hat. Ihr Haus liegt in der Nähe des Zentrums, und sie möchte sich ein wenig Geld hinzuverdienen. Vielleicht möchte sie sogar Adams Tagesmutter werden.“

„Das wäre fantastisch!“ Julys Hoffnung wuchs. Die Frau schien tatsächlich die Richtige zu sein.

Lexi öffnete den Aktenordner und notierte einen Namen und eine Telefonnummer auf die Rückseite ihrer Visitenkarte. „Rufen Sie sie an. Sagen Sie ihr, dass ich sie Ihnen empfohlen habe.“

July las den Namen auf der Karte. „Mary Karen Vaughn. Klingt gut.“

„Sie werden sie mögen.“ Lexi lächelte. „Wenn Sie Adam in ihre Obhut geben, ist es fast so, als würden Sie ihn bei … einer Lieblingstante lassen.“

In ihrer neuen Wohnung angekommen, war July so erschöpft, dass sie früh ins Bett gegangen war. Doch trotz ihrer Müdigkeit fand sie keinen Schlaf. Gegen halb zwei gab sie auf, griff zum Telefon und rief ihren ältesten und liebsten Freund an.

Sie sprachen ein paar Minuten über das Baby und über sein neues Engagement. Dann erzählte sie ihm von David und was sie über ihn erfahren hatte. A. J.s Reaktion war ein langes Schweigen.

„Ich konnte es nicht tun“, flüsterte sie schließlich ins Telefon. „Ich hätte einfach sagen sollen: He, ich habe dir verheimlicht, dass es dein Sohn ist, weil ich dachte, du seist verheiratet, und es tut mir leid, dass ich dich belogen habe. Ganz einfach, nicht wahr?“

„Für jeden anderen vielleicht schon“, erwiderte A. J. leise, „aber diese anderen haben auch nicht deine Erfahrungen hinter sich.“

July hatte sich immer als Überlebende betrachtet. Einmal hatten sie und A. J. sich sogar gegenseitig versichert, dass ihre Vergangenheit niemals ihre Zukunft überschatten dürfte. Diese jüngste Herausforderung machte ihr allerdings klar, dass ihre Vergangenheit sie immer noch stark im Griff hatte.

„Oh, ich hasse sie“, sagte July. Die Worte hingen wie eine dunkle Wolke in der Luft.

„Ich mache dir keinen Vorwurf!“, entgegnete A. J. „Die Frau war nicht einmal in der Lage, einen Hund zu erziehen.“

„Sie hat mich in einen Schrank eingeschlossen, weil ich mal eine Flasche Schnaps umgestoßen habe.“ Julys Stimme wurde lauter. Die Hand, mit der sie das Telefon hielt, begann zu zittern. „Es war ein Versehen. Ich habe ihr mehrmals versichert, dass es mir leid täte. Das schien sie nur noch wütender zu machen. Doch selbst als sie mich schlug und mir befahl, still zu sein, musste ich es immer wieder sagen. Daraufhin hat sie mich in diesen Schrank gesperrt. Hätte einer ihrer Freunde nicht am nächsten Tag nach seinem Mantel gesucht, wäre ich immer noch in diesem verdammten Schrank.“

„Ich weiß, Baby. Ich weiß.“

Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Ich weiß nicht, warum ich das immer wieder erzähle. Du hast die Geschichte doch schon oft gehört. Und es ist schon so lange her.“

„Schon möglich. Solche Erinnerungen bleiben haften.“

„Ich habe versucht, sie zu vergessen, diese schrecklichen Erinnerungen in eine Art Kiste zu packen und sie ganz fest zu verschließen. Es hat nicht geklappt!“ July stieß einen frustrierten Seufzer aus. „Jedes Mal, wenn ich daran denke, David zu sagen, dass es mir leid tut, ihn belogen zu haben, dann habe ich das Gefühl, wieder in diesem Schrank zu sitzen. Und dann höre ich sie schreien, dass ich den Mund halten soll.“

„July.“ A. J. schwieg lange. „Ich bin kein Therapeut, das weißt du …“

„Du hältst mich für verrückt, nicht wahr? Du glaubst …“

„Ich halte dich für einen sehr starken Menschen. Du hättest all das nicht durchgestanden, wenn du nicht stark wärst.“ A. J. sprach mit fester Stimme. „Und doch denke ich zugleich, dass du dieses Paket schon zu lange mit dir herumträgst. Es wird höchste Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen.“

„Das habe ich doch versucht“, flüsterte July. „Ich möchte es hinter mir lassen.“

„Dann mach den ersten Schritt. Such dir einen Therapeuten, dem du vertrauen kannst, und erzähl ihm von deinen Problemen. Tu es, weil du stark bist – und weil du nicht willst, dass die Vergangenheit dein Verhältnis zu Adam trübt.“

„Ich weiß nicht …“

„Versprich es mir“, drängte A. J. „Versprich mir, dass du es zumindest versuchen wirst.“

Sie wusste, dass A. J.s Argumente vernünftig waren. Ihre dunkelsten Geheimnisse mit einem Fremden teilen? In diesem Moment bewegte sich Adam, und als sie ihr Baby betrachtete, wusste sie, dass ihr keine andere Wahl blieb.

„Versprich es mir, July“, wiederholte er.

July holte tief Luft. „Ich mache es.“

„Gut.“

„Und was ist mit David? Wie soll ich mich ihm gegenüber verhalten?“

„Sag erst mal nichts. Warte einfach ab und vertraue auf einen günstigen Zeitpunkt. Dann wirst du schon das Richtige tun.“

Sie ließ die Schultern hängen. Etwas von der Anspannung war von ihr gewichen. „Ich liebe dich, A. J.“

„Wozu sind Freunde da?“, entgegnete er in jenem ironischen Tonfall, den er immer anschlug, wenn er seine wahren Gefühle verbergen wollte.

Er sagte ihr nicht, dass er sie auch liebte, aber damit hatte sie auch nicht gerechnet. Er war für sie der ältere Bruder, dem es schwerfiel zu sagen, was er empfand, auch wenn sie wusste, dass er sich Sorgen machte. Dies zu wissen, reichte ihr vollkommen.

David bog auf den Highway, der nach Jackson Hole führte. Er hatte Mary Karens Zwillinge von einer Geburtstagsparty in Wilson abgeholt und brachte sie nun nach Hause.

Die Woche war sehr anstrengend für ihn gewesen. Hinzu kam, dass er July und Adam aus den Augen verloren hatte. Aus dem Motel, in dem sie gewohnt hatte, war sie ausgezogen, wie er auf Nachfrage erfahren hatte. Trotzdem war er davon überzeugt, dass sie sich noch in der Gegend aufhielt. Schließlich hatte Adam in der kommenden Woche einen Termin beim Kinderarzt, und ihm war zu Ohren gekommen, dass July einen neuen Auftrag angenommen hatte. Er ärgerte sich darüber, dass sie ihm nicht ihre neue Adresse gegeben hatte. Jetzt musste er auf eigene Faust herausfinden, wo genau sie sich aufhielt.

„Mir ist kalt, Onkel David!“, rief Connor vom Rücksitz.

„Gleich wird’s wärmer.“ David schaltete die Heizung ein. In diesem Teil des Landes ließ der Frühling lange auf sich warten.

„Wir haben ein neues Baby zu Hause“, verkündete Caleb.

„Das ist ganz winzig“, ergänzte Connor.

„Das ist doch schön.“ David lächelte. Er hatte sich fast so etwas gedacht – der alte Hamster der beiden hatte ziemlich übergewichtig gewirkt. „Und wie war die Party?“

Bis er vor Mary Karens Haus hielt, hatten ihm die Zwillinge jedes einzelne Geschenk beschrieben. Außerdem berichteten sie, dass das Geburtstagskind fünf Stücke Kuchen gegessen und anschließend seiner Mutter auf die Schuhe gekotzt hatte.

„Das war krass“, sagte Caleb.

„Echt krass“, pflichtete Connor ihm bei.

Grinsend parkte David hinter einem Jeep. Laut Plakette an der Stoßstange handelte es sich um einen Mietwagen. Mary Karen hatte ihm gar nicht erzählt, dass sie an diesem Abend Besuch haben würde.

David half den Jungs beim Lösen der Sitzgurte. Seine Schwester hatte die Tür bereits geöffnet, noch ehe die Zwillinge zu ihr rennen konnten.

„Da wären wir wieder“, verkündete David, der seinen Neffen folgte.

„Ich bin so froh, dass du hier bist.“ Sie schloss die Haustür und drehte sich zu ihm um. Jetzt erst bemerkte er ihre besorgte Miene.

„Was ist denn los?“

„Schau dir doch bitte mal Logan an. Er hat sich den ganzen Abend an mich geklammert. Erst dachte ich, er vermisst seine Brüder …, bis ich seine geröteten Wangen sah und seine Stirn befühlt habe.“

„Hat er Fieber?“

„Neununddreißig vier.“

„Ich hole meine Tasche.“ Seine Arzttasche hatte David immer im Wagen. In dem ländlichen Bezirk, in dem er wohnte und arbeitete, wusste er nie, wann er sie gut gebrauchen könnte. Granny Fern saß neben Logans Bettchen und begrüßte David, als er ins Zimmer trat.

Er brauchte nicht lange, um festzustellen, dass es nur der Beginn einer Mittelohrentzündung war. „Aber solange wir es nicht genau wissen, solltest du die Zwillinge ein bisschen von ihm fernhalten“, empfahl er seiner Schwester, die mit den Zwillingen im Wohnzimmer geblieben war.

„Was ist mit Adam?“, kam eine Stimme aus einem anderen Zimmer. „Kann man ihn unbesorgt hier lassen?“

David überlegte noch, wem die Stimme gehören mochte, als eine brünette Schönheit im Türrahmen auftauchte und ihn anschaute. Einen Moment lang glaubte er zu halluzinieren. In den vergangenen Tagen hatte er so häufig an July gedacht, dass es ihn nicht gewundert hätte, wenn er sie mithilfe seiner Willenskraft leibhaftig hätte herbeizaubern können.

Aber diese schöne Frau war keine Ausgeburt seiner Fantasie. In ihrem Sweatshirt und den Jeans sah sie mehr wie eine Studentin aus als eine Frau, die vor drei Tagen ein Baby bekommen hatte.

Er verspürte ein vertrautes Knistern in der Luft. Unwillkürlich starrte er sie an. „Was machst du denn hier?“

„Sie wohnt bei uns, Onkel David“, erklärte Caleb, der den Cockapoo im Arm hielt.

„Sie und ihr Baby – Adam“, ergänzte Connor, der dem Hund einen Schmatzer auf die Nase drückte.

Mit hochgezogenen Augenbrauen sah David zu July.

„Die Jungs haben recht. Das ist mein neues Zuhause.“ July zuckte mit den Schultern. „Jedenfalls fürs Erste.“

David wandte sich an seine Schwester, welche die Unterhaltung mit wachsender Neugier verfolgt hatte.

„July und Adam haben ein Zimmer bei mir gemietet. Für einen Monat, vielleicht länger“, erklärte Mary Karen. „Zuerst dachte ich allerdings, dass sie ihre Meinung ändern würde, als sie erfuhr, dass ich deine Schwester bin. David, was um alles in der Welt hast du ihr angetan?!“

Obwohl die Frage humorvoll klingen sollte, entging ihm nicht der verwunderte Ausdruck in ihrer Miene.

„Ich habe ihr Baby entbunden.“ Das war nicht unbedingt eine zufriedenstellende Antwort, aber David verspürte wenig Lust, seiner Schwester die ganze Geschichte zu erzählen.

„Mary Karen, ich habe Ihnen doch gesagt, dass er mir nichts getan hat!“, protestierte July. „Es hat mich eben nur überrascht, dass mein Arzt ausgerechnet Ihr Bruder ist.“

Ehe jemand etwas erwidern konnte, ließ sich eine jammernde Stimme vernehmen. „Mommy, Mommy!“

David drehte sich um und eilte über den Korridor, dicht gefolgt von Mary Karen. July sah ihnen nach und blieb unschlüssig stehen. Wenn der zweijährige Logan eine ansteckende Krankheit hatte, wäre es wirklich besser für sie und Adam, sich eine andere Unterkunft zu suchen. Aber wo? Noch während July über ihre Optionen nachdachte, kam David bereits zurück.

„Falscher Alarm.“

„Nichts Ansteckendes?“, fragte sie ihn.

„Der Hals ist in Ordnung. Die Ohren sind ein wenig gerötet, aber mit einem Antibiotikum bekommen wir das schnell in den Griff.“

„Danke, dass du so lange bleibst.“ Mary Karen kam mit ihrem Mantel und der Handtasche aus dem Zimmer. „Ich bin so schnell wie möglich zurück.“

„Ich kann auch in die Apotheke fahren“, bot David sich an.

„Nein, nein, ich mache das schon. Er ist ja schließlich mein Sohn. Ihr könnt inzwischen etwas von den Resten essen.“

„Du bleibst?“ Überrascht sah July zu David. Er hatte seinen Mantel noch gar nicht ausgezogen, und insgeheim hatte sie gehofft, dass er seiner Schwester aus dem Haus folgen würde.

„Ja.“ Jetzt zog er den Mantel aus und hängte ihn an den Garderobenständer.

„Du hast den ganzen Tag über gearbeitet“, erinnerte July ihn. „Willst du nicht nach Hause und dich entspannen?“

„Selbst wenn ich wollte – Mary Karen ist mit meinem Wagen unterwegs.“

„Oh.“

„Willst du mir nicht Gesellschaft leisten, während ich nachschaue, was es zu essen gibt?“ Er musterte sie mit einem Blick, der kein Nein zuließ.

„Meinetwegen.“ Sie schaute in Richtung ihres Zimmers. „Erst sehe ich nach Adam.“

„Ich komme mit.“ Er legte eine Hand auf ihren Ellbogen. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, führte er sie schon zu ihrem Zimmer. Der Duft seines Aftershaves stieg ihr in die Nase.

July öffnete die Tür. Adam schlief in dem Reisebettchen, das Mary Karen aus dem Keller geholt hatte. Leise durchquerte July das Zimmer, beugte sich über das Bett und richtete die Decke.

David stand hinter ihr. „Was für ein schönes Baby.“

Sie empfand eine Mischung aus Stolz und Ehrfurcht. „Ich kann kaum glauben, dass er aus meinem Körper gekommen ist.“

„Falls es jemand bezweifeln sollte – ich bin dein Zeuge“, erwiderte David lächelnd.

„Onkel David.“ Caleb stand an der Tür und versuchte zu flüstern, was ihm nicht gelang.

Leise verließ David den Raum, gefolgt von July, die das Babyfon in der Hand hielt. „Was gibt’s?“

„Dürfen Connor und ich Die Unglaublichen gucken?“

„Von mir aus gern. Aber ihr werdet den Film nicht bis zu Ende sehen können. Sobald eure Mom zurückkommt, fahrt ihr mit zu mir.“

Caleb riss die Augen auf. „Wir schlafen bei dir?“

„Das ist der Plan.“ Er fuhr seinem Neffen mit der Hand durchs Haar. „Ist das okay für euch?“

„Jippieh!“ Caleb rannte durch den Flur und rief nach seinem Bruder.

„Musst du morgen nicht ins Krankenhaus?“, fragte July.

„Ich habe ein freies Wochenende. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zuletzt eines hatte.“

„Und das willst du mit Babysitten verbringen?“

„Mary Karen wird genug mit Logan zu tun haben. Die beiden haben ein eigenes Schlafzimmer bei mir und den Schrank voller Klamotten. Das ist also gar kein Problem.“

„Du magst Kinder wirklich, nicht wahr?“ Die Erkenntnis versetzte July einen Stich ins Herz.

„Das klingt ja, als sei dies etwas Negatives.“

„Nein, nein“, stammelte July. „Das ist sehr schön.“

„Es sind meine Neffen“, erklärte David. „Die Familie ist mir sehr wichtig.“

Statt ihn für diese Aussage zu bewundern, fühlte July sich unbehaglich. Falls sie bisher irgendwelche Zweifel gehabt hatte, was ihm ein Sohn bedeutete, so waren diese nun komplett verschwunden.

Ich muss es ihm endlich sagen, flüsterte eine innere Stimme. Meine Güte, ich muss es endlich tun.

Warum bloß fiel ihr etwas so Einfaches so unglaublich schwer? Ihre Handflächen wurden feucht, und ihr Herz begann schneller zu schlagen.

„Hast du schon gegessen?“, fragte er und half ihr damit unwissentlich aus dem Dilemma, in dem sie steckte.

Dankbar ergriff sie ihre Chance. „Ich hatte ein Sandwich und einen Apfel zum Mittagessen, seitdem nichts mehr.“ Wie um ihre Worte zu bestätigen, knurrte in dem Moment ihr Magen.

„Dann folge mir.“

In der Küche zeigte er zum Tisch. „Setz dich. Wie wäre es mit einem gegrillten Schinken-Käse-Toast?“

July glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Du machst mir ein Sandwich?“

„Warum nicht? Ich muss mir auch eines machen.“

July setzte sich an den Tisch, während er Käse und Schinken aus dem Kühlschrank holte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann jemand zuletzt für sie ein Essen zubereitet hatte. Ihre Mutter jedenfalls hatte es nie für nötig gehalten, etwas auf den Tisch zu stellen. „Deine Frau muss froh darüber gewesen sein, einen so talentierten Mann in der Küche zu haben.“

„Celeste war beruflich viel unterwegs. Kochen zu lernen, war für mich überlebenswichtig.“

Celeste. Der Name klang wirklich nach Arztfrau.

„Warum war sie so viel unterwegs?“

Bildete sie sich das ein oder verdüsterte sich sein Blick tatsächlich?

„Sie arbeitete als Marketingchefin für eine Firma in Los Angeles. Reisen gehörte zu ihrem Job. Sie hat es geliebt. Sie …“ Er unterbrach sich. „Das reicht. Wir haben etwas Wichtigeres zu besprechen.“

Alarmiert schaute July ihn an. „Was denn?“

„Wie bist du auf Mary Karen gekommen? Ich wusste gar nicht, dass sie Zimmer vermietet.“ Während er sprach, beschäftigte er sich mit den Sandwiches.

July atmete erleichtert auf. Darüber wollte er reden? Sie lehnte sich zurück. „Die Sozialarbeiterin im Krankenhaus hat mir ihre Adresse und Telefonnummer gegeben.“

„Lexi?“

„Ja.“ Als sie erfuhr, dass ihre neue Vermieterin Davids Schwester war, hatte sie zuerst überlegt, das Angebot abzulehnen. Aber kaum hatte sie Mary Karen kennengelernt, spürte sie, wie wohl sie sich bei ihr fühlen würde. „Deine Schwester und ich haben uns auf Anhieb verstanden. Es war eine perfekte Win-win-Situation – sie braucht das Geld, ich brauche ein Zimmer und einen Babysitter.“

Davids legte die Sandwiches auf einen Teller. „Milch?“

„Gern.“

David stellte den Teller und ein Glas Milch vor sie hin, holte seinen Teller und sein Glas und setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber. „Und deshalb bist du geblieben? Obwohl du doch eigentlich nichts mit mir zu tun haben wolltest?“

Er sprach beiläufig, aber July spürte die Verletzung in seiner Stimme. Sie versuchte sich einzureden, dass es egal sei, aber in der gemütlichen Küche erinnerte sie sich unwillkürlich daran, wie aufmerksam und nett er ihr gegenüber gewesen war, damals im Hotel, und wie besorgt bei der Niederkunft im Krankenhaus.

„Ich mag dich, David, das weißt du“, sagte July. „Ich mochte dich vom ersten Moment an.“

„Höre ich da die Bitte um ein Waffenstillstandsangebot?“, neckte er sie.

July biss ein Stück von ihrem Sandwich ab. Dann nickte sie.

Sein Lächeln erwärmte ihren ganzen Körper.

„Gut. Nachdem wir das geklärt haben …“

„Was habt ihr geklärt?“

July und David drehten sich gleichzeitig zur Tür. Granny Fern stand im Türrahmen. Sie war so lange bei Logan geblieben, bis er eingeschlafen war. Granny Fern war kaum größer als July. Sie hatte silberweißes Haar, trug eine silbergerahmte Brille und hatte trotz ihres Alters eine makellose Haut. Sie war ausgesprochen nett –, aber für Julys Geschmack auch ein bisschen zu neugierig.

„Wo ist denn deine Schwester?“, wollte sie von David wissen.

„Sie besorgt Medizin für Logan.“ David stand auf und zog einen Stuhl für seine Großmutter hervor. „Wie geht’s ihm?“

„Er schläft – endlich.“ Sie wandte sich an July. Ihr Haar mochte schneeweiß sein, aber ihren hellblauen Augen entging nichts. „Klingt, als hättet ihr beide euren Streit beigelegt.“

July warf David einen Blick zu. „Wir hatten keinen Streit.“

„Stimmt“, bestätigte David, „keinen Streit.“

In dem Moment begann Adam zu quengeln. Sofort sprang July auf, dankbar für die Ablenkung. „Das Baby ist aufgewacht.“

„Hol den Kleinen doch her“, drängte Granny. „Er und ich haben uns noch gar nicht richtig kennengelernt.“

July lächelte erfreut. „Ich bin sofort zurück.“

Als sie wieder in die Küche kam, stellte David gerade eine dampfende Tasse Tee vor seine Großmutter. „Darf ich ihn mal halten?“, fragte sie.

July zögerte. Einerseits wollte sie ihr Baby nur zeigen, aber nicht aus der Hand geben. Andererseits wollte sie auch keine überfürsorgliche Mutter sein. Wenn Granny robust genug war, einen zweijährigen Wildfang wie Logan im Zaum zu halten, dann konnte sie bestimmt auch mit einem Fünf-Pfund-Baby umgehen.

Kaum hielt Granny das Baby im Arm, zog sie ihm das Mützchen ab. Sie betrachtete sein Gesicht so lange, dass es July unangenehm wurde. „Das ist ja verblüffend“, meinte sie schließlich.

„Was ist verblüffend?“

„Dein Baby sieht genauso aus wie David.“ Granny legte den Kopf schief und musterte July durchdringend. „Könnte es sein, dass Adam sein Sohn ist?“

4. KAPITEL

July lief es eiskalt den Rücken hinunter.

David lachte leise. „Du glaubst, er ist von mir, nur weil er schwarze Haare hat?“

July atmete tief aus. So, wie David es gesagt hatte, klang es fast absurd.

„Dunkel und gewellt.“ Granny ließ nicht locker. „Und dieser spitze Haaransatz …“

July blieb das Sandwich im Hals stecken. Sie bekam einen Hustenanfall. „Na ja, er ist ein Junge“, entgegnete sie, als sie wieder reden konnte. „Ich kenne viele, die das haben.“

„Du hast jedenfalls keinen.“ Granny nahm einen Schluck Tee. „Ist ein solcher Haaransatz üblich in deiner Familie?“

July rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. „Nicht dass ich wüsste.“

„Dann muss das Baby es vom Vater haben.“ Granny warf David einen bedeutungsvollen Blick zu.

July vermied es, ihn anzuschauen. „Das ist mir nie aufgefallen.“

„Der Vater muss diesen Ansatz haben.“ Sanft streichelte Granny dem Baby über die Wange. „Das ist ganz eindeutig vererbt.“

„Meine Großmutter interessiert sich sehr für Abstammungsmerkmale“, erklärte David.

„Zu wissen, woher man kommt, gibt einem Kind eine sichere Basis fürs Leben.“

July musste an ihre Mutter denken und an den Vater, den sie niemals kennengelernt hatte – eine drogensüchtige Mutter, ein abwesender Vater.

„Das spielt bestimmt eine Rolle.“ July stand auf und nahm Granny das Baby aus dem Arm. Gleichgültig, was zwischen ihr und David geschehen würde: Sie war entschlossen, Adam diese Basis zu geben. Sie würde seine Abstammung einfach mit sich selbst beginnen lassen. „Wenn ihr mich bitte entschuldigen wollt – Adam muss gestillt werden. Das mache ich lieber in meinem Zimmer.“

„Du kannst es auch hier tun“, meinte Granny. „Stillen ist etwas ganz Normales. Dafür muss man sich nicht im Schlafzimmer verstecken.“

Es mochte etwas Normales sein, aber July wollte ihre Brust nicht in Davids Gegenwart entblößen.

„Ich muss mich noch daran gewöhnen“, entgegnete July. „Zuschauer würden mich nervös machen.“

Bedauernd sah David hinter ihr her, als sie die Küche verließ. Sie hatten so ein interessantes Gespräch geführt …, bis Granny aufgetaucht war.

„Er ist ein süßer kleiner Kerl“, sagte Granny. „Ein bisschen dünn, aber süß.“

„Das stimmt.“

„Es ist trotzdem merkwürdig.“

David zog eine Augenbraue hoch. „Was?“

„Er sieht genauso aus wie du, als du ein Baby warst.“

Die ganze folgende Woche musste David an ihre Worte denken. Er gab zwar nicht viel um die Behauptungen seiner Großmutter, aber er fragte sich, ob er etwas übersehen hatte.

Da er July und das Baby seit jenem Abend nicht mehr gesehen hatte, besuchte er an seinem nächsten freien Tag Mary Karen in der Hoffnung, sich Adams Gesicht in aller Ruhe anschauen zu können. Als er das Haus betrat, kam Mary Karen in den Flur. Sie trug den weinenden Adam auf dem Arm. Ihr Gesicht war so weiß wie die Decke, in die das Baby gehüllt war. Besorgt schaute er sie an. „Du siehst nicht gut aus.“

Sie lächelte schwach. „Migräne.“

„Gib ihn mir mal.“ David nahm ihr das schreiende Baby aus dem Arm. Sie protestierte nicht. „Das Geschrei wird deine Kopfschmerzen nicht besser machen. Wo ist Granny?“

„In der Stadt. Sie hat sich mit ein paar Freundinnen im Café getroffen.“

„Und July?“

„Auf Wohnungssuche. Sie ist heute ganz früh losgegangen.“

„Hast du deine Medizin genommen?“

„Die Tabletten machen mich müde, und mir wird dann leicht schwindlig.“ Mary Karen musste lauter sprechen, um Adam zu übertönen. „Ich wollte das Risiko nicht eingehen, mit dem Baby zu stürzen.“

„Nimm die Tabletten und leg dich hin“, befahl David. „Ich passe auf die Jungs auf.“

„Wirklich?“ Hoffnungsvoll sah sie ihn an.

„Leg dich ins Bett, kleine Schwester. In ein paar Stunden geht’s dir wieder besser.“

„Du hast was gut bei mir.“

„Ich setz es auf die Liste.“

Seine Antwort brachte sie zum Lächeln. Dann ging sie in ihr Schlafzimmer und ließ David mit dem schreienden Säugling allein.

„Granny meint, ich sehe aus wie du.“ Aufmerksam betrachtete er das verzerrte rote Gesicht. „Ich muss gestehen, ich erkenne keine Ähnlichkeit. Aber wie deine Mutter siehst du auch nicht aus.“

Das Baby schrie lauter.

Sanft wiegte er das Kind im Arm. Nach einer Minute ließ das Gebrüll nach. Leise erzählte David von seiner Woche, während er nach einer Flasche suchte. Hinter einer Saftpackung im Kühlschrank fand er eine. Obwohl July stillte, hatte sie für alle Eventualitäten vorgesorgt.

David erhitzte die Flasche mit Babymilch in der Mikrowelle, testete die Temperatur auf der Innenseite seines Handgelenks und ging ins Wohnzimmer, wo er sich auf einen Schaukelstuhl niederließ. Sofort begann das Baby an der Flasche zu nuckeln.

Es roch nach Babypuder. David konnte noch immer keine Ähnlichkeit feststellen, aber es fühlte sich gut an, den Säugling im Arm zu halten. Er fragte sich, warum er und Celeste noch warten wollten und ihnen das Reisen und ihr Lebensstil wichtiger gewesen waren, als ein Kind zu haben.

Das Baby stieß die kleinen Fäuste in die Luft und gab gurgelnde Geräusche von sich. Mit dem Finger fuhr David über die weiche Wange. Eines war sicher: Wenn Adam sein Sohn war, würde er ihn niemals gehen lassen.

Schon seit einigen Jahren war David nicht mehr den Einladungen des Gemeinderats von Jackson Hole gefolgt. Als Celeste noch lebte, hatte er sie ein paar Mal mitgenommen, aber sie war nicht wirklich an den Treffen interessiert gewesen, weil sie meistens auf Reisen gewesen war und ihr ein örtliches Netzwerk wenig genutzt hatte.

David musste daran denken, als er vor dem Eingang der Brauerei stand, in der das Treffen stattfinden sollte. Stimmengewirr und Lachen drang durch die geschlossene Tür. Wie lange hatte er keinen Kontakt zu Menschen außerhalb der Familie gehabt? Das letzte Mal war es in Chicago gewesen – mit July. Und sie war auch der Grund, warum er heute hergekommen war. Vom Pressesprecher der Stadt war sie gebeten worden, Fotos von der Veranstaltung zu machen. David wollte sie in einem ruhigen Moment beiseitenehmen und mit ihr reden – ohne dass Granny oder Mary Karen jedes ihrer Worte mitbekamen.

Für einen Freitag war in der Notaufnahme glücklicherweise nicht viel los gewesen, und deshalb hatte er das Krankenhaus rechtzeitig verlassen können. Zielstrebig betrat er nun die Brauerei. Einige grauhaarige Geschäftsleute und die meist mittelalten Frauen waren in angeregte Unterhaltungen vertieft.

In der Menge entdeckte er July sofort. Mit ihrer grünen Seidenbluse, der schwarzen Hose und den Stiefeln mit hohen Absätzen fügte sie sich perfekt in die Gästeschar ein – und ragte doch aus ihr heraus. Vielleicht lag es an der rötlich schimmernden Frisur. Oder an der selbstbewussten Haltung. Wie damals in Chicago hatte er das Gefühl, ihre Anwesenheit im Raum überdeutlich zu spüren.

David nahm ein Bier und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Auf dem Weg wurde er ein paar Mal angesprochen, doch selbst während dieser kurzen Wortwechsel behielt er July permanent im Auge. Hin und wieder machte sie ein paar Fotos, schien aber mehr an dem Mann an ihrer Seite als an ihrer Arbeit interessiert zu sein.

David kannte den Mann, der mit ihr flirtete. Tom Harding war der Geschäftsführer eines Sportgeschäfts in der Stadt. Mit seinem verwuschelten, von der Sonne gebleichten Haar und der gebräunten Gesichtsfarbe erinnerte er mehr an einen aktiven Skifahrer als an einen verantwortungsvollen Ehemann und Vater. Obwohl er eine entzückende Frau hatte, eilte ihm der Ruf voraus, immer noch scharf auf die Mädels zu sein – und die Art, mit der er July umgarnte, schien dem Gerücht neue Nahrung zu geben.

Plötzlich stieg eine Woge der Eifersucht in David auf. Er versuchte sich einzureden, dass es nur an seinem Beschützerinstinkt lag. July war neu in der Stadt und Gast im Haus seiner Schwester. Außerdem bestand immer noch die Möglichkeit, dass sie ein gemeinsames Kind hatten.

Endlich erreichte er die Bar, an der sie mit dem Rücken zu ihm stand. Überrascht schaute Tom ihn an. „Mit dir hätte ich heute Abend hier überhaupt nicht gerechnet. Machst du immer noch Triathlon?“

Obwohl Tom freundlich klang, machte der besitzergreifende Blick, mit dem er July unentwegt betrachtete, klar, dass er die Unterbrechung überhaupt nicht schätzte.

„Den letzten Triathlon habe ich in Pinedale gemacht“, antwortete David. „Im Sommer möchte ich wieder an einigen Wettbewerben teilnehmen.“

Beim Klang seiner Stimme wirbelte July herum. Der Schock in ihrem Blick verriet ihm, dass Tom nicht der Einzige war, den seine Anwesenheit überraschte.

Mit einer Kopfbewegung zu der Frau neben sich sagte Tom: „July ist auch ein paar Mal gelaufen und möchte gern wieder Marathonniveau erreichen. Ich habe ihr angeboten, mit mir zu trainieren.“

Toms lüsterner Blick sagte unmissverständlich, welche Hintergedanken er bei diesem Angebot hegte. Offenbar hatte July ihm nicht erzählt, dass sie gerade Mutter geworden war. Es würde mindestens noch einen Monat dauern, bis sie überhaupt wieder an sportliche Aktivitäten denken sollte.

„Hallo, July“, begrüßte David sie, als Tom keine Anstalten machte, sie einander vorzustellen.

Falls July das Knistern zwischen ihnen beiden spürte, ließ sie es sich nicht anmerken. „Hallo, David.“

Tom furchte die Augenbrauen. „Ihr kennt euch?“

„Sie wohnt bei meiner Schwester.“ Er klang genauso beiläufig wie July.

„Tom hat einige Marathonläufe absolviert.“ July nahm einen Schluck Mineralwasser und sah ihn über den Rand ihres Glases an. „Ist es nicht nett von ihm, mir seine Unterstützung anzubieten?“

David umklammerte seinen Drink fester. Wollte sie ihn etwa absichtlich eifersüchtig machen? Unmöglich! Betont neutral sagte er an Tom gewandt: „Ich bin überrascht, dass du dafür Zeit hast.“

„Ich habe gute Mitarbeiter im Laden.“ Tom warf July ein Lächeln zu. „An den meisten Tagen kann ich um fünf Uhr Schluss machen.“

„Wirst du dann nicht von Teresa erwartet?“

July zog eine Augenbraue hoch. „Teresa?“

„Seine Frau“, erklärte David. „Sie haben ein entzückendes Baby. Wie heißt sie noch gleich … Sarah?“

„Samantha“, korrigierte Tom steif. „Ich wollte July gerade Bilder von Samantha zeigen, als du gekommen bist.“

Julys skeptischem Blick nach zu urteilen, glaubte sie ihm ebenso wenig wie David.

„Schön, dich kennengelernt zu haben, July“, sagte Tom jetzt. „Ich will mich hier mal ein bisschen umschauen. Komm doch einfach im Laden vorbei.“

July warf ihm ein unverbindliches Lächeln zu und hob die Hand zum Abschied.

„Oh, ich wollte ihn nicht verjagen“, stellte David klar.

July machte eine wegwerfende Handbewegung, die David mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis nahm.

David wechselte das Thema. „Ich dachte, du seist zum Fotografieren gekommen. Du benutzt deine Kamera ja kaum.“

July stellte ihr Glas ab und ließ den Blick über die Menge schweifen. „Zu Anfang habe ich einige Fotos gemacht, aber dann haben alle angefangen, sich in Positur zu stellen. Deshalb habe ich eine Pause gemacht. Dann hat Tom mich angesprochen, und wir haben uns über Marathons unterhalten.“

„Aha.“ Ihr frischer Geruch stieg ihm in die Nase, und sein Körper reagierte sofort. „Habe ich dir eigentlich gesagt, dass ich einen neuen Laufpartner suche?“

Falls sie der abrupte Themenwechsel überraschte, ließ sie es sich nicht anmerken. „Wann läufst du denn normalerweise?“

„Morgens früh, bevor ich ins Krankenhaus fahre.“ Er nahm einen Schluck Bier. Die morgendliche Joggingrunde gehörte schon lange zu seinen Gewohnheiten. Celeste war ein paar Mal mit ihm gelaufen, als sie sich kennengelernt hatten, aber nach der Hochzeit hatte sie das Interesse daran verloren.

„Wäre nicht schlecht, wenn ich wieder in Form käme“, gestand July.

Er schaute sie von oben bis unten an. „Du siehst doch gut aus.“

Sie errötete leicht. „Du weißt, was ich meine … insgesamt fitter werden. Vielleicht sollte ich es erst einmal mit Walken versuchen.“

„Nichts hilft dir morgens besser aus dem Bett als jemand, der auf dich wartet“, meinte er.

Ehe sie etwas erwidern konnte, klingelte ihr Handy. Der Klingelton war ein Motiv aus einem Musicalsong. Den Anrufer schien sie sofort zu erkennen.

Sie fischte ihr Handy aus der Handtasche und warf David einen entschuldigenden Blick zu. „Das ist mein Freund A. J. Wir haben uns den ganzen Tag nur via Mailbox verständigen können.“

David spürte, wie ihm etwas die Brust zuschnürte. Er hatte nicht gewusst, dass die beiden noch in Verbindung standen.

Sie nahm das Gespräch an. „Hallo, jetzt klappt’s doch endlich!“

Sie trat beiseite, um ungestört reden zu können. David wusste, dass er besser in eine andere Richtung schauen sollte, aber er schaffte es selbst dann nicht, als sie ihm den Rücken zuwandte. Ihr Lachen übertönte das Stimmengewirr, und die Eisenfaust um seine Brust packte fester zu.

Einen Moment lang hatte er gedacht, einen Schritt weitergekommen zu sein und dass sie sein Angebot akzeptieren würde. Beim morgendlichen Walken würden sie einander näherkommen können und – sollte es ihr gemeinsames Baby sein – über manche Dinge reden können, die in Zukunft für beide wichtig wären – für alle drei, Sorgerecht oder Besuchszeiten zum Beispiel. Das allein war ihm Grund genug, mit ihr Zeit zu verbringen. Und sonst nichts …

Der Himmel färbte sich orange, als die Sonne über dem National-Elk-Schutzgebiet am Rand von Jackson Hole aufging. July konnte ihren eigenen Atem in der eisigen Temperatur kleine Wölkchen bilden sehen. Doch in Mary Karens Laufjacke und Mikrofaserhose fror sie kein bisschen.

Sie hatte sich entschieden, Davids Angebot zu akzeptieren – auch in der Hoffnung, dass sich beim Walken vielleicht eine Gelegenheit ergeben würde, ihm reinen Wein einzuschenken. Das Laufen strengte sie allerdings zu sehr an, um währenddessen auch noch zu reden. Hin und wieder warf sie David einen Seitenblick zu – und spürte merkwürdigerweise eine Art Verlangen, das sie ziemlich verunsicherte.

Nachdem sie zwei Meilen in einem schnelleren Schritt absolviert hatten, verlangsamten sie das Tempo. Schweigend gingen sie nebeneinander her. July spürte, dass ihm etwas auf dem Herzen lag.

„Was ist los?“, fragte sie schließlich.

„Was meinst du?“ Er war weit weniger außer Atem als sie.

„Du willst mich doch etwas fragen.“ Es war keine Vermutung, sondern eine Feststellung.

Er lachte. „Bin ich so leicht zu durchschauen?“

Sie lächelte. „Spuck’s einfach aus.“

„In zwei Wochen erhält meine Großmutter eine Auszeichnung für sechzig Jahre Engagement an der Sonntagsschule.“

„Ich weiß.“ July war erleichtert, dass es nichts mit Adam zu tun hatte.

„Es wäre doch schön, wenn du mit Adam auch zur Feier kommen würdest.“ Er sprach schneller, als fürchtete er, dass sie sofort ablehnen würde. „Die ganze Familie ist dabei.“

Die ganze Familie. Also alle, die sie kannte – inklusive Davids Eltern. Bob und Linda Wahl waren bestimmt nett, aber July fühlte sich unbehaglich bei der Vorstellung, noch mehr mit der Familie zu tun zu bekommen.

„Vielen Dank für die Einladung“, erwiderte sie, „aber …“

„Aber?“, wiederholte er, als sie nicht weitersprach.

„Adam und ich sind schon so eng mit euch allen …“ Sie seufzte.

„Ja? Und? Das verstehe ich nicht.“

„Die Jungs behandeln Adam wie ihren kleinen Bruder. Er erkennt sie bereits, wusstest du das?“

„Natürlich erkennt er sie. Er sieht sie ja schließlich ständig“, konterte David. „Aber dabei geht’s um Adam. Was ist denn mit dir?“

July dachte kurz nach. „Nun ja, Granny kommandiert mich herum wie ihre eigenen Enkelkinder. Und Mary Karen behandelt mich wie eine Schwester.“

Obwohl das eher negativ klang, gefiel es ihr mehr und mehr, sich wie ein Familienmitglied zu fühlen. Es war eine ganz neue Erfahrung für sie.

„Ich glaube, ich weiß, was du als Nächstes sagen willst.“ David schmunzelte. „Ich fühle mich an wie dein Lieblingsbruder.“

July lachte, denn die Vorstellung war zu absurd. „Glaub mir, brüderliche Gefühle sind das Letzte, was ich bei dir empfinde.“

Unvermittelt blieb David stehen. July bemerkte es erst, als sie schon ein paar Schritte voraus war. Sie drehte sich um. „Was ist los?“

„Dann bin ich nicht der Einzige, der die Anziehungskraft spürt.“

July lächelte. „Ich glaube, bei mir liegt’s eher an den Hormonen nach der Geburt. Was es bei dir ist, kann ich nicht sagen.“

„Ich mag dich, July.“ David trat einen Schritt näher. „Reicht das nicht aus als Grund?“

Obwohl sie am liebsten sofort weitergelaufen wäre, blieb sie stocksteif stehen. „Du kennst mich doch gar nicht.“

„Du irrst dich“, erwiderte er. „Du und ich haben eine schöne Zeit in Chicago verbracht … und das nicht nur im Bett.“ Er kam noch einen Schritt näher. „Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass ich dich mag.“

Sie schluckte trocken. Diesem Mann nahezukommen, war gefährlich. Dennoch spürte sie die Anziehungskraft, die er auf sie ausübte.

