MyLady Hochzeitsband Band 1

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DIE SKANDALÖSE BRAUT von BRENDAN, MARY
Mark Hunters zärtlicher Kuss weckt die Sehnsucht nach Liebe in der hübschen Emily. Sie möchte nur noch eins: für immer von seinen den starken Armen gehalten werden. Aber Vorsicht: Niemals darf er hinter ihr skandalöses Geheimnis kommen! Denn das wird einen Gentleman wie ihn womöglich davon abhalten, sie als seine Braut zu wählen …

EIN EARL VERLIERT SEIN HERZ von NICHOLS, MARY
Die unkonventionelle junge Erbin Charlotte denkt nicht ans Heiraten. Doch als sie Roland Temple, Earl of Amerleigh, wiedersieht, stürzt sie in einen Aufruhr der Gefühle, denn plötzlich steht ihr Herz in Flammen. Aber dann hält er um ihre Hand an, und sie muss fürchten: Nicht aus Liebe, aus purer Berechnung will er sie zur Frau …


  • Erscheinungstag 11.04.2010
  • Bandnummer 0001
  • ISBN / Artikelnummer 9783862957033
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Mary Nichols, Mary Brendan

MYLADY Hochzeitsband, BAND 1

MARY NICHOLS

Ein Earl verliert sein Herz

Diese anmutige Schönheit soll Charlotte sein? Roland Temple, Earl of Amerleigh, traut seinen Augen nicht: Das burschikose Nachbarsmädchen hat sich in eine hinreißende junge Frau verwandelt, die sein Herz höher schlagen lässt. Doch was empfindet sie? Nichts – muss er fürchten. Denn als er ihr heiß verliebt einen Heiratsantrag macht, weist sie ihn kühl zurück …

MARY BRENDAN

Die skandalöse Braut

Seit Mark Hunter der hübschen Emily den ersten Kuss stahl, verzehrt er sich nach ihr. Da kommt es ihm nur recht, dass er ihr bei der Suche nach ihrem Bruder helfen soll. So kann er ihr nah sein – ohne jede Verpflichtung! Denn eins liebt er über alles: seine Freiheit. Seine wahren Gefühle für Emily entdeckt er erst, als sie in Lebensgefahr gerät. Zu spät?

1. KAPITEL
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1814

Welch herrlicher Frühlingsmorgen für einen Ausritt, dachte Charlotte, während sie auf ihrem Pferd Bonny Boy durch den Park, der ihr Herrenhaus Mandeville umgab, hinüber zum höher gelegenen Wäldchen galoppierte. Sie war froh, der unerträglichen Hitze von Jamaika entkommen und wieder zu Hause in England zu sein.

Zu ihrer Rechten erhoben sich sanft bewaldete Hügel mit Laubbäumen, an deren Zweigen sich bereits hier und da zartes Grün zeigte. Zu ihrer Linken trennten heidebedeckte Hänge Mandeville von Amerleigh. Die Heide stand noch nicht in Blüte, doch die Stechginstersträuche überzogen das Land mit buttergelben Tupfern.

Seit dem Tod ihres Vaters vor zwei Jahren war Mandeville in Charlottes Besitz, ebenso wie eine Baumwollweberei im fünf Meilen entfernten Scofield, der Plantage in Jamaika und der „Fair Charlie“, ihrem Handelsschiff. Außerdem gehörte ihr auch die Bleimine auf dem Gelände, über das sie gerade ritt, obwohl diese inzwischen so oft überflutet worden war, dass sie kaum noch profitable Erträge erwirtschaftete. War all dieser Besitz die Opfer, die er von ihr forderte, wert?

Und was hatte sie überhaupt geopfert? Ihre Kindheit vielleicht und wohl auch die Möglichkeit, zu heiraten und eine Familie zu gründen, denn ihr war bewusst, dass ihr Lebensstil auf Männer abschreckend wirken musste, weshalb ihr bisher auch nur verzweifelte oder gierige Glücksritter den Hof gemacht hatten. Doch mit solchen Mitgiftjägern wurde sie leicht fertig. Sie wollte den Bund der Ehe auch gar nicht eingehen, denn dies würde bedeuten, dass ihr gesamtes Eigentum in den Besitz ihres Gatten überginge. Dann würde ihr Gemahl sämtliche Entscheidungen treffen, und sie war nicht bereit, ihre Unabhängigkeit aufzugeben. Für niemanden. Einzig, dass sie für ihre Freiheit auf Kinder verzichten musste, reute sie. Nun, sie würde ihre Zuneigung eben den Kindern der Dorfbewohner schenken, wenn es auch nicht dasselbe war, wie ein eigenes Kind zu haben, das sie lieben konnte, wie nur eine Mutter es zu lieben versteht.

Wäre ihre Mutter nicht bei der Geburt gestorben, wäre vielleicht alles anders gekommen. Sie hätte ihre Tochter gewiss in den gesellschaftlichen Konventionen unterwiesen, zu einer Dame erzogen und dafür gesorgt, dass sie einen passenden Gatten fand. Womöglich hätte sie auch Geschwister bekommen, einen Bruder, der die Nachfolge ihres Vaters antrat. So aber hatte ihr Vater sie stets wie einen Jungen behandelt. Sie hatte sich nichts daraus gemacht, dass er sie immer Charlie nannte, vielmehr sah sie darin nur einen liebevollen Kosenamen. Erst später war Charlotte klar geworden, dass sich ihr Vater geweigert hatte, sie als Tochter wahrzunehmen, weil er sich von ganzem Herzen einen Sohn wünschte, den er nach seinem Ebenbild formen konnte.

Wahrscheinlich hat Vater mich dennoch auf seine Weise geliebt, vermutete sie, doch gesagt hatte er ihr das nie und ihr auch nie nur einen flüchtigen Kuss auf die Wange gegeben. Als kleines Kind überschüttete sie daher ihre Gouvernanten mit Zuneigung. Diese waren jedoch von ihrem Vater aufgrund ihrer Strenge und ihres praktischen Wesens ausgewählt worden, deshalb wurden ihre Liebesbezeugungen stets schroff zurückgewiesen. Bald schon hatte sie gelernt, ihre Gefühle nicht mehr zu zeigen, wenngleich sich die sanfte Seite ihres Wesens nie ganz unterdrücken ließ und sie leidenschaftliches Mitgefühl für die weniger Glücklichen empfand. Grausamkeit, gleich ob gegen Mensch oder Tier, war ihr fremd.

Ermutigt durch ihren Vater, war sie im Laufe der Zeit eine furchtlose Reiterin geworden, hatte in den wirbelnden Wassern der Flüsse gefischt und konnte auch mit Pistole und Gewehr umgehen. Auch war sie sich nicht zu schade, bei Pferden, Schafen und Hunden Geburtshilfe zu leisten. Ihr Vater hatte außerdem Wert darauf gelegt, dass sie einen guten Geschäftssinn entwickelte und sich auf Buchhaltung und Rechnungswesen ausgezeichnet verstand, eine Fähigkeit, mit der sie Jacob Edwards, ihren Rechtsberater, und William Brock, den Leiter der Weberei, immer wieder verblüffte. Auch den Leiter ihrer Plantage in Jamaika hatte sie mit ihren Kenntnissen ziemlich überrascht.

Charlotte war so tief in ihre Gedanken versunken, dass sie den Hufschlag des herannahenden Pferdes nicht hörte, und so traf es sie völlig unvorbereitet, als zu ihrer Rechten ein Reiter vor ihr aus dem Wäldchen preschte. Vor Schreck bäumte Bonny Boy sich auf, und sie benötigte all ihre Kraft und all ihr Geschick, sich im Sattel zu halten und den Hengst wieder zu beruhigen. Auch der andere Reiter hatte seine liebe Not, sein Pferd zum Stehen zu bewegen.

„Sie hirnverbrannter Trottel!“, brüllte er, während er immer noch heftig an den Zügeln zog und sie daher keines Blickes würdigte. „Was in Dreiteufelsnamen haben Sie sich dabei gedacht, hier wie wahnsinnig geworden durch die Gegend zu galoppieren? Wir sind nicht auf der Rennbahn, Sie hätten mich töten können!“

„Und Sie mich.“

Der Klang der weiblichen Stimme ließ ihn aufhorchen. Sprachlos vor Erstaunen wandte er sich um. Der Reiter, der im Herrensitz auf dem großen Pferd saß, war tatsächlich eine Frau. Aber was für eine Frau! Sie trug die Reitjacke eines Mannes, und das einzige Zugeständnis an ihre Weiblichkeit war ein vorne offener Rock, unter dem braune Lederkniehosen und Reitstiefel hervorlugten. Trotz seiner Wut konnte er nicht umhin, ihre langen wohlgeformten Beine zu bewundern. Offenbar machte sie sich nichts aus den modischen Gepflogenheiten der Damenwelt und dem daraus resultierenden Wunsch, sich beharrlich vor Sonnenschein zu schützen, denn sie trug keinen Hut, und ihr Gesicht hatte einen leicht gebräunten, strahlenden Teint. Goldene Strähnen leuchteten in ihrem üppigen kastanienfarbenen Haar, das seinen Nadeln entkommen war und ihr Gesicht in ungebändigten Locken umrahmte. Ihre grünen Augen blitzten voller Zorn.

