Miss Winbolt ist schockiert

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Ein gefährlicher Sturz, starke Arme, die sie halten - schließlich ein unerhörter Kuss! Miss Emily Winbolt, eine junge Dame mit bisher untadeligem Ruf, flieht schockiert über die leidenschaftliche Sehnsucht, die der attraktive Fremde in ihr auslöst. Doch es gibt es kein Entkommen: Kurz darauf spricht Sir William Ashenden, auf der Suche nach einer tugendhaften Gattin, bei ihr vor. Emily sieht seine Überraschung, weiß, dass er sie erkannt hat - und fragt sich: Hält er wegen meines großen Erbes um meine Hand an? Oder kann auch er jenen süßen, wilden Kuss nicht vergessen?


  • Erscheinungstag 05.10.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733769178
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL
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Berkshire, Mai 1820

„Sie müssen einen Ehemann finden, Miss Winbolt. Eine Heirat ist die einzige Lösung für Sie.“

Langsam stellte Emily ihre Tasse ab. „Mrs. Gosworth, ich glaube nicht …“

„Ich kann mir gut vorstellen, wie Sie sich fühlen, meine Liebe“, unterbrach ihre Gastgeberin sie. „Die Heirat Ihres Bruders muss Ihnen das Leben sehr schwer gemacht haben. Nachdem Sie jahrelang in Shearings das Sagen hatten, ist es selbstverständlich nicht leicht, die Führung seiner Frau zu überlassen.“

Obwohl sie sich ärgerte, musste Emily lachen. „Nichts ist abwegiger als das. Rosa und ich sind sehr gute Freundinnen und kommen hervorragend miteinander aus. Ihre Bedenken sind völlig unbegründet.“

Mrs. Gosworth hatte nicht vor, von ihrem Lieblingsthema Abstand zu nehmen. „Natürlich will Ihre Schwägerin Sie nicht kränken. Aber das Personal in Shearings ist daran gewöhnt, seine Anweisungen von Ihnen zu erhalten. Wie soll die neue Mrs. Winbolt sich als Hausherrin etablieren, während Sie stets zugegen sind? Sie besitzen eine solche Entschiedenheit, dass die zarte Frau Ihres Bruders in ihrem eigenen Hause zwangsläufig in den Hintergrund gedrängt wird!“

„Meine liebe Mrs. Gosworth, Sie irren sich in Bezug auf Rosas Charakter“, erwiderte Emily nach wie vor lächelnd. „Es mangelt ihr keinesfalls an Durchsetzungsvermögen.“

„Du liebe Güte! Zwei willensstarke Frauen unter einem Dach! Das führt unweigerlich zu Streit.“

„Ich bezweifle, dass …“

„Sie können einwenden, was Sie wollen. Nur wenn Sie heiraten, ist das Problem gelöst. Suchen Sie sich einen anständigen Mann, und verlieren Sie keine Zeit.“

Emily bemühte sich, ihren Humor zu bewahren. Sie versicherte, keinen geeigneten Mann zu kennen, und erkundigte sich, ob Mrs. Gosworth einen Kandidaten ins Auge gefasst habe. Sinn für Ironie und Feingefühl für andere gehörten jedoch nicht zu Mrs. Gosworths Stärken. „Im Augenblick nicht, allerdings dürfte es nicht allzu schwierig sein, jemanden zu finden“, verkündete sie triumphierend. „Leider ist Ihr Äußeres bestenfalls annehmbar. Ihr Bruder ist ein gut aussehender Mann, und keiner in der Nachbarschaft kann mit der Schönheit seiner Gattin konkurrieren. Sie hingegen …“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist wirklich ein Jammer. Ihre Situation ist dennoch nicht aussichtslos. Durch Ihre bisherige Rolle in Shearings wissen Sie, wie man einen Haushalt leitet. Das ist für viele Männer von Belang, zumal Sie mit einem ansehnlichen Vermögen ausgestattet sind.“

An dieser Stelle verlor Emily beinahe die Fassung, auch wenn sie sich auf gar keinen Fall provozieren lassen wollte. „Dann werde ich doch allein bleiben müssen, denn auf einen solchen Gatten kann ich verzichten.“ Sie erhob sich. „Herzlichen Dank für Ihre Einladung, Madam. Ich muss mich jetzt leider verabschieden.“ Sie knickste und fügte hinzu: „Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie sich so darum sorgen, wie ich mit der Frau meines Bruders zurechtkomme. In einem Punkt kann ich Sie jedoch völlig beruhigen. Wenn ich Shearings jemals verlasse, hat es sicherlich nichts mit meinem Verhältnis zu meiner Schwägerin zu tun. Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag.“

Wütend machte Emily sich auf den Heimweg nach Shearings. Sie wusste, dass Mrs. Gosworth eine verbitterte alte Frau war, die überall Streit stiftete. Aber diesmal war sie zu weit gegangen. Als Emily das Gatter öffnete, das zum Three Acre Field führte, überlegte sie, warum Mrs. Gosworths Boshaftigkeit ihr so zusetzte. Bittere Erfahrungen hatten sie gelehrt, dass ein Mitgiftjäger das Letzte war, was sie sich für ihre Zukunft wünschte. Doch wie kann ich sonst einen eigenen Hausstand gründen, ohne Philip und Rosa Kummer zu bereiten? Diese Frage ließ sie nicht mehr los, während sie das Gatter wieder hinter sich schloss und die Weide überquerte. Sie liebte ihren Bruder und ihre Schwägerin und verspürte zugleich ein wachsendes Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Sie war so in Gedanken vertieft, dass sie Pritchards schwarzen Stier erst erblickte, als dieser sie aus einer Entfernung von weniger als zwanzig Yards anstarrte. Ihr blieb fast das Herz stehen, zumal ihr sofort die schrecklichen Geschichten in den Sinn kamen, die man sich über das Tier erzählte. Black Samson hatte bereits mehrere Hunde, die ihm zu nahe gekommen waren, aufgespießt und getötet. Ohne jeden Anlass hatte er Job Diment, einen von Pritchards Landarbeitern, angegriffen und ihn so schwer am Arm verletzt, dass er noch immer arbeitsunfähig war. Andere waren nur um Haaresbreite schlimmeren Verletzungen entgangen …

