Pikanter Skandal um Miss Holt

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Auf gar keinen Fall möchte die schöne Ianthe Holt den widerlichen Sir Charles heiraten! Der einzige Ausweg scheint eine überstürzte Verlobung mit dem ebenso attraktiven wie arroganten Robert Felstone, der ihr überraschend einen Antrag macht. Doch damit gerät Ianthes schwärmerisches Herz in Gefahr. Denn der aufstrebende Schiffsunternehmer will eine Vernunftehe, während sie sich in ihn verliebt! Zudem verlangt Robert von seiner zukünftigen Gattin einen makellosen Ruf. Was, wenn er erfährt, dass Ianthe in einen pikanten Skandal verwickelt war?


  • Erscheinungstag 30.07.2019
  • Bandnummer 596
  • ISBN / Artikelnummer 9783733736859
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

North Yorkshire, Juli 1865

Aber ich will ihn nicht heiraten!“ Ianthe fühlte sich wie geohrfeigt. „Wie kannst du so etwas auch nur vorschlagen, Percy?“

„Weil es eine gute Idee ist, deshalb!“ Seufzend warf ihr Bruder den Kopf zurück gegen das Rückenpolster. „Und ich habe nicht gesagt, dass du ihn heiraten musst, sondern nur, dass du es erwägen solltest.“

„Er ist zwanzig Jahre älter als ich!“

„Eher dreißig.“

„Wie konntest du dann …? Wie könnte ich …?“

Ianthe geriet ins Stottern und konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, ihrem Bruder einen Tritt gegen das Schienbein zu verpassen. Abgesehen vom Alter störten sie zahllose weitere Dinge an Sir Charles Lester, auch wenn Percy ihr das niemals abnähme. Gute Idee hin oder her, der Baronet war der letzte Mann auf Erden, den sie zu ehelichen gedachte. Inzwischen bekam sie schon Gänsehaut, wenn sie ihn nur sah. Und hier saß sie nun, gefangen in einem Zugabteil, und mit jedem Dampfschwaden, den die Lok ausstieß, mit jedem Stampfen der Kolben kam sie ihm näher.

Stumm biss sie die Zähne zusammen und starrte aus dem Fenster, bemüht, sich zu beherrschen, indem sie sich auf die vorbeiziehende Landschaft konzentrierte. Mit Percy zu streiten war müßig, und sein Ansinnen rundheraus abzulehnen hätte ihn nur umso sturer gestimmt. Nein, sie musste gelassen bleiben, so gern sie auch geschrien hätte.

Die zerklüftete Gegend trug nicht eben zu ihrer Gelassenheit bei. Sie war ans Stadtleben gewöhnt, an Häuser, Geschäfte und Fabriken. Die Gefilde Yorkshires muteten in ihrer Andersartigkeit befremdlich an, als wäre die Welt hier weiter und wilder, als entglitte ihr die Kontrolle über ihr Leben.

„Du sagtest, wir würden Tante Sophoria besuchen.“

„Das tun wir ja, aber Charles besitzt ebenfalls ein Haus in der Nähe von Pickering. Ich habe also nicht gelogen.“

„Dass du hinter meinem Rücken meine Hochzeit planst, hast du verschwiegen!“

„Geplant habe ich gar nichts, nur darüber geredet. Hör zu, Schwesterherz, du musst nichts gegen deinen Willen tun, aber du könntest wenigstens versuchen, ihn zu mögen. Er ist nämlich ein anständiger Kerl, hat bei mir um deine Hand angehalten und so weiter.“

„Bei dir?“ Fassungslos fuhr sie zu ihm herum. Vergessen war ihre Entschlossenheit, gelassen zu bleiben. „Ich bin fast zweiundzwanzig! Ich brauche zum Heiraten nicht dein Einverständnis.“

„Ich bin das Familienoberhaupt.“

„Du bist mein Bruder, Percy, mein kleiner Bruder! Ich kann durchaus eigene Entscheidungen treffen.“

„Ich fand es hochanständig von ihm, zuerst zu mir zu kommen.“

„Oh, sei nicht so anmaßend! Das warst du früher nie. Auch das liegt an seinem Einfluss.“

„Und du warst früher keine solch altbackene Jungfer. Bevor du nach Bournemouth gegangen bist, warst du ganz ansehnlich, aber durch den hohen Kragen und die scheußliche Frisur ist davon nichts mehr zu sehen. Musst du dir das Haar so straff zurückbinden? Du kommst wie ein Blaustrumpf daher.“

„Du weißt, dass mir Äußerlichkeiten einerlei sind.“

Rasch wandte sie das Gesicht ab, wobei sie einen so flüchtigen wie unerquicklichen Blick auf ihr Spiegelbild im Zugfenster erhaschte: unscheinbares braunes Haar und ebenso braune, weit auseinanderstehende Augen. Als Rehaugen hatte ihr Vater sie bezeichnet, und seit seinem Tod schienen sie noch riesiger geworden zu sein. In ihrem schmalen Gesicht wirkten sie fast unnatürlich groß.

„Und musst du jeden Tag Grau tragen?“ Offenbar erwärmte sich Percy für das Thema. „Das ist deprimierend.“

„Bis vor Kurzem waren wir in Trauer!“

„Genau, wir haben es hinter uns. Wieso nur kleidest du dich nicht wieder farbenfroher? Mir ist schleierhaft, was Charles an dir findet.“

„Ich wünschte, er fände gar nichts an mir! Und sei nicht so unhöflich. Wir sind nicht allein.“

Sie warf einen bedeutungsvollen Blick auf den Mann ihnen gegenüber. Er hatte schon geschlafen, als sie das Abteil betreten hatten. Offenbar kam es Percy nicht in den Sinn, die Stimme zu senken, und das Letzte, was Ianthe wollte, war Publikum. Ihre Lage war auch ohne Zeugen peinlich genug.

Zudem war sie nicht sicher, ob ihr Reisegefährte tatsächlich so tief schlief, wie es den Anschein hatte. Während Percys jüngster Tirade hatte sie gemeint, ein leichtes Stirnrunzeln wahrzunehmen, als wäre er um ihretwillen empört.

Hatte sie sich das nur eingebildet oder lauschte er?

Unauffällig musterte sie ihn, nach einer weiteren Regung suchend. Selbst im Schlaf war er bemerkenswert attraktiv: schwarzes Haar, gerade Nase, wie gemeißelt wirkende Wangenknochen und ein markantes Kinn. Die leicht gebräunte Haut ließ darauf schließen, dass er viel Zeit im Freien verbrachte, obgleich der teure Stoff und der elegante Schnitt seiner Kleidung ihn als Gentleman auswiesen – doch ein Gentleman würde gewiss nicht unverhohlen lauschen, oder?

Sie musste sich getäuscht haben.

„Was ist?“ Percy folgte ihrem Blick. „Oh, der schläft. Und selbst wenn nicht, bezweifle ich, dass ihn unser kleines Familiendrama interessieren würde.“

„Trotzdem solltest du leiser sprechen.“

„Warum? Falls er aufwacht, könnten wir ihn nach seiner Meinung fragen. Gewiss würde er sich der meinen anschließen. Kein Mann wünscht sich eine alte Jungfer als Frau.“

„Die Meinung anderer ist mir gleich. Und wage es ja nicht, ihn zu fragen!“

„Ich versuche nur zu helfen. Entscheidest du dich gegen Charles, habe ich es wenigstens versucht, und damit ist die Sache für mich erledigt. Dann wirst du dich selbst bemühen müssen, und so, wie du aussiehst, findest du nie einen Mann. Au!