„Man erwartet nicht, einem weiblichen Jockey zu begegnen, wenn man über sein eigenes Land reitet“, sagte er und gab sich verärgert, obwohl er einräumen musste, dass sie geschickt mit ihrem Pferd umzugehen wusste. „Schon gar nicht einem Jockey, der offenbar ein Rennen zu gewinnen trachtet.“

„Ich bin galoppiert, von einem Rennen kann gar keine Rede sein“, gab sie bissig zurück. „Wenn Sie auf den Weg geachtet hätten, statt wie ein Straßenräuber aus den Büschen zu preschen …“ Abrupt hielt sie inne und musterte ihn. Er war ein Mann von stattlicher Größe, der von seinem riesigen Pferd auf sie herunterblickte. Seine dunkelgrüne Uniformjacke schmückten schwarze lederne Brustschnüre und silberne Knöpfe, die dunkelgrünen Kniehosen steckten in schwarzen Reitstiefeln. Ein staubiges Cape lag lässig über einer Schulter, und auf dem Kopf trug er einen schwarzen Tschako. Sein attraktives gebräuntes Gesicht zeigte einen Ausdruck tiefer Missbilligung, obwohl sie einen kurzen Augenblick glaubte, ein amüsiertes Funkeln in seinen Augen zu sehen. „Sagten Sie gerade, das sei Ihr Land?“

„Ja“, antwortete er. „Sie haben unbefugterweise den Grundbesitz des Earl of Amerleigh betreten.“

„Oh.“ Ihr Herz tat unvermittelt einen Sprung, als ihr herausfordernder Blick den seinen traf. Einen Augenblick starrte sie ihn wortlos an, unfähig, den Blick abzuwenden. Es war, als würden Funken sprühen, die ein Feuer entfachten, das sie beide mit seinen Flammen zu verschlingen drohte. Dann aber wusste sie plötzlich, wen sie vor sich hatte – Roland Temple, der Sohn des Earl of Amerleigh, der Mann, der sie vor einigen Jahren so sehr gedemütigt hatte, dass sie diesen Vorfall nie ganz vergessen konnte. Doch man ließ auch nicht zu, dass sie vergaß, denn ihr Vater hatte einen erbitterten Rachefeldzug gegen den Earl und seine Familie geführt. Vor sechs Wochen war Seine Lordschaft verstorben, und nun war sein Nachfolger angekommen, in voller Lebensgröße dräute er über ihr. „Sie sind also der Sprössling des Earls“, meinte sie, ihn bei dem Namen nennend, mit dem ihr Vater ihn immer bezeichnet hatte. „Dann sollten Sie auch wissen, wie weit sich die Ländereien von Amerleigh erstrecken. Dieses Stück Land gehört jedenfalls nicht dazu.“

Es gefiel ihm zwar nicht, als Sprössling tituliert zu werden, doch er ließ es ihr durchgehen. „Natürlich gehört auch dieses Stück Land zu Amerleigh. Ich bin schon als Knabe hier umhergestreift und kenne jeden Fleck.“

„Sie sind jedoch kein Knabe mehr, nicht wahr, Mylord?“ Honigsüß und aufgesetzt freundlich äußerte sie die Frage, bemüht, sich die bitteren Erinnerungen, die sein Anblick in ihr geweckt hatte, nicht anmerken zu lassen. Obendrein schien er sie nicht einmal wiederzuerkennen, was zusätzlich Salz in ihre Wunden rieb. „Seit Ihrer Abreise hat sich manches geändert. Ich rate Ihnen, mit Ihrem Anwalt zu sprechen, bevor Sie zukünftig jemanden fälschlicherweise des unbefugten Betretens bezichtigen. Sie wissen wohl …“ Unvermittelt hielt sie inne.

„Dass mein Vater gestorben ist? Ja, das weiß ich.“ „Mein Beileid. Ihre Mutter wird Ihre Heimkehr sicher freuen.“ „Zweifellos“, erwiderte er und fragte sich, ob sie gut mit seiner Mutter bekannt war oder einfach nur Konversation betrieb, wenngleich sie ihm auch nicht wie jemand schien, der müßigem Geplauder etwas abgewinnen konnte.

„Bitte entschuldigen Sie mich nun, Mylord. Sie mögen sich in Müßiggang ergehen können, aber auf mich wartet Arbeit.“ Sie wendete Bonny Boy und wollte davonreiten, doch er griff rasch nach vorne und packte die Zügel ihres Pferdes.

„Nicht so schnell, Madam …“ Er wusste weder, warum er sie aufhalten, noch was er ihr sagen wollte, indes bekam er auch keine Gelegenheit, sich dies zu überlegen, denn sie schlug ihm mit der Reitgerte auf die behandschuhte Hand, sodass er unwillkürlich die Zügel losließ. Einen Augenblick schaute er verdutzt, dann aber brach er in schallendes Gelächter aus, was sie nur noch wütender machte.

„Wenn Sie es amüsant finden, eine Dame grob zu behandeln, dann sind Sie ein noch ungehobelterer Flegel, als ich annahm“, sagte sie, trieb ihr Pferd an und galoppierte davon. Sprachlos starrte er ihr nach.

Was war nur während seiner Abwesenheit hier geschehen? Sechs Jahre war er außer Landes gewesen, hatte in Portugal und Spanien seinen Militärdienst geleistet, um unter Führung von Wellington die Welt von dem Emporkömmling Napoleon zu befreien. Wenn sein Vater nicht krank geworden und schließlich gestorben wäre, hätte er die Armee gewiss nicht verlassen und mit seinen Männern weiterhin von einem hart erarbeiteten Sieg geträumt.

Zu Beginn seiner Militärzeit hatte er seinem Vater ein- oder zweimal geschrieben, doch nie eine Antwort erhalten, weshalb er es schließlich aufgab. Wenn sein Vater ihn vergessen wollte, würde er es ihm gleichtun und ihn ebenfalls vergessen. Selbst seine Mutter antwortete ihm nicht auf seine Briefe, was wohl einzig daran lag, dass sein Vater es ihr verboten hatte, vermutete Roland. Umso überraschter war er, als vor drei Monaten ein Brief eintraf, in dem sie ihm mitteilte, dass sein Vater schwer krank war. „Komm nach Hause, wenn es dir möglich ist“, hatte sie gebeten. „Wir wohnen nun im Dower House, da es bequemer ist.“ Er fragte sich, was daran bequemer sein sollte. Verglichen mit dem prächtigen Herrensitz, in dem er aufgewachsen war, war das Witwenhaus so klein wie ein Puppenhaus. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sein selbstherrlicher, despotischer Vater es vorzog, dort zu leben.

Der Brief seiner Mutter war an das Hauptquartier adressiert und erreichte ihn daher erst Wochen später. Nur einen Tag, nachdem er ihn gelesen hatte, traf ein zweites Schreiben ein, das ihn über den Tod seines Vaters in Kenntnis setzte, wodurch er zum Earl of Amerleigh wurde.

Roland hatte umgehend um Dienstbefreiung gebeten und war mit seinem Leibdiener Corporal Travers nach Lissabon gereist. Von dort hatten sie an Bord eines Frachters die Heimfahrt angetreten. In Portsmouth angekommen, waren sie mit der Kutsche nach Shrewsbury weitergefahren und hatten dort Pferde erworben, auf denen sie die restliche Strecke nach Amerleigh zurücklegten, wobei sie die Straße mieden und stattdessen den Reitweg über den Hügel nahmen. Nie hätte er erwartet, einer ungestümen Frau in Männerkleidung zu begegnen, die in wilder Hast über sein Anwesen galoppierte.

Travers tauchte neben ihm auf. „Du hast soeben ein höchst außergewöhnliches Wesen versäumt“, sagte Roland zu ihm.

„Ich hab sie gesehen.“ Travers grinste. „Ich sah auch, dass Sie das Gespräch mit ihr genossen haben, deshalb hielt ich mich zurück. Wer ist sie?“

„Ich weiß es nicht.“ Dann aber lachte er unvermittelt auf. „Oh, nein, das kann nicht sein, oder etwa doch? Liebe Güte, ich glaube, sie war es tatsächlich. Was für eine Heimkehr!“

„Sie wissen also doch, wer sie ist?“

„Ich glaube schon. Nein, ich bin mir sicher. Ihr Name ist, oder war es zumindest, Charlotte Cartwright, und ich habe das Gefühl, dass ich mir mit ihr nicht das letzte Wortgefecht geliefert habe.“

Der neue Earl ist zu einem stattlichen Mann geworden, dachte Charlotte auf dem Heimweg. Sie hatte Roland Temple als schlanken Mann mit lockigem braunen Haar und klassisch geschnittenem Gesicht in Erinnerung. Zwar hatte er auch im Alter von einundzwanzig Jahren bereits blendend ausgesehen, das wohl, allerdings war er auch stolz und hochmütig gewesen, so hochmütig, dass er sie mit seinem Verhalten unerträglich tief gedemütigt hatte. Indes besaß auch sie Stolz, weshalb sie sich ihren Schmerz nie hatte anmerken lassen. Und ganz gewiss würde sie ihn nun nicht an den Vorfall erinnern. Falls er sie tatsächlich vergessen hatte, konnte ihr das nur recht sein. Dennoch war sie ihm spinnefeind, und daran würde sich nichts ändern.

Sie verlangsamte das Tempo und ließ Bonny Boy im Schritt gehen, während ihr wieder die Geschehnisse von vor sechs Jahren bildlich vor Augen standen und die Wut erneut in ihr zu brodeln begann. Der Herzenswunsch ihres Vaters war es gewesen, von der feinen Gesellschaft anerkannt zu werden. Deshalb hatte er Gouvernanten eingestellt, die seine Tochter in all jenen Fertigkeiten ausbilden sollten, die eine kultivierte Dame besitzen musste. Dazu gehörten auch Sticken, Zeichnen und Tanzen, allesamt Tätigkeiten, die Charlotte keine große Freude bereiteten. Zudem war ihr unkonventionelles, zwangloses Wesen bereits zu stark in ihr verwurzelt, es war ihr schlicht unmöglich, sich nun noch zu ändern. Trotz allem aber gelang es ihrem Vater, sein Ziel in gewissem Maße zu erreichen, was einzig daran lag, dass er der reichste Mann der Gegend war und jeden Mann seiner Wahl fördern oder ruinieren konnte, so auch den Earl of Amerleigh.

