Plötzlich Duke – plötzlich verliebt?

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Niemand bringt Giles, den neuen Duke of Harpenden, so schnell auf die Palme wie Diana Merriwell! Doch ausgerechnet auf die Hilfe dieses resoluten Blaustrumpfes ist er nun angewiesen. Denn seine Abstammung ist nicht lupenrein, und ein Erpresser droht, ein dunkles Geheimnis aufzudecken, das Giles seinen Titel kosten könnte. Dianas gute Spürnase und Neugier sollen ihm helfen herauszufinden, wie es um seinen Stammbaum wirklich bestellt ist. Widerwillig arbeiten sie zusammen. Um sein Herz macht Giles sich dabei keine Sorgen – an Diana könnte er es niemals verlieren! Da ist er sich ganz sicher …


  • Erscheinungstag 25.10.2025
  • Bandnummer 179
  • ISBN / Artikelnummer 9783751532297
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Virginia Heath

Plötzlich Duke – plötzlich verliebt?

Virginia Heath

Schon als kleines Mädchen hat Virginia Heath sich fantastische Geschichten ausgedacht, wenn sie nicht einschlafen konnte. Schließlich hat sie beschlossen, dass Schlaf nicht so wichtig ist, und angefangen, die Geschichten aufzuschreiben. Mittlerweile hat sie über zwanzig Bücher veröffentlicht und wurde bereits zwei Mal für den Romantic Novel of the Year Award nominiert.

1. KAPITEL

Oktober 1826

Ein in jeglicher Hinsicht durch und durch enttäuschender Sohn zu sein war eine Verantwortung, die Giles Sinclair ernst nahm. So ernst, dass er sich, falls eine einzige Woche ohne den erzürnten Tadel seines Vaters bezüglich seines unangemessenen Verhaltens verstrich, als völligen Versager betrachtete. Nach einigen beunruhigend ruhigen Wochen mit nur einem unbedeutenden Scharmützel wegen einer waghalsigen Wette, die dem Duke of Harpenden zu den zunehmend tauben Ohren gekommen war, war er nun entschlossen, das kostspielige Fest an diesem Abend zu einem durchschlagenden und skandalösen Erfolg zu machen – gerade noch rechtzeitig vor der wöchentlichen Anhörung bei seinem missbilligenden Erzeuger am nächsten Tag.

Er nippte an seinem Apfelsaft, den er strategisch klug in einer hohen kristallenen Champagnerflöte verbarg, damit niemand bemerkte, dass er stocknüchtern war, während er die bunt gemischte Menge beobachtete und sich einen seltenen Augenblick der Genugtuung gönnte. Die Reichen und die Schönen, die Berühmten und die Berüchtigten drängten sich alle im ägyptisch hergerichteten Ballsaal seines Stadthauses in Bloomsbury. Seit zwei Stunden lief nun bereits alles wie am Schnürchen, und die etwas zügelloseren Gäste hatten bereits ordentlich einen in der Krone. In etwa einer weiteren Stunde würde die Mehrheit angeschwipst sein, was immer sehr unterhaltsam war. Bis zu den frühen Morgenstunden, wenn sie alle auf die Straße hinausströmen würden, musste eine beträchtliche Anzahl von ihnen sich unbedingt so blamiert haben, dass sein jüngster und am kurzfristigsten arrangierter jährlicher Schurkenball noch schockierender war als die zuvor. Auch das war eine Sache des Prinzips und offen gesagt die einzige Möglichkeit, die er hatte, um gegen all die Lügen aufzubegehren, die sein Erzeuger in die Welt gesetzt hatte; Lügen, die Giles’ Leben seit dem Tag seiner Geburt ruiniert hatten, auch wenn sein Gewissen ihm nie erlauben würde, sie zu entlarven.

„Ich möchte, dass jedes Champagnerglas bis zum Rand gefüllt ist, Dalton, und keinesfalls mit dem billigen Zeug, das du von deinen zwielichtigen Kontakten am Hafen herbeigeschafft hast. Nimm den Veuve Clicquot und schenke ihn reichlich aus, und zwar so, dass es alle mitbekommen.“ Nichts erzürnte den Duke mehr als maßlose Ausgaben für leichtsinnige Vergnügungen. Insbesondere dann, wenn er sich im Glauben wähnte, dass er für alles aufkam.

Dem war aber natürlich gar nicht so.

Aus Prinzip hatte Giles seit einem Jahrzehnt keinen Penny seines Unterhalts mehr ausgegeben. Stattdessen hatte er das Geld heimlich dafür genutzt, wie ein anonymer Robin Hood die vielen Untaten seines Vaters wiedergutzumachen, während er sich von seinem eigenen Scharfsinn und seiner Geschäftstüchtigkeit ernährte. Und das war ihm so verdammt gut gelungen, dass er es sich nun leisten konnte, jede Badewanne in Bloomsbury mit dem feinsten französischen Champagner zu füllen, wenn er das wollte. Und von dem Restgeld könnte er sich noch ein schickes Paar Stiefel von George Hoby anfertigen lassen.

Davon wusste der Alte natürlich nichts.

Niemand wusste davon.

Die Offenbarung seiner Selbstbeherrschung, hartnäckigen Entschlossenheit, Menschenfreundlichkeit und der harten Arbeit würde nur dazu führen, dass die Leute ihn plötzlich mit anderen Augen sähen, und das wäre gar nicht gut, wo es doch so praktisch war, unterschätzt zu werden. Und selbstverständlich würde sein schmutziges kleines Geheimnis seinen bereits miserablen Ruf vollständig ruinieren, wenn sein Vater daran am meisten verzweifelte. Diese doppelte Ironie amüsierte ihn immer zuverlässig.

„Der Veuve Clicquot?“ Sein Butler, der auch gleichzeitig sein Kammerdiener war, rollte das eine Auge, das er noch hatte. „Auch wenn die Hälfte der Gäste schon so betrunken ist, dass sie Veuve Clicquot nicht von Pferdepisse unterscheiden können? Es wäre eine furchtbare Verschwendung des guten Champagners, wenn Sie mich fragen.“

„Aber ich frage dich nicht, oder, Dalton? Das tue ich nie, und trotzdem langweilst du mich unaufgefordert mit deiner Meinung.“ Giles schnappte sich ein vorbeischwebendes Canapé und bedeutete dann seinem völlig ungeeigneten Diener, sich zu entfernen. „Jeder bekommt die Champagnerperlen ins Glas, und das ist ein Befehl.“

„Jawohl, Mylord.“ Mit der üblichen Unverfrorenheit strich sich Dalton eine Locke aus der Stirn und ging von dannen, wobei sein mit komplizierten Schnitzereien verziertes Holzbein laut auf dem Marmorboden klackerte, den Giles für sehr viel Geld aus Italien hatte importieren lassen.

Beides hatte den Duke wütend gemacht.

Die Marmorfliesen, weil sie ein Vermögen gekostet hatten, und der Butler, weil ihm zwar nicht zusätzlich zu dem Auge und dem Bein auch noch ein ganzer Arm fehlte, aber dafür mehrere Finger an der linken Hand.

Dalton hatte all diese unglückseligen Körperteile als junger Seemann in der Schlacht von Trafalgar vornehm zurückgelassen, wurde aber großzügig dafür bezahlt, jedem, der zufällig danach fragte, würdevoll zu erklären, dass er nicht gerne über sein früheres Leben als Pirat redete, wo er schließlich gerade versuchte, ein respektables Leben zu führen.

Als eine Schar livrierter Diener frisch gefüllte Gläser unter den Gästen verteilte, spürte – oder eher: roch – Giles sie, bevor er sie sprechen hörte. Der berauschende Duft üppiger Sommerrosen mit einem Hauch Pfirsich und einem winzigen Schuss Vanille war so einzigartig wie die außergewöhnliche und erregende Frau, die ihn trug.