Sie löste sich aus ihrer Erstarrung und schaute sich um. Black Samson würde sie einholen, bevor sie das nächste Gatter erreichen konnte. Sie musste woanders Zuflucht finden. Aber wo? Vielleicht konnte sie die große Eiche erreichen. Sie war versucht, loszurennen, wusste jedoch, dass es besser war, so unauffällig wie möglich auf den Baum zuzugehen. Nach ein paar zögerlichen Schritten schaute sie sich erneut um. Als sie sah, dass Black Samson seinen Kopf in ihre Richtung gehoben hatte, verlor sie die Nerven. Sie schrie auf und rannte auf den Baum zu. Es war das Schlechteste, was sie tun konnte. Müde durch die Hitze des Nachmittags hatte der Stier ihr zunächst wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Doch die plötzliche Unruhe empfand er als Kampfansage! Aufgescheucht durch das Gerenne und die flatternde Kleidung senkte er die Hörner und nahm die Verfolgung auf.

Emily rannte um ihr Leben. Der Baum ist zu weit weg, ich schaffe es nicht! Schon hörte sie hinter sich das wütende Schnauben des Stiers. Sie stolperte auf die Eiche zu und glaubte bereits, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen. Mit allerletzter Kraft gelang es ihr, sich an den unteren Ästen hochzuziehen. Ein Fuß hing noch herab, als der Stier sie erreichte, doch seine Hörner verfingen sich in ihrem hinabfallenden Hut. Black Samson blieb stehen, um ihn abzuschütteln, was ihr den entscheidenden Vorsprung verschaffte, um sich in Sicherheit zu bringen. Emily erklomm einen Ast nach dem anderen, bis sie einen erreichte, der breit genug war, um ihr Zuflucht zu gewähren. Ihr Herz raste, und sie schnappte erschöpft nach Luft, während sie sich an das Geäst klammerte. Sie war dem Stier entkommen.

Einige Minuten blieb sie regungslos, dann lehnte sie sich zitternd gegen den Stamm. Ihre Beine waren völlig zerkratzt, und ihre Seidenstrümpfe wehten in Fetzen um die Fußgelenke. Sie entfernte die Strumpfreste und zog ihre Schuhe wieder richtig an. Es war ein schmerzhaftes Manöver, da ihre Fingernägel bei ihrem verzweifelten Klettern eingerissen waren. Wenigstens bin ich in Sicherheit! Sie blickte zu dem Stier hinunter und war schockiert darüber, was mit ihrem Hut geschehen war. Er lag zerfetzt im Staub, und Black Samson zerschlitzte die letzten Überreste. Emily grauste es. Wie konnte ich nur Pritchards Stier vergessen? Genauso gut hätte sie und nicht der Hut unter Black Samsons Hufen geraten können.

Schaudernd wandte sie sich ab und bemühte sich, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie konnte sich glücklich schätzen, dem Stier entkommen zu sein. Das ganze Dorf sprach über das Ungeheuer, und Bauer Pritchard stand unter Druck, sich des Tieres zu entledigen. Erst jetzt erinnerte sie sich daran, dass Will Darby ihr gestern berichtet hatte, dass Pritchard den Stier auf die Wiese von Three Acre Field gebracht hatte, weil sie weiter vom Dorf entfernt lag und zudem von stärkeren Zäunen und Hecken umgeben war. Allerdings lag das Gelände auf dem Weg nach Shearings, und nach dem Gespräch mit Mrs. Gosworth hatte Emily sich durch Bewegung Luft verschaffen wollen, bevor sie Rosa unter die Augen trat. Den Kutscher hatte sie vorausgeschickt, weil sie allein über die Felder nach Hause gehen wollte. Vor lauter Ärger über Mrs. Gosworth und die Sorgen um ihre Zukunft hatte sie dummerweise keinen einzigen Augenblick an den Stier gedacht. Wie kann ich entkommen, ohne wieder an Black Samson vorbeizulaufen? Als sie sich umsah, bemerkte sie, dass ein Ast der Eiche über der Hecke hing, die das Feld begrenzte. Auf der anderen Seite befand sich eine Weide, die sich zu einem kleinen Bach neigte. Es musste möglich sein, sich von dem Ast auf die Wiese fallen zu lassen. Dann konnte sie dem Pfad am Bach entlang bis nach Shearings folgen. Sie fasste neuen Mut und schob sich so weit vor, bis sie über die Hecke sehen konnte. Doch der Abhang war steiler, als sie es in Erinnerung gehabt hatte, und die Entfernung zum Boden war zu groß. Ohne Hilfe war es unmöglich, hinunterzugelangen.