Doch nicht dessen Sohn.

Von dem starrsinnigen, eingebildeten, arroganten Spross des Earls zurückgewiesen zu werden, noch dazu in solch lautem, verächtlichem Ton, dass jeder im Umkreis von zehn Schritten es hören musste, war mehr, als sie ertragen konnte. Zum ersten Mal hatte ihr Vater sich mit all seinem Geld nicht alles und jeden kaufen können. Entgegen der Erwartung beider Väter konnten sie auf dem Ball nicht die Verlobung ihrer Kinder bekannt geben. Eine wilde Range hatte der aufgeblasene Sprössling sie genannt. Nun, vermutlich steckte darin ein Körnchen Wahrheit, dachte Charlotte. Allerdings hatte er sie auch eine reizlose graue Maus gescholten. War sie reizlos und unattraktiv? Ihr Vater hatte ihr versichert, dass sie ebenso schön sei wie ihre liebreizende Mutter und der törichte junge Fatzke hätte wohl keine Augen im Kopf. Doch als sie nach dem Ball zu Hause in den Spiegel sah, musste sie sich eingestehen, dass Roland Temple wohl recht hatte. Diese Feststellung hatte ihren Kummer noch vergrößert. Oh, sie wünschte inständig, ihr Vater hätte damals diesen Handel mit dem inzwischen verstorbenen Earl niemals abgeschlossen.

Sie passierte das schmiedeeiserne Eingangstor von Mandeville, und Besitzerstolz erfüllte sie. Ihr Vater hatte das imposante rote Sandsteingebäude bauen lassen, um aller Welt zu zeigen, dass selbst ein Niemand durch harte Arbeit und Geschick zu großem Reichtum gelangen konnte. Das Haus stach aus der Umgebung hervor, weil die Bäume, die man im Park gepflanzt hatte, immer noch sehr jung und noch nicht besonders groß waren, gleichwohl nahmen sich die Sträucher in der Nähe des Hauses recht dekorativ aus. In einigen Jahren würde Mandeville sich wohl mit den prächtigsten Landhäusern der Gegend messen können, wenn nicht gar der ganzen Grafschaft. Bereits jetzt schon war es schöner als Amerleigh Hall, das immer mehr zu einer Ruine zerfiel.

Sie ritt um das Haus herum zu den Stallungen, in denen mehrere Reitpferde, vier Kutschenpferde und einige Ponys untergebracht waren. Im angrenzenden Kutschenhaus standen eine feudale Equipage, ein Phaeton und eine Karriole. Sie stieg ab, übergab Bonny Boy einem Stallburschen und wies diesen an, die Karriole vorzufahren, bevor sie das Haus durch einen Seiteneingang betrat und in die Küche ging.

Nachdem sie sich mit Mrs. Cater, ihrer Köchin, über die Neuigkeiten ausgetauscht hatte, erkundigte sie sich bei der Küchenmagd May, ob sich deren Verbrennung durch die Salbe, die sie ihr gegeben hatte, gebessert hätte, streichelte die Katze, die wohlig schnurrte, und ging schließlich nach oben, um sich umzuziehen. Den Gemälden an den Wänden, den teuren Figurinen aus edlem Porzellan und kostbaren Möbeln, die ihr Vater erworben hatte, um Eindruck zu schinden, schenkte sie keine Beachtung. Wieder musste sie an ihre Begegnung mit Lord Amerleigh denken, doch sie versuchte, sich dadurch nicht beunruhigen zu lassen.

In ihrem Schlafgemach legte sie rasch das Reitkleid ab, zog die Kniehosen aus und wusch sich mit dem kalten Wasser, das in einer Kanne auf ihrem Toilettentisch bereitstand. Danach schlüpfte sie in einen schlichten grauen Rock, eine weiße Bluse und ein schwarzes Jackett, das im Schnitt einem Herrenjackett glich und mit schwarzen Brustschnüren geschlossen wurde. Diese Kleidungsstücke trug sie, wenn sie sich um Geschäftliches kümmerte. Sie hatten den Vorteil, nicht zu männlich zu wirken, da sie ihre wohlgeformte Figur betonten, doch wirkten sie auch streng genug, um jeden wissen zu lassen, dass sie eine Geschäftsfrau war, die sich nichts gefallen lassen würde. Nachdem sie ihr widerspenstiges Haar zu einem Knoten aufgesteckt hatte, setzte sie einen Hut mit wippender Feder auf tauschte ihre Reitstiefel gegen schwarze Lederstiefeletten. So ausgestattet, kehrte sie nach unten zurück. Vor dem Haus wartete bereits die Karriole, und Charlotte fuhr sogleich damit ins Tal zu ihrer Baumwollweberei, die sich an einem schnell fließenden Seitenarm des Severn befand.

Ein Jahr war sie von zu Hause fortgewesen, und in dieser Zeit hatte man ihre Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Weberei schleifen lassen. Die langen Arbeitszeiten, die es zu ihres Vaters Zeiten gegeben hatte, waren wieder eingeführt worden, und der Schulunterricht für ihre Arbeiter fand auch nicht mehr statt.

„Wir hatten große Aufträge zu erfüllen“, rechtfertigte sich Mr. Brock, ihr Fabrikleiter, als sie ihn deswegen zur Rede stellte. „Es ging nicht anders, sonst wäre das Schiff nur mit halber Ladung ausgelaufen. Und das hätte ihr Vater gewiss niemals zugelassen.“

Sie daran zu erinnern, was ihr Vater getan oder nicht getan hätte, war Brocks Art, gegen ihre Anweisungen aufzubegehren. Da sie ihn jedoch für die Führung der Weberei brauchte, achtete sie stets darauf, beim Durchsetzen ihrer Wünsche diplomatisch und umsichtig vorzugehen, denn nur allzu gut wusste sie, dass er sie insgeheim verachtete, weil sie eine Frau war. Als Besitzerin der größten Weberei der Grafschaft begegnete man ihr zwar mit gewissem Respekt, der indes stets mit unverhohlener Geringschätzung und Missbilligung gespickt war. Nach außen gab sie vor, sich nichts daraus zu machen, und trotzte allen mit hoch erhobenem Kopf.

Wie üblich machte Charlotte auch an diesem Morgen einen Rundgang durch die Fabrik, schaute eine Weile zu, wie die Schiffchen über die Webstühle flogen, besprach mit dem Fabrikleiter die Produktionspläne und Aufträge, erledigte ihre Korrespondenz und erteilte ihre Anweisungen. Obwohl sie unverändert schien und man ihrem kühlen Äußeren nichts anmerkte, machte sich tief in ihrem Inneren ein flaues Gefühl des Unbehagens breit, als ob ein Damoklesschwert über ihr hinge, nicht gerade ein Unheil, aber doch etwas, das ihren wohlgeordneten Alltag durcheinanderbringen konnte. Sie musste nicht lange überlegen, um zu wissen, dass diese innere Unruhe auf die Ankunft des neuen Earl of Amerleigh zurückzuführen war.

Auf dem Weg nach Hause fiel Roland auf, wie vernachlässigt alles wirkte. Die Hecken mussten geschnitten werden, die Gräben waren von Unkraut überwuchert, und die Cottages der Arbeiter wiesen Schäden auf. An der Dorfkirche hielt er an und ging zur Familiengruft. Der Name seines Vaters, erst kürzlich in den Stein eingemeißelt, war der letzte in einer langen Reihe. Vermutlich würde auch sein Name irgendwann hier stehen. Die morbiden Gedanken aus seinem Kopf verbannend ging er zurück zur Straße, wo Travers geduldig mit den Pferden auf ihn wartete. Nebeneinander ritten sie dem großen Herrenhaus entgegen, dessen hoch aufragende, mit Zinnen versehene Mauern immer wieder durch die Baumkronen hindurchblitzten.

Das im 16. Jahrhundert von Rolands Urahn Harold Temple erbaute Haus lag inmitten eines Wildparks und thronte über dem Dorf, dessen Name es trug. Vielleicht war das Dorf auch im Laufe der Zeit um das Haus herum entstanden – Roland war sich dessen nie sicher gewesen. Jede Generation seiner Familie hatte das Gebäude immer wieder verschönert und noch prächtiger ausgestattet, nun aber machte es einen recht trostlosen, verlorenen Eindruck. Die Rasenflächen waren offenbar schon lange nicht mehr gemäht worden, die Blumenbeete und die mit Kies bestreute Auffahrt von Unkraut überwuchert. Eine Fensterscheibe war zerbrochen, und auch die abblätternde Farbe stach ihm förmlich ins Auge.

Er ließ das Herrenhaus hinter sich und ritt den langen Pfad entlang, der durch den einst blühenden, gepflegten, nun aber verwilderten Garten hinunter zum Dower House führte. Das viereckige rote Backsteingebäude verfügte lediglich über einen Salon, ein Speisezimmer, einen Salon und vier Schlafzimmer sowie die üblichen Arbeitsräume. Als er vor sechs Jahren sein Zuhause verließ, hatte hier seine Großmutter gelebt, die leider mittlerweile verstorben war. Roland hatte die alte Dame sehr gemocht, die ihm, gegen den Willen seines Vaters, eine Rente hinterlassen hatte. Zwar war die Summe nicht groß, aber immerhin groß genug, um ihm eine gewisse Unabhängigkeit zu sichern. Dafür war er seiner Großmutter sehr dankbar.

