Pleiten, Pech und Prinzen

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Als Freunde gehen sie auf eine Reise - als Liebende kehren sie zurück.

Job weg, Freund weg … Ihr Leben ist ein Scherbenhaufen, und Molly braucht dringend eine Auszeit. Da fällt ihr ein zehn Jahre alter Pakt mit Dylan ein, dem Ex ihrer großen Schwester. Damals sah der aufregende Bad Boy in ihr nur eine Freundin und versprach, sie auf ein Abenteuer mitzunehmen, wenn sie erwachsen wäre. Kurzentschlossen sucht Molly ihn auf, um das Versprechen einzufordern. Überraschung Nummer eins: Aus dem Rebellen von einst ist ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden … und er ist immer noch verboten attraktiv. Überraschung Nummer zwei: Dylan stimmt einer gemeinsamen Reise zu! Eine Woche lang wollen sie den Alltag hinter sich lassen - als Freunde. Doch das Kribbeln in Mollys Bauch deutet auf etwas ganz anderes hin ...


  • Erscheinungstag 22.05.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783745750928
  • Seitenanzahl 336
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

MIRA® TASCHENBUCH

Copyright © 2019 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
Wedding Ring Promise
Copyright © 1998 by Susan W. Macias
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Coverabbildung: GettyImages_DenisKrivoy, hellokisdottir,
hugolacasse, Iuliia_Zubkova, Vect0r0vich
Lektorat: Bettina Lahrs
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783745750928

www.harpercollins.de
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PROLOG

Liebes Brautpaar, liebe Gäste, wir haben uns heute versammelt, um vor Gott und den hier Anwesenden … blablabla.“

Die siebzehnjährige Molly Anderson seufzte. Unruhig trat sie von einem Bein aufs andere, während die Worte des Priesters an ihr vorbeirauschten. Wie lange musste sie diese dröge Angelegenheit eigentlich noch über sich ergehen lassen? Sie hatte keine Lust, hier zu sein. Ihre Schwester, die Braut, wollte auch gar nicht, dass sie hier war. Warum zum Geier war sie dann trotzdem hier? Ach ja, weil ihre Mutter darauf bestanden hatte.

„Was sollen die Leute nur denken, wenn Molly nicht bei der Zeremonie mitmacht?“, hatte Mom gejammert. „Janet, sie kann doch eine deiner Brautjungfern sein. Du hast so viele, da fällt deine kleine Schwester gar nicht weiter auf. Wenn Molly ganz am Ende des Brautzugs mitläuft, sieht man sie doch quasi nicht.“

Molly streckte das Kinn vor und umklammerte ihr pfirsichfarbenes Rosenbouquet fester. Klar, diese Unterhaltung war eigentlich nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen. Dennoch hatte sie nicht gelauscht. Nicht wirklich, zumindest. Sie war einfach nur zufällig in diesem Moment am Esszimmer vorbeigekommen. Immerhin war das ja auch ihr Zuhause – selbst wenn die anderen Bewohner das stets zu vergessen schienen.

Was soll’s, dachte Molly grimmig. Janet hatte sie nicht dabei haben wollen. Sie selbst wäre auch am liebsten weggeblieben. Doch leider hatte ihre Mutter dann irgendwann mit „Konsequenzen“ gedroht, falls sie sich nicht fügten.

Unauffällig trat sie einen halben Schritt zur Seite und lehnte sich an die Holzvertäfelung der Kirche. Die Zeremonie ging weiter. Und weiter. Gelangweilt ließ Molly ihren Blick über die Anwesenden schweifen. Das alles entsprach so gar nicht ihrer Vorstellung von einer romantischen Hochzeit. Wenn man schon heiratete, war es ja wohl das Mindeste, dass Braut und Bräutigam sich liebten. Doch davon konnte hier keine Rede sein. Janet heiratete Thomas, weil er ein erfolgreicher Anwalt war, dessen Familie eine riesige Kanzlei in San Francisco besaß. Und Thomas? Der war in Wahrheit auch nicht besser. Er war völlig hingerissen von Janets Schönheit. Nur deshalb hatte er sich heute vor den Altar begeben. Janet bekam ja fast alles, weil sie so schön war.

Trotzdem. Molly wandte den Blick zu ihrer Schwester. Janet war eine wundervolle Braut. Das cremefarbene Seidenkleid mit der weißen Spitze schmiegte sich an ihren superdünnen Modelkörper und bildete einen dramatischen Kontrast zu den dunklen Haaren. Jede Strähne saß am richtigen Platz. Garantiert würde Janet auf sämtlichen Fotos umwerfend aussehen. Das Leben war einfach nicht fair, dachte Molly, während sie an ihrem Rüschenkleid zupfte, das natürlich mal wieder viel zu eng war.

Solche Kleider waren auch einfach nicht ihr Ding. Viel zu steif und zu formell. Mit ihren siebzehn Jahren war Molly die Jüngste unter den Brautjungfern. Und leider war sie auch die Kleinste. Janets Freundinnen waren alle groß und schlank, passend zur Braut. Eigentlich, musste Molly zugeben, waren 1,65 Meter ja gar keine so schlechte Größe. Aber verglichen mit dem Rest der Familie kam sie sich vor wie ein Zwerg. Noch ein Grund, warum sie nicht wirklich dazugehörte und auch niemals …

Plötzlich kribbelte es in ihrem Nacken. Eilig richtete Molly sich auf und sah sich um. Ein Schatten löste sich aus dem Dunkeln der Bankreihen und ging auf den Eingangsbereich zu. Unwillkürlich hielt Molly den Atem an. Dylan! Er war hier!

Schon die ganze Zeit hatte sie sich gefragt, ob er wohl kommen würde. Ob er tatsächlich mit ansehen konnte, wie Janet einen anderen heiratete. Würde dieser Tag ihm das Herz zerreißen? Und was würde Dylan jetzt tun? Nach vorne zum Altar gehen, Janet in seine Arme reißen und mit ihr durchbrennen?

Molly seufzte. Sie war hin und her gerissen. Einerseits wäre so eine dramatische Szene natürlich fabelhaft. Ein echtes Highlight inmitten dieser ganzen stinklangweiligen Nummer. Andererseits wollte sie auf keinen Fall, dass ihre dumme Schwester ausgerechnet Dylan heiratete. Dazu war er viel zu toll. Er war einfach viel zu … alles.

Schätzungsweise würde ihre Mutter sie umbringen, aber das war es wert, sagte sich Molly. Unauffällig verließ sie ihren Platz hinter den anderen Brautjungfern und eilte in Richtung Eingang. Niemand schien ihre Flucht zu bemerken. Manchmal war es eben ein Vorteil, quasi unsichtbar zu sein. Der Vorraum der Kirche war leer. Was jetzt? Wohin war er verschwunden?

„Dylan“, rief Molly, als sie die Tür aufstieß und hinaus in die helle Nachmittagssonne rannte. Auf der obersten Treppenstufe kam sie in ihren ungewohnt hohen Schuhen leicht schlitternd zum Stehen. Die steinernen Stufen führten direkt hinab zur Straße. Und dort, genau vor der Kirche, stand das Motorrad.

Es war groß, schwarz, und an jeder Seite befand sich eine vollgepackte Satteltasche. Einen Moment lang war Mollys Verstand wie gelähmt, dann kam die Erkenntnis und mit ihr ein heftiger Schmerz. Plötzlich schien ihr Herz mehrere Tonnen zu wiegen.

„Du gehst“, stieß sie hervor. Es war keine Frage, nur eine Feststellung.

Beim Klang ihrer Stimme drehte Dylan sich um. „Hey, Kleine. Wie geht’s?“

Mit beiden Händen umklammerte Molly ihre Rosen, während sie ihn gebannt anstarrte. „Du gehst“, wiederholte sie. „Warum?“

Er zuckte mit den Schultern. „Kein Grund zu bleiben. Die Sache ist gelaufen.“

Benommen schüttelte Molly den Kopf. Die Szene vor ihr schien direkt aus irgendeinem Film zu stammen: ein perfekter kalifornischer Frühlingstag mit blauem Himmel, strahlendem Sonnenschein und einer leichten Brise. Wie Janet das mal wieder hinbekommen hatte, war doch einfach unglaublich. Im nächsten Moment kehrten Mollys Gedanken mit einem Ruck zu dem schwarzen Motorrad zurück. Denn all die Schönheit des heutigen Tages war nichts, rein gar nichts, verglichen mit Dylan Black.