„Sie werden erfreut sein zu hören, dass Lady Sewell und dieser furchtbare russische Graf, den Sie unbedingt immerzu einladen müssen, ein Stelldichein in Ihrem Musikzimmer haben.“

Sie neigte zwar dazu, unauffällig in den Hintergrund zu rücken, aber trotzdem hatte sie ein Faible für auffällige, elegante Abendkleider, und heute Abend sah sie besonders hübsch aus. Die elfenbeinfarbene Seide umschmeichelte ihre Kurven genau an den richtigen Stellen, während das aufreizende Rot des Saumes und des breiten Bandes, das ihre schmale Taille zur Geltung brachte, einen perfekten Kontrast zu ihrem dunklen Haar bildete. Sie hatte es auf ihre Art schick, aber unsymmetrisch frisiert, ganz entgegen der aktuellen Mode der symmetrischen Frisuren, aber es stand ihr gut. Bei ihr wirkte es nicht so, als tanze sie stur nach ihrer eigenen Pfeife, sondern als seien alle anderen aus dem Rhythmus geraten. Sie war wie immer atemberaubend – auch wenn er ihr das natürlich nie sagen würde. „Ich nehme an, dieser schockierende Vorfall wird morgen in eurer Zeitung erscheinen, alte Querulantin?“

„Wie üblich habe ich nicht die geringste Ahnung, wovon Sie sprechen.“ Miss Diana Merriwell nippte mit verschlagener Lässigkeit an ihrem Champagner und ließ ihren Blick statt zu ihm über das Meer wirbelnder Seide auf der Tanzfläche schweifen. „Aber es ist nicht wirklich überraschend.“ Sie erzielte mit ihren emotionslos hervorgebrachten Beleidigungen immer die größte Wirkung, und ihre katzenhaften grünen Augen funkelten dabei. „Im besten Fall reden Sie ziemlichen Unsinn, mein lieber Lord Bellingham, und ich gebe zu, dass ich schon längst jede Hoffnung aufgegeben habe, dass sich das jemals ändern wird. Wären Sie nicht so untrennbar mit meinem Schwager verbunden, hätte ich mich bereits im letzten Winter der lästigen Pflicht, die Sie darstellen, entledigt – aber leider …“ Sie seufzte, als sei es schon eine ungeheure Unannehmlichkeit, ihn bloß zu kennen. „Leider lungern Sie weiter in der Peripherie meines Lebens herum wie ein übler Gestank.“

Giles war ob ihrer Worte nicht beleidigt. In den letzten zwölf Monaten hatte sie viel schlimmere Dinge gesagt und er auch, denn sie lieferten sich immer solche Duelle.

„Dann leugnen Sie also rundweg all Ihre jüngsten erkenntnisreichen Beiträge zur Klatschkolumne der London Tribune?“

„Als ob das Establishment jemals einer Frau zutrauen würde, Nachrichten zu verfassen.“

„Aber Sie sind Diana – Göttin der Jagd und Jägerin der Wahrheit.“

Sie unterdrückte ein Gähnen. „Ich habe einfach ein paar Artikel lektoriert, Rechtschreibung und Grammatik, um mir die Zeit zu vertreiben. Wie ertragt ihr Aristokraten nur die furchtbare Langeweile eures sinnentleerten Lebens der Muße?“ Auch diese weitere wohlplatzierte Spitze entlockte ihm ein Lächeln. Sie stellte ihn gern in den Senkel. Nichts hier konnte sie beeindrucken.

„Und ich war schon still beeindruckt von Ihrer schriftstellerischen Souveränität, aber nun ja …“ Er starrte nun auch auf die Tanzfläche, als sei er zu Tode gelangweilt. „Hätte ich gewusst, dass Sie gar keine journalistische Qualifikation haben, sondern bloß eine pingelige Grammatikmäklerin sind, hätte ich Sie niemals hierher eingeladen. Und jetzt bin ich pikiert, denn wenn Sie morgen nicht all die schockierenden Skandale dieses Abends in Ihrem schäbigen Klatschblatt breittreten, wer soll es dann tun?“

„Das bleibt sicher ein Rätsel – aber ich bin sicher, dass Sie sich keine Sorgen machen müssen. Wenn jemand mit dem Skandal verheiratet ist, so wie Sie, Giles, dann verbreiten sich Gerüchte wie von selbst.“ Sie warf ihm einen wissenden Blick zu. „Und das geht sehr schnell … Ihr Vater wird also schon morgen bei Ihrem Treffen sicherlich vor Wut dampfen, genau, wie Sie es beabsichtigen.“

Ihre scharfe Intelligenz traf wie immer ins Schwarze. „Wie üblich habe ich auch keine Ahnung, wovon Sie reden, Diana.“ Je besser er sie kennenlernte, desto überzeugter war er, dass sie in ihm lesen konnte wie in einem offenen Buch, und das ärgerte ihn maßlos. Denn Giles sah sich gern als die schlauste Person in jedem Raum und allen anderen immer um Längen voraus – aber sie war ihm immer dicht auf den Fersen. Oder eher heftete er sich an ihre. „Das ist ja auch nicht sehr überraschend, wenn Sie immer bestenfalls ziemlichen Unsinn reden. Sie wissen ja, dass ich Sie nur ertrage, weil mein bester Freund Ihre Schwester geheiratet hat, nicht wahr? Wobei es mir immer noch ein Rätsel ist, warum er sich mit einem Haufen solch niederen Volks abgibt.“ Er zog eine Grimasse und nippte an seinem Getränk, aber sein Mund zuckte verräterisch, denn eigentlich liebte er es, ihr zu zeigen, wo ihr Platz war. Sie trug ihre einfache Herkunft wie eine Ehrenmedaille und benutzte sie manchmal als Schild, um unwillkommene Aufmerksamkeit abzuwehren. „Wir Blaublütigen müssen sicherstellen, dass die Reinheit unserer Art gewährleistet bleibt, oder es wird das Ende der Zivilisation sein, wie wir sie kennen, und das Chaos wird die Herrschaft übernehmen.“

Sie war ebenso wenig beeindruckt von seinen Beleidigungen wie er von ihren. „Dann leugnen Sie also rundheraus, dass Sie sich völlig verbiegen, um Ihren Vater einfach als Zeitvertreib zu ärgern?“

Es war kein Zeitvertreib. Es war eine Notwendigkeit. Der einzige mögliche Weg, den scheinheiligen Gauner für all seine Skrupellosigkeit zu bestrafen.

„Es wird wohl kaum mein Fehler sein, wenn er mich enttäuschend findet, genauso wenig, wie es mein Fehler ist, dass ich so geboren wurde.“ Das war eine glatte Lüge, und vermutlich wusste sie das. Aber er würde lieber sterben, als ihr einen Blick auf die jämmerliche Wahrheit zu gönnen.

Während der unerträgliche Duke of Harpenden seinen einzigen Sohn schon immer in jeder Hinsicht als unwürdig betrachtet hatte, war Giles aus purem Selbstschutz ein Rebell durch und durch gewesen, schon lange bevor er von dem Schmutzigen Geheimnis erfahren hatte und davon, dass er tatsächlich in jeglicher Hinsicht unwürdig war. Und als er es erfuhr, war es bereits zu spät, sich über die erhellenden Fakten zu freuen. Die schrecklichen Würfel waren gefallen, sein Schicksal war besiegelt, und es gab tatsächlich absolut gar nichts, das er hätte tun können außer das eine, und das hätte seine Welt in Stücke gerissen. Diese Aussicht hätte ihn nicht im Geringsten beunruhigt, wäre nur er selbst davon betroffen. Aber leider hatte diese scheußliche, widerwärtige und zerstörerische Wahrheit schlimme Konsequenzen für viele unschuldige Menschen, und noch schrecklicher war, dass er nicht das gefühlskalte Granitherz seines Vaters geerbt hatte. Wäre das der Fall, hätte er selbst die Lunte angezündet, sich frohgemut einen Stuhl zurechtgerückt und einen Teller voller Gebäck vernascht, um sich das Spektakel anzusehen, wie der glanzvolle Name Harpenden im gleißenden Licht der Öffentlichkeit zu Staub zerfiele.

„Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie etwas planen, das Ihr Vater aus vollem Herzen billigt … und dass man Sie endlich beglückwünschen darf!“ Diesmal trank sie etwas zu lässig von ihrem Champagner, als ob sie etwas Bestimmtes von ihm hören wollte, aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was das sein sollte.

„Beglückwünschen?“

„Sagt Ihnen der Name Miss Tilda Regis nichts?“

„Turteltäubchen-Tilda? Die Tochter des trägen Tuchhändlers?“

„Sie meinen doch sicher die treue Tilda mit dem sich türmenden Taschengeld?“ Sie blickte ihm starr in die Augen. „Oder vielleicht wäre Titel-tolle Tilda die bessere Beschreibung, wenn man den Gerüchten über Sie beide trauen mag?“

Er musste über die Absurdität ihrer Andeutung lachen. „Sie glauben doch nicht wirklich, dass ich mit Miss Regis romantisch verbandelt bin? Sie ist doch viel zu anständig für meinen liederlichen Geschmack.“ Und viel zu fad. Tumbe Tilda war ihr Spitzname in den Gentleman’s Clubs, weil sie keine Unterhaltung führen konnte, ohne sich von ihrem penetranten Vater soufflieren zu lassen. Aber er war zu sehr Gentleman, als dass er diese Bezeichnung außerhalb der Clubs erwähnen würde.

„Nicht verbandelt, Giles. Verlobt.“

„Sie brauchen verlässlichere Quellen, Diana.“

Sie runzelte verwirrt die Stirn. „Sie sind nicht verlobt?“

„Diese Art von Schrecken würde ein Mann doch nicht einfach so vergessen. Und sollte ich meine Freiheit opfern, um mich von einem Pfaffen in die Falle des stinkenden Kerkers der Ehe locken zu lassen – was ich absolut niemals tun werde –, würde ich sicher keine zukünftige Duchess wählen, die nicht einmal das Wort Duchess ohne Hilfe buchstabieren kann. Die arme Tilda ist kein besonders helles Licht, Gott vergelt’s, und worin besteht da die Herausforderung?“

In Wahrheit hatte Giles das Mädchen schon immer bemitleidet. Ihr schamlos auf sozialen Aufstieg bedachter Vater hatte sie Jahr um Jahr wie sauer Bier überall angepriesen, indem er mit ihrer ständig wachsenden Mitgift wie mit einem Köder so wenig subtil vor der Nase eines jeden Gentlemans umherwedelte, dass er das arme Ding zum Gespött machte. Und niemand schnappte jemals zu. Offenbar hatten selbst Mitgiftjäger ihre Ansprüche, und denen konnte die stotternde, gutmütige Miss Regis einfach nicht gerecht werden.

Diana berührte ihn am Arm. Das war schon eine sehr ungewöhnliche und wohlwollende Geste für eine Frau, die sich sehr anstrengte, jede Gefühlsregung, die etwas anderes als Verachtung war, zu verbergen. Wenn sie so etwas tat, fühlte er das gleich im ganzen Körper; sie hatte schon immer diese unerklärliche, tiefgreifende Wirkung auf ihn gehabt.

„Tildas und Ihr Vater haben sich letzte Woche zweimal unter vier Augen zum Essen getroffen.“ Sie neigte sich vor und flüsterte für den Fall, dass jemand sie belauschte. „Einmal im Haus der Regis am Bruno Place und einmal im White’s. Ich habe auch eine verlässliche Quelle in der Rechtsbranche, die überzeugt davon ist, dass die Vereinbarungen schon ausgearbeitet und sogar unterzeichnet sind.“

„Unterzeichnet?“ Er zweifelte nicht an der Richtigkeit dieser Information. Seit Diana bei der London Tribune angestellt war, hatten die Artikel der Zeitung unter anderem an aufrührerischer Qualität gewonnen. Nun, da sie der Klatschkolumne vorstand und der mysteriöse Wächter die Nachrichten dominierte, war die Zeitung zu einer nicht zu unterschätzenden Macht geworden, die viele Tunichtgute und konkurrierende Zeitungen fürchteten. Erst letzten Monat hatte sich ein mitgiftjagender Schwerenöter aufgrund der Enthüllungen in der Tribune gezwungen gesehen, die Stadt zu verlassen.

Diana nickte. „Es gibt noch eine weitere Lady, die behauptet, dass Mrs. Regis erst gestern bei einer Tea Party damit geprahlt hat, dass ihre Tochter nun demnächst in die höchsten Kreise der Gesellschaft aufgenommen werde.“

Er stieß einen verzweifelten Seufzer aus, als ihm plötzlich klar wurde, dass das lächerliche Gerücht Sinn ergab. „Der Duke versucht seit Jahren, mich durch Verheiratung loszuwerden. Jeden Monat soll ich einen weiteren seiner Vorschläge begutachten.“ Er betrachtete es offensichtlich als seine heilige Pflicht, die Ahnenlinie der Harpendens bis in alle Ewigkeit mit weiteren Nachkommen auszustatten. Es schien ihn dabei nicht zu stören, dass sich durch Giles auch die Lüge seines Erzeugers bis in alle Ewigkeit fortpflanzen würde. Seit etwa einem Jahrzehnt wurde ihm jede Debütantin von angemessener Herkunft vorgeführt. Anscheinend war er nun am Boden des Fasses angelangt, wenn die arme Miss Tilda Regis die nächste Kandidatin war, denn sie war nicht von angemessener Herkunft. „Ich werde immer vor vollendete Tatsachen gestellt, was die Auswahl der Damen angeht.“ Und dazu brüllte man ihm noch ins Ohr, dass er gefälligst seine Pflicht zu erfüllen habe.

Die Sinclairs waren schon seit Angedenken der Zeit besessen von Pflichterfüllung. Wenn man sich dem verweigerte, kam das einer Todsünde gleich, ganz egal wie edel die Motive oder wie schwach die Rechtmäßigkeit der Forderungen waren. Dukes zeugten fraglos Erben, die weitere Erben zeugten, und der Duke erwartete von Giles, dass er das Schmutzige Geheimnis ignorierte und sich ohne Gejammer fügte. Allerdings hatte sein Erzeuger bisher noch nie die Nerven besessen, tatsächliche Vereinbarungen auszuarbeiten.

„Madame Devy kümmert sich um Miss Regis’ Brautausstattung.“ Irgendwas in Dianas hübschen Augen schimmerte seltsam. Vielleicht war es Besorgnis. Oder Bedauern? Mitleid? „Sie wurde beauftragt, jedes Kleidungsstück mit diesen Initialen zu besticken.“ Sie wühlte in ihrem winzigen perlenbesetzten Täschchen, das erfrischend unseriös ihre Abendgarderobe ergänzte. Dann reichte sie ihm ein rechteckiges Tuch, auf dem die Buchstaben T, G und S ineinander verschlungen prangten. Das T stand wohl für den Vornamen der Braut; das S musste Sinclair bedeuten. Giles fiel kein anderer hinterlistiger zukünftiger Duke mit einem mit G beginnenden Vornamen ein; das G besiegelte sein Schicksal. „Die Braut hat Madame Devy unter vier Augen erzählt, dass sie es noch immer kaum glauben könne, bald eine Duchess zu sein, obwohl ihre Eltern der Meinung seien, dass sie schon immer für den Adel bestimmt gewesen wäre. Sie war wohl schon ganz trunken vor Aufregung.“

Giles starrte auf die Buchstabenstickerei und fühlte sich hundeelend. „Wer hat Ihnen das erzählt?“

„Madame Devy persönlich … Sie schuldet mir einen Gefallen. Es tut mir leid, Giles, aber meine Quellen sind zuverlässig. Ich hätte das sonst gar nicht aufs Tablett gebracht.“ Jetzt konnte er definitiv Mitleid in ihren reizenden grünen Augen ausmachen – auch wenn es wohl eher für die Braut als für ihn gedacht war.