Kaum war er vor dem Haus abgestiegen, wurde die Tür aufgerissen, und seine Mutter flog förmlich in seine Arme. „Roland, oh Roland, ich habe gebetet, dass du nach Hause kommst, und nun bist du endlich hier. Lass dich anschauen.“ Sie trat einen Schritt zurück und musterte ihn, doch sie sah nicht mehr den schlanken Jungen, den sie kannte, sondern einen großen, breitschultrigen Mann. „Du hast dich verändert.“

„Ich bin sechs Jahre fortgewesen“, meinte er lächelnd, in dem Wissen, dass er sich nicht nur körperlich verändert hatte. Auch sein Charakter war gereift. Den jungen, hochnäsigen, stolzen Mann, der sich als Sohn eines Earls als etwas Besseres wähnte und sich den Arbeitern auf den Feldern weit überlegen fühlte, gab es nicht mehr. Mittlerweile beurteilte er Menschen nach ihrem Wesen, nicht mehr nach ihrer gesellschaftlichen Position. Er zog es vor, als Major bekannt zu sein, einen Rang, den er sich wahrlich verdient hatte, um zu verhindern, dass man ihm allein aufgrund seines Titels Achtung entgegenbrachte.

„Oh, du weißt ja nicht, wie sehr ich deine Rückkehr herbeigesehnt habe“, meinte seine Mutter, während sie ihm voran ins Haus ging.

Er wandte sich an Travers. „Geh zu den Stallungen und kümmere dich um die Pferde. Ich komme nach, so bald es möglich ist.“

„Hast du meine Briefe erhalten?“, fragte seine Mutter, als er ins Vestibül trat, bevor sie ihm Reitmantel und Hut abnahm. Wie ihm auffiel, hatte sie stark abgenommen, ihr Gesicht war von Sorgenfalten zerfurcht, und es reute ihn, dass wohl auch er für einige dieser Falten verantwortlich war. Ihre blauen Augen indes strahlten, trotz der tiefschwarzen Trauerkleidung, die sie trug, und auf ihren Lippen lag ein herzliches Lächeln, ob der Freude, ihn wieder zu Hause zu wissen. „Ich wunderte mich nämlich, warum du nicht geantwortet hast oder früher gekommen bist.“

Er verzichtete darauf, ihr in Erinnerung zu rufen, dass er auf seine Briefe auch niemals eine Antwort erhalten hatte, während er ihr in den Salon folgte. „Ich befand mich nicht im Hauptquartier, als dein erster Brief eintraf, und so erreichte mich dieser erst zwei Monate danach, nur einen Tag vor der Ankunft deines zweiten Schreibens. Ich kam, so schnell ich konnte, und bedaure sehr, dass ich dennoch zu spät komme.“

„Nimm es nicht zu schwer, nun bist du ja hier. Setz dich doch.“

Roland zog sich einen Stuhl zurecht und ließ sich darauf nieder, in Gedanken ganz von seinen Eindrücken eingenommen: der trostlose Zustand des Herrenhauses, das verwahrlost wirkende Dorf, die arrogante Miss Cartwright und ihre Behauptung, Browhill gehöre nicht mehr zu Amerleigh … „Ich kam am Herrenhaus vorbei“, sagte er. „Es sieht sehr vernachlässigt aus. Was ist geschehen?“

„Oh, das ist eine lange Geschichte. Dein Vater hat nach deiner Abreise jegliche Lebensfreude verloren. Er schien nicht mehr in der Lage, seine Geschäfte zu führen, und so wurde alles im Laufe der Zeit immer schlimmer. Vor zwei Jahren erlitt er einen Herzanfall. Dr. Sumner meinte daraufhin, man dürfe ihn nicht belasten. Ich wollte dir schreiben, um dir davon zu erzählen, doch dein Vater hat es mir verboten. Wir zogen ins Dower House, in der Hoffnung, er würde es hier bequemer haben und zur Ruhe kommen. Das Herrenhaus wollten wir vermieten, indes fand sich kein Interessent. Nach einem weiteren Herzanfall änderte er unverhofft seine Meinung und sagte, er müsse dich sehen.“

„Ich bin untröstlich, dass ich ihn nicht mehr sprechen konnte. Gerne hätte ich mich mit ihm ausgesöhnt. Hat er mir denn je verziehen?“

„Dessen bin ich mir sicher, wenn ich auch immer der Meinung war, dass es nichts zu vergeben gab, außer deiner überstürzten Abreise vielleicht. Hättet ihr vorher noch einmal miteinander gesprochen, hätte er dir möglicherweise zugehört und deine Meinung akzeptiert, oder du hättest die seine angenommen.“

Roland teilte ihre Ansicht zwar nicht, doch das verschwieg er ihr. „Was soll ich deiner Auffassung nach nun tun?“

„Es war der Wunsch deines Vaters, dass du Amerleigh Hall restaurierst. Es ist seit mehreren Hundert Jahren das Zuhause der Earls of Amerleigh und letztendlich auch dein Heim. Eines Tages wirst du heiraten und es deinen Söhnen vererben.“

„Ich weiß, Mama“, meinte er seufzend. Wenn er nicht irrte, würde es eine enorme Aufgabe sein, dem Herrenhaus zu altem Glanz zu verhelfen, noch dazu eine, die jeden Penny verschlingen würde, den er besaß, wenn nicht sogar mehr. „Ich denke, ich sollte Mountford aufsuchen und dies mit ihm besprechen.“

„Ja, er kann dir auch den Stand der Dinge über den Rechtsstreit mitteilen.“

Sein Herz sank. „Den Rechtsstreit?“

„Ja, dein Vater stritt mit Mr. Cartwright um ein Stück Land, um das man ihn seiner Meinung nach betrogen hatte.“

„Handelt es sich etwa um Browhill?“

„Genau, woher weißt du das?“

„Ich traf auf meinem Weg hierher auf Miss Cartwright.“ Er lächelte bitter, als er sich ihrer Begegnung erinnerte. „Wir hatten eine Auseinandersetzung deswegen.“

„Oh nein, bitte du nicht auch. Wird das denn nie ein Ende nehmen?“

„Ich weiß es nicht. Erzähle mir doch erst einmal, was überhaupt geschehen ist.“

„Später. Jetzt muss ich dein Zimmer vorbereiten lassen, damit du dich frisch machen kannst. Danach werden wir speisen.“ Mit diesen Worten eilte sie aus dem Salon.

Roland blieb allein zurück, den Blick schweigend auf das Porträt seines Vaters gerichtet, das über dem Kamin hing. Es zeigte einen großen, stolzen, äußerst selbstsicher wirkenden Mann. Seine Mutter verschwieg ihm etwas. War sein Vater etwa so tief im Schuldensumpf versunken, dass er das Haus seiner Vorfahren hatte verlassen müssen?

Er stand auf und machte sich auf die Suche nach ihr. Schließlich fand er sie in einem der Schlafzimmer. Seinen Schrankkoffer und die Provianttasche hatte man bereits nach oben gebracht. Ein Krug mit heißem Wasser stand auf dem Waschtisch bereit. „Wird dir dieses Zimmer auch genügen?“, fragte Lady Amberleigh, als sie ihren Sohn bemerkte.

„Es ist sehr schön, Mama. Ich bin weit weniger Luxus gewöhnt.“

„Komm nach unten, wenn du fertig bist. Ich weiß zwar nicht, was Mrs. Burrows für uns zubereiten wird, aber ich bin sicher, sie gibt ihr Bestes.“

Er wusch sich rasch, zog ein frisches Hemd und seine beste Uniform an und ging ins Speisezimmer, wo sie eine einfache Mahlzeit einnahmen, die Mr. Burrows, der Butler, ihnen servierte. Einst hatte Burrows würdevoll mindestens zwanzig Dienstboten befehligt, nun waren er, Mrs. Burrows und ein Dienstmädchen die einzigen Hausangestellten, wie Roland den Äußerungen seiner Mutter entnahm.

„Und sonst?“, fragte er, nachdem Burrows das Zimmer verlassen hatte. „Wie steht es mit Gärtnern, Kutschern, Stallburschen?“

„Wir gehen so wenig aus, dass ich mich gar nicht erinnern kann, wann wir die Kutsche zuletzt benutzten. Wenn ich Besuche mache oder Besorgungen zu erledigen habe, nehme ich den Einspänner. Um das eine Pferd, das wir noch haben, kümmert sich Bennett, ebenso wie um den Garten. Er hält auch ein Auge auf das Herrenhaus.“

Roland spießte ein Stück Lammfleisch auf die Gabel. „Die anderen Bediensteten sind sämtlich gegangen?“

„Ja, wir benötigen sie hier im Dower House nicht und hätten ohnehin keinen Platz für sie gehabt. Einige haben auf Mandeville eine neue Stellung gefunden. Jacob Edwards beispielsweise hat es dort weit gebracht. Du erinnerst dich doch noch an ihn, nicht wahr? Er ist ein oder zwei Jahre älter als du und hat an deinem Unterricht teilgenommen, bevor du ins Internat gingst. In den Ferien seid ihr immer gemeinsam angeln gegangen.“

„Ja, natürlich erinnere ich mich.“ Er war in Gesellschaft von Jacob gewesen, als er Charlotte Cartwright zum ersten Mal begegnete. Damals war Viehmarkt in Amerleigh gewesen. Den beiden Jungen hatte es Spaß gemacht, sich die Stände anzusehen und den Anpreisungen der Marktschreier zu lauschen. An einem Schießstand waren eine Reihe Holzenten aufgebaut, und sie blieben neugierig stehen. Jacob wollte sein Glück versuchen und traf sieben der zehn Holzenten. Roland traf neun Enten, doch die letzte verfehlte er.

„Daneben!“, hörte er eine Stimme hinter ihm triumphierend rufen. Er drehte sich um und sah ein etwa zwölfjähriges Mädchen, dessen rotes Haar unter eine blaue Haube gestopft war. Sie trug teure Kleidung und gute Schuhe, also konnte sie nicht aus dem Dorf stammen. Allerdings schien sie auch von niemandem beaufsichtigt zu werden.