Mühsam hielt Emily die Tränen zurück. Der Pfad wurde selten benutzt, aber wenn sie noch etwas wartete, würde Will Darby auf seinem Heimweg von Shearings hier vorbeikommen. Sie wusste, dass sie Geduld haben musste, denn Will hatte es nie eilig nach Hause zu kommen. Sie versuchte, sich bequemer hinzusetzen, doch der Ast knarrte beunruhigend, sodass sie jede weitere Bewegung vermied.

Die Zeit verging sehr langsam, und Emily wurde schwindelig von der Anstrengung, sich in der unbequemen Position aufrecht zu halten. Gerade als ihre Lage unerträglich wurde, sah sie jemanden den Pfad entlang in Richtung Dorf laufen. Ihre Erleichterung kannte keine Grenzen. Will musste beschlossen haben, einmal zeitig nach Hause zu gehen.

„Will!“, schrie sie. „Will, hilf mir!“ Er hatte sie nicht gehört – er war weitergegangen. „Will!“, rief sie wieder. „Ich bin hier! Halt an, bitte, halt an! Bist du taub? Um Himmels willen! Ich sitze hier seit Stunden fest und brauche deine Hilfe!“

Erleichtert sah sie, dass der Mann stehen geblieben war und sich nach ihr umblickte. Er kletterte den Hang hoch und kam auf den Baum zu. Erst als er unter ihr stand, erkannte sie, dass es nicht Will Darby war, sondern ein Fremder.

„Eine junge Dame in Schwierigkeiten, die mich beim Namen ruft! Kennen wir uns etwa?“

Der Fremde war kein Landarbeiter. Seine Bekleidung wirkte nachlässig. Er trug ein weit aufgeknöpftes Hemd und darüber einen offenen Gehrock. Seine Stiefel und seine Hose waren zwar verstaubt, aber von guter Qualität, und seine Ausdrucksweise war die eines Gentlemans. „Nein“, erwiderte Emily, die trotz ihrer misslichen Lage daran dachte, dass ihr Haar zerzaust und ihr Kleid zerrissen war, und dass sie schockierend viel nacktes Bein zur Schau stellte. „Ich …“

„Woher kennen Sie denn meinen Namen?“

„Ich habe Sie mit jemandem verwechselt“, erklärte sie.

„Ach so“, erwiderte er. „Und was machen Sie da oben auf dem Baum?“

Emily fühlte sich schrecklich. Nach dummen Fragen war ihr wahrhaftig nicht zumute. „Was glauben Sie denn, was ich hier mache?“, fragte sie gereizt. „Ich sitze fest. Ich kann nicht hinunter!“

Er zog seinen Gehrock aus und sprang hoch, um einen Blick über die Hecke zu werfen. „Warum klettern Sie denn nicht auf der anderen Seite vom Baum? Das erscheint mir viel einfacher.“

„Weil hinter der Eiche ein tonnenschwerer Stier auf mich wartet. Er heißt Black Samson und ist in der ganzen Gegend für seine Aggressivität bekannt. Ich habe keine Lust, aufgespießt zu werden. Egal wie Sie heißen, hören Sie auf, unnütze Fragen zu stellen, und helfen Sie mir so schnell wie möglich, bevor ich mich nicht mehr halten kann und hinunterfalle.“ Ihre Stimme zitterte, und sie war den Tränen nahe.

„Wir werden sehen, was sich machen lässt. Ich habe schon einmal eine Katze von einem Baum geholt, aber mit einer erwachsenen Frau ist es schwieriger.“ Er untersuchte die Hecke, die voller Dornen war, blickte den Abhang hinunter und musterte den Ast, auf dem sie saß. „Sie sind außerhalb meiner Reichweite. Ich muss Hilfe holen.“

„Nein!“ Emily war am Ende ihrer Kräfte. „Ich halte das nicht mehr lange durch. Der nächste Hof ist viel zu weit entfernt! Sie müssen mir jetzt helfen!“

„Gut, können Sie vielleicht etwas weiter vorrutschen, sodass Sie die Dornenhecke hinter sich lassen? Dann könnten Sie langsam hinuntergleiten, und ich werde Sie auffangen. Ganz sachte, sonst rollen wir beide gemeinsam den Abhang hinunter. Ja, so ist es gut. Vorsichtig! Ja, so wird es gehen. Langsam …“

Es krachte, und Emily schrie erschrocken auf, als der Ast abbrach und sie plötzlich in die Arme ihres Retters fiel. Er versuchte, das Gleichgewicht zu halten, doch der Abhang war zu steil. Sie fielen beide hin und rollten über den harten Grund. Er hielt sie die ganze Zeit fest und schützte sie vor den schlimmsten Unebenheiten. Schließlich kamen sie in einer grasbewachsenen Mulde zum Halt. Einen Augenblick blieben sie regungslos liegen. Dann sagte er: „Das war abenteuerlich. Sind Sie verletzt?“

Wie benommen und außer Atem lag Emily in seinen Armen. Die Welt schien ganz in den Hintergrund getreten zu sein. Sie befand sich in einer Oase der Ruhe und freute sich, dass all die Qualen der vorangegangenen Stunden ein Ende hatten. Schließlich schüttelte sie den Kopf, um seine Frage zu beantworten.

„Sind Sie sicher?“ Er beugte sich über sie, sein Gesicht war ganz nah. Ein attraktives Gesicht, dachte sie verträumt, ein freundliches und humorvolles Gesicht. Die Lachfältchen in den Winkeln seiner dunkelblauen Augen sprachen dafür, dass er gern lachte. Er war braun gebrannt und benötigte offenkundig eine Rasur. Im Augenblick lachte er nicht, sondern betrachtete sie mit ernster Miene. Wie liebenswürdig, dachte sie, er macht sich tatsächlich Sorgen um mich.