Ianthe bedachte ihn mit einem giftigen Blick, während sie langsam den Ellenbogen zurückzog, den sie ihm in die Rippen gestoßen hatte. Sie wusste nur zu gut, wie ihre Aufmachung wirkte. Genau darauf legte sie es an. Die graue Gewandung und die triste Frisur gefielen ihr ebenso wenig wie ihrem Bruder, aber zumindest konnte man ihr nicht vorwerfen, um Aufmerksamkeit zu heischen. Man konnte ihr rein gar nichts Unschickliches vorwerfen. Dies war ihr neues Ich. So wollte sie sein, ob es Percy oder sonst wem passte oder nicht.

Dennoch schmerzten seine Worte, vor allem, da Percy sie früher niemals so grausam gekränkt hätte. Seit ihre Mutter letztes Jahr an der Schwindsucht gestorben und der Vater ihr bald darauf, von Gram erfüllt, gefolgt war, hatte ihr Bruder sich zum Schlechteren verändert. Je mehr Zeit er mit Sir Charles verbrachte, desto finsterer wurde sein eigentlich sonniges Gemüt. Inzwischen hatte sie das Gefühl, ihn kaum noch zu kennen. Wenn sie doch bloß zu dem alten Percy durchdringen und an dessen gütigere Seite appellieren könnte …

„Ich wünschte, du hättest mir reinen Wein eingeschenkt, was diese Reise betrifft.“ Sie bemühte sich, nicht allzu vorwurfsvoll zu klingen. „Können wir nicht ehrlich zueinander sein?“

Percy seufzte schwer. „Schau, Charles hat mich gebeten, dir nichts von seiner Anwesenheit zu sagen. Er wollte dich überraschen, dir sein Haus zeigen, ehe er dir einen Antrag macht. Die meiste Zeit über lebt er in London, aber anscheinend ist er sehr stolz auf sein Anwesen. Deshalb habe ich dir vorher nichts verraten.“

„Weil du wusstest, dass ich den nächstbesten Zug nach Hause nehmen würde.“

„Deswegen auch, ja. Aber könnten wir, da wir nun einmal hier sind, das Ganze nicht als Urlaub betrachten? Unser letzter Besuch bei Tante Sophoria liegt mindestens zehn Jahre zurück.“

„Zwölf.“

An der Beerdigung von Mutter und Vater hatte ihre Tante aufgrund einer heftigen Grippe nicht teilnehmen können, aber ihre Beileidsbriefe waren von Herzen gekommen und voller Mitgefühl gewesen. Sie hatte Ianthe sogar eingeladen, zu ihr in den Norden zu ziehen, obwohl sie, betagt und beinahe mittellos, kaum für sich selbst aufkommen konnte, geschweige denn für eine weitere Person. Wenngleich sich Ianthe angesichts der jetzigen Situation wünschte, sie hätte die Einladung angenommen …

Jedenfalls war die Aussicht auf einen Aufenthalt bei Tante Sophoria gegenwärtig der einzige Lichtblick in ihrem Leben. Ihre Kindheitserinnerungen an Ferien bei der älteren Schwester ihrer Mutter waren vage, aber glücklich.

„Ich freue mich darauf, sie wiederzusehen.“

„Und sie lässt dich bleiben, so lange du möchtest.“

„Was soll das heißen?“ Unvermittelt verflüchtigte sich die nostalgische Anwandlung. „Ich dachte, wir blieben nur eine Woche.“

„Nun …“ Percy wand sich. „Ehrlich gesagt, London ist teuer. Ich kann es mir nicht länger leisten, für uns beide zu sorgen. Und Charles hält es ohnehin für angebrachter, dass du bei Tante Sophoria lebst.“

Charles hält es für angebrachter?“

„Ja, und ich stimme ihm zu. Ich hätte früher einsehen sollen, dass es schicklicher ist.“

„Willst du etwa sagen, dass dies – all dies – seine Idee war?“

„Ich denke schon, was nur beweist, wie sehr du ihm am Herzen liegst. Er ist ein famoser Bursche. Du weißt, dass Vater das auch fand.“

„Vater hat nie angeregt, dass ich ihn heirate! Und du weißt, was Mutter von ihm gehalten hat. Sie hat es nach Möglichkeit vermieden, mit ihm auch nur im selben Raum zu sein. Mich hat sie ebenfalls von ihm ferngehalten.“

„Oh, ihr Weiber und eure Vorurteile!“ Percy verdrehte entnervt die Augen. „Ich weiß nur, dass er während des letzten Jahres mir gegenüber überaus großzügig war. Er hat mir finanziell unter die Arme gegriffen.“

„Du schuldest ihm Geld?“

„Nur ein wenig, du brauchst gar nicht so missbilligend zu schauen. Mir ist klar, dass Vater uns nicht in derart desolaten Umständen zurücklassen wollte, aber das hat er nun einmal. Irgendwie musste ich die Rechnungen begleichen.“

„Schieb das nicht Vater in die Schuhe.“ Ianthe versteifte sich, innerlich auf Abwehr. „Du weißt, dass er nach Mutters Tod am Boden zerstört war.“

„Er hat verantwortungslos gehandelt, indem er all seine Kapitalanlagen vor die Hunde hat gehen lassen. Und mir hat er das alles aufgebürdet.“

„Aufgebürdet?“ Sie zuckte zusammen. War sie bloß noch eine Bürde?

„So habe ich es nicht gemeint.“ Wenigstens hatte er den Anstand, beschämt dreinzuschauen. „Ich sage nur, dass wir praktisch denken müssen. Unser Einkommen lässt nicht zu, dass wir so weiterleben wie bisher. Für eine Frau deines Standes kommt nur eine Heirat infrage, und soweit ich das überblicke, stehen die Bewerber nicht gerade Schlange. Deshalb fahre ich mit dir nach Yorkshire, damit du dich mit Charles treffen kannst.“

Ein flaues Gefühl machte sich in ihrem Magen breit, eine Mischung aus Angst und Abscheu. Was die Absichten des Baronets anging, hatte sie so eine Ahnung gehabt – und, wie sie glaubte, unmissverständlich deutlich gemacht, wie sie zu der Sache stand. Dass er indes derart tief sinken würde, hätte sie nicht erwartet.

Das Ganze war ein Trick. Nein, schlimmer, eine Falle. Sir Charles hatte Percy dazu angestiftet, sie herzubringen und so von Heim und Freunden abzuschneiden, auf dass sie in einem entlegenen Städtchen im Norden festsäße, nur in Gesellschaft einer verarmten ledigen Tante. Vermutlich nahm er an, dass sie sich dadurch gezwungen sähe, ihn zu heiraten.

Tja, so leicht würde sie sich nicht manipulieren lassen. Es musste einen anderen Weg geben.

„Ich werde eine Anstellung finden.“

„Mach dich nicht lächerlich. Nach allem, was letztes Mal passiert ist?“

„Das war nicht meine Schuld!“

„Du wirst nicht müde, das zu behaupten. Nur gut, dass die Familie so diskret war, ansonsten wäre dein Ruf dahin. Ich bin froh, dass Charles nichts davon erfahren hat.“

Ianthe verschränkte aufsässig die Arme und wünschte inbrünstig, er hätte davon erfahren. „Das dürfte kaum noch einmal geschehen.“

„Nein.“ Percy musterte sie abschätzend. „Unwahrscheinlich. Aber was, wenn es dir nicht gelingt, eine Anstellung zu finden? Was bliebe dir noch? Charles zu heiraten ist deine beste Option, sieh das doch ein. Du hättest Geld, eine Absicherung, Kinder.“

„Kinder?“ Sie spie das Wort förmlich aus, von Grauen erfüllt. Wie Sir Charles sie ansah, war schlimm genug. Bei dem Gedanken, von ihm berührt zu werden, lief es ihr kalt über den Rücken. Was Kinder anging … Wie genau man an diese kam, entzog sich ihr, und sie verspürte keinerlei Lust, es herauszufinden.