Arme Tilda.

Dass sein Vater so kaltherzig entschlossen das Ziel verfolgte, Giles unter die Haube zu bringen, reichte ja schon, auf grausame Weise dieser unglücklichen bedauerlichen Frau falsche Hoffnungen zu machen. Aber es war so verdammt typisch für ihn, es seinem enttäuschenden Sohn zu überlassen, diese Hoffnungen komplett zu zerstören.

„Ich werde Tilda Regis nicht heiraten!“ Und übrigens auch sonst niemanden. Dank des Schmutzigen Geheimnisses könnte – würde – er diese grausame Strafe niemandem auferlegen.

„Meine Kontaktperson bei der Times sagt, dass die Verlobungsannonce in zwei Tagen herauskommt.“ Sie drückte wieder seinen Arm, so dass jede seiner Nervenzellen reagierte. „Ich dachte, das sollten Sie wissen.“

Und damit verschwand sie wieder in der Menge, wurde ein Teil von ihr und stach doch heraus, wie immer.

2. KAPITEL

Um zehn Uhr am nächsten Morgen, eine Stunde vor dem angesetzten Treffen mit seinem Vater und drei Stunden bevor er normalerweise dort auftauchte, hämmerte Giles an dessen Eingangstür.

Diesmal war der Alte eindeutig zu weit gegangen!

Er hatte in der Nacht zuvor kein Auge zugetan und sich stattdessen um Tilda gesorgt. Die Arme würde am Boden zerstört sein, wenn all ihre Illusionen sich in Luft auflösten, und sie wäre einmal mehr die Zielscheibe des Spotts. Dass er unbeabsichtigterweise dafür verantwortlich war, lag ihm ebenfalls schwer auf der Seele. Es spielte keine Rolle, dass er bei dieser Farce seine Hände gar nicht beschmutzt hatte; er hatte keinerlei Zusagen gemacht, er hatte ja seit fünf Jahren nicht einmal mit dem Mädchen gesprochen. Aber die widerwärtige Posse war in seinem Namen geschehen, und deshalb würde er – sobald er seinem niederträchtigen, verlogenen Erzeuger seine Meinung gesagt hatte – selbst der armen Miss Regis seine Aufwartung machen, um ihr die schlechte Nachricht so sanft zu überbringen, wie er nur konnte.

Vor dieser lästigen Aufgabe fürchtete er sich.

„Lord Bellingham?“ Der Butler war offenbar erstaunt, ihn zu sehen. „Wir haben Sie erst in einigen Stunden erwartet.“

Giles fielen gar keine albernen, flapsigen Sprüche ein. „Wo ist er?“

„Im Herrenzimmer, Mylord …“ Der Butler versuchte, ihm auf den Fersen zu bleiben, als Giles durch den Korridor marschierte. „Erlauben Sie mir, Sie anzukündigen … Bitte … Sie wissen ja, wie sehr er es hasst, ohne Warnung gestört zu werden.“ Der Bedienstete warf sich mit flehendem Blick gewissermaßen wie eine Barrikade zwischen Giles und die Tür seiner Herrschaft, um ihn am Eintreten zu hindern. „Bitte, Mylord … ich möchte Sie dringend daran erinnern, dass das Personal seinem Zorn ausgeliefert sein wird, wenn Sie nicht mehr da sind.“

Giles wusste das besser als jeder andere und würde normalerweise auch sein Bestes tun, um Leid vom Personal abzuwenden, aber heute konnte er nicht anders. „Gehen Sie zur Seite, Carruthers, und dann sehen Sie zu, dass Sie wegkommen. Ich wage zu behaupten, dass dieser Vormittag für keinen von uns angenehm sein wird.“

Carruthers wurde blass, aber er nickte resigniert. Er kannte die ungesunde Familiendynamik zu gut, um an Giles’ Worten auch nur eine Sekunde zu zweifeln. „Es tut mir leid, Mylord.“

„Nicht so leid wie mir.“

Aber zu seiner großen Überraschung explodierte der Duke gar nicht vor Zorn, als Giles die Tür aufstieß. Seine Augen blitzten kalt auf, aber dann schweifte sein Blick wieder zu seinem Kassenbuch zurück und verweilte dort, selbst als Giles ihn über den Schreibtisch hinweg anbrüllte.

„Tilda Regis! Denken Sie denn überhaupt niemals an irgendjemandes Gefühle, wenn Sie eine unschuldige Dame so herzlos in unsere Fehde und Ihr Täuschungsmanöver verwickeln?“

Der Duke kritzelte mit seiner Feder unbeeindruckt ein paar Zahlen auf das Papier. „Schließen Sie die Tür, Carruthers.“ Erst als sie ins Schloss fiel, ließ er sich dazu herab, Giles eines Blickes zu würdigen, der eher ausdruckslos als wütend war. „Wer hat dir das erzählt?“

„Das geht Sie nichts an.“

„Genauso wenig, wie dies dich angeht.“ Er hatte die Unverfrorenheit, seine Feder wieder anzusetzen; Giles versuchte, sie ihm wegzunehmen.

„Sie haben schon Vereinbarungen unterzeichnet und eine Verlobungsannonce in der Times aufgegeben, aber das geht mich offensichtlich auch nichts an?“

„Ich habe längst jede Hoffnung aufgegeben, dass du jemals deiner Pflicht nachkommen wirst, du Kümmerling.“

„Und deshalb dachten Sie, wenn Sie jedes Detail meiner Eheschließung hinter meinem Rücken planen, merke ich nichts, bis es vollbracht ist? Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, muss ein Bräutigam bei seiner Trauung anwesend sein, damit die Zeremonie rechtskräftig ist, Euer Hoheit!“ Giles hatte nie die Erlaubnis erhalten, den Mann Vater zu nennen, aber dazu hätte auch die emotionale Verbindung zwischen ihnen gar nicht ausgereicht.

„Der Bräutigam wird anwesend sein!“ Der Duke stand auf, fletschte die Zähne in vertrauter Boshaftigkeit und hämmerte mit der Faust auf den Schreibtisch. „Weil ich der Bräutigam bin!“

„Was?“ Giles hätte nicht überraschter sein können, wäre sein Gegenüber nackt um den Tisch getanzt. „Sie heiraten Tilda Regis?“ Er trat ein paar Schritte zurück, während diese geschmacklose Neuigkeit ihre Wirkung entfaltete. „Sie?“

„Die Vereinbarungen sind in der Tat unterzeichnet, die Braut ist entzückt, und die Anzeige in der Times wird das morgen ankündigen.“

„Aber sie ist jünger als ich!“ Einige Jahre jünger sogar. Die arme Tilda war zwar – gemessen an Debütantinnenstandards – etwas reifer, aber sie war immer noch jung genug, die Tochter des Duke sein zu können. „Sie ist nicht mal halb so alt wie Sie! Das ist … obszön!“

„Obszön?“ Die Augen des Duke traten hervor. „Glaubst du, mir fehlt es an Manneskraft, du Kümmerling? Oder an Durchhaltevermögen? Ich kann dir versichern, dass ich von beidem noch mehr als genug habe!“ Als sein Vater ihm ins Gesicht lachte, stieg in Giles ein Bild auf, das er gar nicht sehen wollte: wie die unglückselige Tilda unter dem altersschwachen Duke lag, die Augen vor Scham weit aufgerissen, während er über ihr keuchte und sich abmühte. „Ich werde dir schon beweisen, dass ich noch einen Erben zeugen kann!“