„Die Frage ist nun: Kenne ich dich gut genug, um dich noch einmal zu küssen?“ Jetzt waren nur noch wenige Zentimeter zwischen ihnen. Er legte die Finger unter ihr Kinn und hob ihren Kopf, um ihr in die Augen schauen zu können. „Vielleicht sollte ich es einfach herausfinden.“

Ganz langsam, sodass sie genügend Zeit gehabt hätte, einen Schritt zurückzutreten oder Nein zu sagen, drückte er seine Lippen auf ihren Mund.

Der Kuss begann ganz langsam, als hätten sie alle Zeit der Welt. Er liebkoste ihre Haut mit seinem Mund, küsste sanft ihre Lippen, ihr Kinn und ihren Hals, während seine Hände auf ihren Schultern verharrten.

Er knabberte an ihrem Ohrläppchen und widmete sich wieder ihren zitternden Lippen. Sie öffnete den Mund, und als sein Kuss daraufhin nicht leidenschaftlicher wurde, schob sie ihre Zunge in seinen Mund. In diesem Moment versank die Welt um sie herum.

Als er endlich einen Schritt zurücktrat, bebte July am ganzen Körper. „Wow“, war alles, was sie sagen konnte.

David sah sie unverwandt an. „Das sehe ich genauso.“

Sie hätte ihn am liebsten noch einmal geküsst, aber sie wusste auch, dass ein Kuss ihr nicht genügen würde. Die Erkenntnis ließ bei ihr sämtliche Alarmglocken schrillen. Am sichersten wäre es, nach Hause zu laufen.

Deshalb drehte July sich ohne ein weiteres Wort um und ließ David stehen. Mit ein paar großen Schritten holte er sie ein.

„Was hältst du davon?“, fragte er.

„Von dem Kuss?“

Er nickte.

Sie hob kurz die Schultern. „Er war okay.“

„Für mich auch“, erwiderte er grinsend.

Sie wechselten kein weiteres Wort, bis sie das Ende des Parks erreicht hatten. „Was ist also mit der Kirche? Wirst du kommen?“

July musste nicht lange darüber nachdenken. Obwohl sie spürte, dass es ihm wichtig war, konnte sie nicht in die Kirche gehen, nicht mit ihm, nicht mit seiner Familie. Nicht, bevor sie ihm die Wahrheit gestanden hatte. „Ich … wir … gehören nicht …“

„Wenn du glaubst, ich möchte Adam dabei haben, weil er mein Sohn sein könnte –, das ist nicht der Grund.“ Er klang beinahe glaubwürdig. „Ich frage, weil es Granny eine Menge bedeuten würde, wenn du dabei wärst.“

„Tut mir leid, David, aber die Antwort ist …“

„Du musst dich ja nicht sofort entscheiden. Zwei Wochen sind eine lange Zeit. Denk einfach nur darüber nach. Um mehr bitte ich dich nicht.“

„Du gibst nicht so schnell auf, was?“

Er grinste. „Nicht, wenn es um etwas geht, das ich unbedingt möchte.“

Willensstark und zielstrebig – Charaktereigenschaften, die July durchaus attraktiv fand. Aber solche Menschen hatten normalerweise große Erwartungen – nicht nur an sich selbst, sondern auch anderen gegenüber. July fragte sich, wie David wohl über sie denken mochte, wenn er herausfand, dass sie nicht frei von Fehlern war – und schwach obendrein …

5. KAPITEL

„Und? Wie ist die erste Sitzung gelaufen?“, wollte A. J. wissen.

Sie hatte tatsächlich einen Therapeuten gefunden. Er hatte auch gleich einen Termin für sie frei. Und jetzt telefonierte sie schon seit einer halben Stunde mit ihrem Freund, ohne das Thema gestreift zu haben.

Hat A. J. etwa einen siebten Sinn?

„Die Sitzung war ganz in Ordnung, nehme ich an.“

„So schlecht?“ Er klang enttäuscht. „Nur, weil es bei dem einen nicht klappt, heißt das nicht …“

„Nein, nein, daran lag es nicht“, unterbrach July ihn. „Dr. Allman erinnert mich an einen Teddybären. Ich hatte das Gefühl, mit Winnie Puuh zu reden.“

„Wie viel hast du ihm erzählt?“

„Alles.“ Die Sitzung sollte fünfzig Minuten dauern, aber sie war fast zwei Stunden geblieben. Sie hatte kühl und fast emotionslos von ihrem Leben erzählt. „Ich habe ein bisschen geweint. Und er hat mir gesagt, Tränen seien gut. Dass sie uns immer etwas erzählen und dass wir von ihnen lernen können.“

„Aha … Hast du dich danach besser gefühlt?“, wollte er wissen. „Wirst du noch einmal zu ihm gehen?“

„Zweimal, ja.“ July lehnte sich an die Kissen, die sie ans Kopfende gesteckt hatte, und trat die Schuhe von den Füßen. „Es ist nicht gerade billig, aber du hast recht. Wir müssen – ich muss – diesen Ballast endlich loswerden.“

„Das ist gut für dich.“ A. J. klang seltsam gedämpft. „Hat er dir Tipps gegeben, was David angeht?“

„Er hat mir Hausaufgaben mitgegeben. Kannst du dir das vorstellen?“ July lachte laut, verstummte aber sofort, als Adam sich bewegte. „Ich soll mich bei einem unbelebten Objekt entschuldigen und mich dann langsam vorarbeiten. Das soll so eine Art Desensibilisierungstherapie sein.“

„Das verstehe ich nicht.“

July hatte es auch erst nicht begriffen, bis Dr. Allman es ihr geduldig erklärt hatte – nicht nur, wie sie es tun sollte, sondern auch die Theorie, die dahintersteckte. „Anstatt mit David zu beginnen, entschuldige ich mich bei irgendeinem Objekt – beispielsweise einem Spielzeughund von Adam. Wenn das funktioniert, nehme ich als Nächstes den echten Hund und dann mein Baby. Das Ziel besteht darin, am Ende bei David anzukommen. Irgendwie leuchtet mir das auch ein.“

„Das ist ja die Hauptsache“, entgegnete A. J. „Du musst mir erzählen, wie das funktioniert. Ich drücke dir die Daumen.“

„Danke, A. J.“ Eine Welle von Dankbarkeit durchflutete July – Dankbarkeit wegen eines so guten Freundes. „Ich soll auch über Dinge aus meiner Kindheit reden – erst mal über die unverfänglichen. Ich denke, ich fange mit dir an.“

„Mit mir? Du weißt doch gar nicht alles von mir …“

„Aber das Wichtigste.“ July umklammerte das Telefon fester. „Du, Adam Soto, bist der Grund dafür, dass ich erwachsen geworden bin. Es gab so viele Male, da wollte ich einfach nicht weitermachen und alles aufgeben, aber du hast mich immer wieder aufgebaut. Dafür bin ich dir sehr dankbar.“

„Nun ja …“

Jetzt fühlte er sich ihretwegen unbehaglich – und ihr ging es genauso. Höchste Zeit, das Thema zu wechseln. „Wie geht es Selena? Seid ihr zwei noch Feuer und Flamme füreinander?“

Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. „Na ja, du weißt ja, wie das ist, wenn man eine Weile zusammen war.“

„Ich bin mir da nicht so sicher.“

„Die Kleine möchte die berühmten Worte hören.“ Er seufzte frustriert.

„Du sollst ihr also sagen, dass du sie liebst?“

„Ich weiß nicht, wie ich das anfangen soll. Du kennst mich doch.“

Die Skepsis in seiner Stimme brachte sie zum Lächeln. „Liebst du sie denn?“

Gerade als sie die Hoffnung aufgegeben hatte, dass er es jemals gestehen würde, antwortete er: „Ja, ich glaube schon.“

„Du glaubst es oder du weißt es?“

A. J. atmete lange aus. „Ich weiß es. Okay?“

„Also, mir steht es ja nicht zu, dir Ratschläge zu geben.“ July wählte ihre Worte mit Bedacht. „Aber vielleicht kannst du die gleiche Methode anwenden, die mein Therapeut mir empfohlen hat.“

„Oh nein, ich werde keinem verdammten Spielzeughund erzählen, dass ich ihn liebe – wenn du das meinst“, entgegnete Adam. „Kommt überhaupt nicht infrage!“

„Denk einfach mal darüber nach.“ Die Uhr im Wohnzimmer begann zu schlagen. „Ich muss jetzt Schluss machen. Gleich ist schon wieder morgen. Ich liebe dich.“

„Ja, gut, dann bis später.“

July lächelte. Obwohl A. J. sich gegen ihren Vorschlag gesträubt hatte, wusste sie, dass er über ihre Worte nachdenken würde. Und es hoffentlich auch damit versuchen würde, denn es war Zeit, dass sie beide ihren Ballast loswurden.

Mit ein paar Dehnübungen beendete David seine morgendliche Laufrunde. Drei Tage lang hatte er July nicht gesehen – seitdem er sie geküsst hatte, hier, an der Stelle, wo er sich gerade befand. Er wusste nicht, ob sie das Walken ganz aufgegeben oder nur eine andere Strecke gewählt hatte. Vielleicht bereute sie den Kuss und ging ihm bewusst aus dem Weg.

David presste die Lippen zusammen. Was war eigentlich mit diesem A. J.? Der Kerl nannte sich ihr Freund. Dennoch war er noch nicht nach Jackson Hole gekommen, um sie und Adam zu besuchen. Zuerst hatte er sich gefragt, ob A. J. möglicherweise Adams Vater war. Inzwischen zweifelte er daran. Würde ein Vater nicht seinen Sprössling sehen wollen?

Julys kleiner Junge hatte etwas Besseres verdient. Er war ein erstaunliches Baby – aufgeweckt, interessiert und trotzdem pflegeleicht. Jeder Mann wäre stolz auf einen solchen Sohn.

Natürlich musste David sich eingestehen, voreingenommen zu sein. Er hatte gewusst, dass das Baby etwas Besonderes war – gleich, nachdem es seinen ersten Atemzug getan hatte. Und July … sie war auch etwas Besonderes. Am liebsten wäre er zu ihr gegangen, um sie und Adam zu sehen, doch er wollte Mary Karens Gastfreundschaft nicht überstrapazieren.

In letzter Zeit verbrachte er ohnehin viel zu viel Zeit in ihrem Haus. Dabei hatte er eine eigene Wohnung und ein eigenes Leben. Es war nicht ganz das, was er sich vorgestellt hatte, aber gut – das war seine Schuld.

Sein Kollege Travis und er würden am Freitag Mary Karen besuchen und Pizza mitbringen. Die Vorstellung, dass er dann auch July und Adam sehen würde, heiterte ihn ein bisschen auf.

Am Freitag kehrte July aus dem Yellowstone-Nationalpark zurück. Es war ein ziemlich frustrierender Tag gewesen, denn sie hatte nicht viel erreicht.

Sie schloss die Tür auf, trat ins Haus und fragte sich, wann David wieder vorbeikommen würde. Mary Karen hatte ihr gesagt, er wollte an diesem Tag etwas mit seinen Neffen unternehmen.

Bei dem Gedanken schlug ihr Herz schneller. Sie hatte David die ganze Woche nicht gesehen. Vielleicht konnte sie sich noch frischmachen und umziehen, bevor er kam.

Mary Karen begrüßte sie mit einem strahlenden Lächeln, als sie die Küche betrat. „Perfektes Timing. Gleich gibt es Essen.“

July schaute zum Kindersitz, in dem Adam friedlich schlief. „Wow, der scheint ja wirklich kaputt zu sein.“

„Dafür sind die Zwillinge verantwortlich. Sie haben den ganzen Nachmittag mit ihm gespielt.“ Mary Karen schmunzelte. „Er schläft bestimmt noch ein paar Minuten. Wenn du den Tisch deckst, kümmere ich mich um die Getränke.“

July nahm Mary Karen die Teller aus der Hand. „Vier Teller? Wer kommt denn noch?“

„Ich habe David und Travis zur Pizza eingeladen. Wenn die beiden schon die Jungs bespaßen, will ich mich wenigstens ums Essen kümmern.“

Mary Karen holte einen Krug Milch aus dem Kühlschrank. „Genau genommen müssen wir nur die Getränke beisteuern. Ich wollte Tofupizza machen …“ Sie schmunzelte, „aber Travis bestand darauf, selbst die Pizza zu besorgen. Er liebt nun mal keine kulinarischen Abenteuer.“

July fragte sich, ob Mary Karen wohl bewusst war, dass sie immer lächelte, wenn sie von Travis sprach. Sie stellte die Teller auf den Tisch und ging zu Adam, der in seiner Trage zu quengeln begonnen hatte. „Entschuldige, dass Mommy dich hat warten lassen.“

July holte tief Luft. Das war ja gar nicht so schwer gewesen. Ein paar Tage zuvor hatte sie sich bei seiner Babyrassel entschuldigt, als sie ihr zu Boden gefallen war. Ermutigt von dem Erfolg, wurde Henry, der Cockapoo, ihr nächstes Opfer. Sie hatte ihn übersehen, als sie durch den Flur ging, und ihm in die Seite getreten. Der Hund hatte ihr die Hand geleckt, als sie sich bei ihm entschuldigte.

Sie nahm Adam hoch und schmiegte ihn an ihre Brust. Sofort begann er nach der Nahrungsquelle zu suchen. July ließ sich auf einen Stuhl fallen und knöpfte ihre Bluse auf. Wie ein paar Wochen doch alles verändern können, überlegte sie. Als sie mit Adam nach Hause gekommen war, hatte sie ihn ausschließlich in ihrem Zimmer gestillt. Aber die Atmosphäre im Haus war so angenehm, dass sie es albern gefunden hätte, sich vor den anderen zurückzuziehen.

Sanft streichelte July ihrem Sohn über das schwarze Haar. „Ich wusste gar nicht, dass Dr. Fisher gerne was mit den Jungs unternimmt.“

Es war eine alberne Bemerkung, und sie bereute sie in dem Moment, als sie diese ausgesprochen hatte. Sie kannte Travis Fisher kaum und auch nicht seine Einstellung zu Kindern.

Mary Karen füllte Eiswürfel in einige Gläser. „Er ist nur der Chauffeur. Sie wollten mit den Kindern ins Kino. Travis ist selbst wie ein großes Kind. Er liebt Zeichentrickfilme über alles.“

„Er sieht auch gut aus“, meinte July beiläufig. „Findest du nicht?“

Mary Karen holte Plastikbesteck aus der Schublade und verteilte es auf dem Tisch. Das Haar fiel ihr ins Gesicht, sodass July ihre Reaktion nicht sehen konnte. „Das denken viele Frauen.“

„Ich habe nicht andere Frauen gemeint“, entgegnete July mit Betonung. „Mich interessiert deine Meinung.“

Die junge Frau drehte sich um und lehnte sich an die Küchentheke. „Was willst du wirklich hören?“

July lächelte. „Ich möchte einfach nur wissen, ob du an ihm interessiert bist.“

Mary Karens Augen wurden groß. Sie sah July an, als hätte diese den Verstand verloren. Dann brach sie in schallendes Gelächter aus. „Ich habe drei kleine Jungen, alle unter fünf. Da bleibt nicht viel Zeit für Romantik!“

„Die solltest du dir aber nehmen. Du bist noch jung.“ July wusste nicht genau, wie alt Mary Karen war, aber sie hatten im selben Jahr die Schule beendet.

Das Lächeln auf Mary Karens Lippen erstarb. Plötzlich sah sie sehr ernst aus. „Ich fühle mich aber gar nicht jung. Im August werde ich sechsundzwanzig – und ich habe jetzt schon Bammel davor.“

„Warum?“

Mary Karen zuckte mit den Schultern.

„Komm, sag schon“, drängte July.

„Die meisten Frauen sind in dem Alter nicht mal verheiratet. Und ich bin schon geschieden.“ Mary Karen schaute auf die Tischplatte, als ob sie July ein dunkles Geheimnis offenbaren wollte. „Trotz allem, was mein Mann getan hat, habe ich immer noch gehofft, dass er eines Tages wieder zu Verstand kommen und erkennen würde, was er aufgegeben hat.“

„Liebst du ihn immer noch?“, fragte July vorsichtig.

„Ein Teil von mir wird ihn immer lieben, denn er ist der Vater meiner Söhne.“ Mary Karens Miene verfinsterte sich. „Aber wenn du mich fragst, ob ich ihn zurückhaben möchte, dann lautet die Antwort ganz klar Nein. Der Mann, den ich geliebt und geheiratet habe, hätte seine Familie niemals im Stich gelassen.“

July hätte gerne mehr gefragt, aber in diesem Moment wurde die Haustür geöffnet, und das tiefe Lachen zweier Männer drang bis in die Küche.

July betrachtete Adam besorgt, dessen Augen geschlossen waren. Sanft nahm sie ihn von der Brust und hatte gerade ihre Bluse geschlossen, als David und Travis in die Küche kamen.

Davids dichtes schwarzes Haar schimmerte feucht, als wäre er gerade unter der Dusche gewesen. Wahrscheinlich roch er genauso gut, wie er aussah. Unvermittelt spürte July so etwas wie Erregung.

Ihr Herz tat einen Sprung, als er sie anschaute. „Hallo, David.“

„Hallo, Faulpelz“, neckte er sie. „Ich habe dich lange nicht auf der Walkingstrecke gesehen.“

Aha, so versuchte er es also. Aber sie wusste, dass sie sich bestimmt erneut geküsst hätten, wenn sie zusammen laufen gegangen wären. Und sie war sich nicht sicher, ob es bei diesem Kuss bleiben würde.

„Ich habe mir eine andere Strecke ausgesucht“, meinte sie leichthin. Sie war nicht davon überzeugt, dass sie sich neulich morgens nur zufällig begegnet waren.

„Schön für dich.“ Es schien ihm gleichgültig zu sein, dass sie sich fast eine Woche lang nicht gesehen hatten. Er schaute zu seinem Freund, der drei riesige Pizzakartons in den Händen hielt. „Wir haben versucht, Pizza mit Tofu zu bekommen, aber die war leider ausverkauft.“

„Guter Witz.“ Mary Karen nahm Travis die Schachteln ab. „Hallo, Trav. Lange nicht gesehen.“

„Das stimmt.“ Er erwiderte ihr Lächeln und begann einen Vortrag über Tofu, der maßlos überschätzt werde.

Damit spielte er auf ein Abendessen an, das Mary Karen vor langer Zeit für sie zubereitet hatte. Eine Anekdote führte zur nächsten, trotzdem standen irgendwann die Pizzen, der Salat und die Getränke auf dem Tisch. Die Jungs waren ziemlich aufgeregt und versuchten die ganze Zeit, Davids und Travis’ Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

„Was ist denn mit den Zwillingen los?“, fragte July, als sie und Mary die Sahne auf den Schokoladenpudding verteilten.

„Die sind immer so, wenn die beiden zu Besuch sind“, antwortete Mary Karen mit einem Achselzucken.

„Travis scheint ja wirklich nett zu sein“, stellte July fest. „Er hat keine Sekunde gezögert, als ich ihn gebeten habe, Adam kurz zu halten.“

„Ja, er ist nett. Ich kenne Travis seit der Schule.“ Mary Karen senkte die Stimme. „Er war der erste Junge, den ich geküsst habe.“

„Was flüstert ihr beiden Hübschen denn da?!“, rief Travis vom Tisch aus.

„Wir unterhalten uns gerade darüber, wie toll du aussiehst“, erwiderte Mary Karen mit todernstem Gesicht.

„Und übers Küssen“, fügte July hinzu. Im selben Moment hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Warum hatte sie das bloß gesagt? Jetzt konnte es nur noch um Schadensbekämpfung gehen.

Die beiden Männer schauten sie interessiert an.

David neigte den Kopf. „Was ist denn mit Küssen?“

„Ich mag es, wie Babys küssen“, antwortete sie ausweichend.

Travis zog die Augenbrauen hoch.

„Mit offenem Mund“, fügte July hinzu.

Travis lachte. „Genau wie ich.“ Er versetzte David einen Rippenstoß. „Was ist mit dir?“

David schaute zu July, der ganz heiß wurde. Wie hätte sie die Nacht in dem Hotelzimmer vergessen können? Er hatte die Innenseiten ihrer Schenkel geküsst – mit weit geöffneten Lippen. Immer höher war er gekommen, bis …

„July, ist alles in Ordnung?“ Mary Karens Stimme traf sie wie eine kalte Dusche. „Du bist ja ganz rot im Gesicht.“

July warf David einen verstohlenen Blick zu. Er verbiss sich ein Grinsen.

„Alles in Ordnung.“ Obwohl July wusste, dass sie mit dem Feuer spielte, steckte sie einen Finger in die Schale mit Pudding, die vor ihr stand. Dann schob sie den Finger in den Mund und leckte ihn genießerisch ab. „Er ist noch ein bisschen heiß.“

Der Blick aus Davids Augen verriet ihr, dass auch er sich noch an jedes Detail aus jener Nacht erinnerte. Oft hatte sie sich danach gesagt, dass sie es nicht noch einmal tun würde, selbst wenn sie erneut die Chance dazu hätte. Aber nun wurde ihr klar, dass sie sich nur etwas vorgemacht hatte.

In diesem Moment war das Knistern zwischen ihnen so intensiv geworden, dass sie genau wusste: Sie würde keine Sekunde zögern, mit ihm eine weitere Nacht zu verbringen. Die Gefühle, die Dr. David Wahl in ihr entfachte, entbehrten wirklich jeder Logik.

Genau deshalb war es keine Option, ihm einfach aus dem Weg zu gehen.

Um halb sieben klingelte es an der Tür. Mary Karen legte ihre Pizza beiseite und eilte in den Flur.

July rutschte auf ihrem Stuhl zurück, wischte sich die Lippen mit einer Serviette ab und fühlte sich satt und zufrieden.

„Sag bloß nicht, dass du nur eine Pizza isst“, neckte David sie. „Da steht noch eine, die noch gar nicht angeschnitten worden ist.“

„Pizza zum Frühstück ist doch auch was Feines.“ July fragte sich, ob es richtig war, sich so entspannt zu fühlen. Das Essen mit David hatte ihr sehr viel Spaß gemacht – obwohl sie vor Kurzem noch Bedenken gehabt hatte, mehr Zeit in seiner Gesellschaft zu verbringen.

Während des Essens hatte Travis ihnen von den Streichen erzählt, die er und David in der Schulzeit ausgeheckt hatten. Mary Karen hatte eigene Erinnerungen beigesteuert. July hatte sich damit begnügt, einfach nur zuzuhören.

Aus der Diele drangen Stimmen herein. Kurz darauf standen Kayla und ihr Ehemann John in der Tür. Er trug die kleine Emma auf dem Arm.

„Tut mir echt leid“, sagte Kayla mit einem entschuldigenden Lächeln. „Ich habe John gesagt, dass das ein Mädelsabend wird.“

„Ich will auch gar nicht lange bleiben!“, beeilte John sich zu versichern. „Ich habe Davids und Travis’ Wagen vor der Tür gesehen und wollte nur kurz Hallo sagen.“

„Bleib und iss Pizza mit uns!“, drängte David ihn. „Wir haben noch jede Menge.“

John zögerte, aber Mary Karen schob ihn schon zu einem Stuhl. „Setz dich.“

Während July einen Schluck von ihrer Cola nahm, musste sie daran denken, wie sehr sich diese Partys von jenen bei ihrer Mutter unterschieden. Bei ihr hatte es immer eine Menge Alkohol und Drogen gegeben – und Sex ebenfalls. Wenn sie rechtzeitig Bescheid wusste, hatte sie bei einer Freundin übernachtet. Wurde sie von einer spontanen Party überrascht, hatte sie sich in ihr Zimmer eingeschlossen und die Tür verbarrikadiert.

July unterdrückte einen Seufzer. Wie wäre ihr Leben wohl verlaufen, wenn sie stattdessen auch in einer solchen Atmosphäre aufgewachsen wäre – warm, freundlich, anheimelnd? Umgeben von Familie und Freunden. Das Gefühl, Sicherheit zu haben …

Nachdem John ein drittes Stück Pizza verdrückt hatte, schaute er auf seine Uhr. „Ich glaube, es wird Zeit für mich und Emma.“

„Wir sollten ebenfalls verschwinden“, meinte David, ohne sich von seinem Stuhl zu erheben.

„Ihr Jungs könnt gerne bleiben“, sagte Mary Karen. „Wir setzen uns ins Wohnzimmer – und ihr macht die Küche sauber.“

„Wird gemacht“, sagte David ohne Umschweife. „Und Adam könnt ihr auch bei uns lassen. Dann habt ihr Gelegenheit, ungestört über alles zu reden.“ Mit einem Augenzwinkern setzte er hinzu: „Über uns natürlich bitte nur das Beste.“

Julys Handy klingelte gegen drei Uhr morgens. Es war ein langer Abend geworden; bis spät in die Nacht hatten sich die drei Frauen über alles Mögliche unterhalten, während David, Travis und John in der Küche geblieben waren. Als July Stunden später zu ihnen stieß, hatte David ihr Baby im Arm gehalten. Der Anblick versetzte ihr einen Stich ins Herz, und einmal mehr meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Sie konnte ihm die Wahrheit nicht ewig vorenthalten.

Sie verabschiedete sich von den beiden Männern, die ebenfalls nach Hause aufbrachen, und bedankte sich bei David dafür, dass er sich so liebevoll um ihren – um seinen – Sohn gekümmert hatte. Kaum war sie mit Adam in ihrem Zimmer angelangt, wachte der auf und war ziemlich hungrig. Sie stillte und wickelte ihn und stellte sich ans Fenster, um ihn in den Schlaf zu wiegen. Inzwischen hatte ein heftiger Regen eingesetzt, der in gleichmäßigem Rhythmus gegen die Scheibe prasselte. Nach einer Weile fielen Adam die Augen zu, und sie legte ihn behutsam in sein Bettchen.

Seltsamerweise war July selbst wieder hellwach, und ihre Gedanken kreisten unaufhörlich – und vor allem – um Adam. Sie versuchte zu lesen, konnte sich jedoch nicht auf ihr Buch konzentrieren.

Und dann klingelte ihr Handy. Den Klingelton hatte sie sofort erkannt.

„Hallo, A. J.“ Sie sprach mit leiser Stimme, um Adam nicht aufzuwecken. „Was gibt’s?“

„Muss es einen Grund geben, um meine Lieblingsfrau anzurufen?“

Sein ironischer Ton brachte sie zum Schmunzeln. Er klang ein wenig schleppend, und sie wusste sofort, was los war. „Da war wohl jemand sehr lange auf einer Party.“

„Du kennst mich wirklich gut.“ Er lachte glucksend. „Als ich nach Hause gekommen bin, ist mir eingefallen, was für ein Tag heute ist und dass ich unbedingt anrufen muss.“

„Natürlich.“ July durchquerte das Zimmer. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie schlüpfte in den Flur und schloss die Tür behutsam hinter sich. Angestrengt dachte sie darüber nach, was es mit dem Datum auf sich haben könnte.

„Sag mir bloß nicht, dass du dich nicht daran erinnerst?!“

Die Kränkung in seiner Stimme klang überraschend echt. Unglücklicherweise waren die Tage so schnell vergangen, seit sie in Jackson Hole war. Sie wusste nur, dass es Freitag war – beziehungsweise gewesen war. Rasch lief sie über den Korridor ins Wohnzimmer.

„Machst du Witze?“, versuchte July, Zeit zu schinden. Sie griff nach der Zeitung, die auf dem Sofa lag, und suchte nach dem Datum. Der elfte April. Es war bereits nach Mitternacht, also war es heute der zwölfte. „Der Tag, an dem wir unseren Pakt besiegelt haben.“

Am zwölften April vor dreizehn Jahren hatte ihr Leben einen Tiefpunkt erreicht. Das Waisenhaus, in dem sie gelebt hatten, war zwar ganz in Ordnung gewesen – soweit man das von Waisenhäusern behaupten konnte –, aber July hatte erfahren, dass sie zu ihrer Mutter zurückkehren musste. Und Adam sollte in Jugendarrest, weil er sich geprügelt hatte.

„Wir haben uns geschworen, dass wir es ihnen zeigen würden“, sagte July. „Und dass wir überleben würden.“

„Nicht bloß überleben,“ A. J.s Stimme wurde lauter, „wir würden sie alle besiegen!“

„Und ob!“ July wusste allerdings, dass A. J. sie nicht angerufen hatte, um sie an ihren Schwur zu erinnern. Er musste etwas anderes auf dem Herzen haben. „Wie geht es Selina?“

„Sie vermisst mich.“ Er klang zufrieden. „Wir haben eben miteinander gesprochen und tollen Telefonsex gehabt.“

So genau wollte sie es gar nicht wissen, aber offenbar gab es auf diesem Gebiet keine Probleme. „Und wie läuft’s mit dem Musical? Bist du dieses Wochenende in Kansas City?“

„Omaha“, korrigierte er sie. „Der Kartenverkauf läuft gut, aber mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, dass wir nach dieser Spielzeit nicht weiter unterwegs sein werden. Doch ich mache mir keine Sorgen.“

Bestimmt nicht.

July kannte A. J. ziemlich gut, und sie kannte auch seine Ängste. Und jetzt wusste sie auch, warum er sie angerufen hatte. „Ich würde mir auch keine Sorgen machen“, sprach sie ihm Mut zu. „Du bist ein fantastischer Schauspieler und Tänzer. Wenn die Tournee endet, wirst du etwas Besseres finden. Eine größere Rolle. Du hast es bis jetzt richtig gut gemacht.“

„Das haben wir beide“, erwiderte er. „Wenn man bedenkt, dass wir ohne ein Zuhause aufgewachsen sind.“

„Wir hatten ein Zuhause“, antwortete July leichthin. „Wir hatten sogar mehrere.“

„Häuser, July, aber kein Zuhause. Wir hatten viele Häuser, aber nie ein Zuhause.“ A. J.s Stimme war wieder lauter geworden, und sie hörte einen Mann im Hintergrund rufen, er solle leiser reden. „Wir geht’s dem Baby?“

„Sehr gut.“ July wunderte sich überhaupt nicht über den abrupten Themenwechsel. Mit A. J. aufzuwachsen, hatte sie gelehrt, das Unerwartete zu erwarten.

„Pass gut auf ihn auf.“ Die Eindringlichkeit, mit der er das sagte, überraschte sie. „Es ist nicht leicht, ein Kind zu sein.“

A. J. versagte die Stimme, und July erkannte, dass er betrunkener war, als sie angenommen hatte. A. J. brauchte eine Menge Bier, um emotional zu werden.

Plötzlich hatte July einen Kloß in der Kehle. Seine Gefühlsaufwallung war ansteckend. „Ich tue mein Bestes.“

„Das weiß ich.“ A. J. sprach wieder leise. „Ich muss Schluss machen.“

July beendet das Gespräch und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Was sie ihrem alten Freund versprochen hatte, war ernst gewesen. Sie würde ihr Bestes für Adam tun. Wenn sie bloß wüsste, was das Beste sein sollte.

6. KAPITEL

In dieser Nacht konnte July nicht gut weiterschlafen. Zu viele Gedanken kreisten ihr im Kopf herum. Sie würde Adam eine gute Mutter sein, ganz bestimmt.

Er hatte sie heute wieder angelächelt, tatsächlich angelächelt. Mary Karen hatte zwar behauptet, dass er nur das Gesicht verzogen hatte, weil ihn irgendetwas quälte, aber als das Baby mit seinen dunkelblauen Augen July angesehen hatte und sich seine Lippen nach oben verzogen, hatte sie eine Verbindung gespürt. Adam kannte sie. Adam liebte sie.

Ihr Verstand sagte ihr, dass ihr Baby mit seinem Dad besser dran wäre. David konnte Adam so viel mehr geben als sie selbst, nicht nur, was das Materielle anging. Aber wie konnte sie ihr Kind zurücklassen? „Geteiltes Sorgerecht“ – vielleicht war das die Antwort.

Der Gedanke beflügelte sie ein paar Sekunden lang. Sie würde eine Festanstellung finden. Zugegeben, in der Region gab es nicht viele Möglichkeiten, doch dank der prägenden Erfahrungen in ihrer Jugend war sie durchaus in der Lage, mit sehr wenig auszukommen. Adam konnte Zeit mir ihr und David verbringen. Es war nicht die ideale Lösung, aber viele Kinder lebten so. Wenigstens würde Adam einen Vater und eine Mutter haben.

Wir hatten viele Häuser, aber nie ein Zuhause.

A. J.s Worte hallten in ihrem Kopf nach.

Julys Herz wurde schwer. Nur zu gut erinnerte sie sich an das Gefühl, nirgendwo hinzugehören. Würde sie Adam nicht dem gleichen Schicksal ausliefern, wenn sie sich das Sorgerecht mit David teilte?

Es wurde höchste Zeit, dass die Wahrheit um den Kindsvater endlich ans Licht kam, und sie hatte ihm persönlich immer noch nicht die Wahrheit erzählt.

Das bedeutete: Statt David aus dem Weg zu gehen, musste sie sich mit ihm treffen und ihm alles beichten. Und da sich ihre Tage in Jackson Hole dem Ende zuneigten, musste es eher früher als später geschehen.

Obwohl er wusste, dass July eine neue Walkingstrecke gewählt hatte, steuerte David am Samstag wie gewohnt seinen Startpunkt im Park an. Wie so oft im April lag die Temperatur am frühen Morgen nur knapp über dem Gefrierpunkt. David hoffte, dass die klare kalte Luft sein Gehirn durchpusten würde. In der Nacht zuvor war ihm einmal mehr bewusst geworden, wie sehr er sich zu July hingezogen fühlte, und das nicht nur in körperlicher Hinsicht.

Als er um eine Kurve bog, blieb er wie vom Donner gerührt stehen. Er traute seinen Augen nicht. Die letzte Person, die er zu sehen erwartet hatte, stand am Wegrand und machte Dehnübungen. „July! Was tust du denn hier?“

Sie richtete sich auf. Es überraschte sie offenbar nicht, ihn hier zu treffen. „Ich habe auf dich gewartet.“

David legte den Kopf schräg. Hatte er richtig gehört? „Du hast auf mich gewartet?“

Sie strahlte ihn an. „Ich dachte, es wäre schön, heute mit dir eine Strecke zu gehen. Natürlich nur, falls du nichts dagegen hast …“

„Ja. Nein. Ich meine, ich habe nichts dagegen.“ Er riss sich zusammen. „Ein bisschen Gehen kommt mir gerade recht.“

Wenigstens klang er nicht wie ein unbeholfener Teenager, der unversehens seinem Schwarm gegenüberstand.

„Prima.“ Sie setzte sich in Bewegung.

Rasch holte er sie ein.

„Ich habe mir gedacht, es wäre doch schön, wenn wir das ab jetzt jeden Morgen täten“, sagte sie, als er neben ihr herlief.

„Wirklich?“ Er stolperte, konnte sich aber rechtzeitig wieder fangen. Ihr unverhoffter Meinungsumschwung verwirrte ihn total. Das liegt bestimmt an den nachgeburtlichen Hormonschwankungen.

„Ja.“ Unverwandt schaute sie auf den Weg vor ihren Füßen. „Beim letzten Mal hat es mir so viel Spaß gemacht, dass ich dachte, ich tu es wieder.“

Redete sie über das Walken oder über den Kuss? Sofort spürte er eine Reaktion, als er sich an das Gefühl ihrer Lippen auf den seinen erinnerte. Dennoch wollte er nicht zu viele Vermutungen anstellen. „Klingt gut.“

„Na dann …“ Sie schien sehr erleichtert zu sein. „Hast du heute Abend schon was vor?“

„Im Country Club findet ein Wohltätigkeitsball für das Krankenhaus statt. Da gehe ich hin.“ Eigentlich hätte David sich mehr auf das Ereignis freuen müssen, aber sein Enthusiasmus hielt sich in Grenzen. Wenigstens kam er so mal aus den eigenen vier Wänden heraus. Das war immerhin ein Anfang.

„Mit Abendessen?“

„Und hinterher wird getanzt“, ergänzte David. „Es gibt auch eine Versteigerung und eine Modenschau vom Krankenhauspersonal.“

In Julys Augen glitzerte es boshaft. „Mit dir als Model?“

„Ganz bestimmt nicht.“ Das hatte David kategorisch abgelehnt. Als Mitglied des Krankenhauspersonals musste er zwar teilnehmen, aber über einen Laufsteg zu stolzieren – das kam nicht infrage.

July hielt mit ihm Schritt. „Unternimmst du jetzt öfter was mit anderen Leuten?“

„Nur, wenn es unbedingt nötig ist“, antwortete er. „Nach deiner Bemerkung von neulich bemühe ich mich allerdings, etwas daran zu ändern.“

July warf ihm einen Seitenblick zu. „Was habe ich denn gesagt?“

„Du hast mir gesagt, ich sollte mal wieder zu leben beginnen.“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Ist schon okay“, wiegelte David ab. „Du hast ja recht. Ich habe mich viel zu lange zurückgezogen. Jetzt bin ich bereit für einen Neustart.“

Das Ende des Parks kam in Sicht. Auf dem Weg hatte July wieder etwas Neues über Davids Charakter herausgefunden. Jetzt überlegte sie, wie sie ihn dazu bringen könnte, sie zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen wollte. Wenn sie sich erst einmal besser kannten, würde sie es vielleicht schaffen, ihm die Wahrheit über Adam zu beichten.

Leider hatte sie sich so sehr bemüht, ihn von sich fernzuhalten, dass sie sich nicht sicher sein konnte, ob er sie tatsächlich fragen würde. Verstohlen schaute sie ihn von der Seite an. Wieder musste sie feststellen, dass er wirklich gut aussah.

Die Uhr tickte unerbittlich. In einigen Wochen würde sie ihren neuen Job antreten und eine Entscheidung bezüglich Adams Zukunft treffen müssen.

„Die Veranstaltung heute Abend – können die Gäste jemanden mitbringen?“

„Natürlich.“ David klang überrascht. „Da kann jeder hinkommen.“

Obwohl sie derlei gesellschaftliche Anlässe überhaupt nicht mochte, würde es eine sehr gute Gelegenheit sein, Zeit mit David zu verbringen – ihn im Smoking zu erleben, wäre ein zusätzlicher Bonus. July blieb stehen und drehte sich zu ihm um. „Ich habe mir überlegt … Wenn du noch niemanden hast, der dich begleitet – könnte ich dann nicht mit dir kommen?“

Sie rechnete mit einem begeisterten Ja, vielleicht sogar mit einer Umarmung. Sie wartete und wartete und wartete.

Er schaute ihr tief in die Augen. „Hätte ich das doch letzte Woche schon gewusst, ehe …“

Julys Herz sank ihr bis in die Kniekehlen. Zusätzlich wurde ihr ein bisschen übel. „Ehe was?“

„Ehe ich Rachel Milligan gefragt habe, ob sie mich begleiten möchte.“

July trank einen Schluck Saft und sah Mary Karen über den Rand ihres Glases an. Seitdem sie die Küche betreten hatte, wartete sie auf den richtigen Moment. Das Baby war gefüttert, und die Jungs schliefen bereits. Der passende Moment schien also gekommen. July setzte das Glas ab und fing betont beiläufig an. „Wusstest du, dass dein Bruder Rachel Milligan heute Abend zum Wohltätigkeitsball für das Krankenhaus mitnimmt?“

Mary Karen schob einen Bagel in den Toaster und drehte sich zu July um. „Das freut mich zu hören.“ Forschend sah sie July an. „Findest du das nicht so gut?“

„Nein, nein, es ist fantastisch.“ July schob ihre Müslischale beiseite. Der Appetit war ihr vergangen. Als David ihr von seiner Verabredung erzählt hatte – nun ja, er hatte nicht Verabredung gesagt –, da hatte sie sich enorm zusammennehmen müssen.

Nicht, weil es ihr etwas ausmachte, mit wem er ausging, sondern weil sie sich ziemlich blöd vorkam. Hatte sie wirklich geglaubt, sie bräuchte nur mit dem kleinen Finger zu winken, und er käme angelaufen?

„July?“ Mary Karen setzte sich auf den Stuhl neben sie. „Bist du an meinem Bruder interessiert?“

July hätte sie am liebsten mit einem Pssst! zum Schweigen gebracht. Granny stand im Garten vor dem Küchenfenster und kümmerte sich um die Rosenbüsche. Beide Frauen wussten, dass sie Ohren wie ein Luchs hatte. Deshalb flüsterte sie nur. „Vielleicht … ja.“

Wenn eine Verabredung die einzige Möglichkeit war, ihr Problem zu lösen, dann war sie in der Tat interessiert.

„Das ist ja toll!“ Mary Karen strahlte übers ganze Gesicht.

„Hast du nicht mitgekriegt, dass er mit Rachel zu dem Ball geht?“

„Nein, die beiden sind auch nur gute Freunde“, beschwichtigte Mary Karen mit einer wegwerfenden Handbewegung.

„Sie ist sehr hübsch.“ July seufzte. „Und sehr süß.“

„Glaub mir, da läuft nichts zwischen den beiden“, versicherte Mary Karen ihr.

„Ich habe mich auf den Ball gefreut“, gestand July. Wie sehr, wurde ihr erst in diesem Moment klar.

„Ja, der ist immer sehr schön gewesen“, seufzte Mary Karen sehnsüchtig. „Ich bin auch jedes Jahr hingegangen.“

„Selbst wenn David mich gefragt hätte – ich habe sowieso nichts Passendes anzuziehen“, meinte July bedauernd.