„Glaubst du denn, du kannst das besser?“, fragte er sie, während der Standbesitzer sie grinsend beobachtete.

„Aber sicher.“

„Eher schießt du dir in den Fuß, als dass du die Enten triffst.“

Sie streckte ihre gebräunte sommersprossige Hand aus. „Gib mir das Gewehr, dann beweise ich dir das Gegenteil.“

Lachend überreichte er ihr das Gewehr. Doch zu seinem Verdruss musste er feststellen, dass sie es laden und entsichern konnte. Völlig verblüfft sah er gleich darauf, wie sie, ohne lange zu zielen, alle zehn Enten in rascher Folge niederstreckte. „Ich habe es dir ja gesagt, Jüngelchen“, meinte sie, gab das Gewehr zurück und nahm ihren Preis in Empfang, ein quiekendes Ferkel. Jedes andere Mädchen hätte weit mehr auf sein Äußeres geachtet und das Tier niemals in den Arm genommen. Sie indes kümmerte es offenbar nicht, ob ihr Kleid schmutzig wurde. Dann war ihr Vater gekommen und hatte ihr eine Strafpredigt gehalten, weil sie ihm ausgebüxt war, doch sie hatte darüber nur gelacht.

Jacob fand schließlich heraus, wer sie war: die Tochter von Mr. Cartwright, dem Eigentümer von Mandeville, dessen Anwesen auf der anderen Hügelseite lag und an Amerleigh grenzte. Roland kehrte bald darauf ins Internat zurück, ohne ihr noch einmal zu begegnen, indes sahen er und Jacob sie gelegentlich in den Ferien beim Reiten oder Angeln. Sie riefen sich dann jedes Mal einen kurzen Gruß zu. Erst jetzt in der Erinnerung stellte er fest, dass er sie nie in Begleitung gesehen hatte, und er fragte sich, ob sie je Geschwister oder Spielkameraden gehabt hatte. Jacob war voller Bewunderung für sie, denn die ganze Nachbarschaft betrachtete sie als wildes, ungezogenes Kind, das sich niemandem fügte. Als Roland die Universität besuchte, traf er sie nicht mehr. Erst einige Tage vor dem schicksalhaften Ball war er ihr wieder begegnet. Damals war sie, wie heute, über Browhill galoppiert. Sie hatte sich nicht verändert.

„Vater hat Jacobs Schulbildung bezahlt, nicht wahr?“, fragte er, sich wieder auf das Gespräch mit seiner Mutter besinnend.

„Ja, er ist Anwalt geworden und inzwischen Miss Cartwrights Berater.“

„Das reibt Salz in die Wunde.“

„Ja, all dies war mehr, als dein armer Vater ertragen konnte, und er schien aufzugeben. Das Anwesen verkam immer mehr, weil er nur noch auf Rache sann. Er war so verbittert, Roland.“

„Und mir gab er die Schuld an seinem Elend.“

„In gewisser Weise tat er das wohl.“

„Und du? Hältst du mich auch für schuldig?“

„Nein, du warst jung, dein ganzes Leben lag noch vor dir. Außerdem kanntest du die Hintergründe nicht. Ich flehte deinen Vater an, dir die Situation zu erklären, aber er meinte bloß, er erwarte, dass du dich seinen Wünschen fügst, wenn er dir sagte, es sei nötig.“

Roland verkniff sich die Bemerkung, dass auch eine Erklärung seine Ansicht höchstwahrscheinlich nicht geändert hätte. Während des prächtigsten Balles, den seine Eltern seiner Erinnerung nach jemals gegeben hatten, teilte ihm sein Vater mit, man erwarte, dass er Miss Cartwright an diesem Abend einen Antrag machte. Seine wütende Reaktion darauf stand ihm noch so deutlich vor Augen, als wäre der Vorfall erst gestern geschehen. „Nicht für alles Geld der Welt“, hatte er geantwortet. „Das Küken hat ja gerade erst das Schulzimmer verlassen, wenn dieses Mädchen überhaupt jemals eines von innen gesehen hat. Sie ist eine wilde Range, die besser als Junge zur Welt gekommen wäre. Sie ist jedenfalls so reizlos wie eine graue Maus.“ Daraufhin hatte er einen erbitterten Streit mit seinem Vater, und er war schließlich hinausgestürmt und hatte den restlichen Abend in seinem Zimmer verbracht, obwohl ihn seine Mutter anflehte, doch wieder herunterzukommen, und sein Vater damit drohte, ihm den Geldhahn zuzudrehen, wenn er seinem Wunsch nicht entspreche. „Wenn du mir in dieser Sache nicht gehorchst, bist du nicht mehr mein Sohn“, hatte sein Vater vor der geschlossenen Eichentür gebrüllt.

Am nächsten Morgen hatte Roland das Haus verlassen, ohne Gepäck. Nichts weiter als eine kleine Reisetasche hatte er dabei, als er die Kutsche nach London nahm, wo er sich in das 95. Regiment einkaufte. Seinen Aufstieg zum Major hatte er sich aus eigenen Kräften verdient.

„Warum war es Papa denn so wichtig, dass ich Miss Cartwright eheliche?“

„Dein Vater und Mr. Cartwright sind einst in gewisser Weise Freunde gewesen, obwohl dieser Mann keine nennenswerte Kultiviertheit und Erziehung vorzuweisen hatte. Sie begegneten sich des Öfteren auf dem Viehmarkt und redeten bei diesen Gelegenheiten auch über ihre Geschäfte. Mr. Cartwright meinte, dass unser Name in Verbindung mit seinem Reichtum eine der einflussreichsten Dynastien des Königreiches begründen könnte. Miss Cartwrights Mitgift wäre äußerst ansehnlich ausgefallen, außerdem erklärte Cartwright sich bereit, die Schulden deines Vaters zu begleichen, die zu diesem Zeitpunkt beträchtlich hoch waren. Auch wollte er uns Bargeld zur Verfügung stellen, alles, um seiner Tochter einen Titel zu verschaffen. Das Angebot klang zu verlockend, dein Vater konnte nicht widerstehen. Er akzeptierte eine Vorauszahlung, die Mr. Cartwright nach deiner Abreise selbstverständlich zurückverlangt hat. Unglücklicherweise war das Geld aber zum Großteil bereits ausgegeben, um diesen desaströsen Ball auszurichten und einige neue Einrichtungsgegenstände zu erwerben, mit denen dein Vater Cartwright beeindrucken wollte. Zudem hatte er mich angewiesen, einige neue Roben schneidern zu lassen, da dein Vater die Ansicht vertrat, es sei eine Frage des Stolzes, unseren Stand auch in unserer äußeren Erscheinung zu zeigen, daher müsse seine Gemahlin nach der neuesten Mode gekleidet sein.“

„Er hat diese Vereinbarung über meinen Kopf hinweg getroffen und sich nie auch nur nach meinen Wünschen erkundigt“, meinte Roland und fragte sich, ob die zwischen ihren Vätern ausgehandelte Verlobung für Miss Cartwright eine ebensolch große Überraschung dargestellt hatte wie für ihn.

„Das bedaure ich sehr, indes nahm er an, du würdest gewiss zustimmen, wenn du von der Mitgift hörtest. Du solltest ihn nicht verdammen, Roland. Zu seiner Zeit war es üblich, dass die Eltern die Ehen für ihre Kinder arrangierten, und diese haben sich nur selten über die Wahl ihrer Eltern beschwert. Man sah die Ehe als eine Art Geschäft an, um bedeutende Familien zu verbinden. Benötigte ein Mann mehr, als seine Frau ihm im Schlafzimmer bieten konnte, fand er dies leicht anderswo, und solange er taktvoll und diskret vorging und sie sich demgegenüber blind stellte …“

„Die Zeiten haben sich geändert, Mama. Ich ziehe es vor, mir meine Braut selbst zu wählen, und ganz gewiss erwarte ich nicht, dass sie sich blind stellt, wie du es nennst.“

„Gibt es denn eine Dame, die …?“

„Nein. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, in einem Krieg zu kämpfen, da blieb mir keine Zeit, eine Dame zu umwerben.“

„Dann ist es noch nicht zu spät.“

„Gute Güte! Du erwartest doch wohl nicht, dass ich diesem Küken den Hof mache, so als ob es die letzten sechs Jahre nicht gegeben hätte.“

„Nein. Ich kann verstehen, dass du das nicht möchtest, und es würde ohnehin nicht gut gehen. Bei zwei solch starken Persönlichkeiten, wie ihr beide es seid, wären Meinungsverschiedenheiten gewiss an der Tagesordnung. Sie wird sich gewiss keinem Mann unterordnen, gleich, ob er ihr Gatte ist oder nicht.“

„Wie weit ist dieser Rechtsstreit gediehen?“

„Ich habe keine Ahnung, man hat mich nicht ins Vertrauen gezogen. Mountford indes kann dir gewiss Auskunft geben.“

„Der neue Earl ist also endlich heimgekehrt“, sagte Mrs. Elliott, während sie sich aus einer Gemüseterrine bediente, die Charlottes Lakai ihr hinhielt. Eine Einladung nach Mandeville nahm Mrs. Elliott immer gerne an, wenn auch nur, weil man hier üppiges Essen serviert bekam, das weitaus besser war als alles, was sie im Pfarrhaus auf den Tisch bringen konnte. An diesem Abend hatte Charlotte Reverend Elliott, seine Gemahlin und deren Sohn Martin eingeladen, der erst kürzlich zum Hilfspfarrer geweiht worden war und nun auf seine erste Anstellung wartete. Außerdem speisten auch Sir Gordon, Lady Brandon und ihre zwanzig Jahre alte Tochter Martha mit ihr.