Sie war überrascht, wie gut ihr das tat. Seit einiger Zeit wurde sie von Einsamkeit heimgesucht, sogar dann, wenn sie sich in Gesellschaft derer befand, die sie am meisten liebte. Mrs. Gosworth hatte mit ihrem Gerede Zukunftsängste in ihr geweckt, die sie zuvor erfolgreich verdrängt hatte. Sie sehnte sich danach, umsorgt zu werden. Und es war nicht nur nett, mit solcher Aufmerksamkeit bedacht zu werden, es war ausgesprochen angenehm, einen beschützenden Arm um sich zu spüren.

„Darf ich Ihnen aufhelfen?“

Sie überlegte einen Moment. Das Gefühl der Nähe zu einem Männerkörper war fremd, aber zweifellos anziehend. „Ich bin mit meiner Lage ganz zufrieden, danke“, antwortete Emily und lächelte ihn an.

Später, als sie darüber nachdachte, was dann folgte, fand sie keine andere Erklärung – sie musste bei ihrem Sturz mit dem Kopf aufgeschlagen sein. Vielleicht hatte auch die schreckliche Begegnung mit dem Stier ihr vorübergehend den Verstand geraubt. Was auch immer der Grund gewesen war, sie schien nicht ganz sie selbst gewesen zu sein.

Emily Winbolt war eine warmherzige und humorvolle Frau, auch wenn viele, die sie nur oberflächlich kannten, davon keine Notiz nahmen. Sie verhielt sich anderen gegenüber normalerweise kühl und distanziert und vermittelte den Eindruck einer wohlerzogenen und untadeligen jungen Dame. Ihr Verhältnis zu ihrem Großvater, ihrem Bruder und ihrer Schwägerin war von großer Zuneigung und Herzlichkeit geprägt. Doch schlechte Erfahrungen hatten sie in Bezug auf das andere Geschlecht misstrauisch gemacht, und nur ihr Humor hatte sie vor Verbitterung bewahrt.

Ihr Verhalten nach dem Sturz war so derartig ungewöhnlich, dass keiner, der sie kannte, es für möglich gehalten hätte.

Während der Fremde in ihrer Nähe war, schien ihr indes alles vollkommen selbstverständlich.

Er legte die Stirn in Falten. „Auf jeden Fall sollten wir überprüfen, ob Sie sich verletzt haben. Können Sie Arme und Beine bewegen?“

Sie streckte sich aus. „Sehen Sie, abgesehen von ein paar Kratzern ist alles an mir heil geblieben.“ Ihre Bewegung brachte sie noch näher in Kontakt mit seinem Körper. Ihre Wange berührte seine Brust, und Emily spürte die Wärme seines Körpers durch den dünnen Stoff seines Hemdes. Sein Herz schlug schnell …

Er lächelte sie freundlich an. „Sie haben bei Ihrem Sturz die halbe Hecke mitgenommen“, bemerkte er und zupfte vorsichtig ein paar Blätter und Ästchen aus ihren Haaren. Emily fühlte sich wohl. Ihre Einsamkeit und all die anderen Ängste schienen wie verflogen. Dieser Mann war ein Fremder, den sie vielleicht niemals wiedersehen würde, aber sie hatte sich seit sehr langer Zeit nicht mehr so zu einem anderen Menschen hingezogen gefühlt. Er blickte ihr in die Augen, und sie wusste, dass er sie küssen würde. Der Gedanke beunruhigte sie jedoch überhaupt nicht. Zärtlich hob er ihr Kinn mit einem Finger, um ihre Lippen den seinen anzunähern …

Zunächst war sein Kuss zaghaft, als wäre er unsicher, wie sie reagieren würde. Doch als er ihre Erwiderung spürte, küsste er immer leidenschaftlicher, ohne es an Behutsamkeit fehlen zu lassen. So ging es eine ganze Weile. Emily verlor sich völlig in den Wonnen der Küsse. Als er sich von ihren Lippen löste, legte sie ihm die Arme um den Hals und zog seinen Kopf wieder zu sich hinunter.

„Was für ein Glück“, murmelte er. „Als ich mich heute Morgen auf den Weg gemacht habe, rechnete ich nicht damit, in den Armen einer bezaubernden Frau zu landen. Wie heißt du, meine Schöne?“

Emily verspürte nicht den Wunsch, ihm zu verraten, wer sie war. Alles kam ihr wie Magie vor, wie eine Zeit außerhalb der Wirklichkeit. Emily Winbolt, die sittsame junge Dame, hatte in dieser Zauberwelt nichts zu suchen. Als er ihr Zögern bemerkte, lachte er. „Ich hätte nicht fragen sollen. Auch, wenn es nicht ganz gerecht ist, denn du kennst ja meinen Namen.“

„Will“, hauchte sie zärtlich. „Obwohl ich ja nicht wusste, dass du so heißt, bevor du es mir verraten hast.“

„Wer ist denn der andere Will in deinem Leben?“

Sie hätte antworten können: „Ein Stallknecht meines Bruders“, doch sie vermied es. Sie wollte nicht, dass er wusste, wer sie war, dass ihrem Bruder das ganze Land, das sie umgab, gehörte, und sie in einer schönen Villa im palladianischen Stil wohnten. Sie wollte nicht über ihre Schwägerin reden, die vornehm, liebenswürdig und wunderschön war. Emily wollte einmal in ihrem Leben eine rätselhafte Unbekannte sein, nicht die reiche Miss Winbolt, Schwester des Großgrundbesitzers und begüterte Erbin. Und vor allem wollte sie nicht an das Problem erinnert werden, das sie seit Wochen beschäftigte und sich durch Mrs. Gosworths unsensibles Gerede verschärft hatte.