Mary Karen legte einen Finger an die Lippe. „Ich glaube, ich hätte da was …“

„Ach, bemüh dich nicht.“ July sollte längst mit ihrer Kamera im Jeep sitzen und auf dem Weg in die Berge sein. „Ich werde bestimmt nicht allein hingehen.“

„Ich könnte dich begleiten!“ Mary Karen klang ziemlich entschlossen.

„Eine Art Mädelsabend? Nur du und ich?“ July zwang sich, nicht zu enthusiastisch zu klingen. „Und was ist mit dem Babysitter?“

Vier kleine Jungs zu beaufsichtigen, war mehr, als sie Granny zumuten konnten.

Mary Karen überlegte kurz. Dann lächelte sie. „Esther Wilkins aus der Pfarrgemeinde ist vor Kurzem Witwe geworden. Ihre Enkel leben weit weg. Mehr als einmal hat sie mir versichert, wie gern sie mal auf die Kinder aufpassen würde.“

„Ja, auf deine Jungs!“, wandte July ein. „Und was ist mit Adam?“

„Esther liebt Babys. Du kannst ihn ihr unbesorgt anvertrauen.“

July war noch nicht überzeugt. „Meinst du wirklich, sie kann sich um vier kleine Jungen kümmern?“

Mary Karen kicherte. „Ich denke schon – sie hat ja selbst fünf großgezogen.“

Jetzt lächelte auch July. „Na, worauf warten wir da noch? Ruf sie an. Und dann zeig mir das Kleid.“

Die Lobby des Spring-Gulch-Countryclubs war mit Hunderten frischer Blumen geschmückt. Aber der Grund, warum July am liebsten sofort auf dem Absatz kehrt gemacht hätte, waren die Männer im Smoking und die Frauen in ihren eleganten Abendkleidern.

Das Ambiente war so ganz anders als alles, was sie bisher erlebt hatte. Sie hatte das Gefühl, nicht dazuzugehören.

„Die sehen alle so toll aus“, flüsterte July, als sie neben Mary Karen am Eingang stand und die Gäste betrachtete.

„Sie sehen toll aus, ja“, bestätigte Mary Karen, „aber du siehst fantastisch aus!“

Das unerwartete Kompliment ließ July erröten. Das grüne Cocktailkleid schien wie für sie gemacht. Mary Karen hatte es vor Jahren bei einem Schlussverkauf erworben, aber noch kein einziges Mal getragen. Es war erstens zu klein und zweitens nicht ihre Farbe.

Das schwarze Kleid, das sie jetzt trug, war zwar schlicht, aber es betonte ihre Figur aufs Vorteilhafteste. Und es war nicht nur das Kleid. Bisher hatte July die junge Mutter immer nur ungeschminkt und mit Pferdeschwanz erlebt. Sie hätte nie geglaubt, welche Wunder ein bisschen Make-up und Lockenwickler bewirken konnten.

„Du bist diejenige, die fantastisch aussieht“, entgegnete July.

Mary Karen lachte. „Ich glaube, wir können uns beide sehen lassen.“

„Sollen wir mal in den Raum gehen, wo die Versteigerung stattfindet?!“, schlug July vor.

Auf den Tischen im Saal nebenan, in dessen mannshohem Kamin ein Feuer knisterte und der von riesigen Kronleuchtern erhellt wurde, lagen die Objekte, die ersteigert werden konnten. Ein von zwei silbernen Händen eingefasster Mondstein erregte Julys Aufmerksamkeit, kaum dass sie den Raum betreten hatte.

„Wusstest du, dass dieser Stein eine ganz besondere Bedeutung hat?“, sagte sie über ihre Schulter zu Mary Karen. „Sogar wie man ihn trägt, hat etwas zu bedeuten.“

„Das wusste ich nicht.“ Die tiefe Stimme ließ July herumfahren.

David – und nicht seine Schwester – stand hinter ihr. Und er war nicht allein.

„Hallo, Rachel.“ Mit einem Lächeln begrüßte July die Krankenschwester. Auch sie trug ein schwarzes Kleid, das ihr blondes Haar und ihre Schönheit betonte. „Sie sehen reizend aus.“

„Danke, July.“ Rachel schaute an sich herunter und musste lachen. „Das ist wirklich mal eine Abwechslung für mich.“

Im Krankenhaus hatte sie ihr Haar immer nach hinten gebunden. Jetzt fielen ihr die Locken über die Schultern. July fragte sich, ob David Blondinen bevorzugte.

„Was hast du dir denn angesehen?“ David schaute über ihre Schulter.

„Einen Ring mit einem Mondstein. Sehr hübsch, aber weit jenseits meines Budgets.“

„Meine Freundin hat einen von ihrem Mann geschenkt bekommen“, sagte Rachel. „Er soll Liebe und Freundschaft symbolisieren.“

„Was die Basis einer jeden Ehe sein sollte“, konstatierte David leichthin.

„Wer ihn bekommt, wird bestimmt glücklich sein“, mutmaßte July. In Gegenwart der beiden kam sie sich vor wie das fünfte Rad am Wagen. Doch als sie bemerkte, dass David darauf bedacht zu sein schien, Abstand zu Rachel zu halten, wurde ihr wieder leichter ums Herz. „Habt ihr denn schon irgendwas ins Auge gefasst?“

„Ich habe für verschiedene Objekte geboten“, erwiderte David. „Aber es ist noch früh. Keine Ahnung, ob mein Gebot das Höchste ist.“

„Ach ja – ich bin an der Skiausrüstung interessiert.“ Rachel sah von David zu July. „Entschuldigt ihr mich kurz?“

David wollte ihr folgen, aber Rachel winkte ab. „Bleiben Sie ruhig bei July. Ich bin gleich zurück.“

Er schob die Hände in die Tasche. „Ich fürchte, jetzt musst du mit mir vorliebnehmen.“

„Passt schon“, konterte July und schaute auf ihre zehenfreien Pumps.

„Und wie geht’s dir?“

„Gut.“ Sie schaute hoch. „Und selbst?“

Ein längeres Schweigen entstand. Ehe es zu peinlich wurde, fühlte David sich zu einer Erklärung bemüßigt. „Das ist übrigens kein Date. Rachel und ich sind nur Kollegen, sonst nichts.“

Sofort war das Knistern zwischen ihnen wieder da. Wusste er, wie toll er heute Abend aussah und noch dazu, wie fein er duftete? Die bewundernden Blicke der anderen Frauen durften ihm nicht entgangen sein.

„Das ist mir egal“, erwiderte July. „Du kannst ausgehen mit wem immer du willst.“

„Aber mir wäre es nicht egal, wenn du mit jemand anderem hier wärst“, machte David klar. „Und wenn du an einem Date interessiert wärst, würde es mich freuen, wenn ich es wäre.“

War das die Eröffnung, auf die sie gewartet hatte? War die Tür, von der sie geglaubt hatte, sie zugeschlagen zu haben, wieder einen Spalt breit geöffnet?

„Ja, es wäre ganz nett, hin und wieder auszugehen.“ July bemühte sich um einen neutralen Tonfall. Sie beschloss, David den nächsten Schritt zu überlassen. „Mit dir wäre es wahrscheinlich am unkompliziertesten. Da wir uns ja schon kennen …“

„Ich rufe dich an.“ Er schaute sie fest an. „Schlag was vor.“

„Wenn du wirklich willst“, begann sie, „aber wenn nicht …“

„Ich möchte mit dir ausgehen.“ Er berührte ihren Arm. „Das will ich schon, seitdem …“

„Ich habe mein Angebot abgegeben!“, rief Rachel zufrieden und stellte sich zwischen July und David.

Er ließ die Hand sinken.

„Ich denke, man kann bis zweiundzwanzig Uhr bieten.“ July trat einen Schritt zurück.

„Schon, aber ich wollte nicht bis auf den letzten Drücker warten.“

„Verstehe.“ July schaute die Krankenschwester an und vermied es, in Davids Richtung zu blicken. „Ich werde mal Mary Karen suchen. Es sieht so aus, als würde das Dinner gleich beginnen.“

Die Gäste strömten bereits in einen anderen Saal mit weißgedeckten Tischen.

„Sie könnten doch bei uns sitzen“, bot Rachel an. „Dann ist David nicht allein, wenn ich auf der Bühne bin.“

„Auf der Bühne?“ July neigte den Kopf. „Sind Sie die Moderatorin?“

Rachel errötete leicht. „Ich bin eins der Models.“

Julys verständnisloser Blick veranlasste Rachel zu einer Erklärung. „Während des Dinners findet eine Modenschau statt. Die Models arbeiten alle im Krankenhaus.“ Rachel warf David einen Blick zu. „Eigentlich sollten alle mitmachen, aber Davids Nein muss viel überzeugender geklungen haben als meins.“

„Hey, du hättest mitmachen sollen.“ July versetzte David einen Rippenstoß. „Schließlich geht es darum, das Krankenhaus zu unterstützen, oder?“

„Stimmt.“ David verbiss sich ein Grinsen. „Was habe ich mir nur dabei gedacht, einfach abzusagen?“

„Nächstes Jahr will ich Sie auf dem Laufsteg sehen, Mister!“ Kaum hatte July diesen Satz ausgesprochen, als ihr klar wurde, dass sie im nächsten Jahr überhaupt nicht dabei sein würde. Sie wäre schon im nächsten Monat nicht mehr hier. Ihr Lächeln erstarb.

„Da seid ihr ja!“ Mary Karens Absätze klackerten über den Parkettboden. „Hallo, David. Hi, Rachel.“

„He, kleine Schwester, ich hätte dich fast nicht erkannt.“ David trat einen Schritt zurück und musterte Mary Karen von oben bis unten. „Du siehst … reizend aus.“

„Das stimmt.“ Travis hatte sich unbemerkt hinter July gestellt.

Davids Miene hellte sich auf. „Ich habe schon nicht mehr daran geglaubt, dich heute zu sehen, Trav.“

„Unplanmäßiger Kaiserschnitt.“ Travis zuckte mit den Schultern. „Was gibt’s sonst Neues?“

David sah sich um. „Wo ist deine Begleitung?“

„Sagen wir mal so … Sie fand es nicht gut, wegen einer anderen Frau warten zu müssen … selbst wenn diese Frau im Kreißsaal lag.“

„Bestimmt ist an unserem Tisch noch ein Platz frei“, sagte Mary Karen. „Wir nehmen auch Loser auf, die unfähig sind, ihre Begleitung bei der Stange zu halten.“

Travis lachte. „Also, ich sehe dich auch nicht in Begleitung, meine Liebe. Da wäre ich etwas vorsichtiger mit meinen Bemerkungen.“

„Ich habe eine Begleitung!“ Mary Karen hakte sich bei July unter.

Travis schüttelte den Kopf. „Das zählt nicht.“

July schmunzelte, sagte aber nichts.

„Am Tisch wird aber nicht gestritten, Kinder!“, warnte David.

„Deine Schwester hat mich als Loser bezeichnet“, wehrte Travis sich.

„Er nimmt meine Begleitung nicht ernst“, konterte Mary Karen.

„Stopp!“ David hob die Hand. „Nach dem Essen könnt ihr weiterstreiten oder besser noch, euch küssen und versöhnen.“

Die beiden wechselten einen Blick, sagten aber nichts. Dennoch entging es July nicht, dass Travis wartete, bis Mary Karen Platz genommen hatte, um sich neben sie setzen zu können. Ob sie sein Interesse spürt? fragte July sich insgeheim. Aber dann bemerkte sie ihre geröteten Wangen und den Glanz in ihren Augen, und das war Antwort genug auf ihre unausgesprochene Frage.

Kaum hatte der Kellner die Getränke gebracht, entschuldigte Rachel sich und verließ den Tisch, um sich für die Modenschau umzuziehen. Jetzt waren sie nur noch zu viert.

„Du solltest öfter Smoking tragen“, meinte July. „Es steht dir gut.“

„Ich bin froh, wenn ich ihn ausziehen kann.“ David steckte einen Finger in den gestärkten Kragen. „Ich bin mehr der Jeans-und-T-Shirt-Typ.“

„Das kann ich verstehen“, meinte July mitfühlend.

„Du siehst toll aus in dem Kleid.“ David beugte sich zu ihr und senkte die Stimme. „Und wahrscheinlich noch toller ohne.“

Julys harte Brustspitzen drückten gegen das Mieder ihres Kleides, und in ihrem Unterleib verspürte sie ein süßes Ziehen. Sie versuchte, nicht auf seine Lippen zu schauen. „Hältst du mich für eine schlechte Mutter, weil ich Adam bei einer Babysitterin gelassen habe?“, wechselte sie das Thema.

Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet. Sie erkannte es an seiner verdutzten Miene. Aber er fing sich schnell. „Manchmal brauchen Eltern Zeit für sich allein.“

Das stimmte zwar, aber es reichte July nicht. „Wie würdest du dich an meiner Stelle verhalten?“

David wartete mit einer Antwort, bis die Kellner die Salatschüsseln vor sie hingestellt hatten. „Ich denke, du hast ebenso Rechte wie dein Kind auf ein erfülltes Leben. Hin und wieder einen kinderfreien Abend zu haben, tut dir ebenso gut wie meiner Schwester.“

July folgte seinem Blick. Mary Karen und Travis unterhielten sich angeregt.

„Selbst wenn ich dafür mein Baby alleine lasse?“, hakte July nach.

„Wahrscheinlich merkt Adam gar nicht, dass du fortgegangen bist.“

July seufzte. „Vielleicht sollte ich einfach nur den Abend genießen.“

Zu ihrer Überraschung nahm David ihre Hand. „Du bist noch nicht lange Mutter, July. Ich fände es seltsam, wenn du dein Baby nicht vermissen würdest.“

Mit dem Daumen streichelte er ihre Handfläche, und July erschauerte. Als er sich näher zu ihr beugte und ihr der Duft seines Aftershaves in die Nase stieg, vergaß July, dass David mit einer anderen Frau zusammen hergekommen war … und dass ihr Baby mit jemandem zusammen war, den sie gar nicht gut kannte.

„Es ist nicht leicht, Mutter zu sein“, sagte sie schließlich.

„Für manche trifft das bestimmt zu“, meinte David, „aber gewiss nicht für dich.“

Plötzlich traten July Tränen in die Augen. „Ich liebe ihn so sehr. Und ich möchte nur das Beste für ihn.“

„Alles in Ordnung bei euch?“ Auf der anderen Seite des Tischs war Mary Karen die Reaktion ihrer Freundin nicht entgangen.

„Alles in Ordnung“, versicherte July und zwang sich zu einem Lächeln. „Ich will nur mal kurz an die frische Luft.“

„Ich komme mit dir.“ Mary Karen wollte sich erheben, aber July legte ihr eine Hand auf die Schulter.

„Bleib sitzen. Ich bin gleich zurück.“

Einige Blicke folgten ihr, als sie den Saal durchquerte und ins Freie eilte. Über die gewundene Auffahrt erreichte sie schließlich den Golfplatz. Jetzt, wo sie unbeobachtet war, gestattete sie sich noch ein paar Tränen. Alles nur der Hormonumschwung nach der Geburt. Doch das war nicht der Grund, wie July nur zu gut wusste. Der Grund war das Dilemma, in dem sie steckte.

Wie gern hätte sie David endlich die Wahrheit gebeichtet!

Sie straffte die Schultern und atmete die frische kühle Nachtluft ein. Allmählich ließ ihre Anspannung nach.

„Ich weiß, du willst allein sein, aber ich habe mir Sorgen gemacht.“

Julys Herz begann schneller zu schlagen, und sie drehte sich um. Davids Silhouette zeichnete sich gegen das Licht der Laternen ab.

„Wenn es dir lieber ist, dass ich wieder gehe …“

„Bleib.“ Spontan ergriff sie seine Hand. Bei der Berührung spürte sie sofort dieses unwiderstehliche Kribbeln im Bauch. Jetzt brauchte sie seinen Trost und seine Stärke. „Tut mir leid, dass ich eine solche Heulsuse bin. Die bin ich erst hier in Jackson Hole geworden. Früher habe ich nie geweint, das schwöre ich dir.“

„Kein Problem.“ Davids Finger umschlossen ihre Hand. „Das hängt mit der jungen Mutterschaft zusammen. Das sage ich übrigens als Arzt.“

„Gut zu wissen.“

„Mary Karen hat zu Hause angerufen und sich nach den Jungs erkundigt. Allen geht es gut, auch Adam!“

Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte July. „Ich habe ihn nicht gerne mit jemandem alleingelassen, den ich nicht kenne.“

„Wenn es dir ein besseres Gefühl gibt: Ich kenne Esther fast mein ganzes Leben lang. Ich versichere dir, dass Adam bei ihr in besten Händen ist.“

„Das ist beruhigend. Ich …“ Aus dem Clubhaus drang Applaus.

David grinste. „Wer hätte gedacht, dass Mode so unterhaltsam sein kann?“

July ließ seine Hand los. „Du solltest reingehen.“

David schob die Hände in seine Tasche, ohne sich vom Fleck zu rühren. „Hast du schon genug von mir?“

„Ganz und gar nicht.“ July lächelte. „Ich möchte nur nicht, dass du meinetwegen die Modenschau verpasst.“

„Dein Verschwinden hat mir eine sehr gute Entschuldigung geliefert.“ Er zwinkerte ihr zu. „Nicht, dass nachher noch jemand auf die Idee kommt, wir hätten uns vorher abgesprochen.“

„Du meinst, sie glauben, dass du … und ich …“

„Genau.“

Zu ihrer eigenen Überraschung machte ihr der Gedanke nicht halb so viel aus, wie er es noch vor einigen Tagen getan hätte.

„Wenn wir jetzt zurückgehen, platzen wir mitten in die Show hinein.“ David wippte auf seinen Fußballen. „Und dann haben die Leute erst recht was zu reden.“

Julys Gesicht war ausdruckslos. „Das darf nicht passieren.“

„Ich habe eine Idee.“

„Erzähl.“

„Wir gehen erst dann wieder hinein, wenn alles vorbei ist.“

„Und was ist mit Rachel?“

„Sie ist einer der Stars. Sie ist praktisch die ganze Zeit über auf dem Laufsteg.“ Er schaute auf seine Uhr. „Wenn alles planmäßig verläuft, bleibt uns noch etwa eine halbe Stunde. Zeit genug für einen Ausflug.“

„Ein Ausflug?!“ July schaute zum Parkplatz hinüber.

„Nicht mit dem Auto. Ich schlage eine Mondlichttour über den Golfplatz vor. Interessiert?“

July zögerte. „Ist das dein Ernst?“

„Ich nehme das als ein Ja.“ Kurz darauf fuhr er mit einem Golfwagen vor, blieb neben ihr stehen und streckte die Hand aus. „Madam, die Kutsche ist bereit.“

Sie spürte ein wärmendes Gefühl von Vorfreude, als sie seine Hand ergriff und in den Karren stieg. Für Abenteuer war sie schon immer zu haben gewesen, und diese Nacht versprach eines zu werden.

David rutschte hinter das Steuer und trat aufs Gaspedal. Mit einer ruckartigen Bewegung setzte sich der Golfkarren in Bewegung.

Einige hundert Meter blieb David auf den asphaltierten Wegen, ehe er auf den Rasen fuhr. Der Wind wurde stärker und wirbelte ihr Haar durcheinander. July verschränkte die Arme vor der Brust. Zunächst hatte sie die Kälte gar nicht gespürt. Für Jackson Hole war die Nacht mit zehn Grad zwar relativ mild, aber in einem ärmellosen Kleid fror sie doch ziemlich schnell.

Der Karren blieb stehen. David zog sein Jackett aus und reichte es ihr. „Wir können zurückfahren …“

„Auf keinen Fall.“ July schlüpfte in das Jackett, das noch warm von seinem Körper war. „Ich finde es hier draußen ganz toll.“

Der Himmel war sternenübersät, und der Vollmond tauchte die Landschaft in silbernes Licht.

„Ich habe schon gehört, dass der Himmel über diesem Teil des Landes besonders weit sein soll, aber ich habe es nie geglaubt.“ David trat aufs Gas und steuerte einen Hügel an. Es war, als würden sie direkt in den Himmel fahren. „Er hüllt dich total ein.“

Auf der Anhöhe blieb der Wagen stehen. Über ihnen – der Himmel. Unter ihnen – der perfekt getrimmte Rasen. Ein kleiner Teich reflektierte das Mondlicht.

„Das ist einer der schönsten Golfplätze weit und breit.“ David lehnte sich auf seinem Sitz zurück. „Als ich auf der Highschool war, habe ich hier gearbeitet, um mein Taschengeld aufzubessern.“

July sah sich um. „Ja, es gibt hässlichere Arbeitsplätze.“

David lachte leise. „Wohl wahr. Hast du als Schülerin auch gearbeitet?“

„Mit fünfzehn zum ersten Mal und dann immer wieder, um die Haushaltskasse aufzubessern.“

Aufmerksam betrachtete David sie. „Deine Eltern mussten kämpfen?“

„Einen Dad gab es gar nicht. Meine Mutter ist … war drogenabhängig. Ich weiß nicht, wo sie ist. Ich war öfter woanders als zu Hause, aber sie haben mich immer zu ihr zurückgeschickt.“

„Sie?“

„Die Leute vom Jugendamt. Die Familienrichter haben meiner Mutter dauernd eine neue Chance gegeben. Und die Sozialarbeiter waren ohnehin der Ansicht, dass ein Kind zu seiner biologischen Mutter gehört.“ July klang verbittert.

„Trotzdem muss sie dich doch geliebt haben.“

July lachte freudlos. „Sie hat das Geld geliebt, das sie vom Staat bekommen hat. Ansonsten war ich ihr eher lästig.“

Er legte den Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. „Bist du deshalb von Chicago weggegangen? Um den Erinnerungen zu entkommen?“

„Die Stadt ist groß genug für uns beide. Wie gesagt, ich habe sie seit Jahren nicht gesehen.“ July klang ganz nüchtern. Für die meisten wäre es unerträglich gewesen, nicht zu wissen, ob ihre Mutter noch lebte oder bereits tot war. Für July war es besser so. „Ich bin aus Chicago fort, weil ich meinen Job verloren hatte und einen neuen brauchte.“

„Was ist denn passiert?“

„Betriebsbedingte Kündigung.“ July zuckte mit den Schultern. „Es war nichts Persönliches.“

„Davon bin ich überzeugt. Du bist schließlich eine tolle Fotografin. Du hast das Talent, Dinge zu sehen, die den meisten Menschen gar nicht auffallen würden.“

July freute sich über das Kompliment. „Danke.“

„Und du machst einen ganz tollen Job, was Adam angeht. Wenn man euch beide zusammen sieht, besteht kein Zweifel daran, dass du eine fantastische Mutter bist.“

„Du bist heute Abend aber sehr großzügig mit Komplimenten.“ Sie drehte sich zu ihm. Ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. „Das mag ich.“

„Ich mag dich“, erwiderte er mit seiner tiefen Stimme, die ihr Herz zum Schmelzen brachte. „Und ich würde dich gerne wieder küssen, wenn du nichts dagegen hast.“

Statt einer Antwort schlang July die Arme um seinen Hals und drückte ihre Lippen auf seinen Mund.

7. KAPITEL

Eine heiße Woge durchflutete Davids Körper, als er ihre Lippen schmeckte. Er zog July näher an sich und genoss das Gefühl ihrer weichen Rundungen, die sich gegen seinen Körper pressten. Sie öffnete die Lippen, und mit der Zunge begann er, ihren Mund zu erforschen. Mit einer Hand tastete er sich unter dem Jackett, das er ihr über die Schultern gelegt hatte, bis zum Reißverschluss im Rücken ihres Kleides vor. Mit zitternden Fingern zog er ihn hinunter. Seufzend schmiegte July sich noch enger an ihn.

Als er den Reißverschluss vollständig geöffnet hatte, rutschte ihr Kleid nach unten und entblößte ihre vollen Brüste. Ihre Nippel wurden sofort hart. Sie waren dunkler, als er sie in Erinnerung hatte, und die Brüste sehr viel größer.

David rutschte ein wenig zurück, um sie betrachten zu können. „Du bist wunderschön.“

Ihre Augen glitzerten im Mondlicht wie Smaragde. „Das sagst du bestimmt zu allen halbnackten Frauen auf dem Golfplatz.“

David nahm ihr Gesicht in die Hände und küsste sie zärtlich. „Das sage ich nur zu dir.“

Sanft drängte er sie gegen die Lehne ihres Sitzes, küsste ihren Hals und wanderte tiefer. Als er ihre Brustwarzen erreichte, zuckte sie zusammen.

Sofort schaute er auf. „Habe ich dir wehgetan?“

„Meine Nippel sind im Moment superempfindlich. Aber deine Berührung fühlt sich gut an.“

„Das soll sie auch.“ Er küsste sie auf den Mund, ehe er sich erneut auf Wanderschaft begab. July stöhnte und seufzte, legte die Hände auf seinen Hinterkopf und zog ihn näher zu sich.

Er schob die Hand unter ihr Kleid …

Unvermittelt stieß sie ihn zurück.

„Was ist denn?“

„Da kommt jemand.“

Er legte eine Hand auf ihre Brust. „Hier ist weit und breit kein Mensch.“

Sie drehte sich halb um und zeigte in die Dunkelheit. „Was ist das denn?“

Er schaute in die Richtung und unterdrückte einen Fluch. Ein Golfkarren mit eingeschaltetem Scheinwerfer, ungefähr einen Kilometer entfernt, rollte über den Rasen.

Rasch zog July sich das Kleid über die Brüste. „Wer kann das sein?“, wisperte sie.

„Der Platzwart vermutlich.“ Davids Stimme klang heiser vor Begierde.

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, als der Karren neben ihnen hielt. David erkannte Ron Evans sofort. Er arbeitete auf dem Platz, seitdem dieser eröffnet worden war.

David zwang sich zu einem Lächeln. „N’Abend, Ron. Was machst du denn um diese Zeit hier?“

„Das wollte ich dich auch gerade fragen.“ Der Blick des untersetzten Mannes wanderte zu July.

„July wohnt zurzeit bei meiner Schwester Mary Karen.“ Rasch stellte David die beiden einander vor. „Wir hatten beide keine Lust auf die Modenschau. Deshalb habe ich July vorgeschlagen, ihr den Golfplatz zu zeigen.“

„Okay. Willkommen in Jackson Hole!“ Ron warf July ein Lächeln zu, ehe er sich wieder David zuwandte. „Sag das nächste Mal Bescheid, wenn du mit einem Karren rausfährst.“

„Mach ich“, versprach David.

Sie unterhielten sich noch eine Weile über den Ball, ehe Ron mit einem Blick auf seine Uhr feststellte: „Ich fahr dann mal besser zurück. Viel Spaß euch beiden noch beim … Sternebetrachten.“

Rons verschmitztes Lächeln verriet David, dass er dem Mann nichts hatte vormachen können. Er wusste genau, was die beiden getan hatten, ehe sie von ihm gestört worden waren. Zumindest ahnte er es.

Nachdem Ron weggefahren war, saßen sie noch ein paar Minuten schweigend nebeneinander. Dann beugte David sich zu ihr und zog den Reißverschluss ihres Kleides hoch.

July schaute ihm tief in die Augen. „Wir sollten besser zurückfahren.“

„Erst muss ich noch etwas tun.“

„Was denn?“

„Das hier.“ Er drückte ihr einen festen Kuss auf die Lippen und widerstand dem Wunsch, länger dort zu verweilen. Stattdessen trat er aufs Gaspedal und steuerte den Karren zurück zum Clubhaus.

Die Modenschau war fast zu Ende, als sie das Foyer betraten. July wollte zuerst auf die Toilette, ehe sie in den Saal zurückkehrte. David erbot sich, auf sie zu warten, aber sie bestand darauf, dass er vorausging.

Glücklicherweise war die Damentoilette leer. Mit einem kritischen Blick in den Spiegel stellte July fest, dass von ihrem Make-up kaum noch etwas zu sehen war. Sie schnitt eine Grimasse und ordnete die Haarsträhnen, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatten. Jetzt sah sie wenigstens nicht mehr so aus, als hätte sie sich beim Abschlussball mit ihrem Freund auf dem Rücksitz seines Wagens amüsiert.

Freund.

Wie wäre es wohl gewesen, David zum Freund zu haben? Einen Moment dachte sie an den Spaß, den sie beide gehabt hätten, all das, was sie zusammen unternommen hätten, an …

Die Tür wurde geöffnet. „Hey, ich habe mir gedacht, dass du dich hier versteckst.“

July lächelte. „Das heißt nicht verstecken, Mary Karen, sondern frischmachen. David hat mir den Golfplatz gezeigt, und es war ein bisschen feucht …“

„Feucht?“ Ungläubig schaute Mary Karen sie an.

„Wie war die Modenschau?“, fragte sie, bevor Mary Karen eine weitere Frage stellen konnte.

„Fantastisch.“ Sie klang ganz enthusiastisch. „Ein paar richtig tolle Kleider waren dabei.“

„Schade, dass ich es verpasst habe.“

„Ach, es tut dir bestimmt nicht leid!“, lachte Mary Karen. „Mit meinem Bruder auf dem Golfplatz hast du dich bestimmt besser amüsiert.“

„Vielleicht.“ July versuchte, gleichmütig zu klingen, aber ihr Lächeln verriet sie.

„Ach, komm. Der Knutschfleck an deinem Hals ist ein eindeutiger Beweis.“

„Knutschfleck?!“ Peinlich berührt beugte July sich näher zum Spiegel und suchte nach dem Fleck. Schließlich richtete sie sich wieder auf. „Ich habe gar keinen …“

Mary Karen kicherte. „Stimmt. Aber deine Reaktion beweist, dass du leicht einen hättest bekommen können.“

Judy wollte protestieren, doch dann lächelte sie nur. „David hat mich gefragt, ob ich später noch zu ihm kommen will – wenn er Rachel nach Hause gebracht hat.“

„Und – was hast du gesagt?“

„Dass ich auf Adam aufpassen muss.“

„Das kann ich doch tun.“ Mary Karens blaue Augen – genauso blau wie die ihres Bruders – hefteten sich auf July. „Wenn das deine einzige Sorge ist.“

„Ich möchte niemanden verletzen.“

„Über wen reden wir gerade?“, wollte Mary Karen wissen. „Über dich? Über ihn?“

July seufzte. „Über beide.“

„Weil er keine Beziehung möchte – im Gegensatz zu dir? Oder umgekehrt?“

„So schlimm ist es nicht.“ Mary Karens Antwort überraschte July. „Wir wollen einfach nur Freunde sein. Mehr nicht.“

„Wo liegt denn dann das Problem?“

Julys Herz setzte einen Schlag lang aus. „Du hast recht. Es macht dir wirklich nichts aus, auf Adam aufzupassen?“

Mary Karen lächelte. „Das ist das Mindeste, was ich für die Freundschaft von dir und meinem Bruder tun kann.“

July hatte gerade ihre Tasche gepackt und sich in bequemere Kleidung geworfen, als David anrief und ihr verkündete, dass er Rachel nach Hause gebracht habe.

„Dann komme ich zu dir.“ July war überrascht, wie lässig sie klang. „Mary Karen hat sich bereiterklärt, auf Adam aufzupassen.“

„Ich hole dich ab“, entgegnete er. „Und ich kann dich morgen wieder nach Hause bringen. Mein Dienst beginnt erst um fünfzehn Uhr.“

„Aber ich kann selbst fahren …“

„Lass mich dich abholen, bitte.“

Es fiel ihr schwer, ihm etwas abzuschlagen. „Gut. Ich warte auf der Veranda.“

Kaum fünf Minuten später hielt sein Wagen vor dem Haus. Mit der schweren Tasche über der Schulter schlenderte July zum Auto. Neben der Vorfreude befielen sie leise Zweifel und Furcht. War es vier Wochen nach der Geburt nicht eigentlich zu früh, um intim zu werden? War die Leidenschaft in Chicago überhaupt echt gewesen?

Aber als David um den Wagen herumkam, ihr die Tasche abnahm und ihre Hand packte, um ihr beim Einsteigen zu helfen, spürte sie erneut das vertraue Knistern, und plötzlich war sie sicher, dass sie nichts zu befürchten hatte.

Sie machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem, und David gab ihr die Tasche zurück.

„Du hast dich umgezogen?“

Statt Mary Karens Cocktailkleid trug sie nun ein schlichtes Baumwollkleid. „Ich habe mich so beeilt, dass ich vergessen habe, einen Slip anzuziehen.“ Sie seufzte theatralisch. „Aber das geht schon.“

Das koboldhafte Blitzen in ihren Augen verriet ihm, dass sie absichtlich darauf verzichtet hatte.

„Oh, das ist aber … gar nicht schlimm“, meinte er grinsend.

Die Heimfahrt erschien David unendlich lange zu sein. Als er den Wagen in die Garage gefahren hatte, konnte er seine Lust kaum noch im Zaum halten.

Langsam, befahl er sich. Ich muss mir Zeit lassen, wiederholte er im Stillen, während er July durchs Haus führte. Langsam, langsam, dachte er, als sie an der Tür seines Schlafzimmers stehenblieb.

„Ist das so bequem, wie es aussieht?“, fragte sie mit einem Blick auf das große Bett.

„Sehr sogar“, antwortete er.

Ehe er sich’s versah, war sie zu seinem Bett gelaufen, hatte unterwegs die Schuhe von den Füßen getreten, setzte sich auf die Kante und ließ sich mit einem zufriedenen Seufzer auf die Bettdecke sinken. „Es ist tatsächlich bequem. Ich liebe es.“

Er folgte ihr, während er sein Jackett und seine Schuhe auszog. Als er sich ganz nahe neben sie setzte, stellte er fest, dass sie tatsächlich kein Höschen unter dem dünnen Kleid trug. Er musste nur den Stoff ein wenig höher schieben und …

Am liebsten hätte er sich sofort auf sie gelegt, doch er wollte sich ja Zeit lassen. Ganz viel Zeit …

Um ihre Lippen spielte ein Lächeln.

„Einen Penny für deine Gedanken“, sagte er.

„Ich habe mich heute Abend sehr gut amüsiert.“

„Du klingst, als hättest du nicht damit gerechnet.“

„Ich wusste nicht, was ich erwarten sollte.“ Unverwandt schaute sie zur Decke. „Aber es war schön zu reden, zu tanzen …“

„Vergiss nicht die Fahrt im Golfkarren und das Mondlicht!“

Sie drehte sich zu ihm um und stützte sich auf einen Ellbogen. „Das werde ich nie vergessen. Es waren die schönsten Momente des ganzen Abends.“ Dann richtete sie sich auf und begann, seine Krawatte zu lösen. „Aber ich bin nicht zum Reden hergekommen.“

Die Krawatte flog über seinen Kopf, und sie wollte sich den Knöpfen seines Hemdes widmen. Doch ehe sie einen öffnen konnte, legte er seine Hände auf ihre.

„Ich habe dich nicht nur wegen Sex gefragt, ob du bei mir übernachten willst.“

„Echt nicht?“ Wieder glitzerte es schelmisch in ihren Augen. „Deswegen bin ich aber hier.“

David musste lachen. July überraschte ihn immer aufs Neue.

„Na gut, zum Teil schon. Ich möchte vor allem Zeit mit dir verbringen, und zwar allein. Ich habe das Gefühl, dass immer jemand dabei ist, wenn wir uns sehen.“ Er schob ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. „Ich möchte mit dir allein sein.“

Sie sah ihn an. In ihrem Blick lag so viel Vertrauen, dass ihm ganz warm ums Herz wurde. Langsam fuhr er mit einem Finger über ihren Arm. „Bist du schon mal massiert worden?“

July blinzelte. „Ja. Schon öfter.“

„Und? Hat’s dir gefallen?“

July spürte ihre Brustwarzen hart werden, als er mit den Fingerkuppen über ihr Kleid streichelte.

„Massagen können … sehr entspannend sein.“ So entspannend, dass sie vielleicht für eine Weile die Wahrheit vergessen konnte, die immer noch unausgesprochen über ihnen schwebte.

Zufrieden schaute er sie an. „Dann werde ich dich massieren, aber zuerst …“

… gab er ihr einen Kuss, der ihren ganzen Körper zum Beben brachte.

Er erhob sich. „Ich hole das Massageöl. Entspann dich.“

July schaute ihm nach. Seine Hose saß eng auf seinen schmalen Hüften, und unter seinem Hemd zeichneten sich seine Muskeln ab. Das Wasser lief ihr praktisch im Mund zusammen. „Ach, David!“, rief sie, als er an der Tür war, „als ich das letzte Mal massiert wurde, war ich bis auf ein Handtuch nackt!“

David drehte sich schmunzelnd um. „Damit komme ich klar. Bin gleich zurück.“

Er zog die Tür hinter sich zu.

Kaum war July allein im Zimmer, sprang sie auf, zog sich aus und suchte nach einem Handtuch. Insgeheim hoffte sie, keines zu finden, aber als sie in den Badezimmerschrank schaute, entdeckte sie ein großes Badelaken.

Seitdem sie aus dem Krankenhaus zurück war, hatte sie es vermieden, sich im Spiegel zu betrachten. Doch da eine Wand des Badezimmers praktisch nur aus einem Spiegel bestand, blieb ihr gar nichts anderes übrig, als sich anzuschauen.

Mit kritischem Blick stellte sie fest, dass ihre Brüste größer geworden waren, jedoch immer noch keck auf und ab wippten. Ihr Bauch war leicht gewölbt. Alles in allem konnte sie zufrieden sein mit dem, was sie sah, und ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln.

Sie legte die Hände um ihre schweren Brüste und fragte sich, wo Davids Hände wohl bald wären.

Überall, hoffentlich.

Es klopfte an der Tür. „Bist du bereit?“

July schlang sich das Handtuch um und hüpfte aufs Bett. Ihr Körper glühte vor Erwartung. „Bereit.“

Die Tür wurde geöffnet. Sie stützte sich auf einen Ellbogen, das Handtuch locker über ihre Brüste gelegt. Ihr Herz machte einen Satz, als sie David sah.

Ohne Smoking. Stattdessen trug er eine graue Jogginghose und ein blaues T-Shirt. Er hatte einen Fünf-Uhr-Schatten im Gesicht. Er sah einfach … großartig aus und verdammt sexy. „Warum hat es so lange gedauert?“

„Ich habe nach dem Öl gesucht.“ Er wedelte mit einer rosafarbenen Plastikflasche. „Ich habe nur das hier gefunden.“

„Babyöl?“

David grinste. „Oder bevorzugst du Olivenöl?“

Sein Blick fiel auf das Handtuch.

Obwohl sie es am liebsten sofort beiseitegeschoben hätte, damit das Vergnügen beginnen konnte, blieb July standhaft und ließ das Laken an seinem Ort. Sie hatte sich vorgenommen, Davids Spiel mitzuspielen. Jedenfalls eine Weile.

Sie legte sich auf den Bauch. „Wenn du auch so weit bist …“

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er an einigen Schaltern an der Wand herumhantierte. Kurz darauf flutete leise Musik durch den Raum.

Er trat ans Bett und goss Öl auf seine Handfläche.

„Es könnte erst ein bisschen kalt sein“, warnte er sie. Doch sie spürte es nicht, denn ihr war unheimlich warm. Und von Sekunde zu Sekunde wurde ihr noch wärmer.

Er ließ es ganz langsam angehen. Während er ihre Haut mit seinen Fingern liebkoste, sprach er über seine Kindheit, seine Jugendjahre und warum er nach Jackson Hole zurückgekehrt war.

„Ich bin vor den Erinnerungen geflohen. Bis ich gemerkt habe, dass ich immer in den Erinnerungen an den Unfall von Celeste gefangen sein würde, es sei denn, ich würde mich dazu durchringen, die Situation zu akzeptieren. Das ist mir dann auch irgendwann gelungen.“

July erschien es überhaupt nicht ungewöhnlich, über solche Dinge zu reden, während sie halbnackt vor ihm lag. Mit David war nie etwas gewöhnlich gewesen.

Außerdem erinnerte sie seine Situation an ihre eigene Lage. „Wie bist du denn darüber hinweggekommen?“, erkundigte sie sich.

„Ich habe mich mit anderen Menschen getroffen, die in der gleichen Situation waren.“ Er goss mehr Öl auf seine Handfläche. „Ihre Geschichten haben mir gezeigt, dass der Heilungsprozess Zeit braucht – und dass ich den Wunsch verspüren muss, nach vorn zu schauen.“

Apropos Wünsche …

Sanft glitten seine Finger über ihre Rundungen. July wusste, dass David sie nicht eingeladen hatte, nur um Sex mit ihr zu haben. Dabei wussten beide, dass genau das der Grund war, warum sie hier war, denn sie wollte es auch.

Als er erneut zum Ölfläschchen griff, drehte sie sich um und schob das Handtuch beiseite. „Jetzt bin ich dran.“

Sie musste es nicht zwei Mal sagen. Sofort streifte er seine Kleidung ab, und ihr Puls ging schneller.

Er war noch schöner, als sie in Erinnerung hatte. Dunkle Härchen bedeckten seinen Brustkorb und seinen Unterleib. Muskulöse Beine, ein flacher Bauch – sie nahm es nur flüchtig wahr. Ihr Blick war auf den Teil seiner Anatomie gerichtet, der steif nach oben ragte.

Sie rutschte näher und umfasste sein Glied. „Ich denke, ich fange hier an.“

Reglos stand er vor ihr, den Blick fest auf sie geheftet.