Dylan war groß, fast einen Meter achtzig. Dunkle Haare, Augen wie Bitterschokolade und eine Jeans, die ziemlich eng saß. Die schwere Lederjacke ließ seine Schultern noch breiter wirken. Dazu die Bikerstiefel und der schlichte Ring im rechten Ohr – Molly musste tief Luft holen. Dylan war perfekt. Er war der Sinn ihres Lebens.

„Aber du kannst nicht gehen“, rief sie, während sie die Treppe hinunterrannte, um sich neben ihn zu stellen. „Du darfst nicht gehen.“

Er lächelte sie an, mit diesem schiefen Lächeln, das jedes Mal so ein Kribbeln in ihrem Magen erzeugte. Inzwischen war es fast zwei Jahre her, dass sie Dylan kennengelernt hatte. Damals war er Janets neueste Eroberung gewesen, und sie hatte ihn natürlich gleich mit nach Hause geschleppt. Normalerweise interessierte Molly sich überhaupt nicht für Janets Freunde. Die meisten von ihnen waren sowieso langweilig und ziemlich dumm. Nur Dylan nicht. Dylan war anders.

Nächtelang hatte Molly seine guten Eigenschaften in ihrem Tagebuch notiert, bis ihr fast das Papier ausgegangen wäre. Keiner der Jungs in ihrem Alter konnte mit Dylan mithalten. Er war der einzige Mensch, der sie wirklich verstand. Dylan nahm sie wahr und sprach mit ihr. Er fragte, wie es in der Schule lief, lachte über ihre Witze und behandelte sie wie einen echten Menschen. Aber das war noch nicht alles. Kein einziges Mal hatte er sich über ihre Zahnspange lustig gemacht, die Pickel oder den verdammten Babyspeck. Kurz, es gab nur eine einzige kleine Tatsache, die sie an Dylan störte: Er musste endlich einsehen, was für eine trübe Tasse Janet war.

Zwei Jahre hatte Molly gehofft und gebetet. Und endlich schien sich ihr Wunsch zu erfüllen: Dylan und Janet hatten sich getrennt. Trotzdem war die Sache nicht so ganz ideal gelaufen. Denn zum einen war es ihre Schwester gewesen, die die Beziehung beendete. Und zum anderen hatte Dylan leider keinen Trost in Mollys Armen gesucht. Aber was nicht war, das konnte ja vielleicht noch …

„Zeit für einen neuen Anfang“, sagte er jetzt und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Ich werde dich vermissen, Kleine.“ Er lächelte, doch in seinen Augen stand die Traurigkeit.

„Wirklich?“, quietschte sie.

„Klar, wir sind doch Buddies.“

Buddies. Molly unterdrückte ein Seufzen. Das war nun wirklich nicht, was sie sich erhofft hatte. Aber gut, besser als nichts.

„Wohin gehst du denn?“, fragte sie.

„Weg von hier. Ich dachte, ich versuche es mal mit Rennen.“ Er wies mit dem Kinn in Richtung Motorrad. „Bin gar nicht so schlecht auf diesem Ding.“

„Du bist der Beste.“ Sie presste die Blumen an die Brust. Wenn sie ihn nur dazu bringen könnte, sie mitzunehmen. Molly schüttelte den Kopf. Ja, sie war verknallt in Dylan, aber völlig verblödet war sie noch nicht. Er mochte sie. Dennoch war sie für ihn nur Janets kleine Schwester. Es gab keine Möglichkeit, ihn zum Bleiben zu bewegen, sie hatte nichts, um ihn zu halten. Oder etwa doch?

„Du kannst nicht gehen“, wiederholte sie triumphierend. „Du hast mir ein Abenteuer versprochen. Erinnerst du dich noch? Wenn ich erwachsen bin.“

Diesmal war Dylans Lächeln echt. Er streckte die Hand aus und berührte vorsichtig ihre Wange. „Klar erinnere ich mich. Wir beide fahren auf dem Motorrad irgendwo hin.“

„Eben. Und ich bin ja bald achtzehn. Sehr bald. Wenn du jetzt einfach verschwindest, wie soll ich dich dann erreichen? Das funktioniert nicht. Also musst du bleiben, Dylan. Versprochen ist versprochen!“

„Komm her“, erwiderte er barsch und streckte die Arme nach ihr aus. In seiner alten Lederjacke und den abgetragenen Stiefeln wirkte er wie einer der Outlaws in diesen alten Filmen. Molly war noch nie zuvor verliebt gewesen, aber eines wusste sie genau: Nie wieder würde sie für irgendeinen Mann fühlen, was sie für Dylan Black fühlte. Nie, nie mehr.

Sie warf sich in seine Arme. Er fing sie auf, zog sie an sich und presste sie hart an seinen Körper. Irgendwo zwischen ihnen befanden sich diese Rosen. Die waren jetzt ziemlich sicher ruiniert, aber das war Molly egal. Nichts spielte eine Rolle, außer dem Gefühl von Dylans Körper an ihrem.

Es war nicht das erste Mal, dass jemand sie umarmte. Sogar ein paar Küsse hatte sie bei ihren letzten Dates schon bekommen. Aber das waren irgendwelche Jungs gewesen. Und Dylan war kein Junge, ganz und gar nicht. Er war ein Mann. Verzweifelt versuchte Molly, sich jeden einzelnen Moment einzuprägen. Später musste sie das alles aufschreiben, damit sie in Ruhe darüber nachdenken konnte. Denn plötzlich überkam sie so eine düstere Vorahnung: Vielleicht waren ihre Erinnerungen ja alles, was ihr bleiben würde.

Sie legte den Kopf an seine Schulter und fühlte das weiche Leder unter ihrer Wange. Dylans Wärme umgab sie, während Molly mit jedem Atemzug seinen Geruch in sich aufnahm. Er war groß und schlank, und er hielt sie, wie ein Mann eine Frau hielt. Dann trat er einen Schritt zurück.

„Ich muss los“, sagte er.

Sie nickte. „Ja, klar. Es geht nicht, dass du hierbleibst. Du liebst Janet immer noch.“

Einer seiner Mundwinkel bog sich leicht nach oben. „Wenn das Liebe ist, tut sie jedenfalls verdammt weh.“ Einen Moment lang schwieg er, dann gab er sich einen Ruck. „Weißt du was, Molly? Wenn du ganz erwachsen bist und bereit für unser Abenteuer, dann kommst du zu mir. Gib mir einfach das hier. Und dann fahren wir hin, wo immer du willst.“

Er steckte die Hand in die Tasche seiner Jeans. Als er sie wieder hervorzog, funkelte es golden. Molly schnappte nach Luft. Das war, nein, das musste einfach der Ring sein, den er für ihre Schwester gekauft hatte.

„Das habe ich nicht gewusst“, flüsterte Molly.

„Da gibt es nichts zu wissen“, entgegnete er. „Ich habe ihn gekauft, aber dann kam ich nie dazu, sie zu fragen. Hier, nimm du ihn. Wenn du bereit bist, nimmst du den Ring und kommst zu mir. Abgemacht?“

Er legte das schmale Goldband auf ihre Handfläche. Automatisch schloss Molly die Finger darum, während die Gedanken wild durch ihren Kopf rasten. Sie konnte nichts sagen, sie konnte Dylan einfach nur immer weiter ansehen.

„Mach’s gut, Kleine“, sagte er und stieg auf sein Motorrad.

Reglos stand Molly da und beobachtete, wie er davonfuhr. Es spielte keine Rolle, dass Dylan den Ring für Janet gekauft hatte; dass er geplant hatte, ihre Schwester zu heiraten. Genauso egal war es, dass die idiotische Janet Schluss mit Dylan gemacht hatte, bevor er überhaupt zu seinem Antrag gekommen war. Jetzt war es ihr Ring. Er gehörte Molly Anderson und niemandem sonst. Und sobald sie erwachsen war, würde sie Dylan finden und mit ihm weggehen. Er würde sich in sie verlieben, und dann wären sie für immer glücklich. Sie hatte sein Versprechen. Es glitzerte golden in ihrer Hand.