Das war eine Ankündigung, die in ihm Brechreiz auslöste. „So abscheulich es auch sein mag, über diese furchtbare Aussicht nachzudenken, so wirft sie dennoch die Frage auf: Warum? Es sei denn, Sie planen meinen Untergang und brauchen einen Ersatz.“

„Ich brauche einen Erben – keinen verdammten Ersatz! Einen richtigen Erben für den Notfall. Einen, der unwiderlegbar und legal in einer Ehe gezeugt wurde, wie dann die ganze Welt erfahren soll.“ Giles taumelte, als sich nun auch noch diese neue verzwickte Wendung abzeichnete in ihrer ohnehin schon einer stinkenden Jauchegrube ähnelnden Beziehung. Sein Vater hingegen ließ sich in den Stuhl zurücksinken. Er sah älter und müder denn je aus, trotz des unvermeidlichen Wutausbruchs. „Die Situation ist nun zu heikel, als dass ich es riskieren könnte, den Titel bloß dir zu überlassen …“

„Die Situation war schon immer heikel.“ Giles drehte sich der Magen angesichts dieser unvorhergesehenen besorgniserregenden Entwicklung. „Trotzdem hat es Sie bis heute nie so sehr gestört, dass Sie Ihre Lüge hätten richtigstellen wollen.“

Giles hingegen hatte es schon immer gestört.

Seit dem Augenblick vor vier Jahren, in dem er herausgefunden hatte, dass seine Mutter nicht seines Vaters Ehefrau, sondern seine Geliebte war, lag ihm diese Täuschung schwer auf der Seele. Es hatte seine Welt aus den Angeln gehoben. Alles war plötzlich anders, verschoben, und ihm war nun der Weg in eine glückliche Zukunft mit eigener Familie, von der er immer geträumt hatte, verbaut. Er hatte schon Pläne geschmiedet. Vor allem hatte er seinen Kindern alles bieten wollen, was seine eigenen feindseligen Eltern ihm verwehrt hatten.

„Die Dinge ändern sich …“ Sein Vater konnte ihm nicht in die Augen sehen. „Was sein muss, muss sein. Ich kann die schlafenden Hunde nicht länger ignorieren.“ Er stand auf und ging durch den Raum. Giles hatte ihn noch nie zuvor unsicher erlebt, aber jetzt verrieten seine Hände seine Nervosität. „Wenn irgendwo Zweifel aufkommen sollten, muss ich dafür sorgen, dass die Nachfolge gesichert ist – und sei es aus dem Grab heraus.“

Zweifel? Das war eine weitere schockierende Wendung. Der Duke in seiner unerträglichen Überheblichkeit hatte nie zuvor daran gezweifelt, dass das Geheimnis ein Geheimnis bleiben würde. Irgendetwas musste passiert sein.

Etwas Furchtbares.

Giles wurde schwindlig. Sein schlimmster Albtraum schien sich am Horizont zu manifestieren wie eine feindliche Armee. So unangenehm es auch war, für ewig die Last des Schmutzigen Geheimnisses mit sich herumtragen zu müssen: Die Alternative war noch viel unerträglicher. „Was ist passiert?“ Er ließ sich in einen Sessel fallen, banger als je zuvor in seinem Leben, und bereitete sich auf das Schlimmste vor. Menschen waren abhängig von ihm. Ohne den vorgetäuschten Adelstitel konnte er ihnen nicht mehr helfen. „Wer weiß davon?“

„Nichts ist passiert.“ Der Duke starrte abwesend die Wand an. „Niemand kennt die Wahrheit, da bin ich sicher.“ Als sei ihm aufgefallen, dass er gerade einen Riss in seiner Rüstung entblößt hätte, biss er die Zähne zusammen. „Ich möchte nur, dass es einen Notfallplan gibt, falls doch etwas passiert.“ Er setzte sich wieder und nahm die Feder in die Hand, als sei sein Kassenbuch wichtiger als dieses besorgniserregende Gespräch. „Mehr sollst du da nicht hineininterpretieren. Du darfst dich entfernen.“ Er entließ Giles mit einer ausladenden Geste und wandte sich wieder seinen Zahlen zu, denen er mehr vertraute als Menschen.

Der Duke war stur, arrogant und geheimniskrämerisch, aber Giles wusste, wann er es mit einer Lüge zu tun hatte. Sein Vater fürchtete sich neuerdings vor etwas, und das war an sich schon beunruhigend genug.

„Also obwohl nichts geschehen ist, was Ihren urplötzlichen Sinneswandel erklären würde, und obwohl niemand die Wahrheit so gut kennt, dass er sie gegen Sie ins Feld führen könnte, beabsichtigen Sie nun, der unglücklichen Tilda in aller Eile einen Sohn in die Röhre zu schieben, nur falls irgendjemand in ferner Zukunft der Welt zu verkünden gedächte, dass ich nicht wirklich Ihr Erbe, sondern Ihr Bastard bin?“

„Benutze niemals dieses Wort!“ Der Duke blickte auf und schien vor Wut zu schäumen. „Benutze niemals in meiner Gegenwart dieses dreckige Wort!“

Giles hob die Hände. „Was bin ich denn sonst?“

„Du bist mein Erbe!“

„Natürlich bin ich das.“ Wie immer, wenn er über seine Situation nachdachte, blieb ihm die widerliche Kröte, die man ihn zu schlucken zwang, im Hals stecken. „Es spielt ja auch überhaupt keine Rolle, dass Sie, wie uns beiden klar ist, seit drei Jahrzehnten wissentlich betrügen, um die Illusion aufrechtzuerhalten!“

„Ich habe getan, was getan werden musste.“ Mit seinem herablassenden Schulterzucken brachte der Duke wie immer das Blut seines Sohnes zum Kochen. „Ich habe, im Gegensatz zu dir, getan, was mein Vater von mir verlangt hat, und meinen Pflichten oberste Priorität eingeräumt!“

„Es scheint Ihnen ja egal zu sein, dass das, was Sie Pflichten nennen, vor dem Gesetz nicht standhält.“ Damit konnte Giles ihn nicht beeindrucken. „Wenn das bekannt wird, müssen Sie mit einer Anzeige rechnen.“

Und das musste Giles auch. Denn wie anders würde sein Schweigen vor Gericht interpretiert werden als Mittäterschaft? Dass er ausschließlich für all die Menschen geschwiegen hatte, die für ihren Lebensunterhalt vom Hause Harpenden abhängig waren, würde dort niemanden interessieren. Der Duke war zwar sowohl ein Geizhals als auch ein teuflischer und rachsüchtiger Tyrann, aber sein einziger Bruder, der wahre Erbe, war noch schlimmer. Giles’nichtsnutziger Onkel Gervais konnte solchen Lebensunterhalt innerhalb kürzester Zeit verschleudern, verhuren oder verspielen und das gesamte heruntergekommene Shropshire-Anwesen ausbluten lassen. Dieses abscheuliche, manipulative Monster wäre für all die unschuldigen Menschen, die bereits genug gelitten hatten, schlimmer als der Tod. All das waren Fakten, die niemand leugnen konnte, und so hatte der Duke sie benutzt, um Giles zum Schweigen zu bringen. Niemand wollte, dass Gervais Sinclair aus seiner Verbannung zurückkam, wo auch immer das war. Am allerwenigsten Giles. Und so war die Tatsache, dass er mit seinem Schweigen die Haut seines selbstsüchtigen Erzeugers rettete, ein notwendiges Übel, das dem Gemeinwohl diente. „Wenn die Wölfe sich zusammenrotten und Ihr Schmutziges Geheimnis ans Tageslicht kommt, könnten wir beide im Gefängnis landen.“

Es war bezeichnend, dass der Duke nicht bestritt, dass das geschehen könnte. „Im schlimmsten Fall wird dir der Titel, für den du sowieso nie den geringsten Respekt gezeigt hast, aberkannt und dein Name wird in der Presse durch den Dreck gezogen. Aber das passiert ja eigentlich sowieso täglich, weshalb ich die Prognose wage, dass dies deinen miserablen Ruf auch nicht weiter beschädigen wird, als du es selbst schon getan hast. Ich sorge mich eigentlich nur um das Vermächtnis der Harpendens.“

Es sagte viel über ihre Beziehung aus, dass dem Duke solche Dinge wichtiger waren als sein einziger Sohn. Und es gab keine Zweifel daran, dass Giles sein Sohn war – egal, wer seine Mutter gewesen war. Er war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Beide waren groß, beide dunkelhaarig. Beide besaßen das legendäre kantige Sinclair-Kinn mit dem Grübchen, das man auf jedem Ahnenporträt in der baufälligen Eingangshalle des Hauses Harpenden bewundern konnte, durch die Jahrhunderte zurück bis in die graue Vorzeit.