July massierte ihn langsam vom Schaft bis zur glänzenden Spitze. Dann schubste sie David aufs Bett und kniete sich vor ihn.

„Du brauchst nicht …“

„Ich will aber“, unterbrach sie ihn und nahm ihn in den Mund.

Seine Finger fuhren durch ihr Haar, als sie zu saugen begann. Sein Atem wurde schneller. Sie spürte, wie er in ihrem Mund noch größer wurde. Er stöhnte.

Dann, ohne Warnung, packte er sie bei den Hüften und legte sie neben sich aufs Bett.

„Hat es dir nicht gefallen?“, fragte sie.

„Und ob es mir gefallen hat“, erwiderte er, bevor er ihr Gesicht und ihren Hals küsste, „aber heute Nacht geht es um dich. Ich möchte dir auf so viele Arten wie möglich Vergnügen verschaffen.“

Mit seinen Lippen verschloss er ihren Mund, und sie spürte nur noch ihn und seinen Geschmack. Sie dachte nicht daran, dass es ihr erstes Mal seit Adams Geburt war, denn als er in sie eindrang, war sie mehr als bereit für ihn. Sie vergrub die Nägel in seinen Schultern, während er sich mit kraftvollen Stößen in ihr bewegte. Mit jedem Stoß kam sie näher an ihren Höhepunkt. Mit jedem Stoß fühlte sie sich ihm enger verbunden. Als sie schließlich zum Höhepunkt gelangte, war er auch so weit. Laut stöhnte er ihren Namen, als er sich in ihr ergoss.

8. KAPITEL

Als David am nächsten Morgen erwachte, schlief July neben ihm noch tief und fest. Vorsichtig, um sie nicht aufzuwecken, stützte er sich auf einen Ellbogen und betrachtete sie.

Es war spät geworden. Lange hatten sie sich in den Armen gehalten und über alles Mögliche geredet, nachdem sie zum ersten Mal Sex gehabt hatten. Dennoch wurde David das Gefühl nicht los, dass sie ihm irgendetwas verschwieg.

Dann hatten sie sich ein zweites Mal geliebt. Einmal war ihnen beiden nicht genug.

Doch es ging nicht nur um Sex. Er wollte nicht nur Julys Körper – er wollte ihr Herz.

Er liebte sie. Er wollte sie nicht nur für eine Nacht oder eine Woche oder einen Monat – er wollte sie fürs ganze Leben. Und was Adam anging – egal, ob es sein Kind war oder nicht –, er liebte das kleine Baby jetzt schon wie einen eigenen Sohn.

Jetzt musste er nur noch herausfinden, ob July die gleichen Gefühle für ihn empfand.

Sein Handy klingelte. Rasch schlüpfte er aus dem Bett und eilte zur Kommode, auf der das Telefon lag. Er meldete sich, ohne aufs Display zu schauen. „Dr. Wahl.“

„David, hier ist Gary. Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.“

Gary! Celestes ehemaliger Chef.

„Nein. Ich war schon wach.“

„Gut.“ David hörte die Erleichterung in Garys Stimme, aber auch so etwas wie Nervosität.

„Ich bin nächste Woche Freitag geschäftlich in Jackson Hole. Könnten wir uns da vielleicht auf einen Kaffee treffen?“

Aus irgendeinem Grund schien ihm dieses Treffen wichtig zu sein. Gary war bei Celestes Begräbnis gewesen – er hatte den weiten Weg von Los Angeles nicht gescheut –, aber er hatte nur wenige Worte mit David gewechselt. David hatte den Eindruck gehabt, dass Gary sich wegen Celestes Tod Vorwürfe machte. Er selbst hatte Gary ja auch immer wieder innerlich Vorwürfe gemacht – und manchmal ertappte er sich dabei, dass er es immer noch tat. Doch wenn er rein logisch darüber nachdachte, musste er sich eingestehen, dass der Unfall auch bei anderer Gelegenheit hätte passieren können – dass sie dienstlich unterwegs gewesen war, spielte keine Rolle. Darüber hätte David nach der Beerdigung gern mit Gary gesprochen, allerdings hatte sich keine Gelegenheit ergeben.

Das Mindeste, was er nun tun konnte, war, dem Mann eine halbe Stunde seiner Zeit zu schenken. „Wenn keine unvorhergesehenen Notfälle passieren, könnte ich um sechzehn Uhr Schluss machen. Würde das für Sie passen?“

„Ich sorge dafür, dass es passt“, antwortete Gary.

Sie vereinbarten ein Bistro als Treffpunkt. Nach dem Gespräch hatte David das Gefühl, dass ein Treffen mit Gary einen Schlussstrich unter diesen Teil seines Lebens setzen könnte. Und dann wäre er frei für ein neues Kapitel – mit July und Adam.

„Ich finde es schön, wenn Onkel David bei uns ist.“ Connor sah von seinen Spaghetti auf und schaute seine Mom bittend an. „Kann er nicht jeden Abend mit uns zusammen essen?“

„Lo mag Onkel David auch!“, krähte der zweijährige Logan, das Gesicht voller Tomatensauce.

Mary Karen warf ihrem Bruder ein Lächeln zu. „Euer Onkel ist uns jederzeit willkommen.“

„Kommst du morgen Abend auch?“, fragte Caleb.

„Ich fürchte nein.“ David schaute von Adam hoch, dem er das Fläschchen gab. „Ich habe eine Konferenz.“

„Was ist eine Konferenz?“, wollte Connor wissen.

„Viel reden, wenig tun.“ Grinsend schaute er zu July und zwinkerte ihr zu. Ein angenehmer Schauer lief ihr über den Rücken. „Aber danach komme ich ganz bestimmt.“

Seit dem vergangenen Freitag hatten sie so viel Zeit wie möglich zusammen verbracht. David war jeden Abend zum Essen gekommen. Manchmal waren sie mit den Jungen zu einem Spielplatz gegangen, um Mary Karen eine Verschnaufpause zu gönnen.

Es war nicht nur der Sex, der David und July wieder zusammengebracht hatte. Es waren auch die Gefühle, die von Tag zu Tag intensiver wurden. July stellte fest, dass sie sich immer mehr in David verliebte.

Und beim Anblick ihres Sohns auf Davids Armen wurde ihr das Herz weit. Ich muss es ihm schnellstmöglich sagen!

Bald, schwor sie sich. Bald.

„Hey“, flüsterte David. „Alles in Ordnung?“

„Ich bin nur ein bisschen müde.“ Sie legte den Kopf an seine Schulter. „Es war ein langer Tag.“

„Morgen kannst du dich ausruhen.“ Erneut zwinkerte er ihr zu. „Ich werde dich nicht belästigen.“

Sie küsste ihn auf die Wange. „Ich mag es, wenn du mich belästigst“, flüsterte sie.

„July hat Onkel David geküsst!“, rief Connor.

Caleb verzog das Gesicht. „Bäh.“

July lachte. „Hat euch euer Onkel schon gesagt, wohin wir morgen gehen?“

„Ins Kino!“, schrien die Zwillinge.

„Wann fängt der Film denn an?“, wollte David von July wissen. „Ich habe bis halb sechs Dienst.“

„Wir gehen um fünf.“ Sie legte eine Hand auf seinen Arm. „Keine Sorge, wir schaffen das schon.“

„Gut. Falls es ein Problem gibt – ruf mich an.“

July unterdrückte einen Seufzer. Ja, es gab ein Problem, aber nicht das, was David meinte. Das Thema Vaterschaftstest hatte er seit Längerem nicht mehr angesprochen. Dennoch war sie davon überzeugt, dass er öfter darüber nachdachte.

Sie musste ihm sagen, dass das Baby auf dem Arm sein Sohn war. Das zu erfahren, hatte er verdient. Und er musste es von ihr erfahren und nicht durch einen Test.

Doch nun hielt eine zusätzliche Furcht sie davon ab. Würde er überhaupt noch etwas mit ihr zu tun haben wollen, wenn ihm klar wurde, wie lange sie ihm die Wahrheit verschwiegen hatte? Und wie würde sie es dann wegstecken, wenn er daraufhin nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte?

Statt auf A. J.s mitternächtlichen Anruf in ihrem Hotelzimmer beim Yellowstone-Nationalpark zu warten, war July auf die Veranda gegangen und hatte sich, in eine Decke gehüllt, auf die Schaukel gesetzt. Nach den frostigen Nächten zuvor erschienen ihr die knapp sieben Grad fast als mild.

Vom sternklaren Himmel schien der Mond und warf interessante Schatten auf den Rasen. Eine Windbö fuhr durch Julys Haar, und sie zog die Decke enger um sich.

A. J. erzählte ihr von den zahlreichen Partys, auf denen er war, seit er die neue Musicalrolle ergattert hatte – Partys, zu denen Künstler eingeladen hatten, die er kannte und die er bewunderte. Ihr erschien dieses Leben allerdings nicht sonderlich attraktiv. Sie bevorzugte das, was sie zurzeit führte und nach dem sie sich gesehnt hatte, seit sie ein Kind war.

Ein Zuhause, eine Familie, einen Freundeskreis. Wer konnte mehr verlangen? David war ihr Märchenprinz und Jackson Hole der Ort ihrer Träume.

„Wie läuft’s denn zwischen dir und dem Doc?“, wollte A. J. wissen.

„Ich liebe ihn, A. J.“, seufzte July ins Telefon. „Aus ganzem Herzen.“

„Hast du ihm schon erzählt, dass Adam sein Sohn ist?“

„Nein, noch nicht. Hast du Selena schon erzählt, dass du sie liebst?“

„Oh, ein Punkt für dich!“, konterte A. J. „Aber ich habe diese Woche einem Teddybären gesagt, dass ich ihn liebe. Ich denke, ich werde bald den nächsten Schritt machen können.“

„Wirklich? Das ist ja fan…“

„Ätsch, ich habe dich auf den Arm genommen!“ Er lachte. „Ich werd’s ihr schon noch sagen, aber nicht am Telefon. Wir haben nächste Woche ein paar Tage spielfrei, und ich fliege nach Chicago. Dann kümmere ich mich darum.“

„Du wartest auf den richtigen Moment“, murmelte July, „genau wie ich.“

„Nein, ich warte nur darauf, es ihr persönlich sagen zu können“, konterte er. „Das ist ein Unterschied.“

„Ich weiß.“ July umklammerte das Handy. „Im Moment läuft es allerdings so gut zwischen uns, dass ich es nicht vermasseln will.“

Ein Schweigen entstand.

„Denk drüber nach“, sagte A. J. „Kann eine Beziehung wirklich so toll sein, wenn eine Lüge zwischen euch steht?“

Die gleiche Frage hatte July sich auch schon gestellt. Sie lehnte sich zurück und schaute in den Himmel. „Ich habe eine solche Angst“, gestand sie.

„Was ist das Schlimmste, was passieren könnte, wenn du es ihm sagst?“

July überlegte einen Moment. „Dass er mich anschreit. Mir vorwirft, ich sei eine schreckliche, schwache Person. Und dass er mich nie mehr sehen möchte.“

Allein der Gedanke daran ließ ihre Furcht ins Uferlose wachsen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und das Atmen fiel ihr schwer.

„Was wäre das Schlimmste, wenn du es ihm nicht sagst?“

Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet. Während sie darüber nachdachte, wurde ihr schwer ums Herz. „Das Geheimnis wird unsere Beziehung ruinieren.“

„Hört sich so an, als hättest du gar keine Wahl. Du musst reinen Tisch machen.“ A. J.s Stimme wurde leiser. „Ich weiß, dass es schwer sein wird. Denk dran – egal, was auch passiert, ich bin immer für dich da.“

Etwas im Tonfall ihres Freundes verriet ihr, dass er nicht unbedingt mit einem Happy End rechnete. Eine Welle der Verzweiflung schwappte über sie hinweg. „Das wird böse enden, nicht wahr?“

„Denk nicht immer gleich an das Schlimmste!“, schimpfte A. J. „Es könnte auch anders kommen. Vielleicht sagt er Na wenn schon, so schlimm ist es doch nicht, und ihr könnt beide in den Sonnenuntergang reiten … oder was immer die Leute in Wyoming bei solchen Gelegenheiten so tun.“

Es könnte, er könnte. Diese Worte versprachen nur eine trügerische Hoffnung.

July hatte oft genug erlebt, dass sich Träume nicht erfüllten.

Hoffnung war alles, was sie im Moment hatte – die Hoffnung, dass David ihr verzeihen würde. Die Hoffnung, dass ihnen eine glückliche Zukunft bevorstand, aber zuallererst die Hoffnung, dass sie sich selbst verzeihen könnte, wenn sie das Leben von zwei Menschen ruinierte, sollte er sich von ihr abwenden.

Die Sonne ging bereits unter, als July am nächsten Tag nach Jackson Hole zurückkam. Es war ein langer Tag gewesen, zumal sie nachts kaum geschlafen hatte.

Nach ihrem Gespräch mit A. J. hatte sie sich bis zwei Uhr im Bett hin und her gewälzt. Sie musste die ganze Zeit an David denken – und dass sie ihn auf keinen Fall verlieren wollte.

Glücklicherweise hatte sie sich tagsüber bei der Suche nach Grizzlybären und deren Nachwuchs im Yellowstone-Nationalpark ablenken können. Sie hatte auch Büffel und Elche vor die Linse bekommen. Erst als sie zu ihrem Jeep zurücklief, hatte sie einen Grizzly und seine Jungen entdeckt. Sie war weit genug entfernt gewesen, um nicht in Gefahr zu geraten, aber nahe genug, um ein paar fantastische Fotos zu schießen. Das Licht war perfekt gewesen. Und da der Wind aus der richtigen Richtung blies, hatten die Tiere ihre Anwesenheit gar nicht bemerkt.

July war sehr zufrieden mit ihrer Arbeit. Die Fotos waren sozusagen der krönende Schlusspunkt ihres Auftrags.

Auf dem Rückweg hatte sie Mary Karen angerufen, um ihr mitzuteilen, dass sie später als geplant zurückkommen würde. Sie hörte die enttäuschten Stimmen der Jungs, die sich auf den Kinobesuch gefreut hatten, und prompt bekam sie ein schlechtes Gewissen. Sie hatte überlegt, ihnen ein paar Süßigkeiten mitzubringen, aber die Zeit war zu knapp geworden. Sie musste an Adam denken, das Baby war bestimmt hungrig.

Als sie das Haus betrat, hörte sie auch schon sein Ich-habe-Hunger-Gebrüll. Doch noch ehe sie zu ihm gehen konnte, versperrte Caleb ihr den Weg. Vom Lachen, mit dem er sie zu begrüßen pflegte, war nichts zu sehen.

„Du hast versprochen, mit uns ins Kino zu gehen!“, sagte er vorwurfsvoll.

Einen Moment lang war July sprachlos. Sie hatte damit gerechnet, dass Mary Karen den Jungen erklärt hatte, warum sie so spät gekommen war. Doch das schien offenbar nicht der Fall zu sein.

„Ich musste länger im Park bleiben, um einen Bären und seine Jungen fotografieren zu können“, erklärte sie. „Nachher, wenn ich Adam gefüttert habe, zeige ich euch die Bilder.“

„Ich will deine blöden Bilder nicht sehen.“ Mit erhobenem Kopf trat Caleb einen Schritt näher. „Du hast versprochen, mit uns ins Kino zu gehen.“

Sein angriffslustiger Ton erwischte sie kalt. July trat einen Schritt zurück, als hätte man ihr einen Schlag versetzt.

Er kam noch näher. „Du hast gelogen!“

Bildete sie es sich nur ein oder wirkte der Junge mit jedem Schritt tatsächlich bedrohlicher?

Ich muss ihm sagen, dass es mir leidtut.

July öffnete den Mund. Zuerst brachte sie kein Wort hervor. Doch schließlich stammelte sie: „Es tut mir leid, Caleb. Ich habe es euch versprochen, und ich hätte mein Versprechen halten müssen.“

Der Triumph darüber, dass sie es geschafft hatte, sich zu entschuldigen, währte allerdings nicht lange.

„Ich hasse dich.“ Mit geballten Fäusten beugte Caleb sich vor. „Ich dachte, du bist unsere Freundin, aber du bist bloß eine ganz große Lügnerin. Ich …“

„Das reicht!“ David legte dem Jungen die Hand auf die Schulter.

Überrascht sah July ihn an. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er im Haus war.

„Aber sie …“, begann Caleb erneut.

„Schluss jetzt.“ Er hatte den Jungen mit beiden Händen an den Schultern gefasst und konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal von dem Verhalten seiner Neffen so enttäuscht gewesen war.

Natürlich konnte er dessen Enttäuschung verstehen. Immerhin war es das zweite Mal in weniger als einer Woche, dass ein versprochener Kinobesuch nicht stattfand. Doch das rechtfertigte keinesfalls die Art, wie der Junge mit July gesprochen hatte.

„Du musst dich auch entschuldigen“, forderte er Caleb nun auf.

„Nö.“ Der Junge wand sich unter Davids hartem Griff. „Connor und ich wollten so gern ins Kino. Ihre blöden Bären sind ihr wichtiger als wir.“

Jetzt liefen zwei Tränen über Julys Gesicht, und David verfluchte insgeheim die Gefühllosigkeit von vierjährigen Jungen. Aus der Küche klang Adams Jammern in den Flur. July schaute besorgt zur Tür.

„Geh und kümmere dich um Adam“, sagte er leise. „Caleb und ich unterhalten uns noch.“

July widersprach nicht. Mit einem Gefühl der Erleichterung ging sie an ihm vorbei in die Küche.

Sobald sie verschwunden war, nahm David seinen Neffen auf den Arm und ging mit ihm ins Wohnzimmer, wo er ihn auf sein Knie setzte. „Wir müssen uns mal von Mann zu Mann unterhalten, ja?“

Der Junge starrte auf seine Schuhe. „Worüber?“

„Schau mich an, Caleb.“ David wartete, bis der Junge den Kopf hob. „Wie du mit July gesprochen hast, war völlig unpassend. Ich weiß, dass du wütend bist, das kann July auch gut verstehen, aber sie hat sich entschuldigt. Wie würdest du dich denn fühlen, wenn jemand so mit dir redet, obwohl du dich entschuldigt hast?“

Caleb schwieg lange. Dann schüttelte er den Kopf.

„Würde es dir gefallen, wenn ich dir sage, dass ich dich hasse?“

„Aber sie …“

„Würde dir das gefallen? Überleg mal.“ Davids Stimme klang noch schärfer, als er die Frage wiederholte.

„Nein.“

„Was glaubst du wohl, wie sie sich gefühlt hat?“

Caleb zuckte mit den Schultern.

„Sie hat sich sehr schlecht gefühlt. Ich würde mich auch sehr schlecht fühlen, wenn du so etwas zu mir sagen würdest.“

„Aber …“

„Ein solches Verhalten ist nicht okay.“

„Aber …“

„Nicht okay. Haben wir uns verstanden?“

Caleb nickte und ließ den Kopf hängen.

David nahm seinen Neffen in den Arm. „Du bist ein guter Junge, Caleb. Du hast ein großes Herz. Ich weiß, dass du es gar nicht so meinst.“

Unvermittelt schlang Caleb die Arme um Davids Hals und legte den Kopf an seine Brust. „Es tut mir leid.“

„Bei mir musst du dich nicht entschuldigen“, sagte er leise.

Er schmiegte sich noch enger an David. „Das kann ich nicht.“

David strich ihm übers Haar. „Ein Mann muss tun, was er tun muss!“

Er stellte den Jungen auf den Boden und warf ihm ein aufmunterndes Lächeln zu. „Du schaffst das. Ich habe volles Vertrauen in dich.“

David folgte Caleb in die Küche. July saß am Tisch und rieb Adam den Rücken.

Mary Karen wollte etwas sagen, doch David schüttelte warnend den Kopf.

Wie ein Gefangener, der sich der Guillotine nähert, schlurfte Caleb zu July und blieb ein paar Schritte vor ihr stehen. David war auf einmal ganz stolz auf seinen kleinen Neffen, als er July in die Augen sah. „Es tut mir leid, dass ich solche Sachen gesagt habe. Und ich hasse dich auch gar nicht.“

Ein paar Sekunden befürchtete David, dass July nicht auf die Worte des Jungen eingehen würde. Doch dann lächelte sie mit zitternden Lippen. „Ist schon in Ordnung, Caleb. Verzeihst du mir auch, dass ich unsere Kinoverabredung vergessen habe?“

David hielt den Atem an.

„Ich denke schon.“ Er schaute zu seinem Onkel. „Kann ich jetzt gehen?“

„Ja.“

Sofort flitzte der Junge aus der Küche.

Mary Karen sah David an. „Und was sollte das jetzt?“

„Ein weiterer Tag im Paradies.“ David grinste. „Eines muss man dir lassen, Schwesterherz. In deinem Haus wird es nie langweilig.“

July fütterte Adam. Danach schlug David einen Spaziergang vor, bei dem July das neue Babytragesystem für Adam ausprobieren konnte. Die ersten Meter legten sie schweigend zurück. Dann brachte sie das Thema zur Sprache, das ihr immer noch auf dem Herzen lag.

„Es war nicht gut, dass du in diese Auseinandersetzung zwischen Caleb und mir verwickelt wurdest“, begann sie. „Ich bin schließlich erwachsen und hätte einen wütenden Vierjährigen alleine bändigen müssen.“

„Du hast dich doch wacker geschlagen.“ David ergriff ihre Hand. „Trotzdem bin ich froh, dass ich dabei war.“

„Wieso?“

„Caleb ist klug, aber auch ein Dickschädel. Mary Karen macht wirklich alles richtig bei ihm. Doch manchmal braucht ein Junge auch eine Vaterfigur, um gewisse Dinge zu verfestigen.“

„Zumindest in einer Hinsicht hatte er recht“, erwiderte July. „Ich hatte ein Versprechen gegeben.“

„Trotzdem entschuldigt es nicht die respektlose Art, wie ein Kind mit einem Erwachsenen redet. Außerdem hattest du dich ja entschuldigt und ihm erklärt, warum du zu spät zurückgekommen bist.“

Ihr Herz machte einen Satz. Wollte David damit zum Ausdruck bringen, dass man immer eine Entschuldigung annehmen sollte? Ehe sie ihn fragen konnte, wechselte er jedoch abrupt das Thema.

„Hast du dir noch einmal überlegt, ob du vielleicht doch in Jackson Hole bleiben willst?“

Von Anfang an hatte sie klargemacht, dass sie nicht länger als einen Monat in der Stadt bleiben wollte. Doch sie hatte schon länger nicht mehr über ihre Pläne gesprochen. Deshalb wartete David nun mit angehaltenem Atem auf ihre Antwort.

„Ich habe wirklich darüber nachgedacht“, sagte sie nach ein paar Sekunden. Und noch ein paar Sekunden später fügte sie hinzu: „Wenn du wegen des DNA-Tests fragst … den würde ich nächste Woche machen.“

David schien ein wenig irritiert zu sein, als er das hörte. Dabei war er es doch gewesen, der diesen Test machen wollte. Vielleicht lag es daran, dass er den Test und Julys Abreise irgendwie miteinander in Verbindung brachte. Wenn sie ihn angeleiert hatte, hätte sie ihr Versprechen erfüllt, und es gab nichts, was sie noch in Jackson Hole halten könnte.

Wirklich nichts?

„David?“, fragte sie, als er nichts sagte.

„Sag mir, wenn du so weit bist.“ Er klang fast barsch. „Dann bringe ich die Stäbchen mit nach Hause.“

„Wir wäre es mit Montag?“

„Das sollte gehen.“ David erinnerte sich, wie sehr ihm daran gelegen war herauszufinden, ob Adam sein Sohn war. Inzwischen war er zu der Erkenntnis gekommen, dass die Liebe, die er dem kleinen Kerl gegenüber empfand, nichts mit dem Blut zu tun hatte, das durch Adams Adern floss.

„Hast du denn für den Rest der Woche noch viel vor?“, wollte Judy wissen.

„Ich treffe mich morgen nach der Arbeit mir Celestes ehemaligem Chef.“

„Wirklich?“ Überrascht schaute sie ihn an. „Weswegen?“

„Ich bin mir nicht sicher.“ David zuckte mit den Schultern. „Er hat mich angerufen und gesagt, dass er geschäftlich hier zu tun hat. Da wollte er die Gelegenheit nutzen und mit mir einen Kaffee trinken gehen.“

„Wart ihr beide denn befreundet?“

„Nein, ich kenne den Mann kaum“, antwortete David. „Ich habe ihn ein paar Mal getroffen, als wir in Los Angeles lebten. Das war aber auch alles.“

Er ergriff Julys Hand, als sie die Straße überquerten, ließ sie aber nicht los, nachdem sie die andere Seite erreicht hatten. Sie genoss es, an seiner Seite durch die Stadt zu spazieren. Er hatte sich inzwischen die Babytrage umgeschnallt, und Adam schlief friedlich an seiner Brust.

„Esst ihr auch zusammen zu Abend?“

„Gary und ich? Auf gar keinen Fall!“

David erinnerte sich nur noch vage an den Mann. Was er aber durchaus noch wusste: Gary war stets elegant gekleidet, trank sehr viel Alkohol und war extrem von sich eingenommen. Eine Stunde mit ihm zusammen war mehr als genug.

„Also … Wenn du nichts vorhast … Was hältst du davon, wenn ich Abendessen für uns mache? Mary Karen und Granny gehen morgen mit den Kindern ins Theater, wir wären also ungestört. Ich möchte auch etwas mit dir besprechen. Nichts Schlimmes, keine Sorge“, beruhigte sie ihn, als sie seinen Blick sah.

„Ich habe eine bessere Idee“, sagte er. „Warum kochst du nicht bei mir?“ Für ein romantisches Dinner wäre sein Haus geeigneter als das seiner Schwester, zumal sie ja irgendwann zurückkehren würde.

„Und was ist mit Adam?“, fragte sie.

„Ich habe ein Kinderbett für Logan, wenn er bei mir übernachtet.“ Er dachte kurz nach. „Windeln musst du allerdings mitbringen.“

„Sonst noch was?“

Sie hatten seit einer Woche nicht mehr zusammen geschlafen. Ob sie ihn genauso vermisste wie er sie? „Ich habe am Samstag Spätdienst. Das heißt, ich kann ausschlafen. Wenn du willst, kannst du doch bei mir übernachten?“

Ihre Wangen röteten sich ein wenig. „Das klingt gut.“

„Schlafanzug ist nicht unbedingt nötig“, fügte er mit einem Grinsen hinzu.

„Dann bringe ich auch keinen mit“, erwiderte July. „Der würde ja doch auf dem Boden landen.“

David beugte sich zu ihr und küsste sie flüchtig. „Ich denke, da hast du absolut recht.“

9. KAPITEL

Als July am Freitagmorgen aufwachte, genoss sie das Gefühl, Zeit für sich zu haben. Ihren Auftrag hatte sie erledigt. Sie konnte sich also voll und ganz auf die Vorbereitungen für das Abendessen konzentrieren, das sie für David kochen wollte. Um so gut wie möglich auszusehen, machte sie einen Termin in einem Friseur- und Schönheitssalon.

Zurück zu Hause, fütterte sie Adam, packte ihre Tasche und fuhr mit ihrem Sohn in einen Supermarkt. Als sie den Einkaufswagen an den Regalen entlangschob, klingelte ihr Handy.

July erkannte den Signalton sofort. Sie holte das Telefon aus ihrer Tasche. „Hallo, A. J.“

„Einen wunderschönen guten Morgen, schöne Frau!“

July runzelte die Stirn. „Bist du betrunken?!“

„Wie kommst du denn darauf?“, konterte er, ohne auf ihre Frage einzugehen.

„Immerhin haben wir schon Nachmittag.“

A. J. brach in schallendes Gelächter aus. „Dem Glücklichen schlägt keine Stunde. Und nein, ich bin nicht betrunken. Ich bin einfach nur happy.“

July legte Pilze in ihren Einkaufswagen und überlegte, warum A. J. so ausgelassen klang. „Ah, heute ist Freitag“, sagte sie. „Das heißt, du bist in Chicago.“

„Genau. Zurück in der Stadt, die ich liebe.“

„Du bist also doch betrunken.“

„Ich fühle mich großartig. Das Leben ist so schön.“

Jetzt fiel bei July der Groschen. „Du hast Selena gesagt, dass du sie liebst.“

Es klang, als ob er kicherte. „Ja, das habe ich tatsächlich. Und sie hat mir gesagt, dass sie mich auch liebt. Kannst du das glauben? Sie liebt mich.“

„Natürlich kann ich das glauben.“ July fand seine Freude ansteckend, und sie lachte jetzt ebenfalls. So glücklich hatte sie ihren besten Freund schon lange nicht mehr erlebt. „Ich bin stolz auf dich, A. J.“

„Ich wünschte, ich hätte es schon längst getan.“ Unvermittelt wurde er ernst.

„Besser spät als nie“, entgegnete July. „Darauf kommt es an.“

„Und was ist mit dir? Wie läuft’s bei dir und dem Doc?“

„Ich koche für ihn heute Abend.“ Sie warf eine Knoblauchkette in den Wagen und steuerte auf die Milchprodukte zu.

„Welches von den beiden Rezepten machst du?“

„Was soll das denn heißen?“

„Du kennst doch nur zwei“, neckte A. J. sie. „Spaghetti mit Tomatensoße und Bœuf Stroganoff.“

„Vielleicht habe ich meine Kochkünste ja erweitert und …“

„He, das war nur ein Witz!“

July seufzte. „Okay, Bœuf Stroganoff.“

„Dazu würde ein Merlot gut passen.“

„Ich stille gerade, schon vergessen? Ich trinke nicht.“

„Aber der Doc stillt nicht, also nimm eine Flasche mit. Der Wein wird ihn entspannen und aufnahmebereiter machen für das, was du ihm erzählen wirst.“

„Wer sagt, dass ich ihm überhaupt was erzähle?“ July klang betont beiläufig.

„Du kochst nur aus einem einzigen Grund“, erinnerte A. J. sie. „Und die Zeit wird knapp.“

„Ja, du hast recht. Ich beichte es ihm heute Abend.“ Sie senkte die Stimme. „Ich muss es ihm beichten, A. J. Ich fühle mich echt mies, weil ich es noch nicht getan habe.“

„Dann tu es, July. Denk nicht länger darüber nach. Tu es jetzt einfach!“

Als July das Bœuf Stroganoff in den Backofen schob, hörte sie, wie das Garagentor geöffnet wurde. Sie warf einen Blick auf die Uhr. So früh hatte sie mit David nicht gerechnet.

Er ist nach Hause gerast, weil er es nicht erwarten konnte, mich zu sehen.

July grinste. Wahrscheinlicher war, dass Celestes ehemaliger Chef ihn gehörig genervt hatte.

Glücklicherweise war sie bereit für ihn. Adam war gefüttert und gewickelt. Sie musste nur noch die Bohnen kochen, und dann …

Die Tür, die von der Garage ins Haus führte, fiel mit einem lauten Knall ins Schloss. Adam zuckte in seinem Babysitz zusammen, wachte aber nicht auf.

David stürmte in die Küche. Verdattert sah er sie an. „Was machst du denn hier?“

„Du hast mir einen Schlüssel gegeben.“ July konnte seinen Ärger förmlich spüren. Sie zwang sich zu einem Lächeln, obwohl ihr gar nicht danach zumute war. „Ich habe Essen für uns gemacht.“

„Ich habe keinen Hunger“, blaffte er zurück.

July trat einen Schritt zurück. Auf einmal wurde ihr übel.

David musste klar geworden sein, wie barsch seine Antwort geklungen hatte, denn er fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln. „Tut mir leid. Das hat nichts mit dir zu tun.“

Etwas Schlimmes musste geschehen sein, etwas wirklich Schlimmes. Dieser Schmerz in seiner Miene und diese Verzweiflung in seinen Augen …

July schluckte. „Ist mit Mary Karen alles in Ordnung? Und mit den Jungs? Granny?“

Sie hatte sie zwar alle am Morgen gesehen, aber das musste ja nichts heißen.

Seine Augen wurden groß. „Mit den Jungs …?“

„Ja. Du siehst so bestürzt aus.“

„Nein, nein, mit ihnen hat das auch nichts zu tun.“ Er ließ sich in einen Stuhl fallen und holte tief Luft.

Irgendetwas musste ihn total verstört haben. Sie setzte sich zu ihm. „Was ist denn passiert?“

Er schaute sie an. In seinem Blick lagen Wut und Schmerz. „Celeste war nicht dienstlich unterwegs, als sie ums Leben gekommen ist, sondern auf dem Weg zu ihrem Lover.“

Entgeistert sah July ihn an. „Wer hat dir das erzählt?“

„Gary.“ David presste die Lippen zusammen und rieb sich die Nase.

July versuchte, die Information zu verarbeiten. „Und woher will er das wissen?“

„Er war ihr Liebhaber.“ David ließ ein freudloses Lachen hören. „Länger als ein Jahr. Kein Wunder, dass sie keine Lust hatte, hierherzuziehen. Sie wollte nicht so weit von ihm entfernt sein.“

„Er ist extra deswegen hierhergekommen, um dir das zu erzählen? Nach all der Zeit?“ July spürte, dass sie selbst wütend wurde. „Aus welchem Grund?“

„Offenbar macht er gerade so ein Psychoding und arbeitet es Schritt für Schritt ab. Gerade ist er bei dem Punkt angekommen, wo er reinen Tisch machen will.“

„Vielleicht hätte er sich nur bei seiner Frau entschuldigen und es dabei belassen sollen?“

„Zu der Zeit war er noch gar nicht verheiratet.“ David lehnte sich zurück und ließ die Luft aus seinen Lungen entweichen. „Ich hätte niemals gedacht, dass sie mich betrügt, niemals! Ich habe ihr blind vertraut.“

July lief es eiskalt über den Rücken. „Kann ich dir irgendwie helfen?“

„Es ist gut, dass du hier bist. Das macht es etwas leichter.“ Er breitete die Arme aus, und sie setzte sich auf seinen Schoß. Als er sie fest umarmte, legte sie den Kopf an seine Brust.

„Alles wird gut“, flüsterte sie, nicht sicher, ob sie ihn überzeugen wollte … oder sich selbst.

„Ich weiß.“ Er streichelte ihr übers Haar. „Celeste und all diese Lügen und Täuschungen gehören zu meiner Vergangenheit. Du und Adam, ihr seid meine Zukunft.“

July schmiegte sich an David, der tief und fest schlief. Sie hatte ihn gefragt, ob sie besser nach Hause gehen sollte, aber er hatte darauf bestanden, dass sie bei ihm blieb.

Er hatte kein Wort mehr über Celeste verloren. Stattdessen hatte er Feuer im Kamin gemacht, sie hatten gegessen und über Gott und die Welt geredet. Ein paar Mal war sie versucht gewesen, ihm alles zu gestehen. Doch dann sagte sie sich, dass er an diesem Tag schon genug gelitten hatte. Egal, wie sehr sie bereit war, an diesem Abend reinen Tisch zu machen – das schien definitiv nicht der richtige Zeitpunkt zu sein.

Sie hatten sich geliebt, und es hatten sich nicht nur ihre Körper vereint, sondern – so kitschig es klingen mochte – auch ihre Seelen. Tief im Herzen wusste sie, dass sie nie wieder einen Menschen so sehr lieben würde wie David.

Und sie wusste, dass David sie ebenfalls liebte. Sie konnte es in seinen Augen sehen, an seinen Berührungen spüren. Die Frage war nur: Würde seine Liebe zu ihr überdauern, wenn er erfuhr, dass seine Frau nicht die Einzige gewesen war, die ihn belogen hatte?

Als July am Samstag zurückkam, herrschte rege Betriebsamkeit im Haus. Mary Karen wollte am Sonntag nach der Messe einen Brunch für Granny ausrichten und schien erst jetzt festgestellt zu haben, dass es bis dahin nur noch zwei Tage waren. Und die Jungs waren noch aufgedrehter als sonst, weil ihre Großeltern aus dem Urlaub zurückgekehrt waren.

„Ich möchte dich meinen Eltern vorstellen.“ Mary Karen zog July in die Küche. „Mom, Dad – das ist July Greer. Ich habe euch von ihr erzählt.“

Bob Wahl, über eins achtzig groß, trug Khakihosen und ein Polohemd. Sein sandblondes Haar ergraute bereits an einigen Stellen. Seine Augen waren so blau wie die seines Sohnes. Er hatte ein offenes Lächeln und die Aura eines Geschäftsmanns.

Linda hatte dunkle Haare wie David. Sie war eine zierliche Frau, kaum größer als July. Im Gegensatz zu ihrem Mann war sie lässiger gekleidet – in Jeans und T-Shirt.

July wusste nicht, was Mary Karen ihnen über ihre Mitbewohnerin erzählt hatte. Ihr Lächeln mochte freundlich sein, aber ihre Blicke tasteten sie vorsichtig ab und versuchten sie einzuschätzen.

„Tut mir leid, dass ich schon wieder weg muss“, sagte Bob, kurz nachdem er ihr die Hand gegeben hatte. „Die Vorstellung beginnt eben schon in einer halben Stunde.“

„Dad geht mit den Jungs ins Kino“, erklärte Mary Kane. „Mom hilft mir mit den Vorbereitungen für morgen.“

„Ich kann auch helfen“, erbot July sich. „Ich habe heute nichts vor.“

„Danke. Ich hatte ganz vergessen, dass David heute Nachmittag arbeitet“, erwiderte Mary Karen.

„Sie kennen meinen Sohn?“

Die Überraschung in Lindas Augen war echt. Was immer Mary Karen ihrer Mutter erzählt hatte – ihre Beziehung zu David hatte sie nicht erwähnt. Jedenfalls noch nicht.

„David hat Adam in der Notaufnahme zur Welt gebracht“, erzählte July. „Wir haben uns ein wenig angefreundet.“

„Adam ist ein süßer kleiner Junge.“ Linda streichelte Adam über die dunklen Haare. „Ich hoffe, Sie beide werden morgen bei der Feier meiner Mutter dabei sein.“

„Natürlich kommt July.“ Mary Karen warf July einen Blick zu. „Oder?“

„Es ist doch eine Familienangelegenheit“, wandte July ein. „Ich möchte mich nicht dazwischendrängen.“

„Unsinn“, entgegnete Linda. „Nach allem, was ich von meiner Tochter gehört habe, sind Sie doch bereits ein Teil der Familie. Meine Mutter hat schon gesagt, dass Sie und Adam dabei sein werden. Sie werden sie doch nicht enttäuschen …“

July wusste, dass Granny nicht die Einzige wäre, die enttäuscht sein würde. Auch David würde sie vermissen. „Ich komme gerne. Danke für die Einladung.“

„Wollen Sie mir nicht helfen, das Wohnzimmer aufzuräumen?“, fragte Linda. „Und bei der Gelegenheit können Sie mir erzählen, was mein Sohn so alles während unseres Urlaubs angestellt hat.“

Der Kirchenbesuch war ein neues Erlebnis für July. Dass sie dabei von Davids Familie umgeben war, machte die Szenerie geradezu unwirklich.

In ihrem lavendelfarbenen Kleid mit den Rosenblüten am Mieder sah Granny Fern fantastisch aus. Ihr Haar war frisch gefärbt, und Mary Karen hatte ihr mit dem Make-up geholfen. Bob und Linda saßen neben ihr, gefolgt von Mary Karen, den Jungs und David. Neben ihm saß July mit Adam. In den Bänken hinter ihnen hatten Davids Cousins und Cousinen sowie diverse Onkel und Tanten Platz genommen.

Das Eingangslied ertönte, und July erhob sich mit David und dem Rest der Gemeinde von ihren Plätzen. Irgendwann hatte David ihr das Baby aus dem Arm genommen und es ihr nicht zurückgegeben. Der Anblick ihres Sohnes auf den Armen seines Vaters trieb July Tränen in die Augen.

Sie überlegte, wie es wohl wäre, jeden Abend mit David zu Bett zu gehen und jeden Morgen neben ihm aufzuwachen, noch dazu gemeinsam die Ferien zu verbringen und ihren gemeinsamen Sohn zusammen zu erziehen …

Den Rest der Messe erlebte sie wie in einer Nebelwolke. Alle applaudierten, als Granny ihren Preis für ihre Verdienste um die Gemeinde erhielt. Die Jungs schrien Hurra!, bis Mary Karen ihnen befahl, still zu sein. Als Granny sich bei ihrer Familie bedankte, hatte July für einen Moment das Gefühl, dazuzugehören. Bis ihr klar wurde, dass das nur ein frommer Wunsch war. Möglicherweise würde sie niemals dazugehören – je nachdem, wie David auf ihre Neuigkeiten am Abend reagieren würde.

Es war nicht der beste Zeitpunkt, ihm die Wahrheit zu gestehen, vor allem, weil er gerade erst von der Untreue seiner Frau erfahren hatte, aber sie konnte nicht länger warten. Erstens hatte sie ihm versprochen, am nächsten Tag den DNA-Test machen zu lassen, und zweitens war ihr Auftrag, den sie zu erledigen hatte, beendet. Nichts hielt sie mehr in der Gegend.

Bis auf David.

Vielleicht lag es daran, dass sie sich in einer Kirche befand. Vielleicht hatte deshalb die Lüge nie schwerer auf ihrer Seele gelastet. Egal, was der Grund sein mochte: July faltete die Hände und senkte den Kopf.