„Der Reverend sah ihn nach Hause reiten“, fuhr Mrs. Elliott fort. „Er hatte kein Gepäck, und begleitet wurde er lediglich von einem äußerst schäbig wirkenden Mann in Armeekleidung, nicht wahr, Elliott?“

„Ja“, stimmte der Pfarrer zu. „Ich habe ihn kaum wiedererkannt, so staubig und von der Reise beschmutzt, wie er war.“

„Wissen Sie denn, ob er zu bleiben gedenkt?“, fragte Sir Gordon. Er und seine Gemahlin genossen beide ihr gutes Leben und waren beinahe so rund, wie sie groß waren. Sir Gordon gehörte eine Baumwollweberei in Scofield, nicht weit entfernt von Charlottes Fabrik. Sie lud ihn und seine Gattin gelegentlich zum Dinner ein, weil er gerne tratschte und sie dadurch über das Tun ihrer Konkurrenten auf dem Laufenden hielt.

„Warum sollte er denn nicht bleiben? Amerleigh ist schließlich sein Heim und Erbe“, meinte Martin Elliott.

„Erbe!“, rief Sir Gordon aus. „Mühlstein um den Hals wäre ein weitaus treffenderer Ausdruck. Wie er das Anwesen wieder in Schuss bringen oder davon leben will, ist mir ein Rätsel.“

„Wahrscheinlich hat er ein eigenes Einkommen“, warf Lady Brandon ein, während Charlotte es vorzog, zu schweigen. Sie wollte nicht versehentlich etwas äußern, das darüber Aufschluss gab, dass sie den betreffenden Gentleman bereits getroffen hatte.

„Er wird jeden Penny brauchen“, meinte Sir Gordon. „Sein Vater hat das Anwesen in wahrhaft bedauernswertem Zustand hinterlassen.“

„Man hört, Vater und Sohn haben sich entzweit. Weiß man auch, worüber sie stritten?“, fragte Martha, und Charlotte hielt den Atem an, hoffte inständig, dass keiner ihrer Gäste die ganze Wahrheit kannte.

„Oh, den genauen Grund kennt niemand“, erwiderte Mrs. Elliott. „Doch es kam recht unverhofft. Meines Wissens gab es eine Auseinandersetzung wegen einer Frau. Der alte Earl hat seinen Sohn hinausgeworfen.“

„Aber, aber“, schalt ihr Gatte sie sanft. „Das ist nicht unsere Angelegenheit.“

Sehr zu Charlottes Erleichterung schwieg Mrs. Elliott daraufhin, doch Lady Brandon ergriff sogleich das Wort: „Sollten wir ihn nicht aufsuchen und zu Hause willkommen heißen?“, schlug sie vor.

„Das würde ich im Augenblick nicht gutheißen, meine Liebe“, erwiderte ihr Gatte. „Es könnte ihn in Verlegenheit bringen. Halte dich zurück und warte ab, was er tut. Vielleicht bleibt er ja gar nicht.“

„Der neue Earl ist wirklich zu bedauern, dass er das Anwesen in einem solch schlechten Zustand vorfinden muss“, sagte Mrs. Elliott.

„Warum?“, fragte Sir Gordon. „Wenn man dem Klatsch glauben kann, hat er mit seinem Vater gestritten, was dazu führte, dass der arme alte Mann den Verstand verlor.“

„Hat er denn tatsächlich den Verstand verloren?“, fragte Lady Brandon.

„Natürlich. Kein Mann, der noch recht bei Trost ist, würde sein Anwesen derart verkommen lassen, denken Sie nicht auch, Miss Cartwright?“

„Ich denke, allein seine Ärzte können die Geistesverfassung Seiner Lordschaft beurteilen, aber es ist natürlich richtig, dass das Anwesen einen recht heruntergekommenen Eindruck macht“, antwortete Charlotte.

„Ich bin überrascht, dass Sie noch kein Kaufangebot abgegeben haben“, sagte Sir Gordon. „Zweifellos könnten Sie es für einen Apfel und ein Ei erwerben.“

Charlotte lächelte. Ihre Begegnung mit dem Earl kam ihr wieder in den Sinn und seine energische Behauptung, dass das Stück Land, auf dem sie aufeinandergetroffen waren, zu Amerleigh gehörte. Wenn sie ihn richtig einschätzte, würde er das Haus niemals verkaufen, schon gar nicht an sie. Aber wenn er Amerleigh an sie abtreten müsste, wäre dies eine ach so süße Rache für die Demütigung, die sie durch ihn erlitten hatte. „Was würde mir ein solches Gut schon nützen?“, fragte sie. „Und wir reden ganz so, als ob der Earl verkaufen wolle.“

„Wenn er klug ist, wird er das tun“, meinte Sir Gordon.

„Ich an seiner Stelle würde nicht verkaufen“, warf Charlotte unvermittelt ein. „Man muss auch an all die Familien denken, deren Lebensunterhalt von der erfolgreichen Bewirtschaftung des Anwesens abhängt. Ich würde es als Herausforderung ansehen, es wieder zum Blühen zu bringen.“

„Ist er denn jemand, der die Herausforderung liebt?“, fragte Lady Brandon.

Charlotte zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich nicht, aber wir werden es bald erfahren.“

Über die Rückkehr des Earl of Amerleigh wurde im Dorf reichlich getratscht. Vor allem spekulierte man darüber, ob er wohl über Vermögen verfügte und ob er vermählt sei. Sollte er unverheiratet sein, würde er ja womöglich auf Brautschau gehen! Sämtliche ledige junge Damen der Umgebung erkannten die Chance, die sich ihnen bot, und wollten sie sich nicht entgehen lassen. Aus diesem Grund versammelten sich am Sonntag weitaus mehr Gemeindemitglieder als üblich zur Messe in der Kirche.

Nach dem Gottesdienst nahm sich Lady Amerleigh die Zeit, vor der Kirche ihren Sohn mit dem Pfarrer und einigen anderen Gemeindemitgliedern bekannt zu machen, darunter Lord und Lady Gilford, die ein riesiges Herrenhaus an der Straße von Amerleigh nach Scofield besaßen, und Mr. und Mrs. Edward Trent aus Shrewsbury. Mit dieser kurzen Vorstellung hätte das Gespräch beendet sein können, doch der Pfarrer, sich seiner Aufgabe als Hirte seiner Schäfchen bewusst, sah sich veranlasst, Lady Brandon anzusprechen, als diese an ihnen vorüberschreiten wollte. „Mylady, ich bin überzeugt, Sie würden Lord Amerleigh gerne in unserer Mitte begrüßen wollen.“ Zu Roland gewandt meinte er: „Mylord, gewiss erinnern Sie sich noch an Sir Gordon und Lady Brandon.“

Roland verbeugte sich. „Zu Ihren Diensten, Mylady, Sir Gordon.“

Lady Brandon nickte ihm freundlich zu. „Mylord.“

Sir Gordon schüttelte ihm die Hand und meinte: „Darf ich Ihnen meine Tochter Martha vorstellen?“

Roland verbeugte sich und erkannte in ihr das Mädchen wieder, das er des Öfteren in Begleitung einer Gouvernante im Dorf gesehen hatte, wenn er als Schuljunge in den Ferien zu Hause weilte. Sie war zu einer attraktiven jungen Frau herangereift. „Miss Brandon.“

Martha senkte den Blick und versank in einem Knicks. „Mylord.“

Der Pfarrer ergriff erneut das Wort. „Und ich glaube, mit Miss Cartwright waren Sie auch bekannt, Sir.“

Erst da fiel Roland auf, dass Charlotte hinter den Brandons stand. Statt der seltsamen Reitkleidung trug sie heute eine Seidenrobe in zartem Taubengrau, ergänzt durch eine farblich passende kurze Pelisse. Ihr üppiges Haar war nun im Gegensatz zu ihrer ersten Begegnung nicht mehr vom Wind zerzaust, sondern ordentlich hochgesteckt und unter einem schlichten Strohhut verborgen.

Unvermittelt wurde ihm bewusst, dass man sie ganz bestimmt nicht als reizlos bezeichnen konnte. Zwar mochte sie ob ihrer markanten Gesichtszüge keine Schönheit sein, doch in gewisser Weise war sie recht attraktiv. Besonders ihre Augen beeindruckten ihn, wenngleich sie ihn in einer Weise musterten, die er nicht recht beschreiben konnte. War es nun Verachtung, die er darin las, Erheiterung, Verärgerung, Wachsamkeit? Er wusste es nicht, indes fühlte er sich ob ihres forschenden Blickes nicht ganz wohl in seiner Haut, was wohl daran lag, dass er sich der Worte schämte, die er damals seinem Vater in seiner Wut entgegengeschleudert hatte und die kein Mann, der sich Gentleman nannte, je hätte äußern dürfen. Er war froh, dass dieses Gespräch nicht in ihrem Beisein stattgefunden hatte.

„Guten Tag, Miss Cartwright.“ Er führte die Hand an seinen Tschako.