1. KAPITEL

Zehn Jahre später

Im Kino war das so einfach. Molly ließ sich gegen den Türrahmen sinken und betrachtete das Chaos, das irgendwann mal ihr Schlafzimmer gewesen war. Wenn die Hauptfigur in einem Film beschloss, ihr altes Leben hinter sich zu lassen, schien das alles kein Problem: Die Musik schwoll dramatisch an, eine kleine Tasche wurde hervorgezogen und dann zack, Szenenwechsel. Eine Sekunde später fuhr man bereits die Straße entlang, befand sich am Flughafen oder wo auch immer. Im echten Leben musste leider jemand packen.

„Und rate mal, wer dieser Jemand ist“, murmelte Molly. „Irgendwelche Freiwilligen? Nein? Habe ich mir fast gedacht.“

Widerwillig betrachtete sie dieses Monstrum von Koffer, das ihr komplettes Bett einnahm. Von dort aus glitt ihr Blick zu den zahlreichen Stapeln, die jeden Zentimeter des Bodens bedeckten. Auf ihrem Frisiertisch, irgendwo hinter einem weiteren Stapel, musste sich doch diese Liste befinden, auf der sie alles notiert hatte: Briefkastenschlüssel hinterlegen, Zeitung abbestellen, offene Rechnungen bezahlen. Wenigstens hatte sie kein Haustier, um das sie sich kümmern musste.

Dafür gab es ein paar andere kleine Probleme. Zum Beispiel musste sie sich noch entscheiden, wohin sie jetzt eigentlich wollte. So ein Ziel war ja offenbar ganz nützlich, wenn man sich auf den Weg begab. Doch momentan wusste sie nur, dass sie hier wegmusste. So schnell wie möglich und so weit wie möglich. Am liebsten würde sie niemals wieder zurückkommen. Doch das war wohl leider ausgeschlossen.

Sie kämpfte sich bis zum Bett vor und griff unterwegs nach einem Pullover. Es war Anfang Mai, und das bedeutete warme Tage und kühle Nächte im Süden Kaliforniens. Logischerweise gehörte dieser Pullover also in den Koffer. Natürlich musste sie auch noch Jeans einpacken, aber was war mit einem Kleid? Brauchte sie ein Kleid? Und wenn sie ein Kleid mitnahm, brauchte sie dann nicht auch Strumpfhosen und Pumps? Nie im Leben würde das alles in diesen Koffer passen. Und dann war da ja auch noch die Frage nach der passenden Handtasche. Und wenn sie die Handtasche hatte, brauchte sie noch …

Sie stieß einen Fluch aus. Dann holte sie tief Luft. „Bleib ganz ruhig. Das ist alles nicht wichtig“, befahl sie sich. „Du musst einfach nur gehen. Geh einfach!“ Ihre Augen brannten, obwohl sie sich geschworen hatte, nicht mehr zu weinen. Angeblich sollte der Schmerz ja irgendwann nachlassen. Aber noch war es nicht so weit. Wenn sie wenigstens nicht dauernd daran denken müsste. Am liebsten hätte sie irgendein Mittel gehabt, das einen einschlafen und erst zwei Wochen später wieder aufwachen ließ, wenn alles vorbei war.

Sie schüttelte den Kopf. Was für ein Quatsch! Zwei Wochen würden niemals reichen, das würde Monate dauern. Aber okay, dann war in einem Jahr ja alles wieder gut, oder?

Blöde Frage. Sie hatte keine Antwort darauf. Niemand hatte das. Molly richtete sich auf und blinzelte die Tränen weg. Sie war eine erwachsene Frau, sie war stark, und sie würde sich nicht unterkriegen lassen. Entschlossen hob sie den Kopf. Dann durchquerte sie erneut das Chaos und griff nach der Schublade mit ihrer Unterwäsche. So, alles in den Koffer. Fertig. Wenn man nicht wusste, was man mitnehmen sollte, musste man eben alles mitnehmen. Das machte das Leben leichter.

Molly ließ die leere Schublade fallen und begann, die letzten Lücken im Koffer mit Unterwäsche vollzuquetschen. Als sie nach einem schlichten Sport-BH griff, einem dieser Teile, die sie in letzter Zeit ständig trug, bemerkte sie plötzlich ein Funkeln. Irritiert hielt sie inne. Was war denn das, dieses Schimmern, dieser Lichtblitz?

Mit beiden Händen fischte sie in dem Wäsche-Wirrwarr herum. Als sie begann, an einer Strumpfhose zu zerren, hörte sie ein leises Pling. Etwas war auf den Boden des Koffers gefallen. Vielleicht ein Knopf oder irgendetwas in der Art. Sie griff nach dem kleinen Metallteil und zog es hervor.

Unwillkürlich musste sie lächeln, zum ersten Mal seit vielen Tagen. Mit dem Daumen rieb sie über den Goldring. Dylans Ring, den er für Janet gekauft und dann ihr gegeben hatte. Das war ja eine Ewigkeit her. Jahre. Molly ließ sich auf die Matratze sinken. Dylan, der Desperado. Er hatte sich in den Sattel geschwungen und war aus ihrem Leben geritten – genau wie die Cowboys in diesen Filmen. Nur dass die Pferde dort weniger PS hatten.

Wo er wohl heute war? Und ob er noch immer dieselbe magische Anziehungskraft besaß? Im Nachhinein betrachtet war damals alles so einfach gewesen. Mit siebzehn hatte Dylans Gegenwart genügt, um alles wieder ins Lot zu bringen. Für sie war er der schönste und attraktivste Mann auf diesem Planeten gewesen. Vor allem aber der netteste. Mit Schaudern erinnerte Molly sich daran, wie sie damals ausgesehen hatte. Diese Zahnspange und all die Pickel. Aber Dylan hatte sie das nie spüren lassen. Er hatte immer Zeit für sie gehabt und ihr das Gefühl gegeben, etwas ganz Besonderes zu sein. Das würde sie ihm nie vergessen.

Sie ließ den Ring auf den Mittelfinger der rechten Hand gleiten. Bestimmt war Dylan immer noch damit beschäftigt, diverse Frauenherzen zu brechen. Oder er war erwachsen geworden, genau wie alle anderen auch. Vielleicht war er jetzt ein Familienvater mit einer Frau, zwei Kindern und einem Kredit auf seinem Reihenhaus. Molly versuchte sich auszumalen, wie Dylan jeden Morgen in einen Minivan stieg und zur Arbeit fuhr, doch ihre Fantasie versagte. Nein, das ging nicht. In ihrer Vorstellung würde Dylan immer jung und schön sein, ein schwarz gekleideter Rebell in Bikerstiefeln und Lederjacke.

Sie ließ den Ring an ihrem Finger stecken und wandte sich wieder dem Koffer zu. Es half alles nichts, jetzt musste gepackt werden. Entschlossen griff Molly nach einer langärmligen Baumwollbluse, als das Telefon klingelte.

„Mir geht es gut“, sagte sie, während sie den Hörer unter einem der Wäscheberge hervorkramte und ihn zwischen Ohr und Schulter klemmte.