Pragmatisch betrachtet hatte Percy recht – der Baronet war ihre beste Option. Das Dasein als Gouvernante war ernüchternder als gedacht gewesen. Und nach dem Vorfall in Bournemouth zog sich ihr bei dem Gedanken an eine neue Anstellung schmerzhaft der Magen zusammen. Falls sie eine neue Anstellung fände … Schon an die erste zu gelangen war schwierig gewesen, und um Referenzen hatte sie schlecht bitten können! Sollte sich das Geschehene herumsprechen, könnte sie sich glücklich schätzen, überhaupt je wieder irgendwo zu arbeiten.

Und ganz gleich, was sie tat, wie streng sie sich kleidete, wie abweisend sie sich gab, nichts schreckte Sir Charles ab. Er hatte sie schon seltsam angesehen, als sie noch ein Kind gewesen war und er sich ihr als alter Freund ihrer Mutter vorgestellt hatte. Seit deren Tod war sein Blick aufdringlicher denn je. Nach dem Begräbnis war er einige Monate ins Ausland gegangen. Zurückgekommen war er ungefähr zur selben Zeit, da sie aus Bournemouth heimgekehrt war, und seitdem steckte er ständig mit Percy zusammen und beobachtete sie. Es schien kein Entrinnen zu geben. Sie war es leid, sich zu widersetzen, sich immerzu zu verstecken. Und wenn Percy ihm Geld schuldete … war es nicht ihre Pflicht, ihren Teil zur Tilgung beizutragen, ungeachtet der persönlichen Konsequenzen?

„Das muss Rillington sein. Hier haben wir einige Minuten Aufenthalt.“ Percy sprang auf, als der Zug hielt. „Ich besorge eine Zeitung. Von Streitereien bekomme ich Kopfschmerzen.“

„Warte!“ Sie ergriff seine Hand, ein letzter verzweifelter Versuch, an ihn zu appellieren. „Er hat etwas an sich, das ich nicht erklären kann …“

„Nun, was es auch ist, es würde dich nicht lange behelligen. Charles muss mindestens fünfzig sein.“

„Percy!“ Abrupt ließ sie ihn los. „Sag so etwas nicht! Jemand könnte dich hören.“

„Oh, wie man es macht, ist es verkehrt!“ Er riss die Abteiltür auf. „Ich bin gleich zurück. Versprich mir nur, dass du darüber nachdenken und eine vernünftige Entscheidung treffen wirst.“

„Versprichst du mir im Gegenzug, mir künftig immer die Wahrheit zu sagen?“

„Natürlich!“, beteuerte er, im Gehen begriffen. „Vergiss nicht, dreißig Jahre Altersunterschied! Bald könntest du eine reiche Witwe sein.“ Er sprang auf den Bahnsteig und eilte davon.

Ianthe schaute ihm aufgebracht nach, drauf und dran, ihre Reisetasche zu nehmen, den Zug zu verlassen und fortzulaufen. Doch wohin? Percy und ihre Tante waren ihre einzigen noch lebenden Verwandten, und nun sah es so aus, als hätten selbst die sich gegen sie verschworen. Sie sank gegen das Rückenpolster, sah Percy nach, der sich entfernte, und beneidete ihn im Stillen um seine Freiheit. Er machte sich nie Gedanken darüber, wie er sich verhielt oder ob er sich taktlos aufführte. Es interessierte ihn schlicht nicht, ob er in die Kritik geriet. Wie kam es, dass für Männer und Frauen derart unterschiedliche Regeln galten? Wenigstens hatte niemand seine letzte Bemerkung mitbekommen.

Schuldbewusst fuhr sie zusammen und richtete sich kerzengerade auf, als sie dem stählernen Blick des Mannes ihr gegenüber begegnete. Er hatte sich nicht gerührt, hatte nicht einmal den Kopf gehoben, doch er war hellwach und fixierte sie finster und eindringlich, ja mit fast grimmiger Intensität. Dieses Mal war der Unmut in seiner strengen Miene unverkennbar. Er wirkte wütend.

„Sie sind wach“, stellte sie das Offensichtliche fest.

„Wie Sie sehen.“

Sie blinzelte, aus der Bahn geworfen durch den schneidenden Ton seiner tiefen Stimme. Er lümmelte sich auf seinem Platz, nicht ansatzweise um Haltung bemüht, so als verachtete er sie so sehr, dass er es nicht für nötig hielt, den Anstand zu wahren. Noch kränkender als sein Gebaren war sein Blick. Abgesehen von Sir Charles hatte kein Mann sie bislang derart unverhohlen und durchdringend angestarrt. In ihrer neuen faden Aufmachung hatte sie sich für das andere Geschlecht so gut wie unsichtbar gewähnt, doch der Blick der hellen Augen dieses Fremden schien sie förmlich zu durchbohren.

Hastig schaute sie aus dem Fenster, aber von Percy war keine Spur zu sehen. Wie typisch für ihn, sie den Schlamassel beheben zu lassen! Offenbar hatte der Mann ihr Gespräch teilweise, wenn nicht gänzlich belauscht. Und er wirkte, als machte er sie verantwortlich. Nun, ihr stand nicht der Sinn nach einer Gardinenpredigt, schon gar nicht heute.

„Sir.“ Rebellisch reckte sie das Kinn. „Ich bitte Sie zu vergessen, was Sie eventuell mit angehört haben. Die Unterhaltung war vertraulich.“

„Dann hätten Sie sie nicht in einem öffentlichen Waggon halten sollen.“

„Ein Gentleman sollte nicht lauschen.“

„Ich konnte es schwerlich verhindern. Ich schätze, der ganze Zug hat Ihren Bruder gehört.“

Sie spürte, wie ihr vor Scham das Blut heiß in die Wangen schoss. Selbst wenn das stimmte – und sie fürchtete, dass es das tat –, hätte er es nicht erwähnen dürfen. Was war er bloß für ein Gentleman?

„Mein Bruder hätte nicht derart indiskret sein sollen. Aber wie Sie sicherlich gehört haben, habe ich ihn dafür getadelt.“

„Ein Tadel war das?“ Spöttisch musterte er sie mit seinen grauen Augen. „Es klang eher so, als fürchteten Sie, jemand könnte von Ihrer kleinen Intrige erfahren.“

Intrige? Sie wollte protestieren, blieb jedoch stumm. Wenn sie recht darüber nachdachte, hatte sie Percy tatsächlich nur aufgefordert, leise zu sein. Widersprochen hatte sie ihm nicht. Kein Wunder, dass dieser Mann das Schlimmste annahm, auch wenn ihm das nicht das Recht gab, ihr Vorhaltungen zu machen. Sie waren einander nicht vorgestellt worden, und sie war eine Dame ohne Begleitung. Sie sollten gar nicht miteinander reden, geschweige denn streiten.

Züchtig verschränkte sie die Hände auf dem Schoß. „Ich spinne keine Intrige, Sir.“

„Außer dass Sie vorhaben, einen Mann, den Sie verabscheuen, wegen seines Geldes zu ehelichen und auf sein zeitiges Ableben zu hoffen. Wie würden Sie das nennen, wenn nicht eine Intrige?“

„Ich würde sagen, dass Sie keine Ahnung haben, wovon Sie reden. Und da Sie so wenig auf gute Manieren geben, möchte ich anfügen, dass der Schein trügen kann. Sie beispielsweise sehen wie ein Gentleman aus, obwohl Sie ganz offensichtlich keiner sind.“

„Mag sein, wenngleich man mich schon ärger beschimpft hat, seien Sie versichert.“

„Das glaube ich gern. Aber meine Angelegenheiten gehen Sie nichts an.“

„Im Gegenteil.“ Seine Miene verdüsterte sich. „Ich finde, jedermann sollte wissen, dass es Frauen wie Sie gibt.“

„Frauen wie mich?“ Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. Was sollte das bedeuten? Woher wollte er wissen, was für eine Frau sie war? Wie wollte er das beurteilen?