Hatte sie geglaubt, dass er im Sattel nur groß aussah, musste sie nun feststellen, dass er ein hochgewachsener Mann war, der sich nicht leicht einschüchtern ließ, ebenso wenig wie sie. „Mylord“, antwortete sie kühl. Gewöhnlich ging sie nicht regelmäßig zur Kirche, doch sie wusste, dass man möglicherweise klatschen würde, wenn sie ausgerechnet an diesem Sonntag nicht am Gottesdienst teilnahm. Und da sie keinesfalls mit seiner plötzlichen Abreise vor sechs Jahren in Verbindung gebracht werden wollte, war sie eben zur Messe gegangen und hätte eine Begegnung mit ihm auch vermieden, wenn sich der Pfarrer nicht ungebetenerweise eingemischt hätte. Sie wandte sich von Roland ab und seiner Mutter zu. „Mylady, wie geht es Ihnen?“

„Mir geht es gut, vielen Dank. Und Ihnen?“

Lady Amerleigh war, wie immer, die Güte in Person, und so wenig Charlotte den verstorbenen Earl und seinen Sohn leiden konnte, so sehr mochte sie die Countess und bedauerte sie. „Mir geht es ausgezeichnet“, antwortete sie, einen Blick auf den Earl riskierend. Er musterte sie ausgiebig, als ob er versuche, ihre Gedanken zu lesen. Sie hoffte, dass dem nicht so war, denn ihre Gedanken waren mehr als verwirrend. Sein verwegenes Aussehen fand sie recht anziehend, wie sie sich insgeheim eingestand, viel anziehender als den unreifen Jungen, der sie verschmäht hatte. Gleich darauf gemahnte sie sich selbst, dass sie sich von einem ansprechenden Äußeren nicht blenden lassen und ihm seine damaligen Worte niemals verzeihen würde.

„Hatten Sie eine angenehme Heimreise?“, erkundigte sich die Countess.

Charlotte lachte. „Die See war ziemlich rau, aber ich habe es überlebt.“

„Miss Cartwright ist erst kürzlich von einer Reise nach Jamaika zurückgekehrt“, erklärte Lady Amberleigh ihrem Sohn. „Sie besitzt dort eine Zuckerrohrplantage.“

„Tatsächlich?“, sagte Roland. Das erklärte den Namen ihres Herrensitzes, denn Mandeville war eine jamaikanische Stadt, wie er wusste. „Dann halten Sie gewiss auch Sklaven?“

„Der Sklavenhandel ist ungesetzlich, Lord Amerleigh“, sagte sie, den entsetzten Blick der Countess gewahrend, der es sichtlich unangenehm war, dass ihr Sohn es wagte, ein solches Thema anzusprechen.

„Der Sklavenhandel wohl, aber nicht der Besitz.“

„Das stimmt. Dennoch würden wir ohne die Arbeiter auf den Plantagen weder Zucker, Tabak noch Baumwolle haben. Das wäre desaströs für die britische Wirtschaft.“ Sie fragte sich, warum sie ihm nicht sagte, dass sie den Sklaven auf ihrer Plantage längst die Freiheit geschenkt hatte, statt wie ein Papagei die Argumente zu wiederholen, die ihr Vater ihr auf ihre Fragen zu diesem Thema als Antwort gegeben hatte. Aus Trotz, vermutete sie, und dem reinen Mutwillen, ihm zu widersprechen.

Er lächelte sie an, als wüsste er genau, worauf sie aus war. Die Vorstellung, sie sei so leicht zu durchschauen, beunruhigte sie. „Waren Sie schon einmal auf Jamaika, Mylord?“, fragte sie rasch.

„Nein, noch nie.“

„Vielleicht sollten Sie einmal dorthin reisen.“

„Eines Tages vielleicht. Ist es dort nicht unangenehm heiß?“

„Ich glaube, das Klima ist nicht schlimmer zu ertragen als die Hitze in Spanien.“

„Wahrscheinlich nicht“, stimmte er zu. „Man gewöhnt sich vermutlich daran. Dennoch ist es schön, wieder das milde Klima Englands genießen zu können, finden Sie nicht auch?“

„Oh, ganz gewiss, besonders im Frühling.“

Schweigen breitete sich aus, und Lady Amerleigh zupfte ihren Sohn am Arm, um ihm zu bedeuten, dass sie zu gehen wünschte. „Guten Tag, Miss Cartwright.“ Er berührte wieder seinen Hut und geleitete seine Mutter zur Kutsche, um zum Dower House zurückzukehren.

„Roland, wie konntest du nur in aller Öffentlichkeit mit Miss Cartwright streiten?“, schalt seine Mutter. „Eine solche Unhöflichkeit sieht dir gar nicht ähnlich.“

„Ich habe mich wohl zu sehr von meinen Gefühlen in dieser Angelegenheit hinreißen lassen“, erwiderte er ohne Reue.

Am Nachmittag machte sich Roland mit Travers zu Fuß auf den Weg zum Herrenhaus, um die Räume zu inspizieren. „Ich kann auch genauso gut gleich nachsehen, welche Arbeiten anstehen“, erklärte er.

Mit dem großen Schlüssel, den seine Mutter ihm gegeben hatte, öffnete er die massive Eichentür und trat in die Halle. Indes hatte ihn nicht einmal das vernachlässigte Äußere des Hauses auf das vorbereiten können, was er im Inneren vorfand. Sämtliche Wertgegenstände waren verschwunden; in den Zimmern stand kaum noch ein anständiges Möbelstück, selbst Teppiche gab es nicht mehr, und an den Wänden deuteten nur noch die dunkleren Stellen auf die Gemälde, die hier einst hingen.

Wie hatte es nur so weit kommen können? Wieso hatte sein Vater dies zugelassen? Hatte er sich wirklich wegen Cartwright und einem wertlosen Stück Land in den Ruin gestürzt? Das konnte doch nicht sein. Sicher hatte seine Mutter da etwas missverstanden. Vielleicht hatte sein Vater eine unkluge Investition getätigt? Doch Mountford hätte ihn davon gewiss abgehalten? Seine Mutter hatte recht, ein Besuch beim Anwalt war unumgänglich, und je eher er ihn aufsuchte, desto besser.

Gefolgt von Travers, ging er die breite Wendeltreppe hinauf und schlenderte durch den ersten Stock, in dem sich die Schlafzimmer, die Galerie und der Ballsaal befanden. Mittlerweile hatte sich ihnen auch der Verwalter Bennett angeschlossen. Wie aus dem Nichts war er erschienen, da er es offenbar für seine Pflicht hielt, für eventuelle Anweisungen bereitzustehen.

In den Schlafzimmern roch es modrig, eine Maus huschte über das Parkett und verschwand in einem Loch. „Was um Himmels willen ist nur geschehen?“, meinte Roland leise.

„Geschehen, Mylord?“ Der alte Bennett war sichtlich aufgeregt.

„Oh, ich erwarte nicht, dass Sie das wissen“, beruhigte Roland ihn.

„Nein, Mylord, aber es bekümmert mich, das Haus in diesem Zustand zu sehen. Wir sind alle froh, dass Sie wieder hier sind. Amerleigh braucht Sie.“

Seine Worte machten Roland deutlich, dass er nicht nur nach eigenem Gutdünken walten konnte, dass es andere bei seinen Entscheidungen zu berücksichtigen galt, dass er Verantwortung trug für die Dienstboten, Pächter und Dorfbewohner, deren Lebensunterhalt von der Arbeit abhing, die sie, direkt oder auch indirekt, für ihn auf dem Anwesen ausführten. Wie hatten sie bisher nur ihren Lebensunterhalt gesichert? Die Vorstellung, dass einige nach Mandeville gegangen waren, erzürnte ihn, besonders wenn der trostlose Zustand von Amerleigh Hall tatsächlich auf Cartwrights Taten zurückzuführen war. Kein Wunder, wenn sein Vater sich in diesem Fall hatte rächen wollen.

„Ich denke, ich werde unverzüglich einziehen“, teilte er Travers mit, während sie, gefolgt von Bennett, durch die leeren Zimmer schritten. „Ich sollte standesgemäß im Herrenhaus residieren. Es ziemt sich für einen Earl of Amerleigh nicht, im Dower House mit seiner Mutter zu leben. Außerdem gibt es dort zu wenig Platz.“

Auf dem Speicher fanden sie einige alte Betten und Matratzen, einen Schrank, ein Sofa und einige unbequeme Stühle, die selbst die Gläubiger nicht hatten haben wollen.

„Bringt das hier hinunter und macht uns zwei Schlafzimmer zurecht“, wies er seine beiden Begleiter an, bevor er sich zum Dower House aufmachte, um seine Mutter von seinen Plänen in Kenntnis zu setzen.

Sie war bestürzt und versuchte ihn von seinem Entschluss abzubringen, doch er blieb fest. „Wenn ich Amerleigh Hall wieder zu dem Ansehen verhelfen will, das es einst besaß, dann muss ich auch dort wohnen“, erklärte er.

„Wie willst du ohne Dienstboten zurechtkommen?“

„Ich habe Travers und Bennett.“

„Du wirst dich lächerlich machen.“

„Ich werde mich noch lächerlicher machen, wenn ich hierbleibe und an deinem Rockzipfel hänge.“

Sie seufzte. „Wirst du Mr. und Mrs. Burrows mitnehmen?“

„Nein, du brauchst sie hier. Ich werde eine Frau aus dem Dorf anstellen. Kennst du jemanden, der dafür in Betracht käme?“

Sie dachte einen Augenblick nach. „Mrs. Fields, vielleicht. Sie hat im King’s Head gearbeitet, bis sie ihre Stellung aufgrund einer Meinungsverschiedenheit mit dem Gastwirt verlor. Ich habe zwar noch keine Mahlzeit gegessen, die sie zubereitet hat, aber sie soll eine gute Köchin sein, habe ich gehört. Solange du keine Gesellschaften geben willst …“

Er lachte. „Ganz gewiss nicht. Wirst du alles Nötige veranlassen?“

Nachdem sie zugestimmt hatte, bestand Lady Amberleigh darauf, ihm frische Bettwäsche und einen Korb mit kaltem Hühnchen, Fleischpastete und gekochtem Schinken mitzugeben. „Du wirst mir noch verhungern, wenn du dir selbst überlassen bleibst“, meinte sie und vergaß oder wollte nicht wahrhaben, dass er sehr gut alleine zurechtkam, das hatte er schließlich in den letzten sechs Jahren bewiesen. „Ich werde Mrs. Burrows sagen, dass sie auch für dich kochen soll, bis dir selbst eine Köchin zur Verfügung steht.“

Zum Dank gab er ihr einen Kuss und ging.