„Hallo? Ich hätte ja auch irgend so ein Telefonmarketingtyp sein können“, entgegnete Janet. „Dann wärst du dir jetzt ziemlich blöd vorgekommen.“

„Nein, hättest du nicht. Das Klingeln hatte diesen ganz speziellen Janet-Ton. Ich wusste sofort, dass du es bist.“ Molly warf die Bluse in den Koffer und ließ sich neben dem Bett auf den Boden sinken. „Im Ernst. Mir geht es gut.“

Ihre Schwester seufzte. Das Geräusch war deutlich von einem Ende des Staats bis zum anderen zu hören. Janet und Thomas lebten im Norden Kaliforniens, in Mill Valley, einem der Vororte von San Francisco. „Das glaube ich dir nicht, Molly. Und ja, ich mache mir Sorgen. Ich weiß, dass du das nicht möchtest, aber ich kann nichts dagegen tun. Du bist eben meine kleine Schwester, und ich habe dich sehr lieb.“

Molly zog die Knie enger an den Körper. „Ich habe dich auch sehr lieb, Janet. Und es ist nett, dass du dich so um mich kümmerst. Nie im Leben hätte ich das alles hier ohne dich durchgestanden, aber trotzdem musst du mir jetzt endlich mal glauben: Mir geht es gut.“ Das war nur eine kleine Lüge. So klein, dass sie quasi gar nicht zählte, beruhigte Molly ihr schlechtes Gewissen.

„Ich habe mir überlegt, dass ich vielleicht zu dir kommen könnte. Nur für ein paar Tage. Einfach bis … du weißt schon.“

Janet und sie inmitten von diesem Chaos? Unmöglich, dachte Molly. Außerdem würde ihre Schwester garantiert wieder versuchen, ihr bei jeder Kleinigkeit zu helfen. Andererseits war es eine wirklich schöne Idee. Während ihrer gesamten Kindheit hatten sie beide sich ständig gestritten, woran ihre Mutter nicht ganz unschuldig war. Durch ihre ungerechte Art hatte Mom viel zu diesen Streitereien beigetragen, doch als Kinder hatten sie das einfach nicht kapiert. Erst nach Janets Heirat und ihrem Umzug in den Norden war ihnen beiden klar geworden, wie viel sie eigentlich miteinander verband. Inzwischen waren sie ein Herz und eine Seele, und unter normalen Umständen wäre ein Besuch von Janet ja auch ein höchst erfreuliches Ereignis gewesen. Doch jetzt …

„Klingt wundervoll“, erwiderte Molly daher. „Aber du hast drei kleine Töchter, Janet. Meine Nichten würden mir garantiert nicht vergeben, wenn ich ihnen einfach ihre Mutter entführe. Auch nicht für ein paar Tage. Und um mal ganz ehrlich zu sein: Du würdest doch Thomas sofort wieder vermissen. Spätestens am dritten Tag würdest du heulend am Telefon hängen und mir schrecklich auf die Nerven gehen.“

So, das würde jetzt hoffentlich mal reichen, um ihre Schwester zur Vernunft zu bringen. Und es stimmte ja auch – Janet vermisste Thomas immer ganz schrecklich. Außerdem wollte Molly unbedingt vermeiden, dass ihre Schwester und sie eine komplette Woche lang dasaßen und weinten. Sympathie war ja schön und gut. Aber was sie jetzt ganz dringend brauchte, war Abstand. Sie musste hier raus.

„Außerdem“, fuhr Molly daher fort, „werde ich wegfahren.“

„Na ja, vielleicht hast du recht. Die Mädchen würden mich schon sehr vermissen und Thomas auch. Aber wenn du wegfahren willst, komm doch einfach zu uns. Du weißt, wie sehr wir uns immer über deinen Besuch freuen.“

„Das würde ich ja gerne“, sagte Molly und zögerte. Tatsächlich wären ein paar Tage bei Janet eine hervorragende Ablenkung. Ihre Schwester und ihr Schwager würden sie nach Strich und Faden verwöhnen. Außerdem würden ihre Nichten dafür sorgen, dass ihr gar keine Zeit für irgendwelche düsteren Gedanken blieb. Eigentlich war das die beste Lösung. Trotzdem … „Ich brauche einen kompletten Tapetenwechsel, Janet. Ich werde jetzt einfach losfahren und melde mich dann sofort bei dir, wenn ich angekommen bin.“

„Ach, Molly. Ich weiß ja auch nicht, was besser ist. Soll ich dich so lange nerven, bis du zu uns kommst? Oder soll ich dich einfach machen lassen?“

„Danke, Janet. Aber du hast mich in unserer Kindheit schon genug herumkommandiert. Jetzt ist es mal an der Zeit, mir ein bisschen zu vertrauen.“

Janet seufzte erneut. „Ich weiß. Du musst dein eigenes Leben leben. Die ganze Sache treibt mich nur in den Wahnsinn. Ich wünschte, ich könnte irgendetwas tun.“

„Und ich erst.“ Molly strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. An ihrer Hand funkelte es. Nachdenklich betrachtete sie den Ring. „Janet, erinnerst du dich noch an Dylan Black?“

Ihre Schwester lachte. „Wenn das mal kein Themenwechsel ist. Natürlich erinnere ich mich an ihn. Dylan Black, der Bad Boy aus meiner Vergangenheit: düster, attraktiv und überhaupt nicht gut für mich. Gott sei Dank ist irgendwann Thomas vorbeigekommen und hat mich vor mir selbst gerettet. An Dylan habe ich ja seit Jahren nicht mehr gedacht. Wie kommst du denn jetzt plötzlich auf ihn?“

„Ich habe beim Packen seinen Ring gefunden. Diesen Verlobungsring, den er für dich gekauft und dann mir gegeben hat. Plötzlich ist er zwischen all den Sachen wieder aufgetaucht, und da musste ich an Dylan denken.“

„Warte mal, lass mich überlegen. Dylan war auf unserem zehnjährigen Highschooltreffen. Das ist jetzt allerdings auch schon wieder fünf Jahre her. Er lebt in Riverside und baut Motorräder. Offenbar sind seine Designs enorm gefragt, und es läuft ziemlich gut für ihn. Wie hieß die Firma noch mal? Black Irgendwas.“

„Ach“, sagte Molly und wechselte das Thema. Janet und sie sprachen noch ein paar Minuten über alles Mögliche. Natürlich versuchte ihre Schwester, sie doch noch zu einem Besuch zu überreden, aber schließlich schaffte es Molly, sie zu beruhigen. Sie versprach Janet hoch und heilig, sich die ganze Sache noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Außerdem würde sie sich regelmäßig von unterwegs melden, um durchzugeben, wo sie sich gerade befand.

Das Telefonat hatte ihr gutgetan. Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, gelang es Molly in rekordverdächtigen dreißig Minuten, die restlichen Sachen zu packen. Erleichtert schloss sie den Deckel und zerrte den Monsterkoffer hinüber ins Wohnzimmer. Geschafft. Aber was jetzt? Wohin sollte sie gehen? Klar war, dass sie für ein oder zwei Wochen hier rausmusste, um endlich in Ruhe nachzudenken. Sie brauchte einen Ort, an dem sie vergessen konnte, was geschehen war, und neue Pläne für ihre Zukunft machen konnte.

Vielleicht eine Kreuzfahrt? Einen Kurztrip nach New York? Wenn sie sich beeilte, konnte sie noch ein billiges Zugticket bekommen oder sogar einen Flug nach Mexiko. Eine Woche lang Cocktails in Acapulco – warum eigentlich nicht? Inzwischen machte das doch jeder. Das Problem war nur, dass bereits eine winzige Margarita reichte, um sie völlig umzuhauen. Spätestens nach der zweiten würde sie völlig hilflos in ihrem Hotelzimmer liegen. Nein, so ging das nicht. Sie brauchte einen Plan.

Ihr Blick fiel auf den Ring. Molly hob die Hand, und sofort war da wieder dieses verheißungsvolle Funkeln. Auch nach all der Zeit konnte sie sich noch genau an jenen magischen Moment erinnern: Dylan und sie standen vor der Kirche. Und dann griff er in die Tasche und gab ihr seinen Ring. Es war keine romantische Geste gewesen, ganz und gar nicht. Er hatte ihr einfach nur zeigen wollen, dass er zu seinem Versprechen stand. Eines Tages, wenn Molly erwachsen war, würden Dylan und sie ein Abenteuer erleben. Sie würden einfach auf sein Motorrad steigen, losfahren, und alles wäre gut. Das schien Lichtjahre her zu sein.

Während Molly auf den Ring starrte, begann sich eine Idee in ihrem Kopf festzusetzen. Eine dumme Idee, einfach albern. Sie wäre wahnsinnig, so etwas zu tun. Immerhin waren inzwischen zehn Jahre vergangen. Er würde sich wahrscheinlich nicht mal an sie erinnern … Oder doch?