Lieber Gott, bitte lass David verstehen und mir vergeben. Du weißt, wie leid es mir tut. Du weißt, wie sehr ich ihn liebe. Bitte, bitte …

„July.“ Davids warmer Atem streifte ihr Ohr. „Alles in Ordnung?“

July öffnete die Augen und lächelte. „Alles in Ordnung“, erwiderte sie und hakte sich bei ihm unter.

Sie hoffte nur, dass sie das am Ende dieses Tages auch sagen konnte.

Der Tag hätte nicht schöner sein können für eine Party. Die Sonne, milde Temperaturen und Windstille hatten die Festgesellschaft schnell ins Freie gelockt.

Während David mit seinem Vater die Tische aufstellte, musste er immer wieder zu July hinüberschauen, die Adam um die Brust geschnallt hatte und den Frauen zur Hand ging.

Celeste hatte diese Art von Feiern gehasst. Sie hatte immer behauptet, nichts mit seiner Familie am Hut zu haben. Meistens hatte sie ausgerechnet dann eine Geschäftsreise geplant, wenn ein Familientreffen anstand. Inzwischen fragte er sich, ob ihr Unbehagen, das sie im Kreis seiner Familie empfand, nicht einfach nur eine Ausrede gewesen war. Vielleicht hatte sie die Wochenenden lieber mit ihrem Lover verbracht.

Er spürte einen Stich im Herz. Er hatte geglaubt, Celeste hätte ihn geliebt. Natürlich hatte es auch Streitigkeiten gegeben – bei welchem Paar gab es die nicht? –, aber er hätte es nie für möglich gehalten, dass sie ihn betrog. Gary hatte die ganze Schuld auf sich genommen –, aber Celeste hatte auch ihren Anteil daran. Niemand hatte sie schließlich gezwungen, ihr Eheversprechen zu brechen. Warum hatte sie es getan?

„July scheint ja sehr nett zu sein.“

Die Bemerkung seines Vaters riss David aus seinen Gedanken.

„Sie ist fantastisch.“ Er schaute zu July hinüber, die sich mit einer seiner Tanten unterhielt. Celeste mochte eine blendende Erscheinung gewesen sein, aber David bevorzugte Julys schlichte Schönheit. Sie war natürlicher – nicht nur äußerlich. Ihr konnte ein Mann vertrauen.

„Du scheinst sie und ihren Sohn sehr zu mögen.“

Hörte er da einen warnenden Unterton in der Stimme seines Vaters?

„Ich mag sie sogar sehr.“ Er schaute seinen Vater an. „Hast du damit ein Problem?“

„Ich möchte nur nicht, dass du dich Hals über Kopf in etwas hineinstürzt. Mary Karen hat deiner Mutter erzählt, dass July bereits mehrfach bei dir übernachtet hat und …“

„Um Himmels willen, Dad! Ich bin ein erwachsener Mann. Ich brauche keine Vorschriften für mein Liebesleben.“

„Es geht nicht nur um dich, David. Diese Frau hat gerade ein Kind bekommen. Sie ist sehr verletzlich – emotional gesehen. Und dann ist da ja noch der Vater des Babys. Er …“

„Ich bin Adams Vater“, sagte David. Er klang sehr aufrichtig. Selbst wenn er nicht der biologische Vater sein sollte – in jeder anderer Hinsicht war Adam sein Sohn.

„Wie denn das?“ Unter anderen Umständen hätte David über den verdatterten Gesichtsausdruck seines Vaters gelacht. „Wann ist das denn passiert? Ich meine, du hast nie von ihr gesprochen.“

„Wir haben uns vergangenen Sommer in Chicago kennengelernt“, antwortete David. „Ich liebe sie.“

Die Erkenntnis floss wie eine warme Woge durch ihn hindurch. Er war verliebt in July Greer.

„Das freut mich für dich.“ Sein Vater furchte die Augenbrauen. „Aber wenn ihr beide euch liebt, warum wart ihr dann nicht die ganze Zeit zusammen? Und jetzt, da ihr einen gemeinsamen Sohn habt – warum seid ihr nicht verheiratet?“

„July hatte eine ziemlich verkorkste Kindheit“, erklärte David. „Deshalb ist sie sehr misstrauisch, was Beziehungen angeht. Ich denke, sie möchte sichergehen, dass ich der Richtige bin, ehe sie den nächsten Schritt macht.“

„Aha, klingt logisch.“ Sein Vater nickte und strich sich übers Kinn. „Es überrascht mich nur, dass deine Schwester deiner Mutter nichts davon erzählt hat.“

„Mary Karen weiß nichts davon. Und ich möchte dich bitten, es erst einmal für dich zu behalten.“

„Wie lange?“ Sein Vater senkte die Stimme. „Du weißt, dass deine Mutter einen sechsten Sinn hat, wenn es um Geheimnisse geht.“

„Ich bitte dich nur, bis zum nächsten Wochenende Stillschweigen zu bewahren.“

„Das müsste ich hinbekommen.“

„David.“ Die Stimme seiner Mutter übertönte die Gespräche der Gäste. „Könntest du bitte die Zwillinge aus dem Haus holen? Der Tag ist zu schön, um ihn vor der Glotze zu verbringen.“

David nickte und drehte sich noch einmal zu seinem Vater um. „Kein Wort bis zur nächsten Woche.“

„Versprochen.“

David wusste, dass es seinem Vater nicht leichtfallen würde zu schweigen. Wenn alles gutging, würde er das Geheimnis nicht allzu lange für sich behalten müssen. An diesem Abend wollte David um Julys Hand anhalten und sie bitten, Adams Vater sein zu dürfen.

Lächelnd ging er ins Haus. Es würde der Beginn eines neuen Lebens für ihn und July sein – ein Leben, das auf Liebe und gegenseitigem Vertrauen aufgebaut war.

David fand Connor in der Küche. Er hatte Kekse in der Hand und sah ziemlich schuldbewusst drein. David schickte den Jungen hinaus in den Garten.

Caleb war im Wohnzimmer. David hatte keine Ahnung, was der Junge im Schilde führte, aber sobald er den Raum betreten hatte, verschwand Calebs Hand hinter seinem Rücken. Auf dem Couchtisch lagen Klebeband und Teile eines Briefumschlags.

„Was machst du hier, Caleb?“, erkundigte David sich beiläufig.

„Connor und ich haben was zusammengeklebt.“

„Was denn?“

„Papier.“

„Solches, das du hinter deinem Rücken versteckst?“

„Vielleicht.“

„Okay, Caleb.“ David setzte sich aufs Sofa. Er wollte sich nicht zu lange im Haus aufhalten. Egal, wie nett seine Verwandten waren – July sollte nicht länger als nötig allein mit ihnen zusammen sein. „Erzähl mir, was hier läuft.“

„Du wirst sauer sein.“

„Erzähl’s mir einfach.“

„Ich sollte gestern auf Logan aufpassen, als Mommy telefoniert hat.“ Betrübt runzelte Caleb die Stirn. „Da kam der Postbote und hat die Briefe durch den Schlitz in der Tür geworfen. Logan ist sie holen gegangen …“

„Und?“

„Logan hat den Umschlag aufgerissen.“ Jetzt überstürzten sich die Worte fast. „Ich habe Mommy erzählt, dass wir keine Post bekommen haben.“

„Du weißt, dass es nicht richtig ist zu lügen.“

„Aber ich hatte Angst.“

„Wovor?“

„Ich musste Mommy versprechen, dass ich auf ihn aufpasse. Aber ich hab ihn die Post holen lassen. Ich wollte nicht, dass sie mich anschreit.“

„Deine Mommy schreit doch nicht.“

„Manchmal schon.“

„Das ist noch lange kein Grund, die Wahrheit zu verschweigen. Verstehst du das?“

„Ja, schon.“ Caleb ließ den Kopf hängen.

„Ich finde es toll, dass du es mir erzählt hast.“ David fuhr dem Jungen mit der Hand durchs Haar. „Versprich mir, dass du es deiner Mom heute Abend erzählst, wenn alle gegangen sind.“

„Und was ist mit dem Umschlag?“

David streckte die Hand aus. „Gib ihn mir. Ich schau mal, was ich tun kann.“

Calebs Hand tauchte hinter seinem Rücken auf. Er gab David den Umschlag.

„Danke, Onkel David.“ Im Hinauslaufen rief er David zu: „Ich spiele jetzt mit Connor.“

Lächelnd sah David hinter ihm her. Kindererziehung war wirklich kein Kinderspiel. Einmal mehr fragte er sich, wie Mary Karen das allein schaffte. Glücklicherweise würde Adam einen Vater und eine Mutter haben, wenn July seinen Heiratsantrag annahm.

Sein Blick fiel auf den Umschlag. Es handelte sich nicht um Werbung, sondern um einen Brief von einer Behörde. Und der durchgestrichenen Adresse nach zu schließen, war der Brief schon in Chicago gewesen und wieder zurückgekommen.

Aus dem zerrissenen Umschlag fiel ein rosafarbenes Blatt mit einem Siegel auf den Boden. Als er es aufhob, erkannte er, dass es sich um Adams Geburtsurkunde handelte.

Geburtsort und Geburtszeit waren darauf verzeichnet sowie die Angaben, die July gemacht hatte. Sein Herz setzte aus, als er seinen Namen auf dem Papier entdeckte.

„Ich bin Adams Vater!“, murmelte er fassungslos. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, während sich die Gedanken in seinem Kopf überschlugen.

„Ah, hier steckst du!“, rief July. „Das Essen steht auf dem Tisch …“ Sie hielt inne. „Was ist passiert?“

„Sag du’s mir!“ Er warf die Geburtsurkunde auf den Tisch. „Lies das und sag mir, was passiert ist.“

July hatte das Gefühl, dass die Wände des Zimmers auf sie zukamen. Alles verschwamm vor ihren Augen. Sie bückte sich und nahm das Papier vom Couchtisch. Beim Anblick des Siegels war ihr alles klar. Sie setzte zu einer Erklärung an, brachte jedoch kein Wort hervor. Am Freitagabend hatte sie den Schmerz und die Verletzung in Davids Blick gesehen. Genau die gleichen Emotionen sah sie nun erneut. Mit einem Unterschied: Diesmal war sie die Ursache.

„Du hast die ganze Zeit gewusst, dass er mein Sohn ist, nicht wahr? Und dennoch hast du mir ins Gesicht gelogen. Wochenlang. Warum?“

July stand stocksteif vor ihm. Ihr Schweigen schien seinen Zorn noch anzustacheln.

„Und was ist mit dem DNA-Test? War das noch eine Lüge? Was hattest du vor – wolltest du die Stadt verlassen, ohne ihn gemacht zu haben?“ Seine Stimme wurde lauter. „Wolltest du mir meinen Sohn wegnehmen und mir niemals erzählen, dass es meiner ist?“

July trat einen Schritt zurück und dann noch einen. Das Herz hämmerte ihr gegen die Rippen.

„Dir tut es nicht einmal leid, was? Genau wie Celeste. Du hast mich zum Narren gehalten. Das Drollige dabei war – ich habe ich dich geliebt. Verdammt, ich wollte dich sogar heiraten.“

Sein Gesicht verzog sich. Sie sah nur noch den Schmerz in seiner Miene.

Ich sollte ihn jetzt berühren, sagte sie sich. Ich muss ihm sagen, dass es mir leidtut.

„Warum hast du …?“ Er unterbrach sich. „Ich muss hier weg. Sag Mary Karen … Ach, zum Teufel, sag ihr, was du willst. Im Erfinden von Ausreden bist du doch gut.“

Er machte auf dem Absatz kehrt und stürmte hinaus.

„David, bitte geh nicht“, bat sie mit brüchiger Stimme.

Zu spät. Er war bereits gegangen.

10. KAPITEL

„Er hasst mich.“ July sprach leise, um Adam nicht aufzuwecken, der in seinem Bettchen schlief. Sie war überrascht gewesen, als A. J. direkt nach dem ersten Klingeln an sein Handy gegangen war. Vielleicht war es seine Intuition, vielleicht war es … Ach, egal, was es war. Hauptsache, sie konnte mit ihm reden.

„Hast du es ihm gebeichtet?“

July schluckte hart. „Er hat mir keine Chance gegeben.“

„Er hat dir keine Chance gegeben? Oder hast du sie nicht ergriffen?“

July hatte gehofft, dass ihr das Gespräch mit A. J. helfen könnte. Stattdessen fühlte sie sich von Sekunde zu Sekunde schlechter. „Ich war wie versteinert“, gestand sie. „Aber das spielte auch keine Rolle. Er hatte bereits entschieden, dass ich mich falsch verhalten habe.“

„Ich sag’s nicht gerne, Baby – aber du hast dich auch komplett falsch verhalten.“

„Ich weiß doch!“ July stieß einen tiefen Seufzer aus. „Und ich bin bereits schuldig gesprochen worden. Jetzt kann ich nichts mehr machen.“

„Schon mal was davon gehört, dass man ein Gericht auch um Gnade bitten kann?“

„Ich habe keine Gnade verdient.“ Sie erinnerte sich an den schmerzhaften Blick in Davids Augen, ehe er wütend geworden war.

„Jeder verdient Gnade“, widersprach A. J. „Du musst es versuchen, July. Wenn nicht für dich, dann tu es für Adam.“

„Und wenn David mir nicht verzeiht?“

„Das Leben geht weiter. Aber wenigstens habt ihr euch dann nicht getrennt, ohne klärende Worte auszusprechen.“

July wusste, dass ihr bester Freund recht hatte. Sie musste es zumindest versuchen.

„Ich liebe dich, A. J.“

Ein langes Schweigen entstand.

„Ich liebe dich auch, Babe.“

Den letzten Menschen, den David am nächsten Morgen sehen wollte, war seine Schwester. Er stöhnte genervt. „Was willst du denn hier?“

Mary Karen kniff die Augen zusammen. „Ich freue mich auch, dich zu sehen.“

„Tut mir leid. Komm rein.“ David fuhr sich mit der Hand durchs Haar und trat beiseite, um sie hineinzulassen. Er hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Er fühlte sich nicht nur erschöpft, sondern auch wütend und gereizt und überhaupt nicht gesellig. Er hasste es, keine Antworten parat zu haben. Dafür hatte er sehr viele Fragen.

Die Eindrücke vom vergangenen Abend waren noch zu frisch, als dass er objektiv über den Vorfall urteilen konnte. Doch selbst jetzt, im hellen Licht des Tages, verstand er die Situation nicht. Warum hatte sie derart gehandelt? Warum hatte sie ihm nicht einfach gesagt, dass Adam sein Sohn war? Warum wollte sie ihm die Wahrheit vorenthalten?

Mary Karen ging an ihm vorbei und blieb in der Diele stehen. Aufmerksam musterte sie ihn. „Du siehst wirklich schlimm aus.“

Er lächelte schief. Irgendwie fand er es tröstlich, genauso auszusehen, wie er sich fühlte. „Danke.“

„Oh, das sollte kein Kompliment sein.“ Auch Mary Karen lächelte jetzt.

„Ich wollte gerade Kaffee machen. Willst du auch einen?“ Er bemühte sich, freundlich zu klingen, um die barsche Begrüßung vergessen zu machen.

Mitfühlend schaute sie ihn. „Was ich wirklich will … Ich möchte wissen, was zwischen dir und July läuft.“

„Willkommen im Club.“ David schloss die Haustür. Er schloss kurz die Augen, um die Kontrolle zu bewahren. Mary Karen verstand nicht, dass nichts zwischen ihm und July war, nicht mehr. Er hatte Fragen gehabt, und sie hatte jegliche Antworten verweigert. Er holte tief Luft und sah seine Schwester an. „Es ist kompliziert.“

Mary Karen erwiderte seinen Blick, blieb aber stumm. Stattdessen ging sie ins Wohnzimmer und ließ sich in einen Sessel fallen. „Mir scheint es gar nicht so kompliziert zu sein.“ Sie stellte ihre Handtasche auf den Boden und legte ein Bein über das andere. „Fassen wir doch mal zusammen. Du verschwindest auf einmal von der Feier, ohne dich zu verabschieden. July geht in ihr Zimmer, weil sie angeblich Kopfschmerzen hat. Durch die Tür habe ich sie weinen gehört.“

Bis jetzt war David der Meinung gewesen, es geschehe July nur recht, wenn sie sich schlecht fühlte. Als er jetzt von ihren Tränen hörte, zerriss es ihm jedoch fast das Herz. Sie tat immer so stark und unverletzlich, aber unter dieser angeblich harten Schale lag ein sehr, sehr weicher Kern.

„Dass ihr beiden Streit hattet, war ja nicht zu übersehen“, fuhr Mary Karen fort. „Ich frage mich allerdings, warum du in diesem Moment nicht bei mir zu Hause bist und dich mit ihr aussprichst.“

„Es ist kompliziert“, wiederholte David.

„Das sagtest du bereits.“

Seine Schwester verstand nicht, dass Julys Lügen ihn aus der Bahn geworfen hatten, vor allem so kurz nach der Enthüllung von Celestes Ehebruch …

„Wusstest du, das Celeste mich betrogen hat?“ Ehe er darüber nachdenken konnte, hatte er die Frage bereits gestellt. Doch David erkannte auch, wie groß sein Bedürfnis war, mit jemandem zu reden. Nicht nur über July, sondern auch über Celestes Untreue.

„Oh, David.“ Mitfühlend sah sie ihn an. „Das tut mir so leid. Wann hast du es denn erfahren?“

„Vor ein paar Tagen.“ Er setzte sich ihr gegenüber auf das Sofa. „Ja, es war wirklich eine tolle Woche. Mein Leben ist innerhalb kürzester Zeit total auf den Kopf gestellt worden.“

Er versuchte sich an einem Lachen, doch es misslang.

„Hast du denn irgendwas geahnt?“

„Ich weiß nicht, ob ich meinen Kopf in den Sand gesteckt hatte, aber nein. Ich hätte niemals gedacht, dass sie fremdgeht.“ Beim letzten Wort zitterte seine Stimme. Er räusperte sich. „Ich dachte, wir hätten eine gute Ehe geführt.“

„Ich glaube, das habt ihr ja auch in vielerlei Hinsicht getan.“ Mary Karen sprach langsam, als wählte sie ihre Worte mit Bedacht. „Bei den wenigen Malen, die ich euch zusammen erlebt habe, hatte ich allerdings den Eindruck, dass euer Verhältnis ein bisschen … nun ja, oberflächlich war. Zugegeben, wir haben uns nicht oft gesehen, aber …“

Stimmt. Die meisten Gespräche mit Celeste hatten Logistik oder ihre nächste Geschäftsreise zum Thema gehabt oder auf welche Party sie gehen wollten. Sie hatten schon auch über die Zukunft und ihre Erwartungen an das Leben geredet. „Willst du damit sagen, dass ich ein schlechter Ehemann war? Dass es meine Schuld war, dass sie eine Affäre hatte?“

„Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich meine nur, wenn du jetzt die Opferrolle einnimmst, dann wirst du aus dieser Erfahrung nichts lernen. Steve hat Fehler gemacht, aber die sind mir auch untergekommen. Wir hatten Probleme. Insgeheim wusste ich, dass sie existierten. Aber anstatt darüber zu reden, anstatt uns gegenseitig zuzuhören, haben wir sie unter den Teppich gekehrt.“

David dachte einen Moment lang nach. Hatten sich er und Celeste genauso verhalten? Möglich war es durchaus, alles war möglich. „Ich weiß es nicht“, sagte er schließlich. „Vielleicht habe ich tatsächlich den Kopf in den Sand gesteckt, aber ich hatte trotzdem immer das Gefühl, wir hätten eine gute Beziehung.“

„Schon möglich. Vielleicht habt ihr auch einfach nicht genug miteinander geredet. Wie dem auch sei, jetzt kannst du nichts mehr daran ändern. Celeste ist tot.“

Das hatte er sich auch oft in schlaflosen Nächten gesagt. Er konnte nichts mehr tun – außer ihr zu vergeben und sich vorzunehmen, es in der nächsten Ehe besser zu machen.

In der nächsten Ehe.

Er liebte July. Bevor er von ihrem falschen Spiel erfahren hatte, wollte er ihr einen Heiratsantrag machen, um ihr und Adam ein Zuhause zu bieten. Um das Leben gemeinsam zu meistern. Warum machte er sich etwas vor? Es war immer noch das, was er wollte.

„Hatten die Neuigkeiten von Celeste irgendwas mit deiner Auseinandersetzung mit July zu tun?“ Mary Karens Frage riss ihn aus seinen Gedanken.

David schüttelte den Kopf. „Nein, überhaupt nicht.“

„Bist du ganz sicher?“ Sie ließ nicht locker. „Wenn mich bei der Arbeit etwas nervt, dann kann es schon sein, dass ich zu Hause Dampf ablasse, wenn ich mich nicht zusammenreiße.“

„Natürlich haben mir die Neuigkeiten von Celeste zugesetzt“, gab er zu. „Bis letzte Nacht hatte ich noch keine Gelegenheit, mir eingehender darüber Gedanken zu machen. Kann sein, dass ich heftiger reagiert habe, als ich die Sache mit July erfahren habe.“

„Rede mit July“, beschwor Mary Karen ihn. „Entschuldige dich. Bring die Sache wieder in Ordnung.“

„Das habe ich versucht. Ich wollte ihre Sicht der Geschichte hören. Sie hat komplett dichtgemacht.“

„Hast du sie angeschrien? Aus irgendeinem Grund dreht July durch, wenn man sie anbrüllt.“

„Ja, möglicherweise habe ich die Stimme erhoben. Sie hätte mir ja trotzdem ihre Gründe mitteilen können …“ David unterbrach sich. July war tatsächlich merklich zurückgeschreckt, als er lauter geworden war.

„Ich habe ihr vielleicht nicht deutlich genug zu verstehen gegeben, dass ich durchaus bereit war, ihr zuzuhören.“ Bedauern schwang in seiner Stimme mit. Er kannte July, er hatte ihr ins Herz geblickt. Es musste einen triftigen Grund geben, warum sie ihm verschwiegen hatte, dass Adam sein Sohn war. Sie würde es ihm erzählen, wenn sie die Zeit für gekommen hielt. Zum ersten Mal, seitdem er aus dem Haus seiner Schwester gestürmt war, empfand er einen Funken Hoffnung.

„Heute ist ein neuer Tag, David“, sprach Mary Karen ihrem Bruder Mut zu. „Und das Beste daran ist – du kannst eine zweite Chance bekommen.“

July schaute auf die Uhr. Wo blieb Mary Karen nur? Davids Schwester hatte sie gebeten, mit ihr eine Runde durch den Park zu drehen. Sie hatte doch zwei Uhr gesagt …? Ob etwas mit Adam passiert war und sie Granny nicht allein mit dem Baby lassen wollte? July überlegte kurz, ob sie zum Handy greifen sollte, um sich zu erkundigen. Dann sagte sie sich, dass sie noch fünf Minuten warten wollte.

Nach dem Telefongespräch mit A. J. hatte July beschlossen, David zwei Tage Zeit zu lassen, um sich zu beruhigen. Danach würde sie ihn anrufen und ihm alles erklären. Selbst wenn er ihr nicht verzeihen konnte, so würde er sie vielleicht doch verstehen. Schließlich war er Adams Vater …

Als sie das Knirschen von Kies hörte, drehte sie sich um. „Mary Karen, da bist du ja endlich … Oh, David?“

„Hallo, July.“ Er sah genauso unbehaglich drein, wie sie sich fühlte. Misstrauisch schaute er sie an, als ob er befürchtete, nicht willkommen zu sein. Er zeigte auf den Weg. „Willst du eine Runde mit mir gehen?“

„Leider kann ich nicht. Ich bin mit deiner Schwester verabredet.“

„Ihr ist etwas dazwischengekommen.“ Er schob die Hände in die Hosentaschen. „Ich bin der Ersatz.“

July schwieg. War wirklich etwas dazwischengekommen, oder machte er ihr nur etwas vor?

„Falls du nichts dagegen hast“, fuhr er fort.

„Nein, überhaupt nicht“, antwortete sie. „Ich meine … gern.“

David schien erleichtert zu sein. Er setzte sich in Bewegung, und sie lief neben ihm her. July wusste immer noch nicht, wie ihr geschah, aber sie waren zusammen und stritten sich nicht. Das war doch schon einmal phänomenal, oder?

„Ich wollte mit dir reden.“ Er räusperte sich. „Aber so, wie ich mich gestern benommen habe, war ich mir nicht sicher, ob du mich überhaupt sehen willst.“

Wie er sich benommen hatte?

„Ich wollte dir auch einiges sagen.“ Zum ersten Mal war July sich sicher, dass sie es jetzt tun konnte. Neben ihr stand der Vater ihres Sohnes. Der Mann, den sie liebte. „Ich hätte dich sowieso morgen angerufen.“

„Wirklich?“ Sein Mund verzog sich zu einem flüchtigen Grinsen.

July nickte und unterdrückte den Anflug von Panik. „Ich schulde dir eine Erklärung.“

„Und ich entschuldige mich für mein Verhalten von gestern. Es tut mir leid.“

Julys Herz schlug schneller, und ihr Mund war plötzlich trocken. Dennoch nahm sie all ihren Mut zusammen und begann. „Als ich neun war, hat meine Mutter mich geschlagen und zwei Tage lang in einen Schrank gesperrt, weil ich ungeschickt gewesen war, und obwohl ich mich dafür entschuldigt hatte. Seitdem kann ich mich bei niemandem mehr entschuldigen.“

Ihr Kinn zitterte, und sie schob die Hände in die Taschen.

David hatte sich so sehr auf das Grün ihrer Augen konzentriert, dass er eine Weile brauchte, ehe die Bedeutung ihrer Worte bei ihm ankam. Als er verstanden hatte, was sie ihm erzählte, hatte er das Gefühl, von einer Faust in den Magen geboxt worden zu sein. Er ballte nun selbst die Fäuste. Was für ein Monster musste man sein, um so etwas seinem Kind anzutun?

Hätte er ein Instrument zur Hand gehabt, um July die schmerzhaften Erinnerungen zu nehmen, er hätte es sofort benutzt. Das war allerdings unmöglich. Außerdem war er Arzt und kein Therapeut, der sich mit Kindesmisshandlungen auskannte.

Tröstend berührte er ihren Arm. Mit Tränen in den Augen schaute sie ihn an.

„Ich habe dir nicht gesagt, dass Adam dein Sohn ist, weil ich glaubte, du seist verheiratet“, erklärte sie ruhig. „Selbst wenn du verheiratet gewesen wärst, hättest du allerdings ein Recht darauf gehabt, es zu erfahren. Als ich dann gehört habe, dass du Witwer bist, habe ich oft versucht, es dir mitzuteilen. Doch irgendwie habe ich kein Wort über die Lippen gebracht. Ich bin zu einem Therapeuten gegangen, und er hat mir dabei geholfen, mich meinen Ängsten zu stellen. Mir ist klar geworden, dass mich niemand mehr in einen Schrank einsperrt, weil ich einen Fehler gemacht habe oder weil ich mich entschuldigt habe. Es tut mir leid, dass ich dir nicht früher sagen konnte, dass Adam dein Sohn ist.“

„Ach, Liebes.“ David nahm sie in die Arme. „Mir tut auch vieles leid. Ich hätte dich letztes Jahr nicht einfach so zurücklassen dürfen. Und als ich die Geburtsurkunde gefunden habe, hätte ich dich um eine Erklärung bitten und nichts verlangen sollen. Entschuldige, dass ich die Beherrschung verloren habe.“

July trat einen Schritt zurück, um ihm in die Augen zu sehen. „Ich liebe dich, David. Ich habe Verständnis dafür, wenn du nicht dasselbe für mich …“

Unvermittelt verschloss er ihre Lippen mit seinem Mund, und er umarmte July so fest, als ob er sie niemals mehr gehen lassen wollte. Als er sich von ihr löste, zitterte sie am ganzen Leib, nicht vor Angst, sondern weil ihr zum ersten Mal klar geworden war, dass alles gut gehen würde.

„Ich habe etwas für dich“, murmelte er an ihrem Nacken.

Sie spürte seine Erektion und rieb sich daran. Verdammt, warum mussten sie so dick angezogen sein? „Ich glaube, ich weiß, was es ist.“

Er lachte. „Nein, das ist für später.“ Mit einer Hand griff er in die Tasche, und als er sie wieder herauszog, war sie zur Faust geballt. Langsam öffnete er seine Finger. Auf der Handfläche lag der Ring mit dem Mondstein, den sie bei der Versteigerung bewundert hatte. „Das ist für jetzt. Für dich.“

July spürte einen Kloß im Hals. „Der Ring ist wunderschön.“

„Er symbolisiert Freundschaft, Treue und Liebe.“

Liebe? Hatte er Liebe gesagt?

Das Herz schlug ihr bis zum Hals. „Mir ist ein bisschen schwindlig. Können wir kurz in den Schatten gehen?“

Er tastete nach ihrem Puls. „Der ist tatsächlich ziemlich schnell.“

„Das passiert mir immer, wenn ich in deiner Nähe bin.“

Erleichtert schaute er sie an. „Das geht mir genauso.“

„Wirklich? Du bist auch nervös?“

David lachte. „Ich bin nervös, glücklich, und ich habe Angst.“

„Warum hast du Angst?“

Er schaute ihr tief in die Augen. „Weil ich dich etwas Wichtiges fragen will, und von deiner Antwort hängt mein zukünftiges Glück ab.“

Er nahm ihre Hand, und die Welt stand für einen Moment lang still.

„Ich liebe dich, July“, sagte er feierlich. „Und ich liebe unseren Sohn. Mein Leben ist so viel reicher geworden mit euch beiden.“ Unvermittelt kniete er sich vor sie hin. „Willst du meine Frau werden, July Greer?“

„Deine Frau …“

„Ja. Meine Frau.“

Die Pause, die entstand, war so lang, dass David schon das Schlimmste befürchtete. Unwillkürlich hielt er den Atem an.

Schließlich breitete sich ein Lächeln auf Julys Gesicht aus. „Ja, das will ich“, antwortete sie.

Mit einem Freudenschrei schloss er sie in die Arme und wirbelte sie im Kreis herum. Dann nahm er ihren Finger, um ihr den Ring mit dem Mondstein anzustecken. Er passte perfekt. „Ich werde dir treu und ein guter Freund sein. Vor allem jedoch werde ich dich immer lieben. Für immer.“

„Für immer“, murmelte sie.

„Und?“ Fast ein wenig besorgt sah er sie an, als er auf ihre Reaktion wartete.

Sie schaute ihm tief in die Augen. „Nicht mal für immer ist mir lang genug“, entgegnete sie.

Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Dann sollten wir keine Sekunde mehr verschwenden.“

Er nahm sie in die Arme und küsste sie wild und leidenschaftlich. Der Kuss enthielt so viele Versprechen, dass ihr unentwegt Schauer über den Rücken liefen.

Fast ein wenig ungläubig sah sie ihn an, als sie den Kopf hob.

Aber nein, das war kein Traum, es war die Realität, und sie war hellwach.

Und alles, was sie sich jemals gewünscht hatte und was sie jemals brauchen würde, stand vor ihr und hielt sie fest in den Armen.

– ENDE –

IMPRESSUM

Ich weiß bloß eins, ich liebe dich erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
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© 2010 by Cynthia Rutledge
Originaltitel: „In Love with John Doe“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA EXTRA
Band 83 - 2020 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Rita Hummel

Umschlagsmotive: GettyImages_jacoblund

Veröffentlicht im ePub Format in 02/2021 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751505543

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

„Ich wette einen Fünfer, dass er ein Prinz ist.“

Amüsiert sah Lexi Brennan dabei zu, wie eine der älteren Krankenschwestern einen zerknitterten Geldschein aus ihrer Kitteltasche kramte und ihn auf den Tresen klatschte.

„Hübsch genug dazu ist er jedenfalls“, meinte eine der jüngeren Kolleginnen. „Doch ich tippe eher darauf, dass er ein reicher Erbe ist.“

„Mich könnt ihr für den Prinzen eintragen“, sagte Rachel Milligan, die Stationsschwester, nachdem alle Umstehenden ihre Wetten abgegeben hatten. „Aber jetzt gehen wir wieder an die Arbeit.“

Das Personal verteilte sich in den Gängen, während Lexi mit Rachel und einer jungen Hilfskrankenschwester zurückblieb. In den fünf Jahren ihrer Tätigkeit als Sozialarbeiterin in der Klinik von Jackson Hole hatte Lexi bei derartigen Wetten schon eine Menge Geld verloren. Deshalb hatte sie vor einiger Zeit beschlossen, sich nicht mehr daran zu beteiligen. Trotzdem war sie neugierig. „Um wen geht es hier eigentlich?“

Rachel schüttelte nachdenklich den Kopf. „Dieser mysteriöse John Doe, wie wir ihn genannt haben, ist Thema Nummer eins, seit er gestern vom Rettungsdienst eingeliefert worden ist.“

„Er ist so süß“, schwärmte die Hilfskrankenschwester.

„Bei Mr. Landers blinkt es“, sagte Rachel streng, und das junge Mädchen lief schuldbewusst davon.

Rachel reichte Lexi nun die Krankenakte „John Doe“. „Können Sie sich um ihn kümmern?“

Lexi überflog die Seiten. „Allzu viele Infos scheint es ja nicht zu geben.“

Rachel lächelte. „Tja, wenn ein Patient sich an nichts erinnern kann …“

„Warst du dabei, als er eingeliefert worden ist?“

„Ja.“ Rachels Miene wurde sofort ernst. „Er hat großes Glück gehabt. Fünf Minuten länger unter dem Schnee, und er hätte nicht nur sein Gedächtnis, sondern sein Leben verloren.“

„Wie Skifahrer sich überhaupt in eine solche Gefahr begeben können, ist mir wirklich unbegreiflich.“ Lexi fragte sich, wieso die Unbesonnenheit des Mannes sie derart verstörte. Er war schließlich nicht der erste Extremskifahrer, der sich in dieses gefährliche Skigebiet gewagt hatte.

Rachels Blick verlor sich in der Ferne. „Diese jungen Männer halten sich leider für unverwundbar.“

Lexi fragte sich, ob Rachel dabei an ihren Mann dachte, der vor einigen Jahren bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen war.

„Von medizinischer Seite aus gibt es keinen Befund“, sagte Rachel. „Sobald du eine Bleibe für ihn gefunden hast, kann er entlassen werden.“

Lexi legte den Zeigefinger ans Kinn. „Ohne Geld wird ihn wohl kein Vermieter akzeptieren.“

„Er hat Geld“, sagte Rachel triumphierend. „Wir haben zweitausend Dollar in seiner Tasche gefunden.“

Zweitausend Dollar? Einfach so in der Tasche? Lexi hatte gerade mal dreißig Dollar in ihrem Portemonnaie, und die mussten für den Rest der Woche reichen. Sie runzelte die Stirn. „Hatte er Drogen bei sich?“

„Nein.“ Rachel lachte. „Sein Bluttest war auch negativ. Nein, ich glaube, er ist einfach ein reicher Typ, der sich mit Extremsportarten die Zeit vertreibt.“

Lexi seufzte. „Dass er Geld hat, macht es zumindest einfacher, eine Unterkunft für ihn zu finden.“ Sie wandte sich zum Gehen. „Dann werde ich diesem ominösen John Doe mal einen Besuch abstatten.“

„Du wirst geblendet werden.“

„Wie meinst du das?“, fragte Lexi erstaunt.

„Er hat nicht nur Geld, er sieht auch noch umwerfend aus.“

Beides eigentlich gute Voraussetzungen, um eine Unterkunft für ihn zu finden. Trotzdem würde es nicht leicht werden. Die Anzahl der Hotels und Ferienwohnungen in der Umgebung war äußerst begrenzt und daher meist schon lange im Voraus ausgebucht. Sie würde viel herumtelefonieren müssen.

Er hatte gerade seine Skihose angezogen und hielt ein T-Shirt in der Hand, als es an der Tür seines Krankenzimmers klopfte. „Herein“, rief er, ohne zur Tür zu sehen. Es war sowieso wieder nur eine der Schwestern, die ihm den Puls messen und die Größe seiner Pupillen prüfen wollten.

Doch das Klicken von Absätzen auf dem Fliesenboden passte nicht dazu. Er drehte sich deshalb doch um.

Die Frau, die ins Zimmer kam, trug keine Schwesternuniform oder einen Arztkittel, sondern ein modisches grün-braun gemustertes Kleid und ein grünes Strickjäckchen. Ihr dunkles Haar war zu einem glatten Bob frisiert. Sie hielt den Blick auf die Akte in ihrer Hand gerichtet, und als sie hochsah, weiteten sich ihre hellbraunen Augen. „Tut mir leid“, stammelte sie und ging zur Tür zurück. „Sie sind noch beim Anziehen. Ich komme später wieder.“

Er betrachtete seine nackte Brust. Eine Krankenschwester hätte bei seinem Anblick keine Miene verzogen. Nein, das war definitiv keine Krankenschwester.

„Bleiben Sie ruhig hier.“ Rasch schlüpfte er in sein T-Shirt, wobei ihm ein heftiger Schmerz in die Schulter fuhr. Damit würde er wohl noch eine Weile leben müssen, hatte der Arzt gemeint. „So, fertig und bereit für Besucher.“

Die Frau drehte sich lächelnd wieder um und zeigte dabei ihre perfekten weißen Zähne. „Ich bin Lexi Brennan, die Sozialarbeiterin der Klinik.“ Sie ging auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen.

Ihr zarter Duft umwehte ihn, als er ihre Hand nahm. Unwillkürlich blickte er dabei auf ihren Ringfinger, was er sonst eigentlich nie tat. Kein Ehering.

„Mr. … Doe, man hat mich beauftragt, eine vorübergehende Unterkunft für Sie zu finden, bis Sie Ihr Gedächtnis wiedererlangt haben.“ Sie wirkte plötzlich ganz sachlich, und er überlegte, womit er ihr wieder ein Lächeln entlocken könnte.

Dumm nur, dass ihm eigentlich gar nicht nach Scherzen zumute war. In seinem Kopf herrschte tiefe Dunkelheit, und das machte ihm zu schaffen. Die Leute vom Rettungsdienst hatten ihm erzählt, er hätte bereits Scherze gemacht, nachdem sie ihn aus den Schneemassen befreit hatten. Dass er sich an absolut nichts erinnern konnte, war ihm erst später aufgefallen. Er wusste nicht einmal, ob jemand ihn beim Skifahren begleitet hatte, der womöglich ebenfalls verschüttet war. Es hatte ihn beruhigt, dass das Suchgerät nur ihn aufgespürt hatte.

„Hat sich schon jemand nach mir erkundigt?“, fragte er.

„Erkundigt?“, fragte die hübsche Sozialarbeiterin.

„Na ja, Familie, Freunde …“

Lexi sah die Enttäuschung in seinem Gesicht und lächelte ihn mitfühlend an. „Sicher haben Ihre Angehörigen sofort eine Vermisstenmeldung aufgegeben, als der Bericht im Fernsehen kam. Aber wer weiß, wo und unter welchem Namen? Möglicherweise dauert es eine Weile.“

John Doe trat ans Fenster und blickte auf das Rotwildgehege hinter der Klinik. „Was soll ich denn inzwischen machen?“

Darauf hatte Lexi leider auch keine Antwort. Sie legte ihre Aktentasche auf den Tisch und trat neben ihn. Der Himmel war wolkenverhangen, passend zu der Stimmung im Krankenzimmer.

„Der Wetterdienst hat für heute einen Blizzard vorhergesagt.“ Das Wetter bot doch immer noch willkommenen Gesprächsstoff. „Das ist ungewöhnlich für Anfang April.“

Sie spürte, dass er sie von der Seite ansah, und unwillkürlich durchlief sie ein Kribbeln. Er duftete angenehm nach Seife und einem herben Aftershave. Sie betrachtete ihn aus dem Augenwinkel. Rachel hatte recht. Er war ausgesprochen attraktiv. Mit seinen 1,90 m, seiner sportlichen Figur und dem leicht gewellten braunen Haar war er genau ihr Typ. Ganz abgesehen von seinem Gesicht, das jedes Frauenherz zum Schmelzen bringen konnte.

„Wann soll es denn losgehen?“, fragte er.

Lexi sah ihn an. „Irgendwann am Nachmittag.“

„Angeblich bin ich gesund und kann entlassen werden.“

Seine Stimme klang neutral, doch Lexi bemerkte einen Anflug von Unsicherheit in seinen braunen Augen.

Sie lächelte ihm aufmunternd zu. „Das ist der erste Schritt zurück ins Leben.“ Es musste beängstigend sein, ohne Erinnerung durch die Welt gehen zu müssen. „Ich besorge Ihnen erst einmal eine Unterkunft, indem ich die Hotels und Makler in der Gegend anrufe.“

„Ich kann mithelfen, schließlich habe ich ja nichts anderes zu tun.“ Er deutete ein Lächeln an. „Außerdem ist das mein Problem und nicht Ihres.“

Lexi versuchte, sich gegen den Blick aus seinen warmen braunen Augen zu wappnen. „Das ist nett von Ihnen, aber es ist mein Job, Sie zu unterstützen. Wir bekommen auch immer einen Krankenhausrabatt.“

„Der Arzt meinte, ich hätte zweitausend Dollar bei mir gehabt. Geld spielt also vorerst wohl keine Rolle.“

„Trotzdem sollten Sie sparsam damit umgehen.“ Lexi wählte ihre Worte mit Bedacht, um ihn nicht zu verunsichern. „Vielleicht dauert es eine Weile, bis Ihre Familie sich meldet oder bis Sie Ihr Gedächtnis wiedererlangen.“

„Sie meinen, ich könnte irgendwann auf der Straße landen?“ Er lächelte belustigt. „Das wäre mir aber sehr unangenehm bei der Kälte.“

Lexi erwiderte sein Lächeln. Sie bewunderte die Gelassenheit, mit der er seine schwierige Situation zu bewältigen versuchte. Der physischen Anziehungskraft eines Mannes konnte sie normalerweise problemlos widerstehen, bei menschlichen Eigenschaften wie Humor, Mut und Herzenswärme fiel es ihr schon deutlich schwerer.