„Aber Sie könnten im Gefängnis enden, Euer Hoheit.“ Dieses Szenario wäre eine Katastrophe für die Angestellten. Die tumbe Tilda würde das Zepter schwingen und hätte auch noch den brandneuen legitimen Erben unter ihrer Fuchtel.

„Ja, könnte ich …“ Die Hand zitterte leicht, als der Duke seine Feder wieder aufnahm. Dieses kleine, untypische Zeichen von Schwäche war ein weiteres Alarmsignal. Es war eine zu menschliche Gefühlsregung für einen Mann, der außer Wut und Ekel nie welche gezeigt hatte. „Aber es wäre eher unwahrscheinlich für einen Duke. Abgesehen davon … sollte es je so weit kommen … sollte es je so weit kommen …“ – er sog holprig die Luft ein –, „… dann kann ich in erster Instanz deiner Mutter die Schuld für die Täuschung in die Schuhe schieben. Was, wenn sie mir Hörner aufgesetzt hat und ich selbst eben erst davon erfahren habe? Jeder wusste doch, dass sie keine Charakterstärke besaß und nebenbei Liebhaber unterhielt.“

„Welche Mutter? Die Duchess oder die Hure?“

„Pass auf, was du sagst, du Kümmerling!“ Der Duke warf ihm einen eiskalten Blick zu und presste die Kiefer zusammen, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf sein Kassenbuch richtete. „Sollte es tatsächlich dazu kommen, könnte ein guter Anwalt anführen, dass ich betrogen wurde. Sie hat das Haus ja tatsächlich verlassen mit meinem Kind im Bauch, wie unser Arzt bezeugen wird.“

„Ich wage zu behaupten, dass ein anderer Arzt oder Zeuge in Shropshire bezeugen kann, dass sie mit leerem Bauch wieder zurückkam.“

„Das wird nicht passieren, dafür habe ich gesorgt.“

Mehr Details hatte Giles nie über die mysteriösen Umstände seiner Geburt aus dem Duke herausbekommen. Jede Erwähnung seiner tatsächlichen Mutter führte zu Zorn und unnachgiebigem Schweigen. Und Hass. Zu brodelndem, glühendem Hass, so als gäbe der Duke Giles die Schuld dafür, geboren worden zu sein.

„Und warum zum Teufel müssen Sie dann heiraten? Geht es um die Mitgift?“

Was seltsam wäre, wo der Duke doch immer so sorgfältig mit Geld umgegangen war. Bis die Realität seines heruntergekommenen Anwesens ihn schließlich eingeholt hatte und das Einkommen ihm unter den Händen schmolz. „Brauchen Sie Geld?“

Denn wenn dem so war beziehungsweise wenn das Anwesen und die Menschen, die von seiner Erhaltung abhingen, Geld brauchten, dann würde Giles gerne aushelfen. „Ungeachtet unserer zahlreichen Differenzen werde ich Ihnen helfen, wenn ich kann, falls Sie in Schwierigkeiten stecken. In dieser Hinsicht können Sie mir vertrauen.“

„Ich vertraue dir so wenig wie den Ratten im Keller. Du zeigst keinen Respekt, weder für Pflicht noch für Tradition oder Geschichte noch unsere Ahnenlinie, geschweige denn für die schrecklichen Opfer, die ich für unser Vermächtnis bringen musste!“

„Welche Opfer haben Sie denn je für mich gebracht?“ Die Anmerkung war einfach nur lächerlich angesichts der Tatsache, dass er seine Eltern kaum gesehen hatte, als er aufwuchs. „Sie haben Shropshire zweimal im Jahr aufgesucht, um Ihre Konten zu prüfen, und dann immer höchstens fünf Minuten für mich abgezwackt!“

Der Duke tat auch diese empörende Wahrheit mit einem angewiderten Knurren ab. „Du bist furchtbar respektlos. Für dich ist alles, was mit dem noblen Hause Harpenden zu tun hat, ein einziger Witz. Du scherst dich nur um die Albernheiten des Lebens, aber nicht um die Pflichterfüllung, die notwendig ist, um dieses Leben angemessen zu leben. Du bist genau wie deine M…“

„Mutter?“

In den Augen des Duke blitzte kurz etwas auf, das Giles, hätte er es nicht besser gewusst, fast wie ein großer Schmerz vorgekommen wäre.

Aber dann ließ er den Deckel seiner Taschenuhr aufspringen, um ihn sofort wieder zu schließen. Das war immer das Zeichen, dass ihr Treffen beendet war.

„Die Hochzeit findet nächsten Samstag statt.“ Der Gesichtsausdruck des Duke verwandelte sich wieder in den üblichen angewiderten Groll, so als könne er Giles kaum ansehen, ohne wütend zu werden. „Ich brauche ja wohl nicht zu erwähnen, dass du nicht eingeladen bist, Kümmerling.“

3. KAPITEL

Dianas Glas stoppte auf halbem Weg zu ihren Lippen, während ihr Schwager an dem Hocker unter den Füßen ihrer Schwester herumnestelte. „Dir ist schon klar, Hugh, dass Frauen seit Anbeginn der Zeit erfolgreich Babys zur Welt gebracht haben? Dafür braucht es keine übereifrigen Väter.“ Er machte einfach weiter, als sei Minerva aus Glas.

„Nicht so bei meiner Frau und meinem Baby.“ Er griff nach einem weiteren Kissen, um sicherzustellen, dass ihre Knöchel erhöht lagen, obwohl sie gar nicht geschwollen waren. Die älteste der Merriwell-Schwestern schenkte ihm ein rührseliges Lächeln. „Alle beide verdienen meine unerschütterliche Fürsorge.“ Damit Minerva sich nicht so anstrengen musste, um nach der Tasse zu greifen, die direkt neben ihr stand, reichte er ihr ihren Tee. „Brauchst du sonst noch etwas, mein Schatz?“

Diana stöhnte auf. „Sie will, dass du weniger Aufhebens machst. Und falls sie das nicht will, sollte sie schleunigst damit anfangen, und sei es nur uns anderen zuliebe. Es macht einen ja ganz krank, euch zuzusehen.“

„Dann verbinde dir doch die Augen“, sagte Hugh und küsste die Hand seiner Frau. „Oder besser noch, zieh dir einen Sack über den Kopf. Dann müssten zwei hoffnungslos Verliebte nicht ständig in diese zynischen, verbitterten Augen schauen und diesen verächtlichen Blick ertragen.“ Er ging zur Anrichte und goss sich einen Brandy ein. „All diese Grimassen machen dir Falten. Ich könnte schwören, noch nie eine junge Frau von dreiundzwanzig Jahren gesehen zu haben, die so … alt aussieht.“

„Alt auszusehen ist meine geringste Sorge. Wenn ich das hier noch vier weitere Monate ertragen muss, werde ich wahnsinnig.“

„Dann mach doch deine Drohung wahr und miete das kleine Apartment in Cheapside.“ Hughs scherzhafte Stichelei wurde mit einem warnenden Blick ihrer Schwester quittiert.