Sie richtete sich auf. „Es ist ein Anfang“, flüsterte sie. „Wenigstens gibt es dir ein Ziel für morgen.“ Und genau das brauchte sie. Ein Ziel. Alles andere war jetzt egal.

Ja, sie würde ein einziges Mal in ihrem Leben etwas völlig Verrücktes tun und Dylan Black aufsuchen. Wie es dann weiterging, konnte sie immer noch entscheiden. Jede Reise begann schließlich mit einem ersten Schritt, man musste ihn nur tun. Vielleicht würde sie danach weiter zu ihrer Schwester fahren, um bei ihr zu leben. Vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall würde sie hier verschwinden. Vielleicht konnte sie dann endlich vergessen.

Dylan Black knallte den Hörer hin und warf ihr einen düsteren Blick zu. Evie hob die perfekt geformten schwarzen Augenbrauen.

„Die Büroeinrichtung zu zerstören, scheint mir nicht die beste Lösung. Aber vielleicht irre ich mich auch. Ich bin ja nur die Assistentin.“

Dylan lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „So bescheiden? Was ist los mit dir, Evie?“ Er sah sie an und seufzte. „Die machen es mir verdammt schwer, den Deal abzulehnen. Ich kann mich einfach nicht entscheiden, wie ich die Situation einschätzen soll. Ist das hier ein großer Schritt nach vorne? Oder verkaufe ich gerade meine Seele an den Teufel?“

„Dann wäre der Teufel ja ziemlich großzügig. Oder die Preise für Seelen sind in den letzten Jahren gestiegen. Die meisten Menschen würde sich jedenfalls freuen, mal eben einige Millionen zu verdienen.“

Dylan wusste, dass Evie recht hatte. Andererseits neigten viele Menschen dazu, ihre Seele zum Schleuderpreis zu verkaufen. Er war nicht dumm. Er wusste ganz genau, warum sie ihm so ein verlockendes Angebot machten: Sie wollten haben, was er hatte. Für sie war es eine Win-win-Situation. Aber was war es für ihn?

Evie schüttelte den Kopf. „Du hast wieder diese Denker-Miene. Ich kann es nicht ausstehen, wenn du in dieser Stimmung bist, also verschwinde ich mal lieber wieder an meinen Schreibtisch. Wenn du mich brauchst, ruf mich an.“

„Mach ich. Danke.“

Sie schloss die Tür hinter sich. Dylan drehte seinen Stuhl zum Fenster und blickte hinaus. Hinter dem Bürogebäude erstreckte sich die raue kalifornische Wüstenlandschaft bis zum Horizont. Seine Kritiker hatten damals behauptet, es wäre ein großer Fehler, Black Lightning ausgerechnet in Riverside anzusiedeln. Eine Desingfirma gehörte in die Großstadt. Aber das Land war billig, es gab viele Arbeitskräfte, und um ihn herum war nichts als freie Natur. Natürlich war es im Sommer schrecklich heiß, und er war fast zwei Stunden vom Flughafen in L. A. entfernt – aber das störte ihn nicht. Er hatte seine Unabhängigkeit, nur darauf kam es an. Alles, was er besaß, hatte er in diese Firma gesteckt. Und der Erfolg gab ihm recht. Es war ihm in weniger als fünf Jahren gelungen, diese ganzen superschlauen Kritiker zum Schweigen zu bringen. Inzwischen wurde er als Visionär gefeiert, als der Mann, der die Trends setzte. Und warum dachte er dann darüber nach, alles zu verkaufen?

Er wusste schon, warum. Es gab gute Gründe, und diese Gründe hatten nichts mit Magie oder gar dem Teufel zu tun. Nein, es war einfach ein verdammt gutes Angebot. Ein fantastisches Angebot, besser gesagt. Ihm wurde nicht nur eine obszöne Menge Geld angeboten, sondern auch eine hervorragende Position in der neuen Firma. Als Entwicklungschef würde er endlich nichts mehr mit diesem ewigen Verwaltungskram zu tun haben. Stattdessen könnte er sich ganz auf seine Designs konzentrieren. Er könnte all die Projekte, für die immer die Zeit gefehlt hatte, endlich in Angriff nehmen. Kurz: Er wäre ein kompletter Idiot, wenn er sich ein derartiges Angebot durch die Lappen gehen ließ.

Mal abgesehen von diesem einen kleinen Haken: Zusammen mit dem Geld und der neuen Position würde ein Chef kommen, dem er von nun an Rede und Antwort zu stehen hatte. Dylan kannte sich selbst gut genug, um zu wissen, dass das ein Problem war. Die Frage war nur, wie groß dieses Problem wäre und ob er mit den Konsequenzen leben könnte. Er würde Zeit für seine Designs gewinnen und die Kontrolle über Black Lightning verlieren. Bereits seit Wochen saß ihm sein Anwalt im Nacken und versicherte ihm, dass man so eine Chance nur ein Mal im Leben bekam. Aber da war dieses Bauchgefühl, das Dylan zögern ließ. Er brauchte mehr Zeit, um nachzudenken. Immerhin war er derjenige, der in den letzten Jahren zwanzig Stunden pro Tag für den Erfolg dieser Firma gearbeitet hatte. Von ihm stammten all die innovativen Designs, und er hatte jede einzelne Maschine selbst gefahren. Jede freie Minute war dafür draufgegangen, die Motorräder auf der Rennstrecke zu erproben. Gemeinsam mit einigen der besten Fahrer hatte Dylan die Maschinen unter härtesten Bedingungen getestet. Jedes seiner Motorräder war perfekt. Sein ganzes Herzblut steckte in dieser Firma. Wie konnte er das aufgeben?

Geld oder Prinzipien? Es war das uralte Dilemma. Zahlreiche Philosophen hatten sich darüber bereits den Kopf zerbrochen, als die Erdkruste noch am Abkühlen war. Wofür also sollte er sich entscheiden?

Die ganze Sache, gestand Dylan sich widerwillig ein, wäre viel einfacher, wenn er nicht so ein Zyniker wäre. Noch vor einigen Jahren hatte er fest an seine Träume geglaubt. Damals hätte er den Vorschlag, seine Träume zu verkaufen, empört abgelehnt. Wenn sein Anwalt einen Verkauf auch nur angedeutet hätte, hätte Dylan ihn mit einem Tritt in seinen Paragraphenhintern vor die Tür befördert. Damals war das Leben noch so simpel gewesen. Wann hatte sich das eigentlich geändert?

„Zur Hölle“, murmelte er. Wenigstens blieb ihm noch etwas Zeit für seine Entscheidung. Die Finanzhaie hatten ihm zwei Wochen gegeben bis zur ersten Verhandlungsrunde. Wenn er bis dahin noch immer nicht überzeugt war, würden sie ihr Angebot zurückziehen. Ja, dachte Dylan. Wahrscheinlich war es das Schlauste, einfach abzuwarten. Vielleicht würde sich ja noch irgendetwas in seinem Leben ändern, und plötzlich wäre die Entscheidung ganz einfach. Aber was sollte das sein?

Egal. Erst mal gab es noch einen Haufen Arbeit zu erledigen. Er drehte sich wieder zu seinem Computer um und warf einen Blick auf die Tabellen. Als er sich gerade in die neusten Absatzzahlen vertieft hatte, läutete das Telefon.

„Besuch für dich“, sagte Evie. „Eine gewisse Molly Anderson. Sie hat keinen Termin, behauptet aber, du würdest dich an sie erinnern. Angeblich kennt ihr euch von früher.“

Es dauerte einige Sekunde, bis es klick machte: Janets jüngere Schwester. Er erinnerte sich tatsächlich noch gut an sie, mit ihrem hellen, lockigen Haar und den großen Augen. Die Kleine war wirklich nett gewesen, auch wenn sie damals heftig in ihn verknallt war. Normalerweise hasste er es, wenn ihm irgendwelche Frauen nachstellten, doch in Mollys Fall hatte ihn das nicht gestört. Vielleicht, weil er genau gewusst hatte, was sie von ihm wollte. Sie war leicht zu durchschauen gewesen, und er hatte immer gewusst, dass sie ein großes Herz besaß. Heutzutage konnte man das nicht mehr von vielen Leuten sagen.