2. KAPITEL
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Roland war frühes Aufstehen gewohnt, und so fiel es ihm nicht schwer, bei Sonnenaufgang aus dem Bett zu steigen, ein spartanisches Frühstück zu sich zu nehmen und sich hernach zu Pferde auf den Weg nach Shrewsbury zu machen. Er wollte Mr. Mountford aufsuchen, sich nach Mobiliar und Teppichen für Amerleigh Hall umsehen und sich einige neue Anzüge und Hemden besorgen.

Als er sich der Weberei von Miss Cartwright näherte, hörte er die Glocke läuten, die den baldigen Arbeitsbeginn verkündete und die Arbeiter zu ihrem Tagewerk rief. Eilig kamen die Männer und Frauen aus allen Richtungen herbeigelaufen und strömten durch die geöffneten Fabriktore. Er zügelte sein Pferd, um sie passieren zu lassen, bevor er weiter ritt. Zwei junge Frauen kamen ihm bekannt vor. Er glaubte, sie früher in Amerleigh Hall gesehen zu haben. Wenn er sich nicht täuschte, waren sie die Töchter eines ehemaligen Landarbeiters. Lächelnd sprach er sie an: „Guten Morgen, meine Damen.“

Die Mädchen blieben kichernd stehen, dann erinnerten sie sich ihrer Manieren und knicksten.

„Kommt ihr aus Amerleigh?“, fragte Roland.

„Ja, Sir. Ich meine, Mylord“, antwortete die Ältere der beiden.

„Wie heißt ihr?“, fragte er weiter, weil er der Ansicht war, dass er die Menschen aus dem Dorf kennen sollte, auch wenn sie nicht bei ihm in Stellung waren, sondern aufgrund der Umstände in der Weberei arbeiten mussten.

„Ich bin Elizabeth Biggs“, sagte die Ältere. „Das ist meine Schwester Mathilda.“

Zu schüchtern, um zu sprechen, schaute Mathilda auf ihre Füße.

„Gefällt euch eure Arbeit?“

„Es ist immerhin Arbeit“, sagte Elizabeth. „Das ist besser als das Armenhaus.“

In diesem Augenblick hörte die Glocke auf zu läuten. „Oh je, wir kommen zu spät“, rief Elizabeth, ergriff Mathilda bei der Hand und rannte mit ihr zum Tor, das gerade geschlossen wurde. Roland sah ihnen nach in der Erwartung, dass der Torwächter die beiden Mädchen noch durchschlüpfen lassen würde, doch er knallte ihnen die Tür vor der Nase zu. Einen Augenblick blieben die beiden betreten stehen, dann kamen sie mit hängenden Schultern und bekümmerten Blick wieder auf ihn zu.

„Warum hat man euch nicht hineingelassen?“, erkundigte sich Roland.

„Wenn die Glocke aufgehört hat zu läuten, kommt niemand mehr rein“, erklärte Elizabeth. „Wir verlieren einen Tageslohn. Es soll uns lehren, pünktlich zu sein.“

„Aber ihr wart doch pünktlich und sogar bereits im Begriff, das Fabrikgelände zu betreten. Wenn ich euch nicht aufgehalten hätte …“ Er brach ab und griff nach seiner Brieftasche. „Hier“, sagte er und hielt den Mädchen eine Münze hin. „Ich bin schuld, dass ihr zu spät kamt, deshalb muss ich auch für euren Verlust aufkommen.“ Er hatte ihnen eine halbe Krone gegeben, mehr als den Tageslohn, der ihnen entging, deshalb zögerten sie. „Bitte sehr, nun nehmt schon“, forderte er sie auf und drückte dem älteren Mädchen die Münze in die Hand.

Elizabeth nahm sie unter Dankesgemurmel entgegen, und die beiden huschten davon. Im selben Augenblick hielt Miss Cartwright in ihrer Karriole neben ihm, und er zog seinen Hut. „Guten Morgen, Madam.“

„Was ist denn mit Beth und Matty?“, fragte sie, ohne den Gruß zu erwidern. „Ist eine der beiden krank?“

„Nein, man hat ihnen den Einlass in die Fabrik verwehrt, weil sie stehen blieben, um mit mir zu sprechen.“

„Unfug!“

„Pardon, Madam?“ Es war eine Frage, keine Entschuldigung, die er kühl äußerte.

„Ich meine, da muss ein Missverständnis vorliegen.“

„Nein, dieser Ansicht bin ich nicht. Ich habe die beiden angesprochen, und sie blieben höflich stehen, um mir zu antworten. Wir haben nur kurz miteinander geplaudert, vor den Augen des Torwächters. Er konnte sie deutlich sehen, dennoch hat er ihnen die Tür vor der Nase zugeschlagen. Ihre Angestellten sind wahrlich zu bedauern, wenn Sie immer derart mit ihnen umspringen, Miss Cartwright.“

„Sparen Sie sich Ihr Mitleid für Ihre Angestellten, Mylord“, gab sie zurück und fuhr zum Tor, das ihr sofort geöffnet wurde, während er ihr sprachlos nachschaute.

Im Hof stieg Charlotte aus der Karriole und machte sich auf die Suche nach William Brock. Sie kochte vor Wut. Dass der Earl of Amerleigh es wagte, sie zu kritisieren und anzudeuten, sie behandle ihre Angestellten schlecht, ging eindeutig zu weit.

Wenigstens gab sie ihnen Arbeit, und das war mehr, als man von ihm behaupten konnte. „Was geschieht mit Zuspätkommern?“, fragte sie ohne lange Vorrede.

Brock schaute sie verblüfft an. „Sprechen Sie von dem Gesinde, das zu spät zur Arbeit kommt?“

„Ja, ich meine die Arbeiter, die sich verspätet haben.“

„Wir lassen sie nicht mehr herein, um ihnen eine Lektion zu erteilen und Pünktlichkeit beizubringen, Miss Cartwright. Kaum einer kommt mehr als einmal zu spät.“

„Ich nehme an, das bedeutet, dass sie einen Tageslohn verlieren.“

„Ja, natürlich. Das war schon immer so. Alle Webereien verfahren in dieser Weise.“

„Diese hier aber nicht, Mr. Brock. Ich wurde heute Zeuge, wie man zwei gute Arbeiterinnen abwies, und das ist ein Verlust für uns, denn ihre Webstühle werden stillstehen, weil wir ihre Arbeitskraft für heute verloren haben. Das zeugt nicht von gutem Geschäftssinn. Sie werden daher den Torwächter anweisen, dass er zukünftig die Namen derjenigen aufschreibt, die zu spät kommen, und dafür sorgen, dass man ihnen für jeweils fünf Minuten Verspätung eine halbe Stunde vom Lohn abzieht. Haben Sie verstanden?“

„Ja, Madam“, sagte er widerwillig.

„Gut, dann lassen Sie uns jetzt das Tagesgeschäft erledigen.“

Am Nachmittag, als sie ihre Geschäfte in der Weberei erledigt hatte, fuhr Charlotte zum Büro ihres Mineningenieurs Robert Bailey nach Shrewsbury, um ihn anzuweisen, einen neuen Stollen eröffnen zu lassen. Zum ersten Mal in ihrem Leben verhielt sie sich unlogisch und nicht eben geschäftstüchtig, aber sie konnte nicht anders. Es war ihr gleich, was es kosten würde und wie lange es dauerte, bis die Ausgaben sich rentierten, sie wollte diesen neuen Stollen. Die Begegnung mit dem Earl am Morgen hatte ihre Verärgerung über ihn nur gesteigert und sie umso entschlossener in ihrer Entscheidung werden lassen, ihm Paroli zu bieten. Er war ihr ein Stachel im Fleisch. Wenn sie die Bleimine erst einmal ausgebeutet hatte, würde sie ihm vielleicht das Land, von dem er behauptete, es sei das seine, zu einem überteuerten Preis zum Kauf anbieten. Sie fragte sich, ob er versuchen würde, das Geld aufzubringen, oder sogar ganz aufgab, das Land zurückzuerlangen. Allerdings vermutete sie, dass Lord Amerleigh ebenso eigensinnig und hartnäckig war wie sie. Wie kam sie nur darauf? Und warum war dies überhaupt von Bedeutung?

Seit der inzwischen verstorbene Earl of Amerleigh den Titel vor zwölf Jahren geerbt hatte, war Charles Mountford, ein Mann in den Vierzigern mit braunem Haar und braunen Augen, der Anwalt der Familie. Ganz in Schwarz gekleidet, begrüßte er Roland in seinem Büro.

„Bitte nehmen Sie doch Platz, Mylord“, meinte er schließlich, nachdem die üblichen Höflichkeiten ausgetauscht waren, und deutete auf einen Stuhl auf der anderen Seite seines Schreibtisches, bevor er sich selbst niederließ und einige Papiere zu einem Stapel schob. „Darf ich Ihnen mein Beileid zum Hinscheiden Ihres Vaters aussprechen und meinen Glückwunsch zu Ihrer Erbschaft.“

„Und woraus besteht nun mein Erbe genau?“, fragte Roland. „Wenn man den Titel einmal ausnimmt.“

„Es besteht aus Amerleigh Hall und den dazugehörigen Ländereien – kaum mehr, befürchte ich.“

„Das habe ich mir schon gedacht. Sagen Sie mir, was geschehen ist. Meine Mutter erwähnte einen Rechtsstreit.“

„Ja, eine unglückliche Angelegenheit.“

Autor

Mary Nichols

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