„Er spielt keine Rolle, Will“, flüsterte sie. „Im Augenblick zählt überhaupt nichts anderes.“ Versonnen lächelte sie ihn an. „Will“, wiederholte sie seinen Namen und zog ihn erneut an sich. Diesmal war ihr Kuss von Beginn an leidenschaftlich. Der Fremde hielt sie so fest, dass sie jede Faser seines muskulösen Körpers spürte. Er strich ihr über das Haar, küsste ihre Augen und ließ seine Lippen wieder auf ihre gleiten. Emilys Herz schlug wie wild. Sie war von einem Mann geküsst worden, den sie beinahe geheiratet hätte, aber niemals auf diese Weise. Niemals zuvor hatte sie gespürt, wie ihr Blut vor Erregung zu kochen begann. Überall, wo er sie berührte, kribbelte ihre Haut. Erst jetzt wurde ihr klar, wie bedeutungslos die früheren Küsse gewesen waren. Sie fühlte eine überwältigende Sehnsucht, von diesem Mann festgehalten und von ihm liebkost zu werden. Für sie war er kein Fremder – sie gehörte zu ihm. In der Mulde liegend waren sie dem Rest der Welt verborgen und verloren sich im Zauber ihrer Zweisamkeit. Er küsste ihren Hals, ihre Schultern, ihre Brüste …

Ein Pfeifen störte ihre Idylle. Will Darby war auf dem Heimweg! Emily erstarrte und spürte, wie die starken Hände des Fremden sie zurückhielten. „Bleib liegen“, flüsterte er. „Wenn wir uns ruhig verhalten, wird er uns nicht bemerken.“

Der Zauber verschwand, als die Realität in Emilys Träume eindrang. Steif lag sie da, bis das Pfeifen verklang. Von Scham überwältigt, riss sie sich los. „Das war Will Darby“, erklärte sie, als sie sich aufrichtete und ihr Kleid glatt strich. Ohne ihn anzusehen fügte sie eilig hinzu: „Sicher wundert man sich, wo ich bleibe. Ich muss los.“

Als sie sich abwandte, stand er auf und legte ihr die Arme um die Taille. „Ich komme mit dir“, murmelte er nah an ihrem Ohr.

„Das geht nicht!“, schrie sie panisch und stieß ihn von sich. „Du kannst mich nicht begleiten.“

„Das kann ich nicht glauben!“, entgegnete er halb im Scherz, halb im Ernst. „So eine grausame Zauberin bist du nicht. Du kannst nicht einfach aus dem Nichts auftauchen, mich verhexen und dann für immer verschwinden! Das lasse ich nicht zu.“

Emily war hin- und hergerissen zwischen ihrem Schamgefühl und dem Verlangen, zu bleiben. „Bitte, lass mich gehen. Schau mich nicht so an! Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist …“ Aufschluchzend stolperte sie in Richtung des Pfades. Sie raffte die Röcke und rannte wie von Black Samson gehetzt in Richtung Shearings. Als sie einen flüchtigen Blick zurückwarf, stellte sie erleichtert fest, dass der Fremde keine Anstalten machte, ihr zu folgen, sondern kopfschüttelnd stehen geblieben war.

Nachdem sie hinter einer Biegung verschwunden war, zuckte Will mit den Schultern und hob seinen Gehrock auf. Es war zu spät, um heute noch bis nach Charlwood zu gelangen. Er würde in dem Gasthaus übernachten, wo er sein Pferd und sein Gepäck zurückgelassen hatte, oder draußen die Nacht verbringen. Der Gedanke machte ihm nichts aus. Es war warm, und er war daran gewöhnt. Noch immer kopfschüttelnd machte er sich auf den Weg. Die Begegnung gab ihm Rätsel auf. Eine solche Leidenschaft, gefolgt von einem derartig abrupten Aufbruch! Warum ist sie gegangen? Ist dieser andere Will ihr Geliebter oder vielleicht sogar ihr Ehemann? Vermutlich würde er es nie herausfinden. Er beschloss, sich nicht weiter den Kopf darüber zu zerbrechen. Falls Charlwood sich als ungeeignet erwies, würde er sich nicht lange in der Gegend aufhalten. Daher war es unwahrscheinlich, dass sie sich ein zweites Mal über den Weg laufen würden. Er bedauerte diesen Gedanken. Etwas an ihr hatte ihn in einer Weise angezogen, wie es ihm schon seit Jahren nicht mehr passiert war. Es war nicht ihr Äußeres – davon war ihm außer ihren silbergrauen Augen kaum etwas in Erinnerung geblieben. Schöne lange Beine hatte sie. Er grinste, als er an ihre vom Ast baumelnden Beine dachte. Aber da war noch mehr. Etwas an ihr hatte ihn auf einer tieferen Ebene berührt. Es war eine seltsame Mischung aus Hingabe und Unschuld …

Er schüttelte den Kopf und beschleunigte seinen Gang. Das Leben ist zu kurz, um weitere Gedanken an sie zu verschwenden. Aber sie weiß verflixt gut, wie man das Blut eines Mannes in Wallung bringt!

2. KAPITEL
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Als Emily Shearings erreichte, war sie völlig erschöpft. Die Prellungen und Kratzer, die sie eine Weile ganz vergessen hatte, plagten sie erneut, und sie humpelte mit schmerzverzerrter Miene durch den Garten auf die Hintertreppe zu. Obwohl sie sich so leise wie möglich bewegte, hatte Rosa sie gehört.