„Schick sie rein“, sagte Dylan.

Er stand auf und durchquerte eilig das Büro. Als Evie die Tür öffnete, lächelte er und breitete die Arme aus. Dann erblickte er die Frau, die auf ihn zukam, und ließ die Arme hastig wieder sinken. Oh. Das war nicht der Teenager, den er erwartet hatte.

Noch immer war Molly Anderson nicht gerade groß, vielleicht maximal eins fünfundsechzig. Ihre Haare waren inzwischen länger, doch die wilden Locken wurden nun durch einen Zopf gezähmt. Ein leichtes Make-up brachte die haselnussbraunen Augen effektvoll zur Geltung. Seidig schimmernde Haut, von Pickeln keine Spur. Das Lächeln dieser Frau war ebenso selbstbewusst wie ihr Gang. Und dann gab es da noch dieses T-Shirt und die Jeans, die sich irgendwie perfekt an ihren kurvenreichen Körper schmiegten.

„Miss Anderson“, verkündete Evie und schloss die Tür hinter sich.

„Die kleine Molly. Also, jetzt nicht mehr ganz so klein“, sagte Dylan und streckte die Hand zur Begrüßung aus. Verdammt, was redete er da eigentlich?

Die Frau ihm gegenüber nickte und errötete leicht.

„Es ist lange her. Du bist wahrscheinlich überrascht, mich hier zu sehen.“

„Das bin ich. Aber auf sehr angenehme Weise.“ Tja. Irgendwie schien das mit dem Händeschütteln auch nicht die richtige Lösung. Viel zu steif und formell. Schließlich waren sie mal so eine Art von Freunden gewesen. Dylan breitete erneut die Arme aus.

Sie kam einen halben Schritt auf ihn zu und ließ sich umarmen. Ihr Körper fühlte sich warm und weich an. Gar nicht mal so übel. Trotzdem war da diese Anspannung in ihren Schultern. Dylan trat einen Schritt zurück und deutete auf das Ledersofa am anderen Ende des Büros. Während Molly sich setzte, ging er hinüber zu der kleinen Bar.

„Darf ich dir etwas anbieten? Ein Wasser vielleicht oder ein Glas Weißwein?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, danke.“

Dylan setzte sich neben sie, lehnte sich zurück und überkreuzte seine Bikerstiefel. Es kam selten vor, dass er unangemeldeten Besuch bekam. Und schon gar nicht irgendwelche Besucher aus der Vergangenheit. Trotzdem störte ihn dieser Überraschungsangriff nicht, er machte ihn einfach nur neugierig. „Was führt dich hierher?“

Sie saß aufrecht da, die Hände fest im Schoß verschränkt. „Das weiß ich auch nicht genau. Es war so eine Art Impuls. Hoffentlich stört es dich nicht?“

„Überhaupt nicht. Es ist lange her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben.“

„Zehn Jahre. Nicht, dass ich genau gezählt hätte. Aber so ungefähr.“

„Du bist erwachsen geworden. Als wir uns zum letzten Mal gesehen haben, warst du noch ein kleines Mädchen. Sehr süß, aber ziemlich schüchtern. Und dann geht plötzlich meine Bürotür auf, und herein kommt eine selbstbewusste junge Frau.“ Hatte das aufrichtig geklungen? Eigentlich war er gut darin, Komplimente zu machen. Aber irgendwas war heute anders, dachte Dylan irritiert.

Molly lachte. „Du bist immer noch derselbe alte Charmeur. Ich hatte damals das Gefühl, im völlig falschen Körper zu stecken, inzwischen hat sich das zum Glück gebessert. Ich werde nie ein Model sein, aber das ist okay.“

Er musterte sie aus dem Augenwinkel. Es war ewig her, dass er das letzte Mal an Molly gedacht hatte. Selbst an Janet hatte er schon ewig keinen Gedanken mehr verschwendet, dabei war sie doch die Liebe seines Lebens gewesen. Zumindest hatte er das mit dreiundzwanzig gedacht.

Molly wandte sich ihm zu. „Ich habe mit meiner Schwester telefoniert, und irgendwie kamen wir auf dich zu sprechen. Als ich dann hier in der Gegend vorbeikam, dachte ich, ich schau mal vorbei und höre, wie es dir geht. Ist das so merkwürdig?“

„Überhaupt nicht. Ich freue mich, dass du hier bist. Aber erzähl mir doch mal etwas über Molly Anderson. Du hast deinen Mädchennamen behalten. Also bist du entweder nicht verheiratet oder eine dieser rebellischen Frauen, die auf die Konventionen pfeifen.“

Mollys Mundwinkel zuckten, doch das Lächeln erreichte nicht ihre Augen. „Variante eins, ich bin nicht verheiratet. Und ansonsten? Ich bin Controllerin und habe und bis vor Kurzem für eine Telekommunikationsfirma in Los Angeles gearbeitet. Nicht besonders spannend. Aber was ist mit dir? Ich habe gehört, du hast eine eigene Firma.“

Dylan deutete auf sein Büro. „Ich entwickle Motorräder. Hätte nie gedacht, dass ich aus meiner Leidenschaft einen Beruf machen kann. Aber es hat geklappt, und im Großen und Ganzen bin ich ziemlich glücklich.“

Nun ja, da gab es immer noch diese Entscheidung, die er treffen musste. Aber daran würde er jetzt nicht denken, beschloss Dylan. Molly war eine unerwartete und überraschend angenehme Ablenkung. Plötzlich war er froh, dass sie ihn aufgesucht hatte.

Er warf einen Blick auf seine Uhr. Es war fast zwölf. „Wenn du Zeit hast“, sagte er, „würde ich dich gerne zum Essen ausführen. Eine Meile die Straße runter gibt es einen großartigen Laden. Sieht zwar nicht besonders schick aus, aber sie machen die besten Burger in der gesamten Gegend.“ Er grinste. „Wir können uns beim Essen auf den neusten Stand bringen, und du musst noch nicht mal mein Motorrad besteigen, um dorthin zu kommen.“

„Klingt großartig“, erwiderte Molly.

Dreißig Minuten später saßen sie auf einer gemütlichen Bank im hinteren Teil des Diners. Die Bedienung hatte ihnen bereits Getränke gebracht und ihre Bestellung aufgenommen. Molly hatte der Versuchung nicht widerstehen können und arbeitete sich nun Schluck für Schluck durch ihre Margarita, während Dylan ein Bier trank. Normalerweise verzichtete er tagsüber auf Alkohol, und im Büro wartete auch noch eine Menge Arbeit auf ihn. Trotzdem hatte er beschlossen, eine Ausnahme zu machen, nachdem Molly ihren Drink geordert hatte.

Während er sie beobachtete, wurde der Verdacht immer stärker: Irgendetwas stimmte hier nicht. Molly und er hatten sich lange nicht gesehen, aber das erklärte noch nicht ihre ungeheure Nervosität. Angespannt saß sie neben ihm, und dann diese Blicke, die sie ihm ständig zuwarf. Was hatte das zu bedeuten? Warum war Molly hier? Bisher war sie sämtlichen persönlichen Fragen ausgewichen, von ihrem Leben wollte sie also nichts erzählen. Warum dann dieses Treffen?

Dylan spürte die neugierigen Blicke der anderen Gäste. In einer Kleinstadt kannte jeder jeden, zumindest vom Sehen. Die unbekannte Frau an seiner Seite sorgte daher für Aufsehen. Kein Wunder, denn Dylan ließ sich selten in weiblicher Begleitung hier blicken. Und wenn, dann waren die Frauen an seiner Seite meist langbeinige, langhaarige Brünette. Eigentlich glichen sie allesamt Janet, aber diesen Gedanken wollte er jetzt lieber nicht weiterverfolgen.

„Ich weiß, was du denkst“, riss ihn Molly aus seinen Gedanken.