„Intrigantinnen. Betrügerinnen. Doppelzüngige Schlangen.“ Er musterte sie abfällig, als ließe das, was er sah, zu wünschen übrig. „Sie haben nicht einmal den Anstand, nett über Ihre Beute zu sprechen. Ich zumindest weiß, was ich bin. Sie hingegen halten sich wohl für eine Dame?“

Er wandte den Kopf ab und schaute aus dem Fenster, während sie, sprachlos vor Schock, vor sich hin starrte. Wie war das möglich? Wie konnte er sie nach allem, was sie getan hatte, um ihre Erscheinung, ja sich selbst zu verändern, als Intrigantin bezeichnen?

Sie atmete durch und kämpfte gegen die altbekannten Regungen Scham und Selbstverachtung an. Schon einmal war sie eine Intrigantin genannt worden. Auch damals hatte sie ihre Unschuld beteuert, erfolglos. War alles wahr, was man ihr in Bournemouth vorgeworfen hatte? Hatte sie etwas Schlechtes, etwas von Natur aus Verdorbenes an sich, das selbst einem Fremden ins Auge stach?

Nein! Ihr Verstand wehrte sich dagegen. Und selbst wenn es zuträfe, war sie nicht absichtlich schlecht. Nicht sie war diejenige, die Ränke schmiedete. Sie wollte überhaupt nichts mit Sir Charles zu schaffen haben. Nein, er war derjenige, der gegen sie intrigierte! Wie konnte dieser Fremde es wagen, sich derart despektierlich über sie auszulassen, als wäre sie die schändlichste Mitgiftjägerin, die ihm je untergekommen war? Wer immer er war, er hatte kein Recht, über sie zu urteilen!

„Ja“, setzte sie erbost an, „ich halte mich durchaus für eine Dame. Mindestens so sehr, wie Sie sich als Gentleman ansehen. Und hätten Sie besser aufgepasst oder das Gesagte im Zweifel zu meinen Gunsten ausgelegt, wüssten Sie, dass ich nicht das Verlangen und erst recht nicht die Absicht hege, Sir Charles zu heiraten!“

Sir Charles?“ Am Ende ihrer Rede wandte er sich ihr abrupt zu, nachdem er zuvor beharrlich aus dem Fenster geblickt hatte. „Meinen Sie Charles Lester?“

Ianthe biss sich auf die Zunge, als ihr der Fauxpas zu spät bewusst wurde. Hatten sie seinen Namen vorhin nicht erwähnt? Nein, wenn sie es recht bedachte, nannte Percy ihn stets Charles, während sie es vermied, seinen Namen überhaupt in den Mund zu nehmen. Wobei es nun müßig wäre, Charles’ Identität zu leugnen.

Sie nickte knapp. Der Fremde fuhr sich durchs Haar und murmelte etwas Unverständliches.

„Kennen Sie ihn, Sir?“

„Wir sind miteinander bekannt.“

„Oh.“

Sie wartete, hin- und hergerissen zwischen Schuldgefühlen und Erleichterung. Ausnahmsweise einmal würde Percys Verhalten Konsequenzen haben. Wenn dieser Mann mit Sir Charles bekannt war, würde er ihm gewiss haarklein von dem Gespräch berichten. Und das würde sie, so peinlich die Umstände auch waren, von ihrem Dilemma befreien. Nach einer solch öffentlichen Diffamierung würde der Baronet sie wahrscheinlich nie wiedersehen wollen.

Womöglich war es doch kein allzu schlimmer Fauxpas gewesen …

„Wenn das so ist …“, der Fremde beugte sich vor, die Unterarme auf die Knie gestützt, „… sollte ich meine Äußerungen zurücknehmen. Ich habe lediglich die Hälfte des Gesprächs mitbekommen und ungebührlich reagiert. Ich glaube, ich bin aufgewacht, als Sie Ihrem Bruder beschieden haben, nicht so anmaßend zu sein. Da konnte ich mich schlecht bemerkbar machen, ohne Sie in Verlegenheit zu bringen.“ Er runzelte die Stirn, als gestünde er sich etwas Unliebsames ein. „Das war falsch von mir. Ich hätte mich zu Wort melden sollen. Vorsätzlich gelauscht habe ich nicht, doch die letzten Worte Ihres Bruders …“ Zerknirscht schüttelte er den Kopf. „Ich möchte mich in aller Form entschuldigen.“

Ianthe blinzelte verwundert, erstaunt über den außergewöhnlichen Sinneswandel. Der Fremde klang noch immer abweisend, aber die grimmige Miene und der abfällige Zug um seinen Mund waren verschwunden, als hätte sein Zorn ein neues Ziel gefunden. Was war geschehen? Einen Augenblick zuvor noch schien ihr bloßer Anblick ihm ein Dorn im Auge zu sein, und jetzt entschuldigte er sich? Der einzige Unterschied zu eben bestand darin, dass er nun den Namen des Mannes kannte, der ihr nachstellte.

Sie war verwirrt.

„Sie halten nicht viel von Sir Charles?“ Die Frage fiel ihr schwer.

„Meine Meinung würde ich lieber für mich behalten.“

„Ich denke, unter den gegebenen Umständen habe ich ein Recht darauf, sie zu erfahren.“

Er schüttelte den Kopf, finster aus dem Fenster starrend. „Wie gesagt, wir sind bloß Bekannte. Was ich weiß, habe ich vorwiegend aus zweiter Hand, und gemeinhin gebe ich nichts auf Gerede.“

„Sie haben mich als Intrigantin hingestellt, Sir“, entgegnete sie scharf. „Ich wüsste nicht, weshalb Sie plötzlich vornehme Zurückhaltung vorschützen sollten.“

Wieder schaute er sie an, und nun hatte sein Blick etwas Abschätzendes. Unwillkürlich strich sie sich die Röcke glatt, mit einem Mal befangen. Was erwartete er zu sehen? Was dachte er? Zwar scherte es sie nicht, was er von ihr hielt, aber der durchdringende Blick seiner stählern schimmernden Augen war verstörend. Wenn er glaubte, er komme um eine Antwort herum, hatte er sich getäuscht …

Sie hob das Kinn, entschlossen, nicht nachzugeben. „Sofern Sie wollen, dass ich Ihnen verzeihe, sollten Sie den Anstand haben, mir gegenüber aufrichtig zu sein.“

Er hob eine seiner schwarzen Brauen. „Was kümmert es Sie, wenn Sie doch vorhaben, ihn zurückzuweisen?“

„Es kümmert mich, weil mein Bruder viel Zeit mit ihm verbringt. Falls er sich bei Sir Charles in unpassender Gesellschaft befindet, wüsste ich das gern.“

Er deutete ein Nicken an, offenbar überzeugt. „Also gut. Ich halte ihn für einen Wüstling und Spieler, wenngleich er zugegebenermaßen steinreich ist. Sich einer Verbindung mit einem solchen Mann zu widersetzen würde ich keiner Frau vorwerfen.“

„Nicht einmal einer Frau wie mir?“

An seinem Kiefer zuckte ein Muskel. „Verzeihen Sie, ich habe mich im Ton vergriffen. Meine Wut galt vornehmlich Ihrem Bruder, doch als ich die Augen geöffnet habe, war er fort. Ich fürchte, ich habe meinen Unmut an der falschen Person ausgelassen. Bitte vergessen Sie, was ich gesagt habe.“

„Vergessen?“ Ungläubig starrte sie ihn an. „Glauben Sie, so etwas ließe sich einfach vergessen?“

„Nein. Vermutlich nicht.“ In seinen Augen flackerte flüchtig Verunsicherung auf. „Zu meiner Verteidigung kann ich nur anbringen, dass ich einen misslichen Morgen hinter mir habe. Ich habe mich hinreißen lassen.“

„Soll das etwa eine Entschuldigung sein?“ Sie lachte kurz auf. Misslicher Morgen hin oder her, es stand ihm nicht zu, seine schlechte Laune an ihr auszulassen. Sie hatte bereits Percys Kränkungen schlucken müssen. Die irgendeines Fremden brauchte sie nicht noch als Dreingabe!