„Emily, meine Liebe! Gott sei Dank bist du wieder zurück! Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, nachdem der Kutscher ohne dich ankam. Aber warum gehst du durch den Hintereingang …?“ Besorgt musterte sie ihre Schwägerin. „Du liebe Güte! Was ist passiert? Nein, verschwende keine Zeit mit Erklärungen – du kannst mir alles später berichten. Erst einmal bringen wir dich auf dein Zimmer.“

Sie half ihr durch die Halle und die Treppe hinauf. Bald saß Emily auf einem Stuhl und wurde von Rosa und Mrs. Hopkins umsorgt. Die Haushälterin stand bereits seit Jahren in Diensten der Familie Winbolt und kannte Emily von klein auf. Behutsam zog sie ihr die zerrissene Kleidung aus und stieß Entsetzensrufe aus, als sie den Zustand von Händen und Beinen bemerkte. Rosa holte derweil Salben und Lotionen und kehrte schließlich mit einem Glas von Philips bestem Brandy zurück. Wenig später lag Emily von Kissen umgeben in ihrem Bett. Ihre Hände waren verbunden, und die Schürfwunden auf ihren Beinen waren sorgfältig gereinigt und mit Salbe behandelt worden. Rosa hockte neben ihr auf der Bettkante und hielt ihr den Brandy an die Lippen.

„Trink alles aus“, sprach sie aufmunternd. „Danach wirst du dich besser fühlen.“

Als Emily zögerte, nickte Mrs. Hopkins zustimmend. „Es sind nur ein paar Tropfen Brandy, Miss Emily. Sie sollten tun, was Mrs. Winbolt Ihnen sagt.“ Sie warteten, bis Emily das Glas geleert hatte. „Wenn Sie mich jetzt nicht mehr benötigen, mache ich mich wieder an die Arbeit, Madam“, sagte sie zur Hausherrin und verließ das Zimmer.

„Sie denkt, du könntest freier sprechen, wenn sie nicht zugegen ist“, erklärte Rosa, nachdem die Haushälterin das Zimmer verlassen hatte. „Dabei hätte sie ruhig bleiben können. Mrs. Hopkins ist die Diskretion in Person.“ Sie schwieg eine Weile und sagte dann zögerlich: „Ich will wissen, was mit dir geschehen ist. Fühlst du dich gut genug, es mir zu erzählen?“

Emily holte tief Luft. „Du weißt, dass ich heute bei Mrs. Gosworth war …“, begann sie und machte eine Pause.

„Ich habe dich gewarnt“, bemerkte Rosa. „Sie ist eine der bösartigsten Personen, die ich kenne. Arme Emily, ich hätte dich begleiten sollen. Hat sie dich gekränkt?“

„Sie hat es versucht“, gestand Emily und verzog das Gesicht. „Aber ich fürchte, ich habe sie enttäuscht. Ich war eher wütend als verletzt, habe indes meine Gefühle nicht gezeigt. Stattdessen habe ich mich sogar bei ihr für den wunderbaren Nachmittag bedankt!“

Rosa klatschte in die Hände und lachte. „Großartig. Das wird sie geärgert haben. Wie lange bist du denn dort geblieben?“

„Nicht eine Sekunde länger als nötig. Aber du kannst dir nicht vorstellen, was mir anschließend passiert ist. Ich muss von Sinnen gewesen sein.“

Rosa riss erstaunt die Augen auf. „Du? Du bist der vernünftigste Mensch, den ich kenne.“

„Heute nicht. Nach der Unterhaltung mit dieser Frau war ich so wütend, dass ich mir Bewegung verschaffen wollte. Deshalb bin ich nicht mit der Kutsche nach Hause gefahren. Ich brauchte frische Luft, lief einfach über die Felder und hatte Pritchards Stier völlig vergessen, als ich Three Acre Field durchquerte.“

„Du bist durch …“ Rosa blickte sie entgeistert an. „Das glaube ich nicht! Hast du denn nicht zugehört, als Will Darby uns erzählte, dass das Biest dorthin umgesiedelt wurde?“

„Doch, aber ich war ganz in Gedanken. Ich habe gar nicht an den Stier gedacht, bevor ich mitten auf dem Feld stand und bemerkte, wie er mich anstarrte.“

Rosa erhob sich vom Bett und lief unruhig auf und ab. „Großer Gott, wenn ich daran denke, was alles hätte passieren können …“ Fassungslos sah sie Emily an. „Wie konntest du nur so fahrlässig sein? Das passt gar nicht zu dir! Dieser Stier …“ Sie nahm ihre Schwägerin in den Arm. „Wir hätten dich verlieren können.“

Emily bemühte sich zu lachen. „Einige Augenblicke lang habe ich das auch geglaubt. Aber ich bin schneller gerannt als jemals zuvor in meinem Leben und erreichte die Eiche in der Nähe der Hecke gerade noch rechtzeitig, bevor der Stier mich einholen konnte.“

Rosa ergriff vorsichtig Emilys verbundene Hände. „Dabei hast du dir sicher all die Verletzungen zugefügt. Und was geschah dann?“

„Ich fühlte mich hilflos und wartete eine Weile, ob jemand mich retten würde.“

Für Emily war es ungewohnt zu lügen, besonders wenn Rosa sie mit ihren großen blauen Augen ansah, die so viel Zuneigung ausstrahlten. Sie holte tief Luft und fuhr fort: „Doch es kam niemand … und deshalb wollte ich hinunterspringen.“