Dylan schüttelte den Kopf. „Das glaube ich kaum.“

„Du fragst dich, warum ich hier bin. Ich meine, es ist ja nett, mich zu sehen und so weiter. Aber was will ich von dir?“

Gar nicht so schlecht. Offenbar war sie eine gute Gedankenleserin – im Gegensatz zu ihm. Schätzungsweise würde jetzt gleich die große Eröffnung kommen, und er hatte keine Ahnung, was das sein könnte. Brauchte Molly Geld? Einen Job? Vielleicht ein schnelles Abenteuer? Unwillkürlich musste Dylan grinsen. Der letzte Gedanke war wirklich absurd. Es mochten einige Jahre vergangen sein, aber für ihn war sie immer noch die Kleine. Eine verletzliche Seele, die man beschützen musste, und nicht irgendein Vamp.

„Tatsächlich gibt es etwas, das ich von dir will“, sagte sie und griff in ihre Tasche. Nach typischer Frauenart kramte sie eine Weile darin herum, um dann einen kleinen Gegenstand hervorzuziehen. Sie legte ihn auf den Tisch.

Fassungslos starrte Dylan auf den Ring. Er hatte ja einiges erwartet, aber das hier überstieg wirklich alles. „Das kommt jetzt ganz schön plötzlich“, sagte er, weil er nicht wusste, was zum Teufel er sonst sagen sollte.

„Es ist nicht, was du denkst“, entgegnete Molly.

„Gut. Denn ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich denken soll.“

„Erinnerst du dich an den Ring?“

Zögernd griff er nach dem schmalen goldenen Band. „Klar erinnere ich mich.“ Es war ja schließlich nicht so, als würde er tagtäglich irgendwelche Ringe kaufen. Nur ein einziges Mal in seinem Leben hatte er sich zu so einer Tat hinreißen lassen, und das war während seiner Beziehung zu Janet gewesen. Janet, das größte Glück aller Zeiten. Die Frau, ohne die er nicht leben konnte. Das jedenfalls hatte er damals gedacht. Doch dann hatte ihm das Schicksal eine Lektion erteilt.

„Das ist der Ring, den ich für deine Schwester gekauft habe.“

„Und dann hast du ihn mir gegeben, am Tag ihrer Hochzeit.“

Dylan nickte. Er war zu der Trauung gekommen, um Janet ein letztes Mal zu sehen. Erst dieser Schmerz hatte es möglich gemacht, einen endgültigen Schlussstrich unter die Beziehung zu setzen. Als er die Kirche verließ, war Molly ihm gefolgt. Er erinnerte sich noch, ihr den Ring gegeben zu haben. Nur warum, daran konnte er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern.

Sie holte tief Luft. „Ich wollte damals nicht, dass du gehst. Dafür gab es viele Gründe, aber ich konnte dir nur einen einzigen nennen. Du solltest nicht gehen, weil du mir etwas versprochen hattest. Natürlich bist du trotzdem gegangen. Aber vorher hast du mir noch den Ring gegeben. Du hast gesagt, wenn ich erwachsen bin, soll ich diesen Ring nehmen und zu dir kommen, dann würdest du dein Versprechen einlösen.“ Sie räusperte sich. Röte stieg ihr in die Wangen, während sie mit gesenktem Kopf auf den Tisch starrte. „Tja, und nun ist es so weit. Ich bin hier, um dich an dein Versprechen zu erinnern.“

„Und was habe ich dir versprochen?“

„Ein Abenteuer.“

2. KAPITEL

Irgendetwas in ihrem Inneren rumorte. Molly schluckte. Es fühlte sich an, als hätte sie einen Mixer verschluckt. Das Schütteln und Rühren wurde immer stärker, bis sie schließlich … Oh nein, bitte nicht! Auf keinen Fall durfte sie sich jetzt auch noch vor Dylans Augen hier am Tisch übergeben.

Das sind die Nerven, beschwor sie sich. Nur die Nerven. Na ja, das und dann auch noch ein wenig Tequila auf leeren Magen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Gar nichts, offenbar. Und genau da lag das Problem. Sie hatte einfach losgelegt, bevor sie der Mut verließ. Welche halbwegs normale Frau hätte Dylan sonst so unvermittelt verkündet, was sie ihm gerade verkündet hatte? Wahrscheinlich würde er gleich in die Tasche greifen, sein Handy hervorziehen und 911 wählen, um die Männer in den weißen Mänteln anzufordern.

Warum nur, warum? Molly zwang sich, den Kopf zu heben und Dylans Blick zu begegnen. Seinen Augen wirkten ein wenig größer als sonst. Trotzdem schien er die Fassung bewahrt zu haben. Bewundernswert, dachte Molly. An seiner Stelle wäre sie wohl kaum so ruhig und höflich geblieben.

Sie räusperte sich erneut. „Falls das ein Trost ist: Ich kann auch kaum glauben, was ich da gerade gesagt habe.“

„Dann haben wir ja etwas gemeinsam.“

Wenigstens hatte er den Sinn für Humor nicht verloren. „Okay, das war nicht ganz so gut formuliert. Und zugegebenermaßen etwas verrückt. Wahrscheinlich denkst du jetzt, dass ich völlig verrückt bin. Aber mach dir keine Sorgen, eigentlich bin ich ganz ungefährlich.“

Er hielt den Ring in der geöffneten Hand und starrte darauf. Unwillkürlich wurde Mollys Blick von den kräftigen schlanken Fingern angezogen. Darunter entdeckte sie ein paar Stellen mit Hornhaut. Dylan war kein Mann, der nur am Schreibtisch saß, so viel war klar. Bestimmt hatte er in den ersten Jahren die Motorräder selbst zusammengebaut. Wahrscheinlich spät in der Nacht, irgendwo in einem einsamen Schuppen, während die Sterne … Was sollte das denn jetzt? Sie musste sich dringend zusammenreißen. Molly holte tief Luft. Dylan war ein Mann, der wusste, was er wollte. Er traf seine eigenen Entscheidungen und ließ sich nicht so leicht beeinflussen. Schon gar nicht durch die wirren Reden durchgeknallter Frauen. Kurz: Er würde Nein sagen.

Einen Moment lang ließ sie sich diesen Gedanken durch den Kopf gehen. Komischerweise fühlte es sich gar nicht so schlimm an. Wenigstens hatte sie gefragt. Ein Mal in ihrem Leben hatte sie die Initiative ergriffen und nicht nur immer gewartet und gewartet. Sie hatte laut und deutlich gesagt, was sie wollte. Oder es zumindest versucht. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung. Plötzlich erfüllte sie eine Art von Stolz. Sie richtete sich auf und drückte die Schultern durch. Es war ein kleiner Schritt. Aber ein Schritt in die richtige Richtung.

„Los geht’s“, durchbrach eine Stimme ihre Grübeleien. Die Bedienung stellte zwei riesige Teller mit Burgern und einem Berg goldbrauner Pommes vor ihnen ab. Dann griff sie in die Schürzentasche und zog eine Flasche Ketchup, Senf und einen Stapel Papierservietten hervor. „Guten Appetit“, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln und verschwand.

Das Essen duftete verführerisch. Diesmal grummelte Mollys Magen vor Hunger, doch sie war nicht sicher, ob sie auch nur einen Bissen hinunterbekam.

Dylan bestrich seinen Burger mit etwas Senf, ließ ihn dann jedoch unberührt auf dem Teller liegen. Er stellte die Senfflasche zurück auf den Tisch und sah Molly an.

„Warum?“, fragte er.

Vielleicht konnte sie so tun, als würde sie ihn nicht verstehen. Aber das war auch ziemlich albern. Warum? Eigentlich eine ganz simple Frage. Das Problem war nur, dass sie keine simple Antwort parat hatte – zumindest keine, die sie ihm geben wollte. Das wäre einfach viel zu persönlich. Trotzdem hatte Dylan das Recht auf irgendeine Erklärung.