„Eine Rechtfertigung. Sie müssen zugeben, dass die Anmerkungen Ihres Bruders unsensibel waren.“

„Mein Bruder ist jung und manchmal töricht, aber er hat mein Wohl im Sinn.“

„Indem er Sie nötigt, einen Mann wie Lester zu heiraten? Ja, das klingt mir nach dem idealen Bruder.“

„Er nötigt mich zu gar nichts! Sie wissen nicht das Geringste über diese Sache. Oder über uns. Unsere finanzielle Lage ist …“

Sie brach ab. Wieso machte sie sich überhaupt die Mühe, mit ihm zu streiten? All dies ging ihn nichts an. Sie musste weder sich selbst noch Percy verteidigen. Merkwürdigerweise verspürte sie dennoch das Verlangen, sich zu rechtfertigen, und sei es nur, um selbst klarer zu sehen.

„Mein Bruder möchte mich unter die Haube bringen, damit ich versorgt bin, das ist alles. Wobei ich nicht erwarte, dass ein reicher Mann das versteht.“

Er verzog spöttisch die Lippen. „Nicht alle Männer werden reich geboren. Einige arbeiten sich aus eigener Kraft nach oben, ohne ihre Schwester zu verhökern.“

„Was erlauben Sie sich!“ Empört hob sie die Stimme. Wie konnte er etwas derart Abscheuliches behaupten – dass Percy sie lediglich verschachern wolle, um seine Schulden zu begleichen und sich von der Verantwortung für sie zu befreien! Selbst wenn in dem Vorwurf ein Körnchen Wahrheit stecken sollte, weigerte sie sich zu glauben, dass ihr Bruder so herzlos war! Er war schlicht jung, mehr nicht …

„Ich sage, was mir passt.“

„Dann sind Sie kein Gentleman, Sir, sondern bereiten diesem Wort Schande! Und ich wäre dankbar, wenn Sie Ihre Gedanken fortan für sich behalten könnten.“

Ruckartig wandte sie sich ab, heftig atmend und halb erleichtert, halb bestürzt über ihren Ausbruch. Keine Frage, er hatte die Zurechtweisung verdient, doch in ihrer Unbeherrschtheit war sie ebenso wenig Dame, wie er Gentleman war. Vielleicht stimmte das, was man ihr in Bournemouth vorgeworfen hatte, ja doch …

„Sagen Sie, ist es die Ehe im Allgemeinen, die Sie ablehnen, oder die mit Sir Charles im Besonderen?“

Sie drehte sich wieder zu ihm um, die Augen fassungslos geweitet. Warum hielt er nicht den Mund? Wieso ließ er sie nicht einfach in Ruhe? Er klang aufreizend ruhig, nicht im Mindesten getroffen von ihren Schmähungen.

„Ich glaube, ich hatte Sie gebeten zu schweigen, Sir.“

„Nein, Sie haben mich gebeten, meine Gedanken für mich zu behalten. Daher mein Interesse an den Ihren.“

„Sie sind unverschämt!“

Der Anflug eines sardonischen Lächelns huschte über sein Gesicht. „Ich denke, die Grenze der Unverschämtheit haben wir längst überschritten. Da wir bereits zu dem Schluss gelangt sind, dass ich kein echter Gentleman bin und weil ich mein Benehmen wiedergutmachen möchte, mache ich Ihnen ein Angebot.“

„Ein Angebot?“, wiederholte sie argwöhnisch.

„Ein geschäftliches Angebot, wenn Sie so wollen. Eines, von dem wir beide profitieren könnten.“

Aus den Augenwinkeln erspähte sie Percy, der pfeifend und die Arme schwingend über den Bahnsteig schlenderte, eine Zeitung in der Hand. Ihnen blieb nicht mehr viel Zeit. Was immer der Fremde ihr anzubieten hatte, für Ausführungen war es zu spät. Sie musste dieses bizarre, unbesonnene, ganz und gar ungehörige Gespräch beenden.

„Ich habe kein Interesse an weiteren Äußerungen Ihrerseits, Sir.“

„Wollen Sie sich mein Angebot nicht einmal anhören?“

„Mein Bruder wird gleich zurück sein. Ich bitte Sie, nichts mehr zu diesem Thema verlauten zu lassen. Oder zu irgendeinem anderen.“

„Schade.“ Er wirkte verblüfft. „Ich hatte vor, Ihnen eine Alternative zu Sir Charles zu offerieren.“

Sie erstarrte. Bot er ihr etwa eine Anstellung an? Er klang aufrichtig, aber weshalb sollte er ihr helfen? War dies eine Art grausamer Scherz oder bloß eine weitere verkappte Beleidigung?

„Was für eine Alternative?“, konnte sie nicht widerstehen zu fragen.

„Wie ich bereits sagte, ein geschäftliches Angebot.“

„Ich verstehe nichts von Geschäften, Sir. Ich war Gouvernante.“ Sie betrachtete ihn skeptisch. „Brauchen Sie eine Gouvernante?“

„Zufällig ja. Allerdings dachte ich an etwas Dauerhafteres.“

„Eine Gesellschafterin für Ihre Mutter vielleicht?“

„Meine Mutter ist tot.“ Er lehnte sich zurück, lässig wie vorhin.

„Dann für Ihre Schwester?“ Nervös blickte sie aus dem Fenster. Percy war nur noch wenige Schritte entfernt.

„Ich habe keine Schwester, jedenfalls nicht, dass ich wüsste.“

„Was also?“, drängte sie entnervt, als Percy eine Hand nach der Abteiltür ausstreckte. Warum kam er nicht einfach auf den Punkt? „Was brauchen Sie, Sir?“

„Die zu besetzende Position wäre in meinem Hause.“ Jäh lächelte er, und das verlieh seinen ohnehin schon attraktiven Zügen etwas umwerfend, ja überwältigend Anziehendes. „Ich brauche eine Ehefrau.“

2. KAPITEL

Er war sich im Klaren darüber, dass er sich unmöglich benommen hatte.

Bereits übellaunig hatte er den Zug bestiegen, und im Laufe der Fahrt war seine Stimmung stetig schlechter geworden. Er hatte nicht vorgehabt zu lauschen, hatte vorgegeben zu schlafen, um mit seinen trostlosen Gedanken allein zu sein. Doch die Unterhaltung seiner Mitreisenden ihm gegenüber, zunächst nur lästig, hatte ihn in Rage versetzt. Nachdem Louisa ihm heute Morgen auf seinen Heiratsantrag hin einen Korb gegeben hatte, war ihm jedes Wort wie eine neuerliche Kränkung vorgekommen.

Er hatte sich bemüht, das Gespräch auszublenden, aber die Abneigung jener unsichtbaren Frau ihrem Verehrer gegenüber hatte an einen wunden Punkt gerührt. Ob Louisa hinter seinem Rücken ebenso über ihn sprach? Verabscheute sie ihn insgeheim, obwohl sie ihm nach außen hin schöne Augen gemacht hatte, und das recht unmissverständlich?