„Emily! Das wäre viel zu riskant gewesen!“

„Ja, natürlich. Aber der Ast brach, und ich bin den Abhang hinuntergestürzt. Er ist steiler, als ich gedacht hatte.“

„Du hättest tot sein können! Ich werde ein Wörtchen mit Philip reden, wenn er wieder da ist. Ich habe ihn aufgefordert, nach dir zu schauen, als die Kutsche ohne dich heimkehrte. Aber er hat versichert, dir könne auf dem Weg nichts passieren. Er hätte besser direkt nach dir sehen sollen.“

Emily lächelte milde. Wie dankbar sie ihrem Bruder war, dass er der Aufforderung nicht nachgekommen war. Was wäre gewesen, wenn er sie in dieser Mulde entdeckt hätte, in inniger Umarmung mit einem Fremden. Es war zu schrecklich, um es sich auszumalen.

„Aber wo war Will?“

„Wer?“

Rosa blickte sie erstaunt an. „Will Darby.“

Emily, die an einen ganz anderen Will gedacht hatte, bemühte sich, möglichst ungezwungen zu klingen. „Will Darby, ja natürlich …“

„Er muss ungefähr zu dieser Zeit auf dem Heimweg gewesen sein. Hast du ihn denn nicht gesehen?“

„N…nein“, entgegnete Emily, wobei sie vermied, ihrer Schwägerin in die Augen zu sehen. Sie spürte, dass sie rot wurde.

„Sicher bist du müde“, sorgte sich Rosa. „Du solltest jetzt schlafen.“ Sie gab Emily einen Kuss und sagte sanft: „Wenn du erst einmal eine Nacht geschlafen hast, sieht die Welt schon ganz anders aus. Wir sehen uns morgen früh.“

Emily lag noch eine Zeit lang wach, nachdem Rosa gegangen war. Sie war noch immer verwirrt von den Vorkommnissen des Nachmittags. Will, der Fremde, hatte sie eine Zauberin genannt, aber gemessen an seiner Wirkung auf sie musste er wohl eher der Zauberer sein. Ihr wurde heiß und kalt, als sie sich ihr ungezügeltes Verlangen und ihr schamloses Verhalten in Erinnerung rief. Doch in den Schlaf sinkend dachte sie mit Wonne an die schützenden Arme des Fremden, an seinen muskulösen Körper, seine strahlenden Augen und seine Küsse …

Nach einer Nacht voller süßer Träume stand Emily am nächsten Morgen zeitig auf, entschlossen, die Begegnung mit dem Fremden zu vergessen. Sie zeigte Rosa am Frühstückstisch die von den Verbänden befreiten Hände. Philip war offensichtlich eine gekürzte Version der Stiergeschichte zu Ohren gekommen.

„Ich verstehe nicht, wie du über dieses Feld laufen konntest“, sagte er stirnrunzelnd.

„Mir ist klar, dass es leichtsinnig war, und ich mehr Glück als Verstand gehabt habe.“

„Vielleicht sollte ich mit Pritchard reden.“

Sie sprachen eine Weile über andere Dinge, bis Philip sie beiläufig fragte: „Hast du auf deinem Rückweg einen Fremden gesehen? Die Stallknechte haben von einem Unbekannten berichtet, der hier gestern herumgelaufen ist. Er soll vormittags angekommen sein, hat sein Pferd im Dorfgasthof zurückgelassen und ist hier herumspaziert. Seltsam, nicht wahr? Hast du ihn irgendwo gesehen, Emmy?“

Emilys Wangen begannen zu glühen, und sie errötete noch mehr, als sie Rosas Blicke spürte. „Nein, ich glaube nicht“, erwiderte sie so ruhig wie möglich. „Ist er denn wieder zum Gasthof zurückgekehrt?“

„Ja, aber erst sehr spät. Er hat behauptet, er habe sich verlaufen, berichtete Will Darby. Aber er muss am Bach entlanggegangen sein, während du auf dem Baum saßest.“

„Ist er noch im Gasthof?“

„Keine Ahnung! Warum fragst du? Es gibt keinen Grund zur Sorge. Alle haben gesagt, der Fremde habe wie ein Gentleman ausgesehen. Ich glaube kaum, dass er gefährlich ist.“

Das ist Ansichtssache! Emily lächelte versonnen, bis sie Rosas Blicke bemerkte.

Der Fremde wurde nicht mehr erwähnt, und Emily hoffte, das Thema wäre aus der Welt. Doch nach dem Frühstück sagte Rosa: „Heute ist ein wunderbarer Tag. Fühlst du dich gut genug, um mit mir durch den Garten zu spazieren? Oder sollen wir uns in den Salon setzen? Heute Vormittag sind wir allein, denn Philip muss nach Temperley fahren.“

„Kommst du denn nicht mit, um deinen Vater zu sehen?“, fragte Philip überrascht.

„Heute nicht, mein Liebster. Ihr habt Geschäftliches zu regeln, und das geht viel besser ohne mich. Nein, Emily und ich werden stattdessen nett im Garten plaudern, nicht wahr, meine Liebe?“

„Ich dachte, ich könnte …“

„Enttäusche mich nicht“, bat Rosa mit freundlicher Bestimmtheit.

Rosa ist die süßeste und sanftmütigste Frau, die ich kenne, dachte Emily, außer, wenn sie so schaut, wie jetzt. Sie gab nach. „Nun gut, lass uns einen Spaziergang durch den Garten machen.“

„Ja, und lass uns ein wenig reden“, fügte Rosa lächelnd hinzu.