Molly griff ebenfalls nach dem Senf und ließ einen großen Klecks auf die Innenseite ihres Burgerbrötchens tropfen. Dann verteilte sie den Senf sorgfältig und legte die Brötchenhälfte wieder auf den restlichen Burger. „Ich hatte das Gefühl, dass mein Leben in einer Sackgasse gelandet ist“, sagte sie schließlich. „Ich muss über eine Menge Dinge nachdenken und einige Entscheidungen treffen. Doch irgendwie konnte ich mich auf nichts konzentrieren, also beschloss ich, erst mal allem zu entfliehen. Ich wusste nur nicht, wohin.“

„Du hättest dich einem Wanderzirkus anschließen können.“

Sie versuchte zu lächeln. Ihre Lippen waren noch immer etwas taub von der Margarita. „Nette Idee. Aber ich fürchte, ich bin zu alt, um Zirkusartistin zu werden. Außerdem konnte ich Elefanten noch nie leiden. Sie jagen mir Angst ein.“

„Ja, es ist unschön, wenn sie einem auf den Fuß treten“, erwiderte Dylan verständnisvoll.

Molly griff nach ihrem Burger, zögerte kurz und legte ihn schließlich zurück auf den Teller. „Wie gesagt, ich wusste nicht, wohin. Aber ich dachte mir, ich fahre einfach mal los, dann wird mir schon eine Idee kommen. Zufällig habe ich beim Kofferpacken dann deinen Ring in einer Schublade gefunden. Das schien mir ein Zeichen zu sein. Und hier bin ich also.“

Vielleicht war das nicht die allerbeste Idee gewesen, dachte Molly. Je länger sie hier war, desto mehr fühlte sie sich wie ein kompletter Idiot. Warum war sie nicht einfach zu ihrer Schwester gefahren? Aber im Nachhinein war man ja immer schlauer. „Es war einfach eine spontane Entscheidung“, fuhr sie fort. „Normalerweise lasse ich mich nicht von Impulsen leiten, keine Ahnung, warum das diesmal anders war. Jedenfalls tut es mir leid, Dylan. Vergiss einfach, was ich vorhin zu dir gesagt habe.“

Sie schob den Teller beiseite. Jetzt war es definitiv Zeit für einen würdevollen Abgang. Die Frage war nur, wie sie das anstellen sollte. Dummerweise hatte Dylan sie in seinem Firmenwagen hierhergefahren. Selbst wenn sie jetzt laufen würde, hatte sie leider keine Ahnung, wie sie von hier aus zurück zum Büro gelangen sollte.

Dylan lehnte sich zurück und verspeiste genießerisch ein paar der goldbraunen Pommes. „Die schmecken ausgezeichnet. Übrigens habe ich nicht Nein gesagt.“

Molly fühlte, wie ihre Augen sich weiteten. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“

„Warum nicht?“ Er grinste.

Sein Lächeln war völlig anders als jenes, mit dem er sie begrüßt hatte. Vorhin war es eine höfliche, leicht distanzierte Geste gewesen. Jetzt war es klare Herausforderung. Mollys Körper reagierte sofort, in Sekundenschnelle breitete sich die Hitze von ihren Ohren bis in die Zehenspitzen aus. Verflixt, was sollte sie nur tun? Schätzungsweise quollen gerade kleine Rauchwölkchen aus ihren Schuhen.

„Dir ist schon klar, dass du genauso verrückt bist wie ich, wenn du auch nur darüber nachdenkst“, entgegnete sie steif.

„Wäre nicht das erste Mal, dass man mir so was vorwirft.“

Dylan nahm einen großen Bissen von seinem Burger und kaute. Molly konnte ihren Blick nicht von ihm wenden. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ihr Gehirn gab ihren Augen klare Befehle, doch die reagierten einfach nicht. Auch ihr Herz schien plötzlich merkwürdig leicht. Dylan hatte nicht Nein gesagt, er hatte sich ihren Vorschlag angehört, ohne in wildes Gelächter auszubrechen. Was auch geschehen mochte: Diesen Moment würde sie für immer im Gedächtnis behalten, und wenn das Leben mal wieder düster war, würde sie ihn hervorziehen und lächeln.

Sonnenstrahlen fielen durch die Fenster des Diners, erreichten aber nicht die hintersten Tische. Hier sorgten Lampen für eine sanfte Beleuchtung, und eine davon war direkt auf Dylan gerichtet. Wie ein Filmscheinwerfer. Und zweifellos war Dylan attraktiv genug für die männliche Hauptrolle in jeder Art von Blockbuster. Er ist noch immer so perfekt wie früher, dachte Molly zufrieden. Es hatte etwas Tröstliches, ein paar Stunden in Begleitung eines gut aussehenden Mannes zu verbringen. Natürlich waren sie ein sehr ungleiches Paar, und sie entsprach noch nicht mal ansatzweise seinem Beuteschema. Aber das spielte keine Rolle. Sie interessierte sich für Dylan nicht mehr auf dieselbe Weise, auf die sie sich als Siebzehnjährige für ihn interessiert hatte. Damals war er ihr ganzes Glück gewesen. Inzwischen hatte sie dazugelernt.

Rein äußerlich faszinierte er sie noch immer. Das dunkle Haar trug er kurz, es reichte noch nicht einmal bis zu seinem Kragen, die schulterlange Mähne von einst war verschwunden. Dylans Stil war jetzt deutlich konservativer, aber irgendwie stand ihm das fast besser, entschied Molly. Seine Augen waren genau so, wie sie sie in Erinnerung hatte – bis auf diese kleinen Lachfältchen, die waren neu. Schön geschwungene Lippen, ein energisches Kinn und keine Spur mehr von dem goldenen Ohrring. Auch an Dylan waren die letzten zehn Jahre nicht spurlos vorbeigegangen. Er war etwas breiter geworden, aber die Muskelbewegungen unter seinem Hemd ließen darauf schließen, dass er einen sehr durchtrainierten Körper besaß. Kurz: Er war noch immer der attraktivste Mann der Welt.

Was sie besonders beeindruckte, war dieses Selbstvertrauen, das klarer als alle Worte zeigte, wie erfolgreich Dylan war. Tja, dachte Molly mit einem Anflug von Panik. Vielleicht war es besser, wenn dieses Abenteuer nicht stattfand. Denn so langsam bekam sie den Eindruck, dass sie sich in einen Teenager zurückverwandelte. Wahrscheinlich würden ihrem Herzrasen als Nächstes die Pickel folgen. Und das war jetzt der ganz falsche Zeitpunkt für so etwas. Sie musste ihr Leben in den Griff bekommen, nicht irgendwelchen albernen Gefühlen nachhängen.

Eine Stimme in ihrem Kopf murmelte, dass es höchste Zeit für alberne Gefühle war. Doch es gelang Molly, diese Stimme umgehend zum Schweigen zu bringen.

Trotzdem. Sie hatte Dylan kein unmoralisches Angebot machen wollen, die ganze Sache mit der Formulierung war vorhin nur etwas schiefgegangen. Aber warum eigentlich nicht? Vielleicht war es besser, diesen Motorradtrip ausfallen zu lassen und stattdessen die Reise ins Bett zu verlegen. Ja, eigentlich war das die perfekte Lösung! Eine Nacht lang heißer Sex – und diese ganzen Grübeleien waren garantiert wie weggeblasen.

Molly zuckte zusammen. Uuups! Wo war denn das jetzt hergekommen? Und hatte sie den letzten Teil etwa laut ausgesprochen? Bitte, bitte nicht! Sie presste die Lippen zusammen und beobachtete Dylan, der gerade ein weiteres Mal herzhaft in seinen Burger biss. Keine Veränderungen im Gesichtsausdruck; Haltung noch immer entspannt. Okay, das war ein gutes Zeichen. Sie hatte diesen Gedanken nicht ausgesprochen. Aber allein dass sie ihn gedacht hatte, war ein klares Gefahrensignal.

Was war nur mit ihr los? Sie gehörte nicht zu diesen Frauen, die sich immer nur das Unerreichbare wünschten. Männer wie Dylan Black interessierten sich für die Janets dieser Welt: langbeinige, superdünne Modeltypen mit perfekten Gesichtern. Molly schluckte. Sie war ja vieles, aber so eine Frau … war sie nicht.

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