Wut brodelte in ihm auf, wenn er an ihre Unterredung zurückdachte. Hätte Louisa nicht mit ihm geflirtet, wäre er nie auf den Gedanken verfallen, ihr einen Antrag zu machen. Und sie hatte sich tatsächlich erdreistet anzudeuten – nein, mehr noch, rundheraus zu sagen –, er sei nicht gut genug. Er hatte geglaubt, sich durch seinen geschäftlichen Erfolg ein gewisses Ansehen oder wenigstens ein Mindestmaß an Respekt verschafft zu haben, doch da hatte er sich offenbar geirrt. Er war so unbedeutend wie eh und je. Was für ein Narr du bist, Robert Felstone, es als Einziger nicht erkannt zu haben.

Jetzt auf der Rückfahrt hatte er mit halbem Ohr das Gespräch verfolgt, während er sich über Louisas Zurückweisung geärgert hatte. Er war zunehmend reizbarer geworden, bis er jedes Wort der Unterhaltung von der Warte seines gekränkten Selbst aus gedeutet und sich auf die Seite des verunglimpften Freiers geschlagen hatte. Schließlich hatte er seinem Zorn der potenziellen Braut gegenüber Luft gemacht. Er hatte sich beleidigend, ungehörig und unverzeihlich rüde aufgeführt, so als hätten Louisas Bemerkungen über seine Vergangenheit die dünne Schicht der mühsam errungenen Ehrbarkeit abgeschmirgelt.

Erst als er erfahren hatte, um wen es sich bei dem Ehekandidaten handelte, war er zur Besinnung gekommen. Sein Ärger war in Verständnis umgeschlagen. Lesters Name hatte alles geändert, aber da war es bereits zu spät gewesen. Er hatte getan, was er niemals hatte tun wollen, nämlich eine Frau zu verurteilen, ohne ihren gesamten Hintergrund zu kennen. Als hätte er das Recht, Richter und Geschworene in einem zu spielen.

Und dann hatte er um ihre Hand angehalten. Was zur Hölle war in ihn gefahren?

Er lehnte sich zurück, schlug leger ein Bein über das andere und beobachtete das turbulente Wechselspiel der Gefühle in der Miene seiner Reisegefährtin. Die Mischung aus Schock und Empörung hätte einen Beobachter zu der Annahme verleiten können, er hätte sich ihr unsittlich genähert, statt ihr einen vollkommen schicklichen Antrag zu machen. Wobei man diesem einen durchaus unschicklichen Charakter unterstellen mochte. Ohne dass sie einander auch nur vorgestellt worden waren, hatte er eine Verbindung angeregt, die an Intimität kaum zu überbieten war. Kein Wunder, dass sie derart entsetzt dreinblickte. Er kannte nicht einmal ihren Namen.

„Gerade noch rechtzeitig.“ Der Bruder sprang zurück in den Waggon, als der Bahnhofsvorsteher in seine Pfeife blies. „He, Schwesterherz, ist dir heiß? Du bist puterrot.“

„Ich …“ Sie wirkte leicht überrascht, ihn zu sehen. „Ein wenig warm, mehr nicht.“

Sie legte sich die Hände an die Wangen, wobei sie wachsam zwischen den Fingern hindurchspähte, als argwöhnte sie, in Gesellschaft eines Geistesgestörten in einem Eisenbahnwaggon festzusitzen. Fast hätte Robert gelacht, denn bedachte man, was er sich soeben geleistet hatte, war diese Vermutung gar nicht abwegig. Er war selbst nahe daran, seine geistige Gesundheit infrage zu stellen. Stets hatte er um die Ehe gezielt einen Bogen gemacht, nur um nun zwei Heiratsanträge an einem Tag vorzubringen.

War er von Sinnen?

Stirnrunzelnd grübelte er über die Frage nach. Hatte Louisa seinen Stolz so sehr verletzt, dass er der erstbesten Fremden die Ehe antragen musste? Oder war ein Nein derart ungewohnt für ihn, dass er so lange weitermachen musste, bis er die gewünschte Antwort erhielt? Ein solch unbedachtes, kopfloses Verhalten hätte eher zu seinem jüngeren Ich gepasst als zu dem bodenständigen, respektablen Geschäftsmann, der er heute mit sechsundzwanzig Jahren war. Er hatte lange hin und her überlegt, ob er um Louisas Hand anhalten sollte. Verfiel er jetzt in das andere Extrem, indem er eine ihm völlig Unbekannte zu heiraten gedachte?

Was, wenn sie Ja sagte?

Der Bruder ließ sich auf den Platz ihm gegenüber fallen. Robert nickte ihm höflich zu und wünschte, ihm stattdessen die Faust gegen das Kinn rammen zu können. Nun da er Einblick in die Situation der Frau erhalten hatte, verdross dieser Grünschnabel ihn erst recht. Wenn er mit Lester befreundet war, müsste er doch wissen, was für ein Mensch der war, vor allem im Hinblick auf Frauen. Welcher Bruder hielt seine Schwester dazu an, einen solchen Schwerenöter zu heiraten?

Die Idee, ihr eine Alternative zu bieten, war ihm spontan gekommen, ungefähr zu dem Zeitpunkt, da sie ihn nach seiner ehrlichen Meinung über Charles Lester gefragt hatte. Er hatte es aus einem Impuls heraus getan, aus dem Bestreben, seine Kränkungen wettzumachen. Dass er Louisa hinter sich lassen und seine Verhältnisse ein für alle Mal in geordnete Bahnen lenken wollte, spielte ebenfalls eine Rolle, doch er pflegte seinem Bauchgefühl zu vertrauen. Sein Geschäftssinn hatte ihn noch nie im Stich gelassen, und war die Ehe nicht im Grunde ebenfalls ein Geschäft? Und wenn aus dem einen Handel nichts wurde, wandte er sich eben dem nächsten zu.

Er erwartete nicht, je aus Liebe zu heiraten. Bei seiner Mutter aufzuwachsen hatte ihn gelehrt, wie närrisch dieser Wunsch war. Er hatte sein Bestes gegeben, um gegenüber Louisa den liebeskranken Verehrer zu mimen, obwohl er diese Heuchelei als ebenso anstrengend empfunden hatte wie alles am Umwerben der Braut. Vielleicht war das sein Fehler gewesen – dass er eine Sprache hatte sprechen wollen, derer er nicht mächtig war. Geschäftliches verstand er. In geschäftlichen Dingen war er versiert. Niemand konnte ihm vorwerfen, in seiner Domäne unzulänglich zu sein.

Warum daher nicht Gefühle außen vor lassen und die Ehe wie ein rein geschäftliches Arrangement angehen? Er hatte weder Zeit noch Lust, sich erneut auf eine Brautwerbung einzulassen, und diese Frau dort wirkte mehr als nur ein bisschen abgeneigt, Sir Charles zu ehelichen. Es war das perfekte Geschäftsabkommen, eine Abmachung, die ihnen beiden diente. Er war auf der Suche nach einer Frau, sie nach einem Mann. Zwar hatte ihm eine gesellschaftlich vorteilhafte Partie vorgeschwebt, aber da Louisa ihm unmissverständlich klargemacht hatte, dass keine Dame von Stand ihn nehmen würde, hatte er es naheliegend gefunden, sein Glück bei einer Fremden zu versuchen.

Absurderweise tat es das immer noch.