Aber sie würde widerstehen, denn für einen Mann war momentan kein Platz in ihrem Leben, selbst wenn er so charmant und attraktiv war wie John Doe.

Eine halbe Stunde später ließ Lexi sich frustriert in ihren Drehstuhl zurückfallen. „Wie kann es sein, dass sämtliche Hotels und Ferienwohnungen komplett ausgebucht sind?“ Sie sah John hilflos an.

Rachel platzte herein und ließ den Blick zwischen Lexi und John hin und her wandern. „Na, wie sieht’s aus? Wo werden Sie denn wohnen?“

„Nirgendwo, wie es scheint.“ John schenkte der hübschen Stationsschwester ein betörendes Lächeln.

Rachel sah sie erstaunt an. „Ist wirklich nichts frei?“

„Es liegt wohl an dem Blizzard.“ Lexi fuhr sich mit der Hand durch das Haar. „Die Urlauber haben alle verlängert, weil sie Angst haben, auf dem Nachhauseweg im Schnee stecken zu bleiben. Auch mit dem Flugzeug kommt keiner mehr hier weg, weil sämtliche Flüge gestrichen wurden.“

Rachel schien nicht sonderlich beeindruckt zu sein. „Trotzdem wird sich ja wohl ein Plätzchen für ihn finden.“

John sah Rachel treuherzig an. „Für einen armen Obdachlosen wie mich …“

Als Rachel kokett lachte, spürte Lexi einen eifersüchtigen Stich. Aber das war doch nicht möglich! Was war denn bloß mit ihr los? Sie wusste doch absolut nichts über diesen John Doe. Womöglich war er verheiratet und hatte ein paar Kinder.

„Ich habe eine Idee.“ Rachel sah Lexi an. „Was ist denn mit dem Wildwoods?“

Lexi schüttelte den Kopf. „Als ich heute Morgen losgefahren bin, war schon alles belegt.“

„Mrs. Landers Zimmer müsste doch frei geworden sein. Ihr Mann wurde heute Morgen entlassen, und sie wollten gleich nach Hause fahren. Sie haben es ja nicht weit und haben gehofft, es noch vor dem Sturm zu schaffen.“

„Wildwoods?“ John sah Rachel fragend an.

„Ein Bed and Breakfast, ungefähr zehn Meilen von hier. Lexi wohnt dort auch.“

„Sie wohnen in einem Bed and Breakfast?“, fragte John erstaunt.

„Ja“, erwiderte Lexi fröhlich. „Am Wochenende koche ich dort sogar für alle.“

Als kleines Mädchen hatte sie oft auf einem Schemel neben ihrer Mutter am Herd gestanden und in den Töpfen gerührt. Damals hatte sie sich noch nicht vorstellen können, wie nützlich ihr diese Erfahrung einmal sein würde. Um weniger Miete zahlen zu müssen, kochte sie an den Wochenenden und Feiertagen immer Menüs für die Gäste. Es machte ihr großen Spaß, und auf diese Weise kam sie mit ihrem nicht sehr üppigen Sozialarbeitergehalt gut über die Runden.

„Sie scheinen ja eine viel beschäftigte Frau zu sein.“ John musterte sie aufmerksam. Sein Blick hatte nichts von Mitleid oder Herablassung, sondern war eher bewundernd … und Lexi sah noch etwas anderes, ein gewisses Funkeln, wie sie es manchmal auch bei anderen Männern bemerkt hatte. Allerdings achtete sie kaum noch darauf.

„Ruf doch Coraline mal an“, schlug Rachel vor.

„Ja, das mache ich.“

Während Lexi die Nummer von Coraline Coufal, der Besitzerin des Wildwoods, wählte, hielt sie den Atem an.

Tatsächlich hatte Coraline in ihrer Pension noch ein Zimmer frei. Lexi atmete erleichtert auf, doch gleichzeitig kamen ihr Zweifel, ob es wirklich eine gute Idee war, John Doe in ihrer Nähe unterzubringen.

„Wir nehmen das Zimmer“, sagte sie zu Coraline, dann wandte sie sich lächelnd an John. „Glückwunsch, Sie brauchen wohl doch nicht auf der Straße zu übernachten.“

2. KAPITEL

Gegen Mittag fiel der Schnee bereits in dichten Flocken. John stand mit Rachel unter der Überdachung des Krankenhauseingangs und wartete darauf, dass Lexi ihren Wagen holte.

Ungeduldig trat er von einem Fuß auf den anderen. Irgendwie fühlte er sich nutzlos. Garantiert war er vor seinem Unfall ein viel beschäftigter Mann gewesen, sonst würde ihm das Nichtstun jetzt weniger ausmachen. „Ich hätte doch mit ihr zusammen zum Auto gehen können“, sagte er zu Rachel.

„Dann hätte ich aber Schwierigkeiten bekommen. Die Klinikregel besagt, dass Patienten am Eingang abgeholt werden müssen.“ Ein scharfer Nordwind blies ihnen ins Gesicht, und Rachel zog fröstelnd ihren Mantelkragen höher. „Ah, da kommt Lexi ja schon“, sagte sie erleichtert.

Ein älterer Kombi fuhr vor, und Rachel ging hin, um ihm die Beifahrertür zu öffnen, doch John kam ihr zuvor. „Ich mach das schon.“ Er klappte den Kofferraum auf und warf seine Reisetasche hinein, dann reichte er Rachel die Hand. „Danke für alles.“

Die Stationsschwester hielt seine Hand einen Moment lang fest. „Darf ich Ihnen einen Rat mit auf den Weg geben, John? Keine gefährlichen Abfahrten mehr.“

„Keine Sorge.“ John lachte. „Der Unfall war mir eine Lehre.“

Er öffnete die Beifahrertür und stieg ein.

Lexi warf ihm einen neugierigen Blick zu. „Was hat Rachel denn Lustiges gesagt?“

„Dass ich nicht mehr abseits der Skipisten fahren soll. Das wird mir garantiert nicht mehr passieren.“

Lexi startete den Motor und verließ das Klinikgelände. „Erinnern Sie sich denn noch an irgendetwas in dem Skigebiet?“

Überrascht fasste er sich an die Stirn. „Ja, ich habe ein Warnschild gelesen.“

„Waren Sie allein?“

„Das weiß ich nicht.“ Er lehnte den Kopf gegen die Rückenlehne und schloss die Augen.

Da waren zwar Bilder in seinem Kopf, aber vollkommen ohne Zusammenhang. Sie schwirrten einfach wild hin und her und schienen ihn zu necken.

„Immerhin können Sie sich bereits an eine Kleinigkeit erinnern“, sagte Lexi. „Das ist doch schon mal ein Anfang. Mein Vater hat immer gesagt, dass man oft ganz kleine Schritte machen muss, um ein Ziel zu erreichen.“

„Ihr Vater scheint ein kluger Mann zu sein.“

„Ja, ein ganz wunderbarer Mann.“ Lexi lächelte liebevoll.

„Erzählen Sie mehr von ihm.“

„Wieso?“

John sah aus dem Fenster. Die Gehwege waren bereits schneebedeckt. „Vielleicht kommen mir dann ja Erinnerungen an meine eigene Familie.“

„Meine Mutter starb an Krebs, als ich zwölf war.“ Lexi schaute konzentriert auf die schneeverwehte Straße. „Ich war das einzige Kind und habe sehr an ihr gehangen. Ich wusste damals nicht, wie ich ohne sie weiterleben sollte.“

Er spürte ihren Schmerz geradezu. Hatte er vielleicht auch einen solchen Verlust erlitten?

„Nach der Beerdigung habe ich mich ins Bett gelegt und wollte nicht mehr aufstehen. Aber mein Vater hat zu mir gesagt, dass wir das Ganze gemeinsam durchstehen würden. Wir müssten einfach einen Tag nach dem anderen versuchen, ohne sie klarzukommen. Er hat mich jeden Morgen in die Schule geschickt und ist selbst zur Arbeit gegangen, und irgendwie haben wir diese schlimme Zeit tatsächlich überstanden und irgendwann wieder angefangen zu leben.“

„Was macht Ihr Vater denn heute?“

Sie seufzte. „Er ist vor fünf Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“ Er sah sie von der Seite an. Ihre Miene zeigte keine Regung, doch ihre Hände umklammerten das Lenkrad fester. „Eine vereiste Straße.“

„Ist es hier in der Gegend passiert?“

„Nein, in Ohio. Von dort komme ich.“

„Jackson Hole ist aber weit weg von Ohio. Was hat Sie denn hierher verschlagen?“

„Ich habe hier eine Stelle gefunden. Vorher bin ich noch nie in Wyoming gewesen, aber als mein Dad tot war, hat mich nichts mehr in Ohio gehalten.“ Lexi wandte ihm kurz den Kopf zu und lächelte. „Aber jetzt genug von mir. Vielleicht fällt Ihnen ja etwas über Ihre Familie ein.“

„Leider nicht das Geringste.“ Er rieb sich die Schläfen.

„Haben Sie Kopfweh?“

Er zuckte mit den Achseln. „Manchmal sticht es.“

„Jedenfalls sehen Sie fantastisch aus. Niemand käme auf die Idee, dass Sie gerade knapp mit dem Leben davongekommen sind.“

Sie findet, ich sehe fantastisch aus. Sofort fühlte er sich besser.

„So, da sind wir.“ Lexi bog in einen Kiesweg ein, und Johns Blick wurde von einem imposanten Blockhaus angezogen. Es lag von Bäumen umgeben am Fuß eines Hügels.

„Ist das das Wildwoods?“

Lexi lächelte. „Ja, mein Schloss.“

„Es ist ja riesig.“

„Ja, ziemlich.“ Sie lächelte. „Letzten Sommer haben wir damit angefangen, hier Hochzeiten auszurichten.“

„Hochzeiten?“ Unvermittelt sah er sich im Smoking vor einem blumengeschmückten Altar stehen, aber das Bild verschwand so plötzlich, wie es gekommen war.

„Ja, Hochzeiten an Urlaubsorten sind voll im Trend. Sie glauben gar nicht, wie schön es bei uns im Sommer ist. Unser Garten steht dann in voller Blüte, und die Trauung kann im Freien stattfinden. Viele wollen die Zeremonie aber auch im Foyer abhalten, vor dem großen ummauerten Kamin, das ist auch sehr romantisch.“

Sie bekam daraufhin einen ganz verträumten Blick, und er fand sie immer bezaubernder. Eine Frau wie sie war doch sicher längst vergeben und er möglicherweise auch.

Was sie anbelangte, so war das jedenfalls leicht herauszufinden. „Arbeitet Ihr Mann auch in der Pension mit?“, fragte er so beiläufig wie möglich.

„Ich bin nicht verheiratet.“

„Geschieden?“

„Nie verheiratet gewesen.“

„Das überrascht mich aber.“ Dass er auch erleichtert war, verriet er ihr jedoch nicht. „Eine so hübsche Frau wie Sie hat doch sicher viele Verehrer.“

„Ich habe keine Zeit auszugehen.“ Lexi parkte das Auto neben dem Blockhaus.

Es schneite jetzt so heftig, dass man kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte. „Wir haben es offenbar gerade noch geschafft“, sagte John.

„Ja, gut, dass ich heute so früh weggekommen bin.“

Sie stiegen aus, und John holte seine Tasche aus dem Kofferraum. Die Tasche war mit dem Nötigsten für die nächsten Tage gefüllt, Unterwäsche, Jeans, T-Shirts, Pullover und Toilettenartikel. Die freundliche ältere Frau, die sie ihm heute Morgen gebracht hatte, hatte kein Geld dafür annehmen wollen. Bei Gelegenheit würde er dem Krankenhaus aber auf jeden Fall eine Spende zukommen lassen.

So schnell es in dem Schneetreiben möglich war, liefen sie ins Haus. Der Wind blies jetzt so heftig von der Seite, dass sie kaum vorwärtskamen. Einmal rutschte Lexi aus, und er hielt sie rasch am Arm fest. Ihre Pumps waren nicht gerade für diese Witterung geeignet.

Sie bedankte sich mit einem Lächeln bei ihm und ließ zu, dass er ihr die Treppe hochhalf. Kaum waren sie oben, flog auch schon die massive Holztür auf, und eine Frau mit grau meliertem Haar begrüßte Lexi mit besorgtem Blick. „Ich bin ja so froh, dass du da bist. Gerade haben sie in den Nachrichten gesagt, dass sämtliche Straßen gesperrt wurden.“

Während sie weiter mit Lexi über das Wetter redete, nahm die Frau ihnen die Jacken ab und hängte sie an einen kunstvoll geschnitzten Kleiderständer neben der Tür. John blickte sich in dem geräumigen Foyer mit der hohen Decke und den großen Fenstern um.

„Wie geht’s Addie, Coraline?“, fragte Lexi.

„Viel besser“, erwiderte Coraline. „Sie hat kein Fieber mehr.“

John fragte sich, ob Addie auch eine entlassene Krankenhauspatientin war. Aus Lexis erleichterter Miene schloss er aber, dass ihr sehr am Wohlergehen dieser Person gelegen war.

„Ich bin übrigens Coraline Coufal.“ Die ältere Frau streckte John mit warmherzigem Lächeln die Hand hin. „Willkommen im Wildwoods.“

John nahm ihre Hand. „Ich bin Jack. Jack Snow.“

Lexi hob erstaunt die Augenbraue, sagte aber nichts.

„Wir freuen uns, Sie als Gast bei uns zu haben, Mr. Snow.“ Auch Coralines Blick verriet Neugier, doch sie stellte keine Fragen. „Ich hole Ihnen schnell den Schlüssel und dann zeige ich Ihnen Ihr Zimmer.“

Als sie weg war, murmelte Lexi: „Jack Snow?“

„Das gefällt mir besser als John Doe. Snow passt ja auch zu dem gegenwärtigen Wetter.“

„Nett, Ihre Bekanntschaft zu machen, Jack.“ Lexi gab ihm die Hand.

Coraline kam nun eilig mit dem Schlüssel zurück. „Wir haben so viel zu tun“, schnaufte sie. In diesem Moment hüpfte ein kleines dunkelhaariges Mädchen im Flanellnachthemd die Treppe herunter und lief auf Lexi zu. „Mommy, Mommy.“

Ein Lächeln erhellte Lexis Gesicht. Sie öffnete die Arme und drückte ihre kleine Tochter fest an sich. „Ich bin ja so froh, dass es dir besser geht, mein Schatz.“ Sie drehte Jack den Kopf zu. „Jack, darf ich Ihnen meine Tochter vorstellen? Addison Brennan.“

Lexi war unsicher gewesen, wie John oder Jack darauf reagieren würde, dass sie eine Tochter hatte. Doch er zuckte mit keiner Wimper, sondern streckte dem kleinen Mädchen nur die Hand hin.

„Addison ist aber ein wunderschöner Name …“ Ihre kleine Hand verschwand in seiner. „… für ein wunderhübsches Mädchen.“

Addie kicherte. „Ich werde aber Addie gerufen. Wie heißt du?“

„Jack Snow.“

Wieder kicherte das Kind. „Das ist aber ein komischer Name.“

„Ja, finde ich auch“, erwiderte Jack, bevor Lexi etwas einwenden konnte. „Wie alt bist du denn, Addie?“

„Sieben“, antwortete die Kleine stolz. „Ich bin schon in der zweiten Klasse.“

„Super.“

„Meine Lehrerin heißt Mrs. Kohtz. Sie hat zu Mommy gesagt, dass ich ein cleveres Mädchen bin.“

„Ja, ein bisschen zu clever“, murmelte Lexi leise.

Jack neigte den Kopf. „Ich habe gehört, du seist krank.“

„Ich hatte Fieber, aber jetzt ist es wieder gut.“

„Das kann ich sehen.“ Sein Blick wanderte zu ihren Füßen hinunter. „Deine Häschen-Pantoffeln gefallen mir.“

„Die hab ich zum Geburtstag bekommen.“ Sie schüttelte einen Fuß, sodass die Plüschohren hin und her flogen.

Erstaunt beobachtete Lexi die Konversation. Addie hatte nicht viel Kontakt zu Männern, aber sie schien Jacks ungeteilte Aufmerksamkeit sehr zu genießen.

„Lexi?“

Als sie aufsah, waren nicht nur Coralines Augen auf sie gerichtet, sondern auch Addie und Jack sahen sie neugierig an.

„Ich habe gerade gefragt, ob wir gleich alle zusammen bei mir zu Mittag essen sollen?“

Lexi fand, dass ihr Job eigentlich erledigt war. Schließlich hatte sie eine Bleibe für Jack gefunden. Alles andere ging sie nichts mehr an. Niemand würde es ihr verdenken, wenn sie ablehnte.

„Bitte, Mommy, können wir mit Jack zusammen essen?“, bettelte Addie.

Jack schwieg, doch sein hoffnungsvoller Blick rührte Lexi instinktiv. Er hatte sein Gedächtnis verloren und um ein Haar sein Leben. Wenn ihr das passiert wäre, würde sie sich dann nicht auch über ein wenig Mitgefühl freuen? „Von mir aus sehr gern“, erwiderte sie deshalb.

Addie gab einen lauten Juchzer von sich, und Jack machte ein erfreutes Gesicht.

„Sagen wir in einer halben Stunde?“, fragte Coraline. „Dann können Sie noch Ihre Sachen auspacken, Jack. Ich bringe Sie jetzt erst mal auf Ihr Zimmer.“

„Ich gehe mit Addie nach oben und ziehe sie an“, sagte Lexi.

„Aber meine Häschen-Slipper will ich anbehalten“, rief Addie.

„Ausnahmsweise. Aber du weißt, dass du nicht im Nachthemd hier rumlaufen sollst. Das ist nicht unser Zuhause.“

„Sie haben erwähnt, dass Sie in einem Cottage wohnen“, meinte Jack. „Ist es weit von hier?“

„Nein, aber bei diesem Wetter ist es kein Spaß, dorthin zu laufen.“

„Sie können gern für heute Nacht mein Zimmer haben, wenn Sie mit Addie hierbleiben möchten, dann lege ich mich irgendwo auf ein Sofa.“

„Nicht nötig“, wandte Coraline ein. „Lexi und Addie haben bei mir ein Gästezimmer.“

„Und die Gäste in den anderen Cottages?“, fragte Jack. „Sind die in dem Schneesturm denn sicher?“

„Ja, die Cottages sind alle mit Vorräten und Kaminen ausgestattet“, erwiderte Coraline.

„Vielleicht habe ich ja in einem Cottage gewohnt“, sagte Jack leise, wie zu sich selbst … so als hätte die Unterhaltung neue Bilder in ihm wachgerufen.

Lexi beschloss, ihm eine Pause zu gönnen. „Komm, mein Schatz.“ Sie nahm ihre Tochter an die Hand. „Wir ziehen dich jetzt an, und dann gehen wir zum Lunch. Ich habe nämlich einen Bärenhunger.“

„Ich auch“, sagte Addie. „Und du?“ Sie sah Jack erwartungsvoll an.

„Und wie. Hörst du denn nicht, wie mein Magen knurrt?“

Addie kicherte, und Lexi lachte, obwohl bei ihr sämtliche Alarmglocken schrillten. Der Mann war einfach in jeder Hinsicht faszinierend. Viel zu faszinierend.

Für einen solchen Mann gab es in ihrem Leben absolut keinen Platz.

Es war nicht viel, was Jack auszupacken hatte, aber es genügte ihm für den Anfang. Wo sich sein eigenes Gepäck befand und wo er überhaupt herkam, würde er hoffentlich bald herausfinden. Spätestens wenn seine Erinnerung zurückkehrte oder wenn seine Angehörigen sich meldeten. Aber vorerst hatte er ein Dach über dem Kopf und würde gleich mit einer schönen Frau und ihrer bezaubernden Tochter etwas essen.

Nachdem Lexi im Krankenhaus beim Anblick seines nackten Oberkörpers rot geworden war, hatte er sie für etwas prüde gehalten. Eine dieser schönen Frauen, die aus unerfindlichen Gründen nur wenig Erfahrung mit Männern hatten. Doch dieses Bild hatte er revidieren müssen, als sie ihm ihre kleine Tochter vorgestellt hatte. Die ihr im Übrigen bis aufs Haar glich.

Er blickte aus dem Fenster in das Schneetreiben. Es hatte ihm Spaß gemacht, mit dem kleinen Mädchen zu scherzen. Er hatte sich dabei so locker und entspannt gefühlt, als ob er öfter mit Kindern zu tun hätte. Ob er auch Kinder hatte? Oder eine Frau? Einen Ring trug er nicht, aber den hatte er vielleicht im Schnee verloren.

Er stützte die Hände auf die Fensterbank und legte die Stirn an die kühle Scheibe. Mit geschlossenen Augen versuchte er, sich an irgendetwas zu erinnern, aber in seinem Kopf herrschte absolute Leere. Es kam ihm so vor, als hätte sein Leben von vorne begonnen, nachdem die Rettungsleute ihn aus der Lawine befreit hatten.

Der Psychiater in der Klinik hatte ihm geraten, nichts zu erzwingen, sondern geduldig abzuwarten, bis die Erinnerung allmählich von selbst wiederkam. Er fragte sich, wie lange das wohl dauern würde. Geduld zählte anscheinend nicht zu seinen Stärken.

Vielleicht gab es ja einen Grund, warum er sich an nichts erinnerte. Diese Bemerkung des Psychiaters hatte ihn seltsamerweise sehr betroffen gemacht. Womöglich war er beim Skifahren nicht allein gewesen – vielleicht war ein Freund, eine Frau oder sogar ein Kind dabei ums Leben gekommen.

Allerdings hatte der Leiter der Rettungsmannschaft ihm versichert, dass sie keine Spuren von anderen Verunglückten gefunden hätten. Also war er vermutlich allein gewesen. Aber warum war er das gewesen, besonders in so einem gefährlichen Gebiet?

War in seinem Leben etwas passiert, vor dem er geflüchtet war? Ein Streit mit seiner Frau oder seiner Freundin? Oder war er einfach ein unangenehmer Zeitgenosse, der nicht viele Freunde hatte? Wieso suchte denn niemand nach ihm?

Durch das lange Starren in die dichten Schneeflocken flimmerte es vor seinen Augen, und sein Kopf begann zu schmerzen. Tausend Fragen schwirrten darin herum, doch keine einzige Antwort.

Er rieb sich den Nacken, um die Anspannung ein wenig zu lindern, dann knurrte plötzlich sein Magen und erinnerte ihn an die Einladung zum Lunch.

Seine Mundwinkel zuckten. Zumindest dieses Problem war leicht zu lösen.

„Es hat wirklich köstlich geschmeckt.“ Mit einem zufriedenen Seufzer lehnte sich Jack in seinem Stuhl zurück. „Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals so gut gegessen zu haben.“

Lexi und Coraline wechselten einen amüsierten Blick.

„Lacht nur“, sagte Jack grinsend. „Mir ist schon klar, dass ich mich nur noch an das Krankenhausessen von gestern erinnern kann. Aber immerhin weiß ich jetzt, dass ich gutes Essen zu schätzen weiß. Das ist doch auch schon mal was.“ Er lächelte die beiden Frauen an.

„Danke, Jack. Freut mich, dass es Ihnen geschmeckt hat.“ Coraline stand auf. „Ob ihr’s glaubt oder nicht, ich muss jetzt schon das Abendessen vorbereiten.“

„Ich helfe dir“, bot Lexi ihr an und wollte aufstehen, doch Coraline legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie in den Stuhl zurück. „Du darfst dich jetzt entspannen und dich danach um deine Tochter kümmern.“

„Aber ich will mit Sarah spielen“, wandte Addie mit nörgelnder Stimme ein. „Du hast mir versprochen, dass ich mit ihr spielen darf, wenn ich wieder gesund bin.“

„Addison, hör auf zu jammern.“ Lexi wandte sich an Jack. „Sarah ist in Addies Alter. Ihr Vater hat in Jackson öfter Geschäftstermine, deshalb ist sie mit ihrer Mutter übers Wochenende hierhergekommen.“ Lexi sah ihre Tochter an. „Gut, du kannst heute Nachmittag mit Sarah spielen. Aber danach machen wir etwas zusammen, ja?“

„Okay.“ Sofort sprang Addie vom Tisch auf, doch Lexi hielt sie am Arm fest. „Und was sagst du zu Coraline?“

Das kleine Mädchen machte ein irritiertes Gesicht.

„Danke“, flüsterte Jack hinter vorgehaltener Hand, woraufhin Addies Augen strahlten. „Danke Coraline, das Essen war echt super“, rief sie und rannte dann hinaus.

Während Lexi ihrer quirligen Tochter kopfschüttelnd hinterher sah, floss ihr Herz mal wieder über vor Liebe. Heute konnte sie absolut nicht mehr nachvollziehen, dass sie einmal gehofft hatte, der positive Schwangerschaftstest sei nur ein Irrtum. Was wäre ihr Leben schließlich ohne Addie?

Coraline begann nun den Tisch abzuräumen, und Lexi wollte ihr zumindest dabei noch ein wenig zur Hand gehen, doch als sie aufstehen wollte, stand plötzlich Jack hinter ihr und zog ihr fürsorglich den Stuhl zurück. „Bitte sehr“, sagte er.

Lexi lächelte. „Danke. Selten, dass man noch so einen Gentleman trifft.“

„Ja, vielleicht bin ich einer“, sagte er nachdenklich. „Ich hoffe es zumindest.“

Lexi empfand plötzlich Mitgefühl für ihn. Wie schlimm musste es sein, sich plötzlich selbst nicht mehr zu kennen?

Trotz Coralines Protest räumte Lexi die Gläser ab, während Jack sich das Besteck vornahm.

Coraline sah auf die Uhr. „Ich will euch ja nicht rausschmeißen, aber …“

„Du willst das Dinner vorbereiten, ich weiß“, sagte Lexi lächelnd. „Jack und ich finden sicher etwas anderes, womit wir uns beschäftigen können.“

Draußen im Foyer blieb Jack stehen. „Sie brauchen sich nicht um mich zu kümmern, Lexi. Bestimmt haben Sie mit Ihren eigenen Sachen schon genug zu tun.“

Doch Lexi hatte plötzlich gar nicht mehr das Bedürfnis, ihn loszuwerden. Ganz im Gegenteil. Sie sah ihn direkt an. „Wenn Sie lieber allein sein möchten, kann ich das gut verstehen, aber falls Sie die Befürchtung haben, mir zur Last zu fallen, ist das wirklich unnötig. Wenn ich anderweitig beschäftigt wäre, würde ich es Ihnen sagen.“

„Sie sind genauso forsch wie Ihre Tochter.“ In seinen Augen blitzte Bewunderung auf.

„Aber wenn ich irgendwann auch anfange, wie ein Irrwisch herumzuwirbeln, dann bremsen Sie mich bitte.“ Sie lächelte ihn schelmisch an.

Er lachte. „Und was machen wir beide jetzt?“

Ihre Blicke trafen sich, und für einen Moment schien die Welt stillzustehen. Das Stimmengewirr der Gäste aus dem Speisesaal drang nur noch wie aus weiter Ferne an Lexis Ohr, während sie sich in den Tiefen seiner braunen Augen verlor. Als er näher kam und ihr über das Haar strich, kam ihr das seltsamerweise ganz selbstverständlich vor. Sein Blick wanderte zu ihren Lippen, die sofort zu prickeln anfingen.

Wie es wohl wäre, seinen verlockenden Mund zu küssen?

Vielleicht ist er verheiratet!

Dieser Gedanke traf sie wie ein Peitschenhieb. Erschrocken trat sie einen Schritt zurück, und seine Hand blieb in der Luft hängen.

„Also, wie verbringen wir die nächsten zwei Stunden?“, fragte sie betont nüchtern.

„Ich bin für alles offen, was mir hilft, mich zu erinnern.“

Während sie den Korridor hinunter in den Salon gingen, erwog Lexi verschiedene Möglichkeiten. Bei dem Schneetreiben draußen waren sie allerdings auf das Haus beschränkt. „Ich habe eine Idee. Kennen Sie dieses Spiel, bei dem man sich gegenseitig besser kennenlernt? Vor ein paar Jahren war das ziemlich in.“

Um seine Mundwinkel herum zuckte es. „Sie sind wirklich lustig. Wie soll ich mich an so etwas denn erinnern, wenn ich nicht mal mehr meinen Namen weiß?“

Lexi lachte. „Guter Einwand.“

„Aber Sie können mir das Spiel ja trotzdem erklären.“ Jack stellte sich vor den Kamin und hielt die Hände über das Feuer.

„Es ist ein Kartenspiel mit Fragen, die jeder Spieler beantworten muss“, sagte Lexi. „Die Fragen sind so konzipiert, dass sie auf die Psyche des jeweiligen Gegenspielers zielen, um seine Überzeugungen, seine Träume und Ähnliches herauszufinden. Ich habe es öfter mit Freunden gespielt und war jedes Mal ganz erstaunt, was ich dabei über sie erfahren habe … und auch über mich selbst.“

„Hört sich interessant an“, sagte er. „Haben Sie die Karten hier?“

Sie erschrak. „Oje. Die liegen in meinem Cottage.“

„Dann können wir das Spiel wohl für heute streichen.“ Er kam auf sie zu. „Fällt Ihnen vielleicht noch etwas anderes ein?“

Er stand jetzt dicht vor ihr, und Lexis Herz fing heftig an zu pochen. Ihr fiel so manches ein, aber das wollte sie bestimmt nicht laut sagen …

„Sie haben eine Idee, das sehe ich an Ihrem Blick“, sagte er mit seiner wohlklingenden Stimme.

Sie wand sich vor Verlegenheit, während sie krampfhaft versuchte, an etwas anderes zu denken als daran, ihn zu küssen. Plötzlich kam ihr der rettende Einfall. „Ich müsste noch Hochzeitseinladungen aussuchen. Hätten Sie vielleicht Lust, mir dabei zu helfen?“

Jack stand da wie erstarrt. Hatte Lexi ihm nicht vorhin erzählt, dass sie weder verheiratet noch liiert war? Oder war das dem Nirwana seines Gehirns entsprungen? „Wann ist denn der glückliche Tag?“

„Oh, die sind nicht für mich. Meine Freundin Mimi heiratet.“

Jack runzelte die Augenbrauen. Die Unterhaltung wurde immer verworrener. „Normalerweise suchen doch die Brautleute ihre Einladungskarten selbst aus.“

„Ah, Sie kennen sich offenbar mit Hochzeiten aus.“ Lexi winkte zwei älteren Damen zu, die gerade an einem runden Fenstertisch Platz nahmen, um ihren Tee zu trinken. „Mimi und Hank können sich einfach nicht einigen, und da die Karten schon nächste Woche verschickt werden sollen, haben sie es mir überlassen, sie auszusuchen.“

Jack verzog skeptisch den Mund. „Ich finde, wenn zwei Leute, die sich angeblich lieben, sich nicht mal bei so einer Kleinigkeit einigen können, sollten sie besser nicht heiraten.“

Lexi zuckte mit den Achseln. „Einladungskarten auszusuchen ist aber auch wirklich nicht einfach.“

Im Grunde konnte es Jack ja gleichgültig sein, doch irgendwie reizte es ihn, weiter zu argumentieren. „Wie sollen wir beide es denn dann schaffen, uns auf eine Karte zu einigen? Wir haben uns schließlich gerade erst kennengelernt.“

„Ganz einfach: Weil es nicht unsere Hochzeit ist. Wir sind nicht emotional involviert und können deshalb ganz neutral entscheiden.“

„Okay, versuchen wir es. Wir werden ja sehen, ob es klappt.“

Lexi drehte sich um und lief aus dem Salon.

„Hey“, rief er ihr hinterher. „Wo gehen Sie denn hin?“

„Ich hole nur schnell Coralines Laptop“, rief sie über die Schulter hinweg.

„Die ist viel zu verschnörkelt.“ Abfällig studierte Jack eine der Musterkarten im Internet.

Lexi zählte im Stillen bis zehn. Wenn sie geglaubt hatte, er würde einfach ihren Vorlieben folgen, hatte sie sich aber getäuscht.

Mimi hatte ihr vorgeschlagen, beim Aussuchen so zu tun, als sei sie selbst die Braut. Dummerweise hatte sie nun den männlichen Gegenpart mit ins Spiel gebracht, und der hatte offenbar vollkommen andere Ansichten. Sie bevorzugte verspielte Motive, er wollte es lieber schlicht. Nachdem sie hin und her diskutiert hatten, dachte Lexi noch einmal nach. Die Trauung sollte am Nachmittag stattfinden, in einem Garten. Es war also keine förmliche Zeremonie.

Fatalerweise gab es aber auch für ein solches Ambiente eine Unmenge an Vorschlägen. Nach langem Hin und Her einigten sie sich schließlich auf eine cremefarbene Karte mit stilisierter Blüte.

Schließlich musste noch die Schriftart ausgewählt werden. Lexi hatte sich spontan für eine verschnörkelte Schrift entschieden. Schon vor Jahren hatte sie sich in diese Schriftart verliebt. Damals hatte sie sich noch darauf gefreut, Drew zu heiraten, und in ihrer Fantasie bereits die Hochzeit vorbereitet. Leider war dann nichts daraus geworden.

„Diese Schrift passt doch überhaupt nicht zu dem schlichten Motiv“, meinte Jack und zerstörte damit von Neuem ihre Illusion. Unvermittelt kamen ihr die Tränen. Sie presste rasch die Augen zusammen und räusperte sich. „Sorry, ich musste gerade an früher denken. Damals habe ich auch noch von einer großen Hochzeit geträumt und mir diese Schrift für meine eigenen Einladungskarten ausgesucht.“

Spontan griff Jack nach ihrer Hand. „Dann nehmen wir diese Schrift.“

Seine Großherzigkeit rührte sie, aber nüchtern betrachtet hatte er mit seinem Einwand ja durchaus recht.

„Nein.“

„Nein?“

„Die Schrift passt wirklich nicht zu der zwanglosen Feier. Wir suchen lieber eine neutrale aus, die uns beiden gefällt.“

Nach einer weiteren Viertelstunde hatten sie sich endlich geeinigt, und Lexi bestellte die Karten. Dann klappte sie den Laptop zu und lächelte Jack an. „Vielen Dank. Sie waren mir eine große Hilfe.“

„Ich weiß nicht recht …“

„Doch, Sie waren ehrlich“, sagte Lexi, „und es kam mir so vor, als hätten Sie eine solche Situation schon mal erlebt.“

„Wer weiß …“

Das Zögern in seiner Stimme ließ Lexi aufhorchen. „Ist Ihnen eine Erinnerung gekommen?“

Er mied ihren Blick.

„Sie können ganz offen zu mir sein.“

„Ich erinnere mich an eine Hochzeit. Ich hatte einen Smoking an.“ Seine Brauen zogen sich zusammen. „Aber der Altar war mit Rosen geschmückt. Mit Rosen. Das ergibt keinen Sinn.“

„Aber Rosen sind doch durchaus üblich bei Hochzeiten. Mir gefallen die weißen am besten.“

„Ich hasse Rosen aber“, platzte es aus ihm heraus. „Dieser süßliche Geruch macht mich ganz krank.“

Lexi zwang sich zu einem neutralen Tonfall. „Dann war es vielleicht nicht Ihre eigene Hochzeit … oder Ihre Angetraute wollte unbedingt Rosen haben.“

Seine Miene war ausdruckslos. „Ich fühle mich aber nicht verheiratet.“ Er sah Lexi fragend an. „Wenn ich vor dem Altar gestanden hätte, würde ich mich doch daran erinnern, oder?“

„Ich weiß es nicht. Ein Psychologe könnte sicher mehr dazu sagen.“

„Wenn ich eine Frau hätte, würde sie doch bestimmt nach mir suchen.“

„Nicht, wenn sie Ihre Ex-Frau wäre.“

Ein verzweifelter Ausdruck erschien nun in seinen Augen. „Ich will mich endlich erinnern können.“

„Ich weiß. Das muss schrecklich für Sie sein.“ Lexi legte ihm die Hand auf den Arm. „Sie sind von dieser Lawine ziemlich herumgewirbelt worden. Haben Sie Geduld. Ihr Gedächtnis wird schon bald zurückkommen.“

„Sie haben ja recht.“ Er lachte trocken auf. „Vermutlich war ich schon immer ein ungeduldiger Mensch.“

Lexi lächelte schelmisch. „Gut möglich.“

Er betrachtete sie forschend. „Sie sind ein sehr netter Mensch, Lexi. Ich danke Ihnen für alles, was Sie für mich getan haben, und ich würde Ihnen so gern auch einen Gefallen tun.“

Sie erhoben sich nun beide.

„Blumen“, sagte Lexi plötzlich.

„Eine gute Idee. Was sind denn Ihre Lieblingsblumen?“

„Nicht für mich. Nächsten Montag bin ich mit der Floristin verabredet, um die Blumen für Mimis Hochzeit auszusuchen.“

„Lassen Sie mich raten, ich soll dann wieder den männlichen Part übernehmen?“

Sie lächelte ihn kokett an. „Man könnte denken, Sie seien Hellseher, Mr. Snow.“

„Da mögen Sie recht haben, Ms. Brennan. Ich weiß nämlich jetzt schon, dass es ganz bestimmt keine Rosen sein werden.“

3. KAPITEL

Nach einem langen erholsamen Schlaf öffnete Jack die Augen. Draußen strahlte die Sonne von einem wolkenlosen blauen Himmel. So als hätte es den Blizzard am Tag zuvor gar nicht gegeben.

Er streckte sich genüsslich. Das Bett war wirklich äußerst komfortabel. Auch das Zimmer gefiel ihm ausnehmend gut. Die Einrichtung war sehr geschmackvoll, und das große Fenster gab den Blick auf die schneebedeckten Berge frei.

Nach den anstrengenden beiden Tagen nach dem Unfall hatte er den Schlaf dringend nötig gehabt. Niemand würde es ihm verübeln, wenn er noch liegen bliebe, doch er beschloss aufzustehen und schwang beherzt die Beine aus dem Bett. Die Kälte im Zimmer vertrieb auch noch den letzten Rest von Müdigkeit. Er atmete tief durch. Ein neuer Tag, ein neuer Anfang.

„Mein Name ist …“ Er wartete, ob sein Name aus der Versenkung auftauchte, doch ihm fiel nur Jack Snow ein.

Er fluchte leise. Wie konnte jemand sein ganzes Leben vergessen? Seine komplette Existenz? Kopfverletzungen passierten doch täglich, aber kaum einer verlor dabei sein Gedächtnis. Zum Teufel noch mal.

Mit großen Schritten lief er im Zimmer umher, um sich zu beruhigen. Aber es hatte überhaupt keinen Zweck, sich aufzuregen oder zu jammern. Davon würde seine Erinnerung bestimmt nicht zurückkommen. Er konnte nur abwarten und hoffen.

Immerhin hatte sein Gedächtnisverlust auch eine gute Seite. Er konnte in dieser wundervollen Umgebung wohnen und einen Teil der Zeit mit Lexi verbringen. Es würde ihm allerdings schwerfallen, ihr keine Avancen zu machen. Doch das sollte er besser sein lassen, solange er nicht wusste, ob er in einer Beziehung lebte oder nicht. Davon einmal abgesehen würde Lexi sich ohnehin nicht auf eine kurze Affäre einlassen, falls er sie richtig einschätzte.

Sobald er sein Gedächtnis wiedererlangt hatte, würde er in sein altes Leben zurückkehren, das war ihnen beiden klar. Plötzlich überkam ihn ein Gefühl von Dringlichkeit. Irgendetwas Wichtiges hatte er noch zu erledigen gehabt. Aber weshalb war er dann in Urlaub gefahren?

War er das denn wirklich? Wieso kam er jetzt plötzlich darauf? Vielleicht war es ja auch nur ein Wochenendtrip gewesen.

Eine leise Melodie tönte durch das Haus. Es dauerte eine Weile, bis ihm einfiel, dass es das Zeichen zum Essen war. Im selben Moment stieg ihm der verlockende Duft von Kaffee in die Nase. Rasch zog er sich Jeans und Sweatshirt an und lief die Treppe hinunter.

Plötzlich hatte er Glockengeläut im Ohr, und ein altes Gebäude kam ihm in den Sinn. Es lag, von Efeu umrankt, in einem Park.

Wieder erklang das melodische Bimmeln, und das Bild verschwand so rasch wieder, wie es gekommen war. Doch immerhin war es ein kleiner Anfang, der ihm Mut machte.

Er konnte es kaum erwarten, Lexi davon zu erzählen.

Samstags gab es für Lexi immer viel zu tun, aber heute fand sie es besonders hektisch. Die Gäste schienen außergewöhnlich großen Hunger zu haben. Ständig verlangten sie neuen French Toast.