„Würdest du bitte aufhören, sie auch noch zu ermutigen, Hugh? Sie sucht doch nur nach einer Ausrede, von hier zu verschwinden, und ich brauche sie hier bei mir!“ Minerva strahlte sie an. „So lange ich sie bei mir halten kann!“

Diana lächelte zurück, obwohl sie sich unwohl fühlte. Das lag weniger an Hughs Sticheleien als an ihrer Situation.

Sie war wegen Minerva hier. Die hatte sie gebeten, wenigstens so lange bei ihr zu bleiben, bis sie sich in diesem seltsam anderen Dunstkreis zurechtfand, in dem sie nun als Gräfin lebte. Sie war auch wegen Vee hier, die sich gerne mit Vertrautem umgab, was auch ihr den Schritt in ein neues Leben erleichterte. Ihre beiden Schwestern liebten es, diese fremden Welten, in die das Schicksal sie geworfen hatte, zu erkunden und ein Teil davon zu werden. Diana war da ganz anders. So sehr sie sich auch anzupassen suchte, sie wollte einfach nicht warm werden mit dem ganzen Luxus. Tief im Inneren würde sie immer die Tochter des rauflustigen Schmieds aus Clerkenwell bleiben. Sie fühlte sich wohler mit dem Bodensatz der Gesellschaft als mit den Menschen in Mayfair.

„Ich finde seine Fürsorge romantisch.“ Die jüngste der Merriwell-Schwestern, Vee – oder Venus, wie sie sich nicht einmal unter Androhung von Folter öffentlich nennen würde – seufzte so tief, dass Diana die Augen verdrehte. „Aber es ist doch romantisch! Wir hätten so ein Glück, wenn wir eines Tages auch so einen fürsorglichen Ehemann wie Hugh finden würden!“ Für Vee bedeutete ein glückliches Leben, einen Ehemann zu haben, der sie umsorgte. Diana wollte das Gegenteil. Sie sorgte lieber für sich selbst. Sobald man sein Leben jemand anderem anvertraute, war es nicht mehr das eigene Leben, und man gab die Kontrolle ab.

„Das dürfte kein Problem sein, meine Liebe.“ Hugh prostete der jüngsten Schwester zu, und seine Mutter Olivia, die sich nun auch selbst zur Mutter der drei jungen Frauen ernannt hatte, tätschelte Vees Hand. Die Würgegeräusche, die Diana von sich gab, ignorierte sie. „Bei deinem hübschen Gesicht und deiner liebenswerten Art werden die Gentlemen bei dir Schlange stehen, sobald wir dich in die Gesellschaft einführen.“ Olivia hatte ein wichtiges Fest für die nächste Saison geplant, das kurz vor Vees achtzehntem Geburtstag stattfinden würde. Die naive und leicht zu beeindruckende Vee freute sich natürlich schon sehr darauf. Sie hatte schon immer ein unerschütterliches Vertrauen in die Magie der Ereignisse gehabt, obwohl es in ihrem Leben keinerlei Anzeichen dafür gegeben hatte, die den Glauben daran hätten rechtfertigen können.

Die ältere Diana hatte, wie Minerva auch, diese Leichtigkeit nicht genießen dürfen. Sie mussten sich den Härten des Lebens stellen und gaben ihr Bestes, ihre kleine Schwester davor zu beschützen. Während der ersten siebzehn Jahre ihres Lebens bedeutete das für Diana, für ihren untauglichen Vater endlose Arbeiten zu erledigen und gegen die Armut zu kämpfen. Darauf folgten nach seinem Verschwinden fünf unendlich scheinende hoffnungslose Jahre, in denen Hungerlöhne, Existenzsorgen und Ängste auf der Tagesordnung standen. In dieser dunklen Zeit gab es in der Tat vieles, das ihr Angst machte. Wenn eine junge, mittellose Frau sich allein auf die Straße wagte, lockte das unweigerlich die Raubtiere aus dem Gebüsch, und so versuchten alle möglichen Schurken, sie zu kontrollieren wie eine Marionette: Geldeintreiber, Wucherer, skrupellose Arbeitgeber, glattzüngige Verführer, Glücksritter, Perverse, Lügner und Gauner.

Insofern als diese schrecklichen Begegnungen sie abgebrühter und härter machten, war Diana sogar dankbar dafür. Die Welt verschlang naive junge Fräuleins zum Frühstück und spuckte ihre Knochen aus, aber die schlauen mit den Klauen ließen sie links liegen.

Olivia warf Diana über ihren Sherry hinweg einen Blick zu, und Diana wappnete sich innerlich gegen die Predigt, die täglich dräute und sicher wohl gemeint war, aber ihr dennoch auf die Nerven ging. „Es ist noch nicht zu spät, dich wenigstens dieses Jahr in die Gesellschaft einzuführen, Diana, Liebes. Du kannst dich immer noch besinnen.“ Es verwirrte sie maßlos, dass Diana diese Gelegenheit ausschlug, sobald sie ihr auf dem Tablett serviert wurde. „Die Saison hat gerade erst angefangen, und es gibt viele Mütter mit schönen Söhnen. Die halten alle nach einer hübschen Braut Ausschau, was ja auch kein Wunder ist, wo doch die Auswahl an Debütantinnen dieses Jahr so furchtbar abgeschmackt ist. Ich kann da kein einziges Juwel ausmachen, aber du wärst eines, wenn du teilnehmen würdest.“

„Abgesehen von der unausweichlichen Tatsache, dass ich mir nichts Schrecklicheres vorstellen kann“ – denn offen gesagt kam ihr das ganze unsolide Konzept der Debütantinnenbälle lächerlich vor, und sie würde sich lieber mit Brombeerzweigen züchtigen, als sich wie Vieh auf einer Auktion zur Schau zu stellen –, „verstehe ich auch nicht, wie du glauben kannst, dass es sinnvoll ist, eine Person in dieser Saison in die Gesellschaft einzuführen, wenn sie sich seit Beginn der letzten schon komplett darin aufgelöst hat. Ich habe dich doch zu jedem Ball begleitet, Olivia. Ich habe an jeder ermüdenden Soiree teilgenommen, zu der du mich genötigt hast.“

Hughs Mutter zeigte sich von dieser unbestreitbaren Tatsache unbeeindruckt. „Aber Teil einer Gesellschaft zu sein und in sie eingeführt zu werden, sind doch zwei völlig verschiedene Dinge, Liebes. Bei Ersterem ist man einfach nur anwesend, aber Letzteres ist eine Kundgebung.“

„Kundgebung von was?“ Zu spät merkte Diana, dass sie in die Falle getappt war.

„Kundgebung der Heiratsfähigkeit, Liebes. Und lass mich dies sagen: So sehr ich meinem dummen Sohn widersprechen würde, was deine nicht existenten Falten angeht – wenn du nicht bald etwas tust, läufst du Gefahr, als alte Jungfer zu enden. Dann wird kein anständiger Gentleman dich mehr wollen.“

„Und das wäre schlecht, weil …?“ Das alles klang recht wunderbar in Dianas Ohren. Dank der unerwarteten, aber vorteilhaften Heirat ihrer Schwester mit dem Earl of Fareham waren die Merriwell-Schwestern aus ihrer bedrückenden Zweizimmerwohnung in Clerkenwell in dieses palastartige Haus gezogen, und Diana hatte mehr Freiheiten und war unabhängiger als je zuvor. Und auf die Anhebung ihres gesellschaftlichen Status folgte auf dem Fuße ihre Beförderung von einer einfachen, schlecht bezahlten Auftragskorrektorin bei der London Tribune zur voll qualifizierten, festangestellten Reporterin. Das war die Erfüllung eines Lebenstraums, für den sie auch selbst hart gearbeitet hatte und der all den Wohlstandsplunder, der sie nun umgab, in den Schatten stellte. Mit ihrem Einkommen und einer blühenden Karriere war sie endlich die Herrin ihres eigenen Schicksals und konnte Dinge tun, die ihr wirklich etwas bedeuteten. Für diese kostbare, hart erkämpfte Freiheit dankte sie täglich ihrem Glücksstern. Und um nichts in der Welt würde sie diese wieder aufgeben, höchstens über ihre Leiche. Ihre kalte, tote, durch und durch unabhängige Altjungfernleiche.