Auch wenn sie eine denkbar befremdliche Jungfrau in Nöten war. Solange er so getan hatte, als schliefe er, hatte er angenommen, der Bruder hätte mit seinen Vorhaltungen bezüglich ihres Äußeren übertrieben, um sie zu verletzen, doch nach einem ersten Blick auf sie fiel es ihm schwer, diese zu entkräften. Es war schwer, sich vorzustellen, was Sir Charles an ihr fand. Ihre Gewandung war so altmodisch, dass sie einer anderen Ära zu entstammen schien, jedes Kleidungsstück von einem tristen, faden Grau, das ihrem blassen Teint nicht gerade schmeichelte. Der Kragen war so hoch, dass er beklemmend wirkte, während das übrige Kleid völlig formlos war und ihre Figur mehr verbarg als definierte. Alles in allem erweckte sie mit dem antiquierten Schutenhut, den abgetragenen Handschuhen, dem einem Wischlappen nicht unähnlichen Umschlagtuch und den hohen Schnürstiefeln den Eindruck, als legte sie es darauf an, möglichst sittenstreng und reizlos zu erscheinen.

Sie entsprach keineswegs der Art von Braut, die er im Auge gehabt hatte, als er heute Morgen aufgebrochen war. Louisa war mit ihren goldblonden Locken und den tiefblauen Augen das atemberaubendste Wesen, das er je erblickt hatte. Diese Frau indes sah aus, als würde sie nie auch nur einen Blick in den Spiegel werfen. Nebeneinander hätten sie wie eine alte Krähe und ein wunderschöner Schwan gewirkt.

Nach Louisas Zurückweisung hatte gerade dieser Unterschied seinen Reiz. Zudem las er in der Miene der Unbekannten nicht die geringste Spur von Gehässigkeit, kein Anzeichen dafür, dass sie Louisas Hang zum Schmollen oder zur Launenhaftigkeit teilte. Sie hatte ein anziehendes Gesicht, wenn auch ein wenig schmal, was durch die strenge Frisur noch betont wurde. Ihr Haar war so straff gebunden, dass er es unter der Schute kaum sah und die Farbe nur erahnen konnte, ein unscheinbarer Ton irgendwo zwischen Blond und Braun. Doch ihre Haut war feinporig, ihr Mund üppig, und von ihren Augenwinkeln liefen feine Linien aufwärts, so als lachte sie viel, was schwer vorstellbar war. Im Großen und Ganzen hätte sie hübsch sein können, wäre sie nicht offenkundig erpicht darauf gewesen, dies zu verbergen.

„Nur noch zwanzig Minuten bis Pickering.“ Anscheinend spürte der Bruder nichts von der Anspannung im Abteil. „Das hat der Schaffner gesagt.“

„Ein wenig mehr“, warf Robert nonchalant ein, froh über die Gelegenheit, zumindest seine Seriosität, wenn schon nicht seine Zurechnungsfähigkeit beweisen zu können. „Verzeihen Sie die Einmischung, aber die neue Umgehungsstrecke nach Whitby ist erst seit Kurzem in Betrieb. Sie ist länger, was für Verzögerungen sorgt, und einige der Schaffner haben dies noch nicht verinnerlicht.“

„Die neue Strecke ist länger als die alte?“, fragte der junge Bursche verächtlich. „Das klingt mir nicht nach Fortschritt.“

Robert gestattete sich ein zynisch schiefes Lächeln. Wie hatte seine Schwester ihn genannt? Anmaßend. Ein überaus passendes Attribut.

„Sie ist weit sicherer als die alte Strecke, die über einen steilen Hügel führte, wo es im Laufe der Jahre mehrere schwere Unfälle gegeben hat. Die neue Route ist ungefährlicher.“

„Ah … tja, wenn das so ist.“ Der junge Mann nickte, als hätte er Ahnung von der Sache. „Haben Sie mit der Eisenbahn zu tun, Sir?“

„Ich gehöre zum Vorstand.“ Robert lächelte. Es verschaffte ihm Genugtuung zu sehen, dass die Frau sich ihm kaum merklich zuwandte, als sähe sie ihn plötzlich mit anderen Augen.

„Tatsächlich? Sehr erfreut, Sie kennenzulernen. Ich bin Percy Holt.“

„Ganz meinerseits. Robert Felstone.“

„Felstone? Sind wir einander schon begegnet, Sir? Ihr Name kommt mir bekannt vor, obgleich ich ihn nicht einzuordnen vermag.“

„Wohl kaum. Es sei denn … Sind Sie öfter in der Gegend?“

„Nein, das erste Mal seit Langem. Als Kinder waren wir jeden Sommer hier. Unsere Mutter stammte aus Pickering. Wir wollen unsere Tante besuchen.“ Wie beiläufig wies er auf die Frau. „Dies ist meine Schwester, Miss Ianthe Holt.“

„Freut mich, Miss Holt.“

Robert reichte ihr die Hand und fragte sich, ob sie sie ergreifen würde. Sie konnte sich schwerlich weigern, ohne ihrem Bruder zu eröffnen, was sich soeben zugetragen hatte, und sein Einblick in das Verhältnis der beiden sagte ihm, dass dies unwahrscheinlich war. Er hoffte auf eine Berührung, um herauszufinden, ob sie wirklich so zugeknöpft war, wie sie tat. Mit ihrer Tugendhaftigkeit stachelte sie ihn förmlich an, sie aus der Reserve zu locken.

„Mr. Felstone.“ Flüchtig gab sie ihm die Hand, um sie sogleich wieder zurückzuziehen.

Fast hätte Robert gelacht. Er war es nicht gewohnt, dass Frauen anders als dankbar auf seine Aufmerksamkeit reagierten. Selbst Louisa, so unaufrichtig sie offenbar gewesen war, hatte sich von seinen Avancen sichtlich geschmeichelt gefühlt. Diese Frau indes erweckte den Eindruck, als wollte sie ihn aus dem Zug stoßen. Verübelte sie ihm seine anfänglichen Beleidigungen, oder zweifelte sie lediglich an der Aufrichtigkeit seines Antrags? Und falls Letzteres zuträfe – wie konnte er sie überzeugen?

„Ianthe. Welch ungewöhnlicher Name.“

Er schenkte ihr sein charmantestes Lächeln. Schon in seiner mittellosen Jugend hatte er rasch herausgefunden, wie entwaffnend er auf Frauen wirkte. Seit er zu Wohlstand gelangt war, schien sich dieser Effekt verzehnfacht zu haben, wenngleich er argwöhnte, dass diese Frau eine Herausforderung darstellte.

„Er stammt aus einem Gedicht.“ Ihre Miene blieb unbewegt.

„Ah. Leider ist meine Bildung lückenhaft. Mit Dichtkunst habe ich mich nie befasst.“

„Erstaunlich.“ Sie machte keinen Hehl aus ihrem Sarkasmus. „Fördert diese doch meiner Meinung nach die Kultiviertheit im Manne. Oder lehrt ihn zumindest den Umgang mit einer Dame.“

„Ianthe!“ Ihr Bruder klang konsterniert. „Vergeben Sie meiner Schwester, Mr. Felstone. Wir haben den weiten Weg von London hinter uns. Sie wird erschöpft sein.“

„Ganz im Gegenteil.“ Sie bedachte ihren Bruder mit einem ungnädigen Blick. „Ich fühle mich frisch wie der junge Frühling und kann für mich selbst sprechen.“

Robert unterdrückte ein Lächeln. Nein, wie es aussah, war die prüde, sittsame Miss Holt – er war froh, endlich ihren Namen zu kennen –, alles andere als leicht zu betören. Aus unerfindlichen Gründen machte sie das umso anziehender. Der Zug näherte sich dem Bahnhof von Pickering und fuhr langsamer. Sofern ich sie für mich einnehmen will, bleibt mir nicht mehr viel Zeit, dachte Robert.