Lexi tunkte eine dicke Toastscheibe in den Teig aus Eiern und Milch und legte sie dann zu den anderen auf das Backblech. Während sie in der Küche werkelte, musste sie die ganze Zeit über an Jack denken. Sie war gespannt zu erfahren, wie es ihm heute ging. Aber vor allem freute sie sich darauf, wieder etwas mit ihm gemeinsam zu unternehmen. Das Aussuchen der Einladungskarten hatte ihr großen Spaß gemacht.

„Wir brauchen noch einen Teller French Toast“, rief Coraline nun an der Küchentür.

„Gerade ist ein neues Blech fertig geworden.“ Lexi griff nach den Topflappen, zog das Blech aus dem Backofen und stellte es auf einen Rost. Mit dem Pfannenwender beförderte sie die duftenden Eiertoasts auf eine große Platte und reichte sie Coraline.

„Hm, die sind super geworden.“ Coraline strahlte. Selbst in dem Samstagmorgentrubel vermittelte sie stets den Eindruck einer Frau, die ihren Job liebte.

Lexi machte es ebenfalls großen Spaß, zu kochen und die Gäste zu verwöhnen. Ihre Arbeit im Krankenhaus gefiel ihr aber mindestens genauso gut. Sie war gerne Sozialarbeiterin, denn auch dabei hatte sie viel mit Menschen zu tun.

Alles in allem war Lexi mit ihrem Leben vollkommen zufrieden. Sie hatte eine süße kleine Tochter und einen netten Freundeskreis. Bisher hatte sie noch nie das Gefühl gehabt, dass ihr ein Mann fehlte.

„Dachte ich mir doch, dass ich Sie hier finde.“

Lexi zuckte zusammen. Diese Stimme ging ihr sofort durch Mark und Bein. Sie drehte sich um und lächelte den Mann, der im Türrahmen stand, etwas gezwungen an. „Kann ich was für Sie tun, Todd?“

Todd Cox war ein Geschäftsmann aus Idaho, der immer im Wildwoods übernachtete, wenn er geschäftlich in Jackson zu tun hatte. Er war geschieden, Vater von zwei Kindern und verfügte über ein sehr ausgeprägtes Ego.

Jedes Mal, wenn sie ihn zu Gesicht bekam, fragte er sie, ob sie nicht mit ihm ausgehen wollte. Von ihrem wiederholten Nein hatte er sich bisher leider nicht abschrecken lassen. Anscheinend war er es gewohnt, seinen Willen zu bekommen.

„Hallo Lexi, Sie sehen heute wieder zum Anbeißen aus.“ Wie ein Pfau stolzierte er in die Küche und stellte sich direkt neben sie.

„Bitte lassen Sie diese plumpen Annäherungsversuche, Todd.“ Sie sagte es nicht unfreundlich, aber in einem bestimmten Tonfall. „Gäste sind außerdem in der Küche nicht erlaubt.“

Jack, der gerade die Treppe herunterkam, hörte das Gespräch und fragte sich, wieso Lexi den unverschämten Kerl nicht einfach hinauswarf. Er stellte sich unauffällig neben die halb offene Küchentür und sah, dass der Mann an der Anrichte lehnte und Lexi ungeniert musterte.

„Ach, Coraline ist da nicht so streng“, wiegelte Todd ab. „Immerhin bin ich einer ihrer Stammgäste und bringe ihr eine Menge Geschäftskunden ins Haus.“

Nun verstand Jack, warum Lexi so freundlich blieb. „Wie Sie sehen, Todd, bin ich sehr beschäftigt. Können Sie bitte etwas beiseite gehen?“ Sie öffnete die Backofentür und schob das neue Blech hinein.

„Ich habe gehört, dass heute Abend eine Benefizveranstaltung zugunsten der Tafel für Hilfsbedürftige stattfindet … im Spring Gulch Country Club, mit Dinner und Tanz. Wir könnten doch zusammen hingehen.“

„Hören Sie, Todd …“

„Nein, nein, Lexi“, unterbrach er sie. „Dieses Mal lasse ich keine Ausrede gelten. Die Straßen sind mittlerweile geräumt, und der Fahrt in die Stadt steht somit nichts mehr im Wege. Ich warte um sieben Uhr im Foyer auf Sie.“

Als er Anstalten machte, Lexi ein Küsschen auf die Wange zu drücken, konnte Jack nicht mehr an sich halten. Er betrat die Küche, schob den Mann beiseite und legte besitzergreifend den Arm um Lexis Schultern. „Hey, Lex, warum hast du mich heute Morgen denn nicht geweckt?“, fragte er und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

Ihren erstaunten Blick ignorierend, drehte er sich zu Todd um und streckte ihm freundlich die Hand hin. Den Impuls, dem Mann einfach einen Kinnhaken zu verpassen, unterdrückte er wohlweislich. „Jack Snow“, sagte er, „Lexis … Lebensgefährte … und Sie sind?“

Das schockierte Gesicht des anderen erfüllte ihn mit Genugtuung.

„Todd Cox“, sagte der Mann und musterte Jack argwöhnisch. „Wieso habe ich Sie denn bisher noch nicht kennengelernt?“

Jack spürte, wie Lexis Schultern sich unter seinem Arm anspannten. „Gibt es denn einen Grund, warum wir uns kennenlernen sollten?“, fragte er.

Lexi gab einen Laut von sich, der sich verdächtig nach einem unterdrückten Kichern anhörte.

„Nein“, entgegnete Todd brüsk und wandte sich zum Gehen. An der Tür drehte er sich noch einmal zu Lexi um. „Übrigens, wenn Sie Ihren Job behalten wollen, rate ich Ihnen, sich nicht von Ihrem neuen Freund ablenken zu lassen“, sagte er mit einem süffisanten Grinsen. „Da qualmt nämlich was in Ihrem Backofen.“

Mit einem Aufschrei wirbelte Lexi herum, zog eilig das Blech aus dem Ofen und beförderte die verbrannten Brote in den Mülleimer.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte Jack.

„Nicht nötig, da ist eh nichts mehr zu retten.“ Ohne Jack eines Blickes zu würdigen, machte sich Lexi daran, neue Toastbrote in den Eierteig zu tunken und auf ein vorbereitetes Blech zu legen. Zum Glück hatte sie genügend Teig gemacht.

Jack stand unschlüssig in der Küche. Irgendwie hatte er das Gefühl, gerade alles falsch gemacht zu haben.

Nachdem Lexi das neue Blech in den Ofen geschoben hatte, drehte sie sich zu ihm um und funkelte ihn wütend an. „Im Übrigen kann ich sehr gut auf mich selbst aufpassen. Es war absolut unnötig, sich einzumischen und den großen Macker herauszukehren.“

Ihre Stimme zitterte vor Empörung, und Jack fühlte sich schuldig. Seine gut gemeinte Einmischung hatte offenbar das genaue Gegenteil bewirkt. „Er hat Sie belästigt, und das hat mich geärgert.“ Er zuckte mit den Achseln. „Vielleicht habe ich da ein wenig übertrieben.“

„Ein wenig?“ Lexis Stimme klang leicht schrill. „Sie haben Todd erzählt, Sie seien mein Lebensgefährte.“

Nun war Jack vollends verwirrt. „Ich hatte den Eindruck, dass Sie ihn verabscheuen. Tut mir leid, falls Sie ihn …“

„Nein“, unterbrach sie ihn harsch. „Ich mag ihn nicht, aber ich kann mit ihm umgehen. Das Letzte, was ich gebrauchen kann, sind Gerüchte über mein Liebesleben. Ich will nicht, dass die Leute denken, ich würde mit jedem ins Bett gehen. Das würde nicht nur Coralines Geschäft schaden, sondern auch meinem Ruf als alleinerziehender Mutter.“

Jack machte eine betretene Miene. Statt ihr zu helfen, hatte er offenbar alles nur noch schlimmer gemacht. Schuldbewusst blickte er in Lexis schöne Augen, die ihn enttäuscht und verärgert zugleich anblitzten.

Er hatte es anscheinend gründlich vermasselt, und er hatte keine Ahnung, wie er das wiedergutmachen sollte.

Lexi kämpfte mit den widerstreitenden Gefühlen, die Jacks Verhalten in ihr ausgelöst hatte. Als er voller Besitzerstolz seinen Arm um sie gelegt hatte, waren ihr die Knie weich geworden, doch dann hatte sich die Vernunft gemeldet. Nein, sie brauchte keinen Beschützer. Sie kam perfekt allein im Leben klar.

„Es tut mir wirklich sehr leid, Lexi“, sagte Jack mit schuldbewusster Miene. „Mir wird erst jetzt klar, in was für eine unmögliche Situation ich Sie gebracht habe. Das war wirklich nicht meine Absicht. Ich hoffe, Sie können mir verzeihen.“

Lexi blickte in seine warmen braunen Augen, und ihr Ärger schmolz dahin wie Butter in der Sonne. Eigentlich hätte sie ihn noch ein wenig zappeln lassen sollen, aber er hatte es ja wirklich nur gut gemeint. Immerhin hatte er diesen Todd Cox nun endgültig zum Teufel gejagt.

„Schon vergessen“, räumte sie gutmütig ein. „Ich glaube nicht, dass Todd herumläuft und sich den Mund über uns zerreißt.“

„Ich hoffe, dass ich nie wieder so ungeschickt reagiere, Lexi.“ Er sah sie zerknirscht an. „Sie sind im Moment der wichtigste Mensch in meinem Leben, und ich möchte Sie auf keinen Fall verletzen.“

Plötzlich wirkte er so verloren, dass Lexis Herz vor Mitleid förmlich überfloss. Sie musste dagegen ankämpfen, ihn tröstend in die Arme zu nehmen. Rasch drehte sie sich um und holte das Blech mit den French Toasts aus dem Ofen, bevor wieder alles verbrannte.

Während sie die duftenden Toastscheiben auf einen Teller legte, stand Jack neben ihr und sah sie von der Seite an, als warte er auf etwas. Seine Nähe verwirrte sie, und sie wagte es nicht, ihm in die Augen zu blicken.

„Bitte sagen Sie, dass Sie mir verzeihen“, bat er mit einschmeichelnder Stimme, „damit ich mich nicht mehr ganz so mies fühle.“

„Erwarten Sie etwa noch einen Versöhnungskuss?“ Sie konnte kaum glauben, was sie da gesagt hatte.

Sie bemerkte, wie sich seine Augen verdunkelten. Jetzt sage ihm lachend, dass du ihm verzeihst, und dann schicke ihn aus der Küche. Doch statt der Stimme der Vernunft zu folgen, trat Lexi näher an ihn heran. Was wäre schon dabei? Ein flüchtiger Versöhnungskuss auf die Lippen war doch wie ein Händedruck, oder?

Sie sah ihm tief in die Augen. „Ich bin jedenfalls froh, dass Sie lebend aus dieser Lawine herausgekommen sind.“

Spontan nahm er sie in die Arme. „Und ich bin froh, dass Sie mir geholfen haben, mich wieder einigermaßen im Leben zurechtzufinden.“

Seine Arme umhüllten sie wie eine warme Decke. „Das habe ich doch gern getan“, sagte sie leise.

„Verzeihen Sie mir denn mein ungeschicktes Benehmen?“ Er strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn.

Sie schloss die Augen und konnte nur noch nicken.

„Danke.“ Er küsste sie auf den Mund.

Seine Lippen fühlten sich so warm und süß an, dass sie nicht widerstehen konnte und seinen Kuss innig erwiderte. Einen Moment lang schien er zu zögern, doch dann wurde sein Kuss leidenschaftlicher. Ein schon lange vergessenes Begehren durchflutete Lexi plötzlich wie ein heißer Strom.

Sie fasste in sein Haar und drängte sich an ihn.

„Gibt es eigentlich noch French Toast …?“

Coralines erschrockenes Luftholen traf Lexi wie eine kalte Dusche. Rasch löste sie sich aus Jacks Armen.

„Ja, ich habe gerade welche aus dem Ofen geholt.“ Sie reichte Coraline den gefüllten Teller.

Coralines irritierter Blick ging zwischen ihr und Jack hin und her. „Ich wollte es zuerst ja gar nicht glauben.“

Lexis Herz pochte wie eine Trommel in ihrer Brust. „Was denn?“

„Todd hat mir vorhin erzählt, ihr beide wärt ein Liebespaar, und ich habe ihn ausgelacht.“ Die ältere Frau schüttelte verwirrt den Kopf. „Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.“

„Wir sind kein Liebespaar.“ Lexi war momentan leider nicht ganz Herr ihrer Stimme. „Wir kennen uns doch kaum, und du weißt genau, dass ich nicht mit dem erstbesten Mann ins Bett gehe.“

Jack lächelte Coraline charmant zu. „Ich habe Lexi nur geküsst, um mich für ihre Hilfe zu bedanken.“

Es war deutlich zu sehen, dass Coraline ihm das nicht abnahm, trotzdem erwiderte sie sein Lächeln.

„Todd will einfach nicht begreifen, dass ich kein Interesse an ihm habe. Deshalb erfindet er solche Sachen.“

Coraline drohte Jack mit dem Finger. „Sie sind womöglich verheiratet, junger Mann. Seien Sie also mit dem Küssen etwas vorsichtiger.“

Bevor Jack etwas erwidern konnte, wandte Coraline sich mit ernstem Gesicht an Lexi. „Du weißt, ich schätze dich sehr, aber pass ein bisschen auf, nicht nur wegen der Gäste, vor allem wegen Addie.“

Als ob sie das nicht selbst wüsste. Lexi wurde rot, halb aus Scham, halb aus Verärgerung. Coraline stand es nicht zu, sie zu maßregeln.

Jack schien Lexis Verärgerung zu spüren. „Sie haben recht, Coraline. Ich glaube zwar nicht, dass ich gebunden bin, aber bevor ich das nicht ganz sicher weiß, werde ich nichts tun, was ich womöglich hinterher bereuen könnte.“

Coraline nickte zufrieden, dann blickte sie auf den Teller mit den French Toasts in ihrer Hand. „Hoffentlich sind die inzwischen nicht kalt geworden.“ Sie eilte aus der Küche.

„Sie meint es nicht so“, sagte Lexi, als Coraline außer Hörweite war. „Manchmal glaube ich, sie betrachtet mich ein bisschen als ihre Tochter, da sie keine eigenen Kinder hat.“

„Es gibt Schlimmeres als eine Gluckenmutter, die auf einen aufpasst.“ Eine seltsame Traurigkeit erfasste Jack. Hatte es etwas mit seiner eigenen Mutter zu tun? War sie vielleicht schon tot? Warum suchte sie nicht nach ihm?

„Du hast recht.“ Lexi goss den Rest der Eiermasse in einen Plastikbehälter und drückte den Deckel darauf. „Aber ihre Verkuppelungsversuche sollte sie trotzdem besser lassen.“

„Will sie etwa, dass du mit Todd ausgehst?“ Jack spürte einen eifersüchtigen Stich in seinem Inneren.

Lexi zuckte mit den Achseln. „Sie steht auf Typen wie ihn. Todd ist nicht der erste Mann, den sie auf mich angesetzt hat.“

„Das ist nicht dein Ernst.“ Jack schüttelte ungläubig den Kopf. „Das hätte ich wirklich nicht von ihr gedacht.“

„Ich könnte dir da Geschichten erzählen …“, sagte Lexi lachend. „Sie findet, eine alleinerziehende Mutter braucht einen Mann, damit ihr Kind einen Vater hat.“

„Aber diese Meinung teilst du nicht?“

„Auf gar keinen Fall. Ich komme sehr gut allein zurecht, und Addie hat ihren Vater noch nie vermisst.“ Sie trug das Backblech zur Spüle, um es zu reinigen.

Jack hätte gern noch etwas dazu gesagt, aber es ging ihn ja eigentlich gar nichts an, und vielleicht würde er in ein paar Tagen auch schon abreisen. „Die Pressemitteilung sollte inzwischen überall angekommen sein. Vielleicht erfahre ich ja heute etwas über mich.“

Lexi sah ihn ernst an. „Ich kann verstehen, dass du es nicht erwarten kannst, nach Hause zu kommen.“

Jack fuhr sich mit der Hand durch das Haar. „Zumindest wüsste ich gern, wer ich bin.“

„Es wird bestimmt nicht mehr lange dauern.“

Aber vielleicht hatte er niemandem erzählt, wo er hinfahren wollte. Eine Meldung aus Wyoming würde womöglich in einem anderen Landesteil gar nicht wahrgenommen. Aber wenn sie ein Foto von ihm veröffentlichten, müsste ihn doch jemand erkennen …

Er rieb sich die Schläfe.

Lexi berührte ihn am Arm. „Was ist?“

„Ich hatte gerade einen Erinnerungsblitz … es hat mit der Zeitungsmeldung zu tun.“

„Vielleicht bist du ja Reporter.“ Lexis Stimme klang aufgeregt.

Er überlegte. „Vorhin hatte ich das Gefühl, dass ich in einer Stresssituation gewesen bin.“

„Wie aufregend. Du fängst an, dich zu erinnern.“

„Ich habe mich außerdem an ein altes Gebäude mit einem Glockenturm erinnert.“ Jack rieb sich den verspannten Nacken. „Aber mich verwirrt das alles eher. Es ist so bruchstückhaft.“

Lexi lächelte über das ganze Gesicht. „Ich freue mich so für dich. Auch wenn im Moment alles noch nicht zusammenpasst, irgendwann wird es sich zu einem Bild zusammenfügen.“

Jack fand ihre Freude ansteckend. Außerdem sah sie mit ihrem strahlenden Gesicht so bezaubernd aus, dass er sie am liebsten wieder in die Arme genommen und geküsst hätte. „Jedenfalls hattest du recht. Je mehr man miteinander redet und erlebt, desto schneller kommt die Erinnerung offenbar in Gang.“

Ein Grübchen, das Jack bisher noch nicht an ihr bemerkt hatte, erschien in Lexis linker Wange. „Schwingt da etwa eine Frage mit?“

Er lächelte sie schelmisch an. „Um meinem Gedächtnis noch mehr auf die Sprünge zu helfen, sollten wir heute Abend unbedingt zusammen zu der Benefizveranstaltung gehen.“

„Liebend gern“, sagte Lexi, ohne zu zögern. „Aber nur unter einer Bedingung.“

Das schalkhafte Blitzen in ihren Augen konnte er absolut nicht deuten. „Und welcher?“

„Dass du nichts dagegen hast, wenn ich noch jemanden mitbringe.“

Jack blickte sich anerkennend in dem großen Ballsaal des Spring Gulch Country Clubs um. Er bewunderte den schönen Parkettboden und die weiß gedeckten Tische. Alles wirkte so elegant und dennoch unaufdringlich.

Die anfängliche Anspannung glitt nun komplett von ihm ab. Lexi hatte ihm versichert, dass es ganz locker und ohne Kleiderordnung zugehen würde, und in der Tat sah er fast nur Männer in Jeans. Bei den Frauen gab es eine größere Bandbreite, von Jeans bis zum Abendkleid war alles vorhanden.

Lexi und ihre Freundin hatten die Gelegenheit genutzt, sich schick zu machen. Lexi trug ein goldfarbenes Kleid, das wunderbar zu ihrem dunklen Haar passte, Mary Karen ein blaues Kleid, das die Farbe ihrer Augen betonte. Obwohl Jack noch nicht alle anwesenden Frauen in Augenschein genommen hatte, war er überzeugt davon, dass er die hübscheste Blondine und die bezauberndste Brünette der Stadt an seiner Seite hatte.

Er war sich nicht sicher, welchen Typ Frau er vor seinem Gedächtnisverlust bevorzugt hatte, doch heute gefiel ihm die dunkelhaarige Lexi definitiv am besten. Im Moment stand er allerdings allein da, denn die beiden Frauen waren zur Toilette gegangen.

Auf der Fahrt zu Mary Karens Haus hatte Lexi ihm erzählt, dass ihre Freundin geschieden sei und drei Jungs zu versorgen hatte. Sie war die Schwester des Arztes, der ihn in der Klinik behandelt hatte.

Jack hatte sich in Mary Karens Gegenwart sofort wohlgefühlt. Sie hatte ihn ihren Söhnen und ihrer Großmutter vorgestellt, die bei ihnen lebte. Hund Henry war ein weiterer Mitbewohner. Mary Karen arbeitete ebenfalls in der Klinik von Jackson Hole und interessierte sich sehr für seinen Fall. Während der Fahrt in die Stadt hatte Jack geduldig auf ihre vielen Fragen geantwortet.

„Heute sehen Sie ja schon viel besser aus als vor ein paar Tagen.“

Jack drehte sich zu der Stimme um. Vor ihm stand ein Mann etwa in seinem Alter, ebenfalls in Jeans und einem legeren Hemd. Erfreut streckte Jack die Hand aus. „Dr. Wahl, schön, Sie wiederzusehen.“

Der Arzt schüttelte ihm die Hand. „Bitte nennen Sie mich David.“

„Und Sie können mich Jack nennen. Den habe ich mir als vorläufigen Namen ausgedacht. Jack Snow. John Doe fand ich zu langweilig.“

„Eigentlich ganz nett, sich seinen Namen selbst auszusuchen.“ David lächelte. „Hat sich erinnerungsmäßig schon etwas getan?“

Jack zuckte mit den Achseln. „Einzelne Bruchstücke, aber nichts wirklich Greifbares.“

„Sind Sie der mit dem Skiunfall?“ Ein großer, schlaksiger Mann mit widerspenstigem blondem Haar tauchte nun neben David auf.

„Jack, darf ich Ihnen Travis Fisher vorstellen?“, sagte David. „Er ist auch Arzt, aber keiner von der Sorte, die Sie je in Anspruch nehmen werden.“

Auf Jacks neugierigen Blick hin lächelte Travis. „Ich bin Frauenarzt.“

„Meine Frau ist zu Hause bei unserem Sohn geblieben. Sie hat sich den Fuß verstaucht“, erzählte David. Seine Stimme klang sehr liebevoll. „Sie ist Fotografin und oft in sehr unwegsamen Gebieten unterwegs. Da kann so was schon mal passieren.“

„David wollte eigentlich gar nicht weg von seiner schnuckeligen kleinen Familie“, meinte Travis trocken, „aber seine Frau hatte genug von seinem Liebesgesäusel und hat ihn kurzerhand weggeschickt.“

David lachte schallend. „Ich glaube, du redest da eher von dir und deiner Ex-Freundin.“

„Travis Fisher, stänkerst du etwa schon wieder herum?“ Mary Karen knuffte Travis in die Seite. Sie war gerade mit Lexi zurückgekommen.

Travis musterte Mary Karen stirnrunzelnd, als die beiden Frauen sich wie selbstverständlich bei Jack einhängten. „Bist du mit ihm hier?“, fragte er leicht pikiert.

Bevor Mary Karen antworten konnte, ergriff Lexi das Wort. „Wir drei sind zusammen gekommen.“

Travis’ angespannte Miene löste sich, und Jack musste innerlich grinsen. Der Mann war ganz offensichtlich in die hübsche Blondine verschossen.

Lexi wandte sich nun an David: „Geht es July wieder besser?“

„Ja, die Schwellung ist abgeklungen. Sie wäre heute Abend gern mitgekommen, aber unser Kleiner hat Schnupfen, und sie wollte ihn nicht dem Babysitter anvertrauen.“

„Wo sitzt ihr beiden denn?“, fragte Mary Karen ihren Bruder.

„Da drüben.“ David deutete auf einen Tisch neben der Tanzfläche.

„Aber der ist schon reserviert.“ Mary Karen deutete auf das Schild in der Tischmitte.

„Ja, für die Preisempfänger und ihre Familien“, sagte David. „Ich nehme heute Abend einen Preis für das Krankenhaus entgegen. Ihr könnt euch aber gern dazusetzen.“

Während alle sich zu dem reservierten Tisch begaben, begann die Band zu spielen.

Sofort wandte Travis sich an Mary Karen und hielt ihr galant den Arm hin. „Darf ich bitten?“

„Da sich im Moment nichts Besseres bietet …“ Mary Karen ignorierte seinen Arm und spazierte zur Tanzfläche. Travis folgte ihr lächelnd.

„Wenn ihr mich kurz entschuldigen würdet“, sagte David zu Jack und Lexi. „Ich muss noch mit dem Organisator sprechen, wegen der Preisübergabe.“

Jack war unsicher, ob er Lexi zum Tanzen auffordern sollte oder nicht. Womöglich fände sie das ja gar nicht angebracht. Doch warum eigentlich nicht? „Wollen wir auch tanzen?“, fragte er, und als Lexi erfreut nickte, war er sehr erleichtert.

Erst auf der Tanzfläche fiel ihm etwas ein. „Ich weiß ja gar nicht, ob ich überhaupt tanzen kann.“

Lexi schien das wenig zu kümmern. Sie ergriff seine linke Hand und nahm Tanzhaltung ein. „Das werden wir gleich feststellen.“

Nach ein paar Schritten war ihr klar, dass Jack ein begnadeter Tänzer war. Sie hatte förmlich das Gefühl, mit ihm über die Tanzfläche zu schweben. „Deine Sorge war unbegründet, oder?“, fragte sie mit einem koketten Lächeln.

„Vielleicht ist es wie mit dem Radfahren. Man verlernt es nie.“ Sein Lächeln löste ein angenehmes Prickeln in ihr aus. Sie zwang sich, nicht zu auffällig auf seinen sinnlichen Mund zu schauen, der so fantastisch küssen konnte. „Erinnerst du dich denn an irgendeine Tanzveranstaltung?“

„Nicht direkt, aber es fühlt sich alles sehr vertraut an. Ich scheine wohl ein geselliger Mensch zu sein.“

Sie zweifelte nicht daran, dass die Geselligkeit auch die Bekanntschaft von schönen Frauen betraf, und eine davon war vielleicht seine Freundin – oder seine Frau.

„Es muss sehr frustrierend sein, immer nur darauf zu hoffen, dass man wieder ein Puzzleteilchen findet“, meinte Lexi. „Schade, dass ich keinen Zauberstab habe, dann könnte ich mit einem Schwung das gesamte Puzzle für dich zusammensetzen.“

Aber dann würde er sofort weggehen, fiel ihr im selben Moment ein.

Jack betrachtete sie liebevoll. „Du bist die süßeste Frau, die ich kenne.“

Obwohl sie plötzlich einen Kloß im Hals hatte, sagte sie leichthin: „Warte mal ab, bis du dich an all die anderen Frauen erinnerst.“

„Partnerwechsel“, rief Travis, der gerade mit Mary Karen herantanzte.

„Vielleicht später“, rief Jack zurück und wirbelte Lexi über die Tanzfläche, bis sie lachend nach Luft rang.

„Die beiden wollten doch eigentlich gar keinen Partnertausch“, sagte Jack, „und ich auch nicht.“ Auf Lexis fragenden Blick hin fügte er hinzu: „Die Einzige, mit der Travis tanzen möchte, ist Mary Karen.“

Der Einzige, mit dem ich tanzen will, bist du, dachte Lexi. „Vielleicht hätte Mary Karen aber gern mit dir getanzt.“

Jack lachte. „Ich glaube nicht. Die beiden spielen doch nur ihre Spielchen miteinander.“

„Meinst du wirklich?“ Ihr war zwar auch schon aufgefallen, dass Travis ein Auge auf Mary Karen geworfen hatte, aber ihre Freundin behauptete immer steif und fest, dass sie nicht an ihm interessiert sei.

„Jedenfalls habe ich heute Abend wieder etwas gelernt“, sagte Jack, als der mitreißende Samba zu Ende war. „Ich liebe diese Art von Musik.“

„Ich auch“, sagte Lexi. Schon als Teenager hatte sie die lateinamerikanischen Rhythmen ganz besonders gemocht. Aber noch nie zuvor hatte sie mit einem so wunderbaren Partner wie Jack getanzt.

Der Conférencier kündigte nun eine Tanzpause an und erklärte das Büfett für eröffnet.

„Du bist wirklich ein fantastischer Tänzer“, sagte Lexi, während sie an Jacks Arm zum Tisch hinüberging.

„Wenigstens etwas, das ich als Talent verbuchen kann“, erwiderte er.

„Ich bin mir sicher, du wirst noch viele Talente an dir entdecken.“ Sie lächelte ihn schelmisch an.

„Vielleicht.“ Er seufzte. „Aber das alles geht mir viel zu langsam.“

„Unser Pastor hat einmal etwas Kluges gesagt: Alles findet sich von selbst, sobald die Zeit gekommen ist, wir müssen nur auf Gott vertrauen.“

Jack zog die Augenbrauen zusammen. „Das setzt zuerst einmal voraus, dass ich an Gott glaube.“

Sie waren jetzt am Tisch angekommen, und Jack rückte ihr einen Stuhl zurecht. „Ganz gleich, wie man es nennt“, wandte Lexi ein, während sie sich setzten. „Im Grunde geht es doch nur darum, dass man sich nicht um Dinge sorgen soll, auf die man sowieso keinen Einfluss hat. Statt sich auf der Suche nach Erinnerungen das Hirn zu zermartern, solltest du die Zeit hier lieber genießen. Ganz gleich, wie lange es auch dauert.“

„Also den Aufenthalt im Wildwoods genieße ich sehr, vor allem das Zusammensein mit dir.“ Sein Lächeln war einfach unwiderstehlich.

Lexi spürte, wie ihm ihr Herz zuflog. Er sah nicht nur umwerfend aus, er war auch noch unglaublich charmant und liebenswürdig. Aber das war er bestimmt zu allen Frauen.

„Ich bin glücklich, wenn es dir gut geht.“ Wie bescheuert hörte sich denn das an? Sie war doch kein liebestoller Teenager mehr. Während sie versuchte, ihr heftig pochendes Herz zu beruhigen, überlegte sie, wie sie den Satz etwas abschwächen könnte. „Vielleicht hat es ja einen bestimmten Grund, warum du hier bist. Vielleicht sollst du etwas über dich herausfinden. Oder dich einfach nur erholen und an gar nichts denken.“

Jack machte ein nachdenkliches Gesicht, als wäre ihm soeben etwas eingefallen. Doch in dem Moment kamen die anderen ebenfalls an den Tisch. David, Mary Karen und Travis hatten noch zwei weitere Freunde im Schlepptau: John und Kayla Simpson.

Beim Essen unterhielten sich alle angeregt, und niemand brachte die Sprache mehr auf Jacks Gedächtnisverlust. Anschließend wurden die Preise an die Sponsoren und Helfer der Armentafel vergeben. Lexi empfand Stolz auf ihre Stadt, in der sich so viele Menschen sozial betätigten.

Jack folgte den Ansprachen ebenso aufmerksam wie sie selbst, und als der Spendenkorb herumgereicht wurde, beteiligte er sich mit einem größeren Geldschein.

Lexi fand das sehr großzügig, zumal er kaum jemanden in Jackson Hole kannte. Kurz überlegte sie, ob sie ihm raten sollte, sein Geld zusammenzuhalten, denn womöglich besaß er selbst gar nicht viel, doch er musste schließlich wissen, was er tat.

Nach diversen Darbietungen durfte wieder getanzt werden, und Jack und Lexi ließen keinen Tanz aus.

Dann war das Fest irgendwann zu Ende. Mary Karen raunte Lexi hinter vorgehaltener Hand zu, dass Travis ihr angeboten hatte, sie nach Hause zu bringen. Laut fragte sie: „Kommt ihr morgen auch zum Gottesdienst?“

„Addie und ich gehen auf jeden Fall“, sagte Lexi und fügte dann zu Jack gewandt hinzu: „Du kannst auch gerne mitkommen.“

Er überlegte kurz, dann nickte er. „Ja, gern. Je mehr ich unter Leute gehe, desto mehr wird mein Gedächtnis angeregt.“

Und dann gehst du weg. Diese Erkenntnis versetzte Lexi jedes Mal einen Stich. Sie durfte sich nicht zu sehr an Jack gewöhnen. Die Zeit mit ihm war bald wieder vorbei, und dann würde er in sein wirkliches Leben zurückkehren.

Die kleine alte Kirche von Jackson Hole war brechend voll. Jack betrachtete den Kirchenraum, den Altar und die religiösen Gegenstände, doch lediglich der Bereich um die Kanzel herum kam ihm irgendwie vertraut vor.

„Erinnerst du dich daran, schon mal in einer Kirche gewesen zu sein?“, fragte Lexi, nachdem sie auf einer Bank Platz genommen hatten. Sie winkte Addie kurz zu, die mit ihrem Kinderchor in der ersten Reihe saß.

Jack schüttelte den Kopf. „Ich wundere mich nur, dass die Kirche so klein ist.“

Lexi griff nach dem Gesangbuch, das vor ihr auf der Bank lag. „Wahrscheinlich hast du eine größere Kirche in Erinnerung. In Ohio, wo ich herkomme, hatten wir auch eine größere Kirche. Aber hier in Wyoming gibt es sehr viele kleine Kirchen.“

„Vielleicht komme ich ja aus Ohio“, sagte er in einem scherzhaften Tonfall.

In diesem Moment betrat der Pastor die Kanzel und bat die Gemeinde aufzustehen und das erste Lied zu singen.

Obwohl die Melodie Jack nicht bekannt vorkam, fiel ihm auf, dass er die Noten lesen konnte und auch eine ganz gute Stimme hatte.

Vom Gesang des Kinderchors war er sehr berührt. Addie sang ein Solo und sah dabei wie ein kleiner Engel aus. Danach blickte sie lächelnd zu ihm und Lexi, und er hob anerkennend den Daumen.

In der anschließenden Predigt ging es darum, innezuhalten und Gottes Stimme zu lauschen. Jack hörte nur mit halbem Ohr zu, doch er fand die Worte des Pastors irgendwie beruhigend. Plötzlich war er voller Zuversicht, dass sich alles zum Guten wenden würde.

Nach dem Gottesdienst standen alle noch vor der Kirche zusammen. Jack lernte nun auch Davids Frau July kennen und bewunderte Baby Adam. Anschließend gingen Lexis Freunde wie üblich zum Lunch in ein Bistro in der Innenstadt. Lexi hingegen musste sofort nach Hause, um im Wildwoods das Mittagessen zu kochen.

Addie war noch ganz aufgekratzt von ihrem Soloauftritt und plapperte unentwegt während der Heimfahrt. Zu Hause war die Freude dann groß, als Sarah und ihre Eltern im Foyer auf sie warteten.

„Hast du Lust, mit uns zu kommen?“, fragte Sarahs Mutter. „Wir fahren zum Lunch in die Stadt und schauen uns anschließend einen Kinderfilm an.“ An Lexi gewandt, fügte sie hinzu: „Sarah würde sich riesig freuen, und Addie ist natürlich eingeladen.“

Addie hüpfte vor Freude auf und ab. „Oh bitte, Mommy, darf ich mitgehen?“

Lexi wandte sich an Sarahs Mutter. „Ist es Ihnen auch wirklich nicht zu viel?“

„Nein, ganz im Gegenteil“, erwiderte Sarahs Mutter.

„Also dann von mir aus gerne.“ Lexi lächelte ihre Tochter an.

„Yippie!“ Addie fasste Sarah an den Händen und tanzte wild mit ihr herum.

Lächelnd betrachtete Jack die Szene und war ganz gerührt, als Addie zum Abschied nicht nur ihre Mutter, sondern auch ihn umarmte.

Als alle weg waren, wandte Lexi sich an Jack. „So, ich kümmere mich jetzt um das Essen. Was hast du denn heute noch vor?“

Jack zuckte mit den Achseln. Es fühlte sich seltsam an, so gar keine Beschäftigung zu haben. In seinem früheren Leben war das offenbar nie vorgekommen.

Lexi spürte seine Unsicherheit. „Nach dem Mittagessen habe ich ein paar Stunden frei, dann können wir gern was zusammen unternehmen, wenn du willst.“

Sofort hellte sich Jacks Stimmung auf. „Hast du schon eine Idee?“

„Schneeschuhwandern oder Quizfragen oder vielleicht auch beides.“

„Das musst du mir genauer erklären.“

„Während wir durch den Schnee stapfen, könnten wir uns doch die Karten vornehmen, von denen ich dir gestern erzählt habe.“

„Gern.“ Jack zwinkerte ihr zu. „Aber du musst diese Fragen auch beantworten.“

„Nein, wozu soll das denn gut sein?“

„Deine Antworten könnten mein Gedächtnis genauso anregen wie die Fragen.“

„Also gut.“ Sie zuckte mit den Achseln.

Jack lächelte. Plötzlich lag der Nachmittag in leuchtenden Farben vor ihm.

Jack bewegte sich in den Schneeschuhen, als wäre er schon oft damit gewandert. Während sie durch den Schnee stapften, erzählte Lexi ihm von ihrer Arbeit in der Klinik und im Wildwoods. Schon lange hatte sie keinen so interessierten Zuhörer mehr gehabt, und sie merkte, wie gut es ihr tat, sich mitzuteilen.

Irgendwann fiel ihr das Kartenspiel wieder ein, das sie vor der Wanderung noch aus ihrem Cottage geholt hatte. „So, jetzt habe ich genug von mir geredet. Nun bist du dran.“ Sie steckte ihren Skistock in den Schnee und kramte das Kartenspiel aus ihrer Jackentasche.

Plötzlich sah Jack, wie sie die Luft anhielt. „Nicht bewegen“, flüsterte sie. „Dreh ganz langsam den Kopf nach rechts.“

Das Tier saß nicht weit entfernt auf einem Felsblock, der aus dem Schnee herausragte, und sah neugierig zu ihnen herüber.

„Was ist das?“, fragte Jack etwas unsicher.

„Ein Murmeltier. Die sieht man hier öfter. Ein hübsches Tier, nicht wahr?“

Jack lachte leise. „Ja, besonders die spitzen Zähne.“

Als hätte das Tier ihn verstanden, zog es beleidigt ab und verschwand zwischen den Bäumen.

„Das ist das erste, das ich in diesem Jahr sehe“, sagte Lexi. „Es scheint wohl gerade aus dem Winterschlaf aufgewacht zu sein.“

„Ein Murmeltier habe ich bestimmt noch nie gesehen, sonst hätte ich es erkannt.“

„Das ist das Schöne hier draußen“, schwärmte Lexi. „Man ist der Natur so nahe. Wie oft sind Addie und mir schon Tiere begegnet, wenn wir durch den Wald spazieren.“

Sie klang so begeistert, dass er sie aufmerksam ansah. „Du hast hier offensichtlich deinen Platz gefunden.“

„Ja, das habe ich wirklich“, erwiderte Lexi lächelnd und erinnerte sich an die entsetzte Reaktion ihrer Freunde in Ohio, als sie ihnen von ihrem Plan erzählt hatte, nach Wyoming zu ziehen. „Ich bin eigentlich wegen der Arbeit hergekommen, aber inzwischen könnte ich mir nicht mehr vorstellen, woanders zu leben.“

Sie zog nun eine Karte aus der Schachtel. „Wie das wieder passt!“ Sie las vor: „Bist du ein Stadt- oder ein Landmensch?“

„Stadt“, antwortete er spontan, doch dann überlegte er. „Das glaube ich zumindest.“

„Nein, das war gut. Sag einfach immer das, was dir als Erstes in den Sinn kommt, ohne lange zu überlegen.“

„Und wie ist es mit dir?“, fragte er, während sie eine freie Schneefläche überquerten.

„Land“, erwiderte Lexi. „Oder zumindest Kleinstadt. Definitiv.“

„Aber in einer Kleinstadt kann man nicht so viel unternehmen.“

„Wie meinst du das?“

„Na ja, Theater, Kino, Restaurants, was man eben so macht.“

Lexi lächelte im Stillen. Er antwortete ganz automatisch, das musste sie ausnutzen. „Was Theater und Restaurants angeht, hast du recht, aber Unterhaltung gibt es bei uns mehr als genug.“

Er lächelte amüsiert. „Zum Beispiel Tanzen?“

„Und Skifahren und Schneeschuhwandern und …“

„Okay, ich habe verstanden. Jetzt die nächste Frage.“

Lexi blieb stehen und las die nächste Karte vor. „Würdest du jemals Schmuggelware kaufen?“

„Nein“, sagte er wie aus der Pistole geschossen. „Das wäre doch illegal.“

„Aber für manche ist das ganz normal“, entgegnete sie, um ihn zu provozieren.

„Nicht für mich.“

Lexi notierte sich im Stillen: gesetzestreu. Sie zog die nächste Karte aus der Tasche.

„Dein Lieblingswein?“

„Domaine Dujac Clos St. Denis 2006“, ratterte er herunter. „Aber der 2004er ist auch nicht schlecht.“

Anscheinend interpretierte er ihren verblüfften Blick falsch, denn er erklärte nun: „Das ist ein Pinot Noir aus der Bourgogne.“

„Französischer Burgunder ist aber ein teurer Wein.“

„Keine Ahnung.“

„Ich wollte kürzlich July und David eine gute Flasche Wein schenken, und der Weinhändler hat mir einen Burgunder für um die zweihundert Dollar angeboten. Da musste ich leider passen.“

„Aber ich kann mich dafür nicht mehr daran erinnern, wie er geschmeckt hat“, sagte Jack.

„Anscheinend sehr gut, denn du hast ihn ja als deinen Lieblingswein bezeichnet. Ich mag übrigens auch sehr gern französischen Rotwein.“

„Dann trinken wir irgendwann eine Flasche zusammen.“

Lexi ging nicht weiter darauf ein, sondern zog die nächste Karte. „Die Karten sind super, findest du nicht auch? Hier ist die nächste Frage: Wenn du etwas an dir ändern könntest, was wäre das und warum?“

„Ich würde mehr meinem Bauchgefühl vertrauen, anstatt mir einzureden, dass eine Entscheidung richtig ist, obwohl ich im Grunde genau weiß, dass sie falsch ist.“ Das sagte er mit sehr entschiedener Stimme.

Lexi warf ihm einen Seitenblick zu, während sie einen Hügel hinabwanderten. „Kannst du das näher erklären?“

Sie beobachtete sein Gesicht. Verwirrung mischte sich darin mit Frustration. „Ich weiß nicht. Eben kam es mir noch ganz plausibel vor.“

„Macht nichts“, beruhigte ihn Lexi und zog die nächste Karte aus der Schachtel. „Wenn du …?“

„Hey, haben wir nicht was vergessen?“ Am Rand einer Baumgruppe blieb er stehen.

„Was denn?“

„Du sollst die Fragen auch beantworten. Also: Wenn du etwas an dir ändern könntest, was wäre das und warum?“

Darauf hätte sie jede Menge Antworten gehabt, doch sie entschied sich genauso spontan wie er. „Ich würde Männern mehr vertrauen“, sagte sie aufrichtig. „Ich weiß, dass es nicht fair ist, wegen einer schlechten Erfahrung alle Männer zu verurteilen, aber trotzdem tue ich es.“

„Tut mir leid, dass du eine schlechte Erfahrung gemacht hast.“

„Immerhin ist Addie aus dieser Beziehung hervorgegangen, also habe ich doch auch Glück gehabt, oder?“

„Trotzdem hast du es nicht verdient, enttäuscht zu werden.“

„Vielleicht. Aber ich bin mit meinem Leben sehr zufrieden. Warst du jemals glücklich?“

Er zuckte mit den Achseln. „Ich weiß es nicht. Da mich aber offensichtlich niemand vermisst, scheint es auf diesem Gebiet Probleme zu geben. Aber wer weiß, vielleicht war ich irgendwann ja mal glücklich.“

„Das hoffe ich für dich.“

„Ein kluger Mensch hat mir einmal gesagt, alles, was wir wirklich wissen, ist der Zustand des Hier und Jetzt.“ Er sah ihr in die Augen. „Und hier und jetzt bin ich sehr glücklich.“

Während Lexi am Abend die Küche sauber machte, gingen ihr Jacks Antworten wieder durch den Kopf. Er hatte definitiv einen Sinn für Recht und Unrecht. Er war ein Stadtmensch, der gern teuren Wein trank, und er wünschte sich, mehr seinem Bauchgefühl zu vertrauen.

Die Hochzeit. Die Rosen.

Hatte er vielleicht wider besseres Wissen eine Frau geheiratet, der er so wenig bedeutete, dass sie bei der Hochzeitsdekoration keine Rücksicht auf seine Abneigung gegen Rosen genommen hatte?

Ein Frösteln lief über Lexis Rücken, obwohl es in der Küche sehr warm war. Dass Jack verheiratet war, erschien ihr immer plausibler.

Addies Kinderstimme unterbrach ihre Grübeleien plötzlich. „Mommy, muss ich heute in meinem Bett schlafen?“

Addie saß am Küchentisch und hatte ihrer Mom gerade wie jeden Abend nach dem Essen eine Geschichte vorgelesen. Doch dieses Mal war Lexi von ihren Gedanken an Jack vollkommen abgelenkt gewesen.

Beim Abendessen in der Küche hatte Addie ihr begeistert und in allen Einzelheiten von ihrem Ausflug mit Sarah berichtet, angefangen vom umgeschütteten Saft beim Pizzaessen über die detaillierte Handlung des Films bis zum Eisessen nach dem Kino.

Lexi lächelte ihre Tochter an, der vor Müdigkeit bereits die Augen zufielen. „Ja, klar, der Weg zu unserem Cottage ist ja inzwischen wieder freigeschaufelt.“

Wie vorauszusehen war, machte Addie ein enttäuschtes Gesicht. „Darf ich dann wenigstens Sarah Gute Nacht sagen? Sie vermisst mich sonst morgen früh.“

Lexi unterdrückte ein Lächeln. Es war klar, dass es vor allem Addie war, die ihre Freundin vermisste. Wie so oft bedauerte sie, ihrer Tochter kein richtiges Haus mit Garten und Nachbarskindern zum Spielen bieten zu können. Doch dieser Traum lag leider in weiter Ferne.

„Ja natürlich, mein Schatz, verabschiede dich ruhig von Sarah. Ich hole inzwischen unsere Sachen aus dem Gästezimmer. Wir treffen uns in einer halben Stunde unten in der Halle, okay?“

Addie sauste aus der Küche, um nur ja keine Sekunde mit ihrer Freundin zu verpassen.

Nachdem Lexi mit der Küchenarbeit fertig war, klopfte sie etwas zaghaft an Coralines Wohnungstür. Bestimmt würde Coraline noch einmal auf den Vorfall am Samstagmorgen in der Küche zu sprechen kommen.

Die Tür ging auf. „Hi, Lexi.“ Coraline sah sich in der Halle um. „Wo ist denn Addie?“

„Sie verabschiedet sich gerade von Sarah. Ich wollte nur eben unsere Sachen holen.“

„Komm doch rein.“ Coralines einladendes Lächeln nahm ihr sofort die Unsicherheit. „Magst du noch einen Tee mittrinken?“

„Das würde ich gern, aber Addie muss morgen früh zur Schule und ich zur Arbeit.“

„Wie geht’s Jack denn mittlerweile?“

„Gut, soweit ich weiß“, erwiderte Lexi so gleichgültig wie möglich. „Wir waren heute Nachmittag Schneeschuhwandern, danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.“

Lexi hoffte, dass man ihr die Enttäuschung nicht anmerkte. Im Stillen hatte sie gehofft, Jack nach dem Abendessen noch einmal zu Gesicht zu bekommen, aber anscheinend war er vom Speisesaal aus direkt auf sein Zimmer gegangen.

Doch Coraline konnte man nichts vormachen. „Dir ist schon klar, dass er nicht lange bleiben wird, oder?“

Lexi holte ihre beiden Taschen aus dem Gästezimmer. „Was willst du denn damit sagen?“

Coraline sah sie mitfühlend an. „Dass sein Leben woanders ist. Ich mache mir doch nur Sorgen um dich.“

„Das brauchst du aber nicht. Ich kann schon auf mich aufpassen. Solange er hier ist, will ich mich nur ein wenig um ihn kümmern.“

Während sie Coralines Wohnung verließ, war Lexi jedoch keineswegs sicher, ob sie wirklich auf sich aufpassen konnte. Ihr Herz würde sich bestimmt nichts befehlen lassen.

4. KAPITEL

Das Büro der Anwaltskanzlei Delacorte in Dallas nahm den gesamten zehnten Stock eines Hochhauses ein. Tagsüber ging es in der auf Familienrecht spezialisierten Kanzlei zu wie in einem Bienenstock. Daher arbeitete die Anwältin Ellen Kloss am liebsten abends, wenn ihre Kollegen schon nach Hause gegangen waren und nicht ständig die Telefone klingelten.

Ein leises Klopfen an ihrer Bürotür ließ sie vom Schreibtisch aufblicken. Steve Laughlin, einer ihrer Anwaltskollegen, steckte den Kopf herein. „Was treibst du hier bloß immer so spät am Abend?“

Lächelnd bat sie ihn in ihr Büro. Steve hatte seine Krawatte gelockert und das Jackett über die Schulter gehängt. Der jungenhaft aussehende hochgewachsene Texaner wirkte immer fröhlich, und Ellen freute sich, ihn zu sehen. Er hatte gerade ein paar Tage wegen einer Gerichtsverhandlung in einer anderen Stadt zu tun gehabt, und sie merkte erst jetzt, dass sie ihn vermisst hatte.

„Schau dir mal meinen Schreibtisch an. Abends kann ich nun mal am besten arbeiten.“

Steve schüttelte den Kopf. „Weißt du denn nicht, dass zu viel Arbeit hässlich und trübsinnig macht? Wo bleibt denn da das Vergnügen?“

Sie bemerkte das vertraute schelmische Funkeln in seinen Augen und seufzte theatralisch. „Ich weiß. Aber jetzt, wo Nick weg ist, habe ich keinen, mit dem ich mich vergnügen kann.“

Steve lachte. „Also ich bin zu jeder Schandtat bereit.“

Ellen lachte ebenfalls und fühlte sich sofort besser.

„Hat Nick sich denn mal gemeldet?“, fragte Steve.

„Nein.“ Ellen versuchte, sich ihre Besorgnis nicht anmerken zu lassen. Es war ihr immer noch unverständlich, wieso Nick unbedingt allein hatte wegfahren wollen. Er hatte behauptet, er müsse sich über ihre Beziehung klar werden. Aber sollten sie die Entscheidung über ihre Zukunft nich gemeinsam treffen?

Sie sah Steve an. „Er hat mir weder gesagt, wo er hinfährt, noch geht er seitdem ans Telefon. Gestern habe ich mit seinem Vater in London über einen Fall gesprochen. Aber der hat auch nichts von ihm gehört. Anscheinend hat Nick ihm erzählt, dass er sich eine Auszeit nimmt, und deshalb macht sich sein Vater auch keine allzu großen Gedanken.“

„Ich kann einfach nicht verstehen, dass er dir nicht gesagt hat, wo er hinfährt“, meinte Steve mitfühlend. „Er könnte sich doch wenigstens mal bei dir melden. Ihr seid schließlich zusammen. Ich an seiner Stelle würde gar nicht erst ohne dich wegfahren.“

Ellen sah Steve an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Der leichte Duft seines Aftershaves wehte zu ihr herüber. Es war ihr Lieblingsduft.

„Magst du einen Burger mit mir essen?“, fragte er lächelnd.

Sie hatte mittags nur einen Müsliriegel und einen Apfel am Schreibtisch gegessen. Normalerweise aß sie abends nicht mehr viel, aber plötzlich knurrte ihr der Magen. Sie sah auf die Uhr. „Meinst du, Frank hat noch auf?“

Das kleine Lokal war bekannt für seine Burger, Waffeln und Milchshakes und lag direkt um die Ecke. Im letzten Sommer, als sie und Steve einen schwierigen Fall zu bearbeiten gehabt hatten und abends oft länger im Büro gesessen hatten, waren sie regelmäßig nach der Arbeit dorthin gegangen.

„Sag Ja, dann rufe ich Frank sofort an und reserviere uns einen Tisch.“ Steve sah sie aus seinen blauen Augen so hoffnungsvoll an, dass sie nicht Nein sagen konnte. Er war ein so guter Freund.

Während Nick letzten Monat ihren Geburtstag vergessen hatte, hatte von Steve morgens ein Geschenk auf ihrem Schreibtisch gelegen.

„Ruf Frank an.“ Sie griff nach ihrer Handtasche. „Vielleicht ist die Nische am Fenster noch frei.“

„Nicht so eilig, Ms. Brennan“, rief eine Stimme, als Lexi am Schwesternzimmer vorbeisauste.

„Hi, Mary Karen.“ Lächelnd blieb Lexi stehen. „Ich wusste gar nicht, dass du heute auch arbeitest.“

„Eine Kollegin hat sich krankgemeldet, und ich bin eingesprungen.“ Mit ihren drei Jungs schaffte es Mary Karen höchstens, ein paar Stunden pro Woche zu arbeiten, aber sie wollte ihre Arbeit nicht ganz aufgeben, schon um nicht aus der Übung zu kommen.

Lexi sah auf die Uhr.

„Hast du einen Termin?“, fragte Mary Karen.

„Ja, mit der Floristin. Ich habe Mimi versprochen, die Blumen für ihre Hochzeit auszusuchen.“ Dass Jack bei dem Termin ebenfalls dabei sein würde, brauchte ihre Freundin ja nicht unbedingt zu wissen.

„Aber wieso suchst du die Blumen für Mimi aus?“, fragte Mary Karen erstaunt.

„Sie und Hank können sich nicht einigen“, sagte Lexi achselzuckend, „also habe ich meine Hilfe angeboten.“

„Wie soll das denn dann erst in der Ehe werden?“ Mary Karen lachte. „Übrigens, bevor ich’s vergesse, du kannst Jack morgen Abend gern zu unserem Lesekreis mitbringen. Aber bereite ihn darauf vor, dass die Männer auf die Kinder aufpassen müssen.“

„Wer kommt denn alles?“, wollte Lexi wissen. Sie fragte aus einem bestimmten Grund, denn wenn sie Mary Karens Blick richtig deutete, war dieses Mal auch ein flachsblonder Frauenarzt mit dabei.

„Die üblichen Verdächtigen. David und John … und Travis.“

Lexi konnte nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken. „Schön, dass Travis auch kommt.“

„Ja, ich habe ihn eingeladen. Ich glaube, es tut ihm ganz gut, mal andere Männer zu treffen. Er verbringt seine Zeit ja meistens mit hormongesteuerten Schwangeren.“

Lexi lachte. Sie freute sich, dass Mary Karen offenbar ebenfalls an Travis Gefallen gefunden hatte.

„Gut, ich frage Jack, ob er mitkommen will. Jetzt muss ich aber los.“

Sie lief die Treppe hinunter. Sie hatte mit Jack ausgemacht, dass er in der Cafeteria auf sie warten sollte, und dann würden sie gemeinsam zum Blumenladen gehen. Da sie Addie heute erst um fünf abholen musste, blieb noch genügend Zeit zum Blumenaussuchen.

Mit klopfendem Herzen drückte Lexi die Glastür zur Cafeteria auf. Sie redete sich ein, dass sie einfach nur zu schnell gelaufen war, doch als sie Jack am Tisch sitzen sah und er sie anlächelte, wurde ihr klar, dass es nicht daran lag. Der dunkelhaarige Mann mit den warmen braunen Augen hatte ihr den Kopf verdreht.

Jack stand sofort auf, als er Lexi auf sich zukommen sah. Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals so auf ein Treffen mit einer Frau gefreut zu haben. Am Abend zuvor war es ihm sehr schwergefallen, nicht zu ihr in die Küche zu gehen. Doch er wollte ihr nicht ständig auf die Pelle rücken, sie verbrachte schließlich schon genügend Zeit mit ihm.

Er ging ihr entgegen, widerstand aber der Versuchung, sie zu umarmen. „Du siehst heute ganz besonders hübsch aus“, sagte er galant. Das war allerdings stark untertrieben, er fand sie einfach nur hinreißend.

„Danke, Jack.“ Sie lächelte ihn an. „Bereit zum Blumenaussuchen?“

„Ich bin zu allem bereit“, erwiderte er vieldeutig.

Lexi wies nach draußen. „Zum Blumenladen sind es nur ein paar Minuten. Wir können zu Fuß gehen.“

Etwas skeptisch blickte er auf ihre modischen Pumps. „Bist du sicher? Die Schuhe sind sehr hübsch, aber ob man damit im Schnee vorwärtskommt?“

Die Schuhe brachten ihre schönen Beine voll zur Geltung und passten perfekt zu ihrem figurbetonten beigen Kleid. Ihr Haar hatte sie heute elegant zurückgesteckt, und er stellte sich unwillkürlich vor, wie er es mit sanften Fingern löste, bevor er …

„Jack?“ Sie berührte ihn am Arm, und er blickte erschrocken hoch. „Wir müssen gehen. Keine Sorge, ich kann in den Schuhen laufen.“

Er zog seine Winterjacke an und hielt Lexi ihren Mantel hin. „Ich weiß nur, dass wir die Floristin treffen, du kannst mir unterwegs ja erzählen, wie das Ganze abläuft.“

Während Lexi ihren Mantel zuknöpfte, musste sie lächeln. Ihr war gerade wieder eine Eigenschaft von ihm aufgefallen. Er wollte immer genau über alles Bescheid wissen.

„Die Floristin heißt Delia Juracek“, erzählte Lexi ihm beim Hinausgehen. „Mimi und Hank hatten letzte Woche schon einen Termin bei ihr, sie weiß also in etwa Bescheid … wie viele Gäste eingeladen sind, wie groß das Budget für die Dekoration ist und so weiter.“

Während sie den Bürgersteig entlanggingen, fasste Jack sie am Arm. Sie sah ihn überrascht an. „Damit du nicht ausrutschst“, erklärte er lächelnd.

„Danke.“ Seine warme Hand fühlte sich gut an.

„Warum konnten die beiden sich denn nicht einigen?“

„Es ist wie mit den Einladungskarten. Sie kriegen sich wegen jeder Kleinigkeit in die Haare. Anscheinend hat Mimi ziemlich teure Blumen ausgesucht, und Hank ist an die Decke gegangen. Sein Gehalt als Förster ist nicht gerade üppig, aber Mimi findet, dass man schließlich nur einmal im Leben heiratet. Irgendwie kann ich beide verstehen.“

Sie waren jetzt am Blumenladen angekommen. „Jetzt sollst du etwas finden, womit beide zufrieden sind? Das stelle ich mir aber ziemlich schwierig vor.“ Er öffnete die Tür. „Welche Rolle spiele ich eigentlich dabei?“

Lexi zwinkerte ihm zu. „Die des Bräutigams, der es kaum erwarten kann, die Blumen für seine bevorstehende Hochzeit auszusuchen.“

Jack hörte voller Bewunderung dabei zu, wie Lexi mit der Floristin verhandelte. Sollte sie jemals ihre Stelle in der Klinik verlieren, dachte er, dann hätte sie eine große Zukunft als Hochzeitsplanerin vor sich.

„Die Trauung wird im Freien stattfinden“, sagte Lexi gerade. „Das heißt, es wird eher zwanglos zugehen. Deshalb dachte ich an bunte Sommerblumen, zum Beispiel Cosmeen oder Wicken. Für die Tischdekoration und auch für den Blumenbogen, durch den die Brautleute zur Zeremonie gehen.“

„Ist das auch in Ihrem Sinn, Mr. Snow?“, fragte Delia.

„Unbedingt, ich mag bunte Sommerblumen sehr. Mich würde allerdings noch der Duft interessieren, wobei das bei einer Hochzeit im Freien vielleicht keine so große Rolle spielt.“

Delia sah ihn überrascht an. „Der Duft?“

„Mr. Snow hat eine empfindliche Nase“, erklärte Lexi und lächelte Jack schelmisch an. „Blumendüfte können manchmal ja sehr aufdringlich sein.“

„Da haben Sie recht.“ Delia machte sich eine Notiz. „Wir vermeiden also Lilien, Freesien und Gardenien.“

„Und Rosen“, fügte Jack rasch hinzu. „Wir wollen auf keinen Fall Rosen in den Blumenarrangements.“

„Nein, auf keinen Fall.“ Lexi zwinkerte ihm verständnisvoll zu.

Nachdem sie sich auf eine, wie Lexi fand, wunderhübsche Blumenmischung geeinigt hatten, ging es noch um die Accessoires wie Schleifen, Anstecksträußchen und den Brautstrauß.

Als alle Fragen geklärt waren, stand Delia auf. „Gut, dann müssten Sie mir jetzt nur noch den Vertrag unterschreiben.“

„Darf ich noch etwas fragen?“, meldete sich Jack plötzlich zu Wort. „Können Sie uns garantieren, dass die Blumen wirklich frisch sind? Und gibt es Alternativen, falls etwas nicht zu bekommen ist?“

Offenbar wurden Delia diese Fragen öfter gestellt, denn sie ratterte sofort die entsprechenden Antworten herunter. Dann sah sie Jack fragend an. „Darf ich jetzt den Vertrag holen?“ Als Jack nickte, ging sie in einen kleinen Nebenraum und kam mit zwei Blättern zurück, die sie Lexi vorlegte.

„Darf ich auch mal einen Blick darauf werfen?“, fragte Jack.

Lächelnd schob Lexi ihm den Vertrag zu. „Vier Augen sehen mehr als zwei.“

„Das ist unser Standardvertrag“, erklärte Delia.

Nachdem Jack die Seiten überflogen hatte, runzelte er die Stirn. „Ich vermisse die Rücktrittsklausel.“

Lexi sah ihn erstaunt an.

„Auch die Rückerstattungsklausel fehlt.“

Falls Delia überrascht war, so zeigte sie es nicht, sondern lächelte ihn nur kokett an. „Natürlich werden wir beides in den Vertrag aufnehmen, wenn Sie darauf bestehen.“

„Tun Sie das bitte“, sagte Jack.

„Gut, dann überarbeite ich den Vertrag, und Sie können ihn morgen unterschreiben.“ Delia wandte sich an Lexi. „Sie müssten dann auch noch eine Anzahlung leisten.“

„Das sollte die zukünftige Braut selbst erledigen“, mischte sich Jack erneut ein. „Sie sollte den Vertrag auch selbst unterschreiben.“

„Das kann ich doch erledigen“, sagte Lexi.

„Mit einem Vertrag ist nicht zu spaßen.“ Jack schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Falls Mimi etwas passiert oder sie aus irgendeinem Grund nicht bezahlen kann, bist du dafür haftbar.“

Lexi nickte. „Vielleicht hast du recht.“ Sie stand auf. „Ich sage Mimi Bescheid.“

„Gut.“ Jack lächelte sie so charmant an, dass ihr die Knie weich wurden. Rasch griff sie nach ihrer Handtasche und verabschiedete sich von Delia.

Delias Blick ging zwischen ihr und Jack hin und her. „Sind Sie sicher, dass das nicht Ihre eigene Hochzeit ist?“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Lexi verlegen.

„Sie scheinen mir weit besser zusammenzupassen als die beiden, die letzte Woche hier waren.“

Delias Bemerkung ging Lexi nicht aus dem Kopf. Auch beim Treffen mit Mimi musste sie daran denken. Sie hatten sich zum Lunch verabredet, und die angehende Braut wartete gespannt darauf, welche Blumen Lexi ausgesucht hatte.

„Keine Rosen?“, fragte Mimi mit enttäuschter Miene.

Mit ihrem blonden Pferdeschwanz und dem ungeschminkten Gesicht wirkte die Dreiundzwanzigjährige immer noch wie ein Teenager. Lexi hatte die junge Frau bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung kennengelernt und sie sofort gemocht, obwohl sie und Mimi rein gar nichts gemeinsam hatten.

„Warum hast du denn keine Rosen ausgesucht?“

„Weil Jack keine Rosen mag“, erwiderte Lexi, ohne nachzudenken.

„Jack?“

„Ich habe dir doch von Jack erzählt, oder? Der junge Mann, der von einer Lawine verschüttet worden ist.“

Mimi runzelte die Augenbrauen. „Und was hat der mit meinen Blumen zu tun?“

„Ich habe ihn zu dem Treffen mit Delia mitgenommen, quasi als Ersatz für Hank.“

Mimis verständnisloses Gesicht ärgerte Lexi. „Wir haben versucht, uns an eure Stelle zu versetzen.“

„Hank hat aber nichts gegen Rosen, und wenn, würde ich ihm das schon ausreden.“ Mimi trank von ihrer grünen Limonade. „Ich möchte jedenfalls unbedingt Rosen haben.“

Nur mit Mühe gelang es Lexi, ihren Ärger zu unterdrücken. „Das hättest du mir vorher sagen müssen. Ich sollte die Blumen nach meinem eigenen Geschmack aussuchen – und natürlich im Rahmen eures Budgets.“

Mimi schnaubte abfällig. „Das mit dem Budget geht mir wirklich auf die Nerven. Man heiratet doch nur einmal im Leben, und Hank hat Ersparnisse. Ich glaube, er ist einfach nur ein Geizkragen.“ Vehement stieß sie die Gabel in den Nudelberg auf ihrem Teller.

Lexi war der Meinung, dass man für das Budget, das Hank vorgesehen hatte, durchaus eine wunderschöne Hochzeit organisieren könnte. Aber sie spürte, dass Mimis Unmut nicht nur mit dem Geld allein zu tun hatte. Sie legte der jungen Frau die Hand auf den Arm. „Habt ihr euch wieder gestritten?“

Mimi traten die Tränen in die Augen. „Er macht mich wahnsinnig. Nur weil er acht Jahre älter ist und aufs College gegangen ist, glaubt er, er wüsste alles besser. Aber ich lasse mich von ihm bestimmt nicht einschüchtern.“

„Da hast du absolut recht“, sagte Lexi mitfühlend. „Die Ehe ist eine Partnerschaft und keine Diktatur.“

„Das habe ich ihm auch gesagt.“ Mimi straffte die Schultern.

„Was hat er darauf erwidert?“ Lexi fand, dass die beiden für ein Paar, das sich angeblich liebte, ziemlich häufig stritten.

Mimi lächelte etwas widerstrebend. „Er hat mich geküsst, und dann ist er gleich zur Sache gekommen. Damit war die Diskussion beendet.“

Lexi kam der Gedanke, dass die Beziehung der beiden wohl hauptsächlich auf sexueller Anziehung basierte.

Vor der Arbeit hatte Lexi noch rasch den überarbeiteten Vertrag bei Delia abgeholt. Diesen legte sie nun Mimi vor, die ihn genau studierte. Plötzlich stutzte sie. „Da steht ja was von Hochzeit absagen.“

„Das ist die sogenannte Rücktrittsklausel. Jack hat sie vorsichtshalber einfügen lassen. Ich finde das gut. Dann braucht ihr im Falle eines Falles nicht die komplette Rechnung zu bezahlen.“

Entgeistert sah Lexi, wie Mimi die Klausel kurzerhand durchstrich, bevor sie unterschrieb.

„Was machst du denn da?“, fragte sie lauter als beabsichtigt. „Das ist doch nur zu eurem Vorteil.“

Mimi schüttelte eigensinnig den Kopf. „Ich will das aber nicht. Es ist ein schlechtes Omen.“

„Aber …“, begann Lexi.

„Diese Heirat wird auf jeden Fall stattfinden“, unterbrach Mimi sie mit entschiedener Stimme. Dann bedachte sie Lexi mit einem mitleidigen Blick. „Wärst du jemals Braut gewesen, dann würdest du mich verstehen.“

Lexi war noch immer wütend wegen Mimis unverschämter Bemerkung, als es am Nachmittag an der Tür ihres Cottages klopfte.

„Das ist bestimmt Jack“, rief Addie und lief sofort hin, um zu öffnen.

Rasch schlüpfte Lexi in ihre Slipper, die sie neben dem Sofa abgestellt hatte, und stand auf. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass es schon so spät war.

Jack und Addie standen im Türrahmen und strahlten sie erwartungsvoll an.

Lexi räusperte sich verlegen. „Hallo Jack, wie war dein Tag?“

„Ziemlich ereignislos. Vormittags war ich im Fitnessstudio, wobei mir auffiel, dass ich gern mit Hanteln trainiere. Eine Couch-Potato war ich also anscheinend nicht.“

Sie musterte ihn. „Auf die Idee wäre ich auch nie gekommen.“

Er setzte sich in einen der Sessel. „Ich frage mich, ob ich jemals herausfinden werde, wer ich wirklich bin.“

„Ich weiß, wer du bist“, mischte Addie sich aufgeregt ein. „Du bist unser Freund.“

„Danke, Addie. Das ist sehr lieb von dir.“

„Haben wir eigentlich schon alles zusammen, Addie?“, fragte Lexi.

Addie schien angestrengt zu überlegen. „Du musst noch den Kuchen einpacken, Mommy, und ich habe Connor versprochen, meine neue DVD mitzubringen.“

„Okay, du holst die DVD, und ich kümmere mich um den Kuchen.“ Lexi ging in die kleine Küche.

Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, sah sie Jack mit ernster Miene am Fenster stehen. „Stimmt was nicht, Jack?“

Er drehte sich zu ihr um. „Ach, mir geht das alles viel zu langsam. Ich will endlich wissen, wer ich bin.“

„Du erinnerst dich doch jeden Tag ein bisschen mehr.“

Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber wieso reagiert keiner auf die Suchmeldung? Die ist übrigens mittlerweile aus dem Internet verschwunden.“

„Bestimmt wird der Sheriff eine neue Suchmeldung aufgeben, wenn sich in den nächsten Tagen keiner meldet.“

„Aber mein Geld wird langsam knapp, und dann sitze ich auf der Straße.“ Es hörte sich an, als ob er es ernst meinte.

„Keine Sorge, Coraline wirft einen Gast nicht gleich raus, wenn er nicht mehr zahlen kann.“ Lexi zwinkerte ihm schelmisch zu. „Du kannst dann ja immer noch Geschirr spülen.“

„Du kannst doch bei uns wohnen“, meldete sich Addie nun zu Wort, die gerade hereinkam und anscheinend alles mitbekommen hatte. „Oder, Mommy?“

Lexi sah ihre Tochter erschrocken an. „So groß ist unser Cottage nun auch wieder nicht, Kleines.“

„Jack kann mein Bett haben, und ich schlafe bei dir.“ Addie schien sehr zufrieden mit ihrer Lösung zu sein.

„Hm, im Notfall wäre es natürlich möglich“, murmelte Lexi und dachte im Stillen, dass es garantiert nicht lange dauern würde, bis Jack dann in ihrem Bett landete.

Ein ohrenbetäubender Lärm empfing Jack, als er Mary Karens Haus betrat. Cockerspaniel Henry veranstaltete ein wütendes Gebell, das die fünfjährigen Zwillinge Connor und Caleb dazu animierte, ihn noch mehr anzustacheln. Der zweijährige Logan lief währenddessen nackt durch das Haus, offenbar um Granny Fern zu entkommen, die ihn baden wollte.

Julys Sohn Adam beteiligte sich mit schrillen Schreien an dem ganzen Tumult, während die kleine Tochter von John und Kayla völlig ungerührt auf dem Arm ihres Vaters saß.

„Willkommen im Chaos, Jack.“ Mary Karen schnappte sich den vorbeiflitzenden Logan. „Im Kühlschrank stehen Getränke, fühlen Sie sich wie zu Hause.“

Addie rettete die Situation. „Ich gehe mit Connor und Caleb ins Kinderzimmer. Kommt Jungs, ich zeige euch meinen neuen Film. Der ist richtig gruselig.“

Lexi blickte ihrer Tochter lächelnd hinterher.

„Danke für die Einladung, Mary Karen“, sagte Jack und sah sich in dem gemütlichen alten Haus um. „Sie haben es wirklich schön hier.“

„Runter“, greinte Logan auf dem Arm seiner Mutter.

„Zuerst wirst du gebadet, mein Süßer.“

In diesem Moment kam Travis dazu und begrüßte Lexi und Jack mit einem Lächeln.

Bei seinem Anblick fing der kleine Logan sofort an zu strahlen. „Flugzeug machen“, schrie er vergnügt.

Travis nahm ihn von Mary Karens Arm und schwenkte ihn durch die Luft. „Kümmere dich ruhig um deine Gäste, ich werde schon mit ihm fertig.“

„Bist du sicher?“, fragte Mary Karen zweifelnd. „Er soll eigentlich gebadet werden und dann ins Bett. Du könntest ihn ja hoch zu Granny bringen.“

Lexi wandte sich an Jack. „Komm, ich hole dir ein Bier.“

„Geht es hier immer so zu?“, fragte Jack, während er ihr in die Küche folgte.

Lexi lachte. „Das ist doch noch gar nichts.“

„Der Kinderlärm kommt mir jedenfalls nicht bekannt vor. Kinder scheine ich wohl keine zu haben.“

Lexi reichte ihm ein Bier und nahm sich selbst ein Wasser.

Jack öffnete die Flasche und trank einen großen Schluck.

„David kommt gerade mit den Pizzas“, rief Mary Karen vom Flur aus, und Lexi öffnete den Schrank, um Teller und Servietten herauszuholen.

Jack nahm ihr die Teller ab. „Brauchen wir auch Messer und Gabeln?“, fragte er.

Mary Karen kam in die Küche. „Wir sind Barbaren“, meinte sie grinsend. „Wir essen Pizza aus der Hand.“

Es folgte erneutes Chaos. Die größeren Kinder wurden herbeigerufen, Pizzaschachteln geöffnet, Becher und Gläser mit Getränken gefüllt, und dann fingen alle mit Appetit an zu essen.

Als einer der Zwillinge nach dem zweiten Stück griff, wollte sein Bruder es ihm abnehmen. Es gab einen kleinen Kampf, den Travis damit beendete, dass er androhte, die Zwillinge dürften den Kinderfilm nicht sehen, wenn sie sich nicht sofort wieder vertrugen.

„Sie können gut mit Kindern umgehen, Travis“, bemerkte Jack. „Haben Sie auch welche?“

„Zum Glück nicht.“ Travis trank einen Schluck Bier.

„Travis hat sieben jüngere Geschwister“, erklärte Mary Karen. „Er möchte deshalb keine eigenen Kinder.“

„Das habe ich nie behauptet“, wehrte sich Travis. „Jedenfalls nicht so direkt. Du weißt genau, dass ich Kinder mag. Es müssen nur keine eigenen sein.“ Er lächelte Mary Karen an. „Deine Jungs mag ich jedenfalls sehr.“

Doch Mary Karen zuckte nur mit den Achseln.

Jack fand, dass jetzt ein Themenwechsel angebracht war. „Hat vielleicht jemand von euch einen Job für mich? Meine Geldreserven gehen langsam zu Ende.“

„Vielleicht wird im Krankenhaus ja etwas frei“, sagte Mary Karen.

„Wie ihr wisst, habe ich aber keine Papiere.“

„Hm, das macht die Sache natürlich schwierig“, wandte David ein.

„Du könntest ja babysitten“, schlug Mary Karen vor. „Zum Beispiel für mich, um Granny zu entlasten. Ich habe ein Gästezimmer, du könntest sogar hier wohnen.“

Dieser Vorschlag handelte Mary Karen ziemlich betretene Blicke von Travis und Lexi ein.

„War ja nur so eine Idee“, wiegelte Mary Karen hastig ab.

Jack fügte rasch hinzu: „Danke für das Angebot, Mary Karen, aber sobald meine Erinnerung zurückkommt, wird sich schon alles von selbst regeln.“

Auf der Fahrt nach Hause dachte Lexi darüber nach, wieso Mary Karens Vorschlag ihr so einen eifersüchtigen Stich versetzt hatte.

Addie war auf dem Rücksitz eingeschlafen, und ihr Kopf rollte ständig von einer Seite zur anderen. Es war doch später geworden als vorgesehen. Als die Buchbesprechung im Lesekreis beendet gewesen war, hatten die Kinder noch vor ihrem Film gesessen, den sie natürlich zu Ende sehen wollten. Daraufhin hatten die Erwachsenen beschlossen, sich die Wartezeit mit Kartenspielen zu vertreiben.

Zu Lexis Überraschung war Jack ziemlich gut, obwohl er sich angeblich nicht erinnern konnte, dieses recht komplizierte Spiel je gespielt zu haben.

Jacks sanfte Stimme unterbrach nun plötzlich ihre Gedanken. „Das war ein lustiger Abend, danke, dass du mich eingeladen hast, Lexi.“

„Ich fand es sehr schön, dass du mitgekommen bist“, sagte Lexi und musste aus unerfindlichen Gründen plötzlich an Addies Vater denken. Drew hatte sie nie Karten spielen oder Pizza aus der Hand essen sehen.

„Ich mag deine Freunde. Nur leider kam nicht der erwartete Erinnerungsblitz. Weder das Familienleben noch das Kartenspielen kamen mir vertraut vor. Aber es hat mir gefallen, als Paar aufzutreten.“

Lexi stockte das Herz. „Das kennst du also?“

„Ich weiß es nicht. Ich glaube, es hat eher mit dir zu tun. Ich fühle mich einfach sehr wohl mit dir.“

„Ja, mir geht es mit dir genauso“, gab Lexi zögernd zu.

Jack griff nach ihrer Hand, doch sie entzog sie ihm, obwohl es ihr schwerfiel. „Wir sollten das lieber lassen.“

„Warum denn?“

„Ach, Jack, du weißt warum.“ Lexi blickte starr geradeaus auf die Straße. „Du wirst bald wieder weggehen. Ich kann mich doch nicht auf jemanden einlassen, der irgendwann so plötzlich wieder verschwindet, wie er gekommen ist.“

„Das muss doch nicht unbedingt so sein. Wir könnten doch …“

„Nein, Jack. Wir können keine Pläne machen.“ Lexi umklammerte das Lenkrad fester. „Womöglich hast du eine Frau oder eine Freundin.“

Er atmete hörbar ein. „Aber ich mag dich, Lexi.“

„Mein Vater hat immer gesagt, man muss mit den Karten spielen, die man auf der Hand hat. Wenn ich einen Freund oder Mann hätte, der sich nicht mehr an unser gemeinsames Leben erinnert, dann würde ich mir wünschen, dass er jemanden trifft, der ihm dabei hilft, sich zu erinnern … als Freund.“

Jack schwieg, dann fragte er leise: „Wie soll das gehen?“

„Wir machen so weiter wie bisher, verbringen Zeit miteinander und unternehmen verschiedene Dinge. Alles, um deinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, und nichts weiter … keine Annäherungsversuche.“

„Wir spielen die Karten aus, die wir auf der Hand haben“, erwiderte er seufzend.

„Genau. Jetzt mal zu der Idee, bei Mary Karen einzuziehen.“

„Hast du das wirklich ernst genommen?“

Sie waren mittlerweile vor dem Haus angelangt.

„Sollte ich das nicht?“, fragte Lexi so beiläufig wie möglich.

„Einen Moment lang habe ich das tatsächlich überlegt“, gab Jack widerstrebend zu. Er schämte sich ein bisschen dafür, dass er dabei nur an sich gedacht hatte, obwohl er damit sicher Travis’ Gefühle verletzt hätte. „Aber das wäre keine gute Idee.“

Lexi schaltete den Motor aus und musterte Jack von der Seite. „Travis wäre bestimmt nicht begeistert gewesen. Hast du bemerkt, wie er dich angesehen hat?“

„Allerdings“, sagte Jack leise lachend. „Ich kann ihn aber auch verstehen. Wenn es umgekehrt wäre und er bei dir einziehen wollte, würde mir das auch nicht passen.“

Ihre Blicke trafen sich. „Ich hoffe, du verstehst auch, warum du nicht bei uns einziehen kannst.“

„Wir müssen auf Addie Rücksicht nehmen.“ Jack musste über ihren erstaunten Blick lächeln. „Was ist? Wunderst du dich etwa über meine Einfühlungsgabe?“

„Nein“, sagte sie verlegen, „ich …“

Er streichelte ihre Wange. „Niemals würde ich etwas tun, was dich oder Addie verletzen könnte.“

Als sie das Gesicht in seine Hand schmiegte, durchströmte ihn eine Woge der Zuneigung.

„Mommy?“, kam jetzt eine verschlafene Stimme vom Rücksitz.

Rasch zog Jack seine Hand weg.

Addie gähnte ausgiebig. „Sind wir zu Hause?“

„Ja, mein Schatz. Ich hätte dich niemals so lange auflassen dürfen, wo morgen doch Schule ist.“

„Macht doch nichts, Mommy.“ Wieder gähnte Addie. „Morgen ist nicht viel, nur ein kleiner Mathetest.“

Lexi stöhnte auf, und Jack konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.

„Ich habe eine Idee.“ Er drehte sich so, dass er Lexi und Addie gleichermaßen ansehen konnte. „Ich stehe einfach früh auf und frühstücke mit Addie, und dabei kann ich sie noch mal abfragen.“

„Cool“, rief Addie, doch dann runzelte sie die Stirn. „Weißt du denn noch, wie man dividiert?“

Jack zwinkerte ihr zu. „Falls nicht, hilfst du mir einfach okay?“

„Danke“, sagte Lexi. Der gefühlvolle Ausdruck in ihren Augen verwirrte ihn. Was war denn schon groß dabei, sich eine halbe Stunde mit ihrer Tochter hinzusetzen?

Seine Verwirrung steigerte sich noch mehr, als sie seine Hand drückte.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass er alles für diese Frau tun würde.

„Wie geht es unserem Prinzen denn? Hat er sich in Jackson Hole eingewöhnt?“ Rachel Milligan blickte von dem Krankenblatt auf, das sie gerade einsortierte.

Lexi lächelte. „Dem Prinzen geht es gut. Ich soll euch von ihm grüßen.“

Normalerweise hatte Lexi kaum Zeit, sich mit den Schwestern zu unterhalten, aber an diesem Tag war es auf der Station ungewöhnlich ruhig.

Rachel wurde nun ernst. „Schon merkwürdig, dass niemand sich nach ihm erkundigt. Kann er sich inzwischen denn schon an etwas erinnern?“

Lexi lehnte sich gegen den Aktenschrank. „Nur an sehr wenig. Ich hoffe sehr, dass seine Angehörigen ihn bald ausfindig machen.“

„Hat der Sheriff noch einmal eine Suchmeldung herausgegeben?“

„Ich glaube schon, aber es kam immer noch keine Reaktion.“

Rachel schüttelte seufzend den Kopf. „Dieser Jack Snow scheint aber auch ein Pechvogel zu sein.“

Plötzlich hatte Lexi das Gefühl, Jack verteidigen zu müssen. „Wie kommst du denn darauf?“, fragte sie pikiert. „Von seinem Gedächtnisverlust einmal abgesehen, hat Jack die Lawine unverletzt überlebt. Er hat ein ordentliches Dach über dem Kopf und Freunde, die sich um ihn kümmern.“

„Tut mir leid, Lex, ich wollte dich nicht kränken.“

„Das hast du nicht, aber wenn ich daran denke, was ihm alles hätte passieren können …“ Sie holte tief Luft. „Er hatte großes Glück.“

„Auf jeden Fall hat er Glück, dich als Freundin zu haben“, sagte Rachel mit sanfter Stimme.

Autor

Cindy Kirk
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