Olivia grinste, den Schalk im Nacken. „Weil dann der unanständige Kerl, auf den du schon so lange ein Auge geworfen hast, sich endlich entscheiden müsste, wenn all die anständigen Gentlemen dich umschwärmen würden.“

Ihre Schwestern, Hugh und sogar Olivias zweiter Ehemann aus Amerika, der vernünftige Jeremiah, der sich bisher hinter seiner Zeitung versteckt hatte, lachten alle wie die Verräter. Sie glaubten genau wie diese kleine, verbissene Kupplerin, dass sie Gefühle für Lord Bellingham hegte. Und was noch schlimmer war: Sie nutzten jede Gelegenheit, ihr unter die Nase zu reiben, dass der charmante Gauner diese erwiderte.

Diana kochte innerlich vor Wut und weigerte sich, diesen empörenden Unsinn mit einer Antwort zu würdigen. Olivia jedoch zwinkerte ihr zu und hob ihr Glas. „Ausufernde Eifersucht ist ein großartiges Aphrodisiakum … Wobei ich nicht davon ausgehe, dass ihr beiden das brauchen werdet, wenn ihr erst einmal eingesehen habt, dass ihr zueinander gehört.“

Das Allerletzte, was sie brauchte, war ein Aphrodisiakum.

Wenn ihre begrenzte Erfahrung in diesen Dingen sie etwas gelehrt hatte, dann dass sie eine dieser Frauen war, die den Reizen von Männern zwiespältig gegenüberstand. „Da würde ich mir doch lieber den Kopf mit einer Käsereibe rasieren.“ Es war Lord Bellinghams unerhörte Attraktivität, die ihn so wahnsinnig unattraktiv machte. Er war gutaussehend und charmant, und er wusste das. Also nutzte er beides, um immer seinen boshaften Willen zu bekommen. Die Liste seiner Eroberungen war so lang wie ihr Arm, und eher würde die Hölle zufrieren, als dass sie ihren Namen dazuschriebe. Selbst der größte Dummkopf wusste, dass angehende Dukes aus den höchsten gesellschaftlichen Kreisen nicht dieselbe Luft atmeten und schon gar nicht dieselbe Sprache sprachen wie die Töchter von Schmieden, die zum Pöbel gehörten.

„Mylord …“ Payne, der Butler, erschien plötzlich auf dem Perserteppich, als hätte man ihn herbeigezaubert. „Lord Bellingham ist angekommen und fragt, ob Sie zu Hause sind?“

„Wenn man vom Teufel spricht …“ Olivia hob die Augenbrauen, während Diana mit bösen Blicken um sich warf. „Natürlich sind wir zu Hause, Payne. Für Lord Bellingham sind wir immer zu Hause!“

Der Butler verschwand und kam mit dem Mann im Schlepptau zurück. Der trug noch seinen Paletot und hielt seinen Hut in der Hand, was Diana Anlass zu der Hoffnung gab, dass sein Besuch von erfreulich kurzer Dauer sein würde.

„Es tut mir leid, dass ich Ihren Abend unterbreche.“ In seiner üblichen lässigen Art strahlte er den ganzen Raum an. Diana fand, dass daran etwas faul war, fast so, als sei die Lässigkeit, die er wie sein dezentes Eau de Cologne trug, aufgesetzt. Auch sein Erscheinungsbild war seltsam. Der Giles, den sie kannte, war sonst der Inbegriff modischer Eleganz, der niemals um diese späte Stunde in der Öffentlichkeit ohne einen ordentlichen Frack, eine verwegene Weste und eine perfekt gebundene Krawatte auftauchen würde. So, wie er jetzt aussah, könnte man meinen, er hätte einen morgendlichen Spaziergang im Sinn, und außerdem war er völlig zerzaust. Auch wenn er vorgab, sich in seiner Haut wohlzufühlen, verrieten ihn seine nervösen Finger, die an seiner Hutkrempe herumkneteten. „Ob ich wohl Hugh für ein paar Minuten entführen könnte, um kurz mit ihm zu sprechen?“

„Aber natürlich.“ Sein Freund sprang auf, und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, dachte auch Hugh, dass etwas nicht stimmte. „Wir gehen in mein Herrenzimmer.“

„Handelt es sich denn um einen Notfall? Wird der Himmel über uns einstürzen, wenn ihr nicht sofort miteinander redet? Wir wollten nämlich gerade zu Abend essen“, sagte Olivia in einem Tonfall, als sei jegliches Abweichen von diesem Plan vollkommen inakzeptabel. „Warum leisten Sie uns nicht Gesellschaft, Giles? Es ist nämlich so, dass die Köchin als Vorspeise ein Käsesoufflé gemacht hat, und wie Sie als vornehmer Herr sicher wissen, können Käsesoufflés sehr kapriziös sein.“

„Es handelt sich nicht um einen Notfall. Es ist nicht einmal wichtig. Tatsächlich könnte es sein, dass es gar nichts bringt. Und dann wäre es sowieso irrelevant.“ Trotzdem nahm er die Einladung nicht an, sondern wandte sich zur Tür. Das war besonders seltsam, denn seit sie ihn vor einem Jahr kennengelernt hatte, hatte er niemals ein Essen ausgeschlagen. Eigentlich aß der Kerl die ganze Zeit. „Ich komme später wieder …“

„Warum denn, wenn Sie nun schon einmal da sind?“ Olivia war wie immer unnachgiebig. „Wenn das Gespräch doch unwichtig ist und vermutlich gar nichts bringt und wenn ihr es auf später verschieben könnt, dann sehe ich keinen Grund, warum Sie nicht zuerst essen können, wenn Sie sonst nichts vorhaben.“

„Da haben Sie natürlich recht.“ Er lächelte wieder, etwas irritiert und peinlich berührt. Dann warf er Diana einen kurzen Blick zu. Sie fragte sich, ob sein Unbehagen etwas mit ihrem Gespräch von letzter Nacht zu tun hatte. Sie hatte dieses Gespräch führen müssen; sonst wäre die Information direkt von ihrem Schreibtisch in die Zeitung gelangt. Aber so sehr Giles sie auch ärgerte, sie wollte nicht, dass er in einer lieblosen Ehefalle mit der tumben Tilda landete. Genauso wenig wollte sie, dass Tilda dafür benutzt wurde.

Sie war versucht, ihn direkt zu fragen, was bei der Sache herausgekommen war, aber angesichts so vieler Zuhörer schien ihr das unangemessen. Und klug wäre es auch nicht, weil sie ihren Einfluss bei der Tribune eigentlich geheim halten wollte.

„Ausgezeichnet! Dann wäre das abgemacht. Payne, holen Sie sofort ein weiteres Gedeck, am besten auf den Platz neben Miss Diana.“ Olivia strahlte triumphierend. „Und sagen Sie der Köchin, dass wir bereit sind für das Soufflé, sobald es fertig ist!“

Und da es genau das schon war, saßen sie zwei Minuten später alle am Tisch im Speisesaal. Giles saß tatsächlich neben Diana, aber in ziemlich steifer