„Moment mal!“ Schwungvoll hob der Bruder die Zeitung und deutete auf das Titelblatt. „‚Felstone aus Whitby zieht neuen Marine-Auftrag an Land.‘ Wusste ich doch, dass ich Ihrem Namen schon begegnet bin! Haben Sie etwas mit dieser Schiffsbau-Familie zu tun, Sir?“

„Ich bin diese Familie. Sie umfasst leider nur mich.“

„Dann sind Sie auf dem Weg nach Whitby?“

„Ja, allerdings werde ich ein paar Tage in Pickering bleiben. Morgen wird es eine öffentliche Gala sowie einen privaten Ball geben, um die offizielle Eröffnung der neuen Eisenbahnlinie zu feiern. Ich setze Ihre Namen gern auf die Gästeliste, wenn Sie möchten.“

„Ich reise nicht mit einem Ballkleid durch die Gegend, Sir.“ Miss Holt klang betont unbeeindruckt.

„Nun, ich würde sehr gern teilnehmen.“ Der junge Bursche warf ihr einen eisigen Blick zu. „Meine Schwester steckt dieser Tage ihre Nase lieber in Bücher, statt tanzen zu gehen. Vermutlich würde sie es vorziehen, die Burgruine zu besichtigen.“

„Tatsächlich?“ Kurz sah er Sir Charles vor seinem geistigen Auge. „Haben Sie ein Faible für Altes?“

In ihren Rehaugen blitzte es. „Ich interessiere mich für Geschichtliches, Mr. Felstone. Auf Spott kann ich indes verzichten.“

„Seien Sie versichert, Miss Holt, dass ich die Ernsthaftigkeit in Person bin. Meistens jedenfalls.“

Sie gab einen verächtlichen Laut von sich. „Es fällt mir schwer, das jemandem abzunehmen, der sich derart launisch verhält. Gerade noch waren Sie in Rage, und nun sollen wir die besten Freunde sein?“

„Wenn Sie möchten, können Sie in der Stadt Erkundigungen über mich einholen.“

„Sie überschätzen mein Interesse an Ihnen, Sir.“

„Ianthe!“, rief ihr Bruder mahnend. „Was ist bloß in dich gefahren?“

„In mich?“ Sie fuhr zu ihm herum, die Wangen gerötet. „Du bist doch derjenige, der seine Ansichten nicht für sich behalten kann! Dies ist alles deine Schuld!“

„Meine Schuld? Verzeihen Sie, Mr. Felstone. Ich weiß nicht, wovon sie redet, aber ich bin sicher, sie meint es nicht so.“

„Gewiss nicht.“ Robert tat die Entschuldigung mit einem Wink ab, während der Zug ruckelnd zum Stehen kam.

„Und ob ich es so meine!“

Miss Holt sprang auf, zog ihre Reisetasche von der Gepäckablage über ihr und hielt sie wie einen Schild vor ihren Körper. „Guten Tag, Mr. Felstone. Ich bezweifle, dass sich unsere Wege noch einmal kreuzen werden. Wir bleiben nicht lange, und terminlich sind wir völlig ausgelastet.“

„Ah.“ Robert neigte den Kopf, um zu signalisieren, dass er verstand. Sie hätte kaum deutlicher werden können. „Wenn das so ist, wünsche ich Ihnen alles Gute. Unabhängig davon, wie Sie sich entscheiden.“

Sie erwiderte nichts, sondern riss die Abteiltür auf und stürmte erbost hinaus.

„Herrgott …“ Ihr Bruder stürzte ihr nach, drehte sich aber noch einmal um. „Tut mir leid. Frauen, Sie wissen ja. Aber wenn Sie es, was den Ball betrifft, ernst gemeint haben, wäre ich Ihnen für eine Einladung sehr verbunden.“

Robert nickte geistesabwesend und sah Miss Holt versonnen lächelnd nach, bis sie in der Menge verschwunden war. Sein Verstand sagte ihm, er solle froh über ihre Zurückweisung sein. Er wusste so gut wie nichts über sie, und hatte ihr Bruder nicht einen unziemlichen Vorfall angedeutet? Allerdings traute er ihr kaum etwas Schockierendes und erst recht nichts Skandalöses zu. Und sie hatte definitiv etwas an sich, das ihn fesselte. Was es war, vermochte er nicht ansatzweise zu sagen, doch es sorgte dafür, dass er nicht so leicht aufgeben wollte. Sie war … Er suchte nach dem passenden Wort: interessant.

Er nahm Hut und Koffer und stieg aus. Auf dem Bahnsteig herrschte dichtes Gedränge, ein Durcheinander aus Reisenden und Gepäck. Die Wände und die Metallstreben des Dachs waren anlässlich der anstehenden Gala mit Bannern geschmückt. Er schob sich durch das Gewühl, nickte hier und dort Bekannten zu, ohne stehen zu bleiben, in Gedanken ganz bei einer Frau in dem grauen Kleid.

„Ah, Felstone, endlich!“ Giles, gut gelaunt und das blonde Haar zerzaust, nahm ihn in Beschlag, kaum dass er das Bahnhofsbüro betreten hatte. „Komm, wirf einen Blick auf die Rede, ja?“

Lächelnd stellte Robert seinen Koffer ab und lehnte sich gegen einen Schreibtisch, um die Rede zu überfliegen. „Das ist gut, Giles. Vergiss nur nicht, uns allen für unsere Engelsgeduld zu danken.“

„Zu lang?“

„Um ein, zwei Seiten vielleicht, aber ich bin sicher, du wirst deine Sache großartig machen.“

Giles schnaubte. „Dein Wort in Gottes Ohr. Könntest nicht du die Rede halten? Du bist viel besser darin.“

„Du bist der Ingenieur.“

„Ganz genau. Ich arbeite lieber an der Bahnlinie, statt über sie zu schwadronieren. Warum muss alles, was wir tun, mit Bannern und Wimpeln gefeiert werden?“

„Von dem Ball ganz zu schweigen.“

Giles stöhnte laut. „Erinnere mich bloß nicht daran. Kitty redet seit einer Woche von nichts anderem. Übrigens hat sie mir beim Frühstück etwas Hochinteressantes über dich erzählt.“

„Tatsächlich?“ Robert hielt den Blick auf die Blätter geheftet.

„Offenbar meint sie, du stündest kurz davor, mit Louisa Allendon vor den Altar zu treten.“

„Glaub mir, Giles, wäre das der Fall, würdest du es als Erster erfahren.“

„Es stimmt also nicht? Schade. Kitty war ganz aus dem Häuschen und dachte schon an gemeinsame Dinnerabende und dergleichen.“

„Tut mir leid, sie enttäuschen zu müssen, obwohl sie, wie es der Zufall will, nicht ganz falsch lag. Die Dame hat sich schlicht gegen mich entschieden.“

„Sie hat dich abgewiesen?“ Giles zog die Brauen fast bis zum Haaransatz hoch. „Aber sie macht dir seit Monaten schöne Augen!“

„Den Eindruck hatte ich auch, allerdings bin ich anscheinend nicht respektabel genug. Oder vielmehr nicht einmal ansatzweise. Gewisse Aspekte meiner Vergangenheit – zum Beispiel meine Herkunft – sagen ihr nicht zu.“

„Blödsinn!“, empörte sich Giles. „Nichts davon ist dir anzulasten!“

Lächelnd legte Robert ihm eine Hand auf die Schulter. „Es war dumm zu glauben, die Leute würden vergessen. Reichtum und Erfolg mögen einem den Weg in die Gesellschaft ebnen, verschaffen einem jedoch keine Akzeptanz.“

Autor

Jenni Fletcher
<p>Jenni Fletcher wurde im Norden Schottlands geboren und lebt jetzt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Yorkshire. Schon als Kind wollte sie Autorin sein, doch ihr Lesehunger lenkte sie davon ab, und erst dreißig Jahre später kam sie endlich über ihren ersten Absatz hinaus. Sie hat Englisch in...
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