Es war ein sonniger Tag, und die beiden Damen trugen Hüte und Sonnenschirme, als sie in den Garten traten. Sie spazierten eine Weile und setzten sich dann in den Schatten. Emily schaute sich um. Sie hatte Philip viel geholfen, als er Shearings von seinem Großonkel geerbt hatte. Dessen Hauptinteresse hatte neuen Anbaumethoden auf den Feldern gegolten, und so hatte sich der Garten von Shearings in einem vernachlässigten Zustand befunden. Philip und sie hatten das erste Jahr über hart daran gearbeitet, um dieses kleine Paradies mit seinen blühenden Beeten, schattigen Wegen, Lauben und Brunnen zu erschaffen. Emily seufzte. Sie war froh, dass Philip und Rosa geheiratet hatten. Sie passten hervorragend zueinander. Nichtsdestotrotz war es manchmal schwierig, nostalgische Gedanken an die Vergangenheit zu unterdrücken.

Rosa klappte ihren Sonnenschirm zusammen und drehte sich zu Emily um.

„Jetzt kannst du mir endlich erzählen, was gestern passiert ist“, sagte sie.

„D…das habe ich doch bereits getan.“

„Ja, natürlich, und ich habe dir geglaubt. Aber das war, bevor ich von diesem fremden Gentleman hörte.“

„W…was hat er mit mir zu tun?“

„Das möchte ich gern von dir erfahren, meine liebe Emily. Ich kenne dich. Du bist eine schlechte Lügnerin. Ich vermute, dass du diesen Fremden gestern nicht nur gesehen, sondern wahrscheinlich auch gesprochen hast. Bist du deshalb so spät heimgekommen?“ Sie hielt inne. „Um Himmels willen, ich habe gar nicht daran gedacht … hat er dich etwa angegriffen? Ist er der Urheber all der blauen Flecken und der Schrammen? Sag es mir, Emily, hab keine Angst.“

„Nein, nein! Es verhält sich ganz anders. Ich habe dir über meine Blessuren die Wahrheit erzählt. Die meisten habe ich mir beim Hochklettern auf den Baum zugezogen.“

„Und den Rest?“, hakte Rosa nach.

Emily wurde klar, dass sie ihr die Wahrheit erzählen musste. „Also gut. Ich habe nicht vom Baum hinunterklettern können. Das ist die Wahrheit. Aber ich habe dir nicht alles erzählt.“

„Was nicht?“

„Erst nach einer Ewigkeit habe ich jemanden gesehen, den ich für Will Darby hielt. Ich wusste ja, dass er auf seinem Heimweg vorbeikommen würde. Ich rief also laut nach ihm, und er kam. Doch es war nicht Will Darby.

„Ich wusste es doch! Es war dieser Fremde“, erriet Rosa.

Emily nickte. „Er versprach, mich aufzufangen, wenn ich spränge, aber der Ast brach, und wir fielen beide hin und rollten den Abhang hinunter. Dabei habe ich mir die anderen Kratzer geholt.“

„Hat er sich verletzt?“

„Ich denke nicht. Er ist sehr stark.“

Rosa nahm ein verträumtes Lächeln auf Emilys Lippen wahr. „Was ist dann passiert?“, fragte sie leise.

„Ich fühlte mich etwas benommen. Er wartete, bis es mir besser ging und dann …“ Emily mied Rosas Blick und sagte: „Dann bin ich nach Hause gegangen.“

„Allein? Er hat dir nicht angeboten, dich zu begleiten? Was ist das für ein sonderbarer Mann, der dich nach einem solchen Sturz allein nach Hause gehen lässt! Das ist mir ja ein schöner Gentleman!“

„Nein, das darfst du nicht denken … er wollte mich begleiten, aber ich habe es nicht zugelassen.“

„Warum denn nicht?“

„Er … er hat mich geküsst.“

„Gegen deinen Willen? Was für ein Schuft!“

„Nein, so war es nicht. So war es ganz und gar nicht!“ Emily stand auf und entfernte sich ein paar Schritte. Sie drehte sich nicht um und gestand mit gesenkter Stimme: „Ich habe mich von ihm küssen lassen. Freiwillig.“

Rosa war über diese Aussage so überrascht, dass sie einen Moment lang sprachlos war. Dann murmelte sie: „Ich kann es nicht glauben!“

„Ich auch nicht! Jedenfalls jetzt nicht mehr.“ Verzweifelt drehte Emily sich wieder zu Rosa um. „Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist! Normalerweise verhalte ich mich nicht so … so dumm. Vielleicht war das alles zu viel für mich – Mrs. Gosworth, der Stier, der Sturz … ich weiß es nicht! Aber, was auch immer der Grund gewesen sein mag, ich habe mich schamlos verhalten. Ich muss verrückt gewesen sein. Wie soll ich mir das jemals verzeihen?“

„Du standest unter Schock. Mach dir keine Gedanken, Emily! Vermutlich hätte er sich auch gar nicht so leicht abwimmeln lassen.“

Autor

Sylvia Andrew
Sylvia Andrew wollte eigentlich nie ein Buch verlegen lassen, bis sie Mills & Boon ihren ersten historischen Roman zukommen ließ. Als dieser sofort angenommen wurde, war sie überrascht, aber glücklich. "Perdita" erschien 1991, und sieben weitere Bücher folgten. Auch Sylvias eigene Liebesgeschichte ist sehr romantisch. Vereinfacht gesagt hat sie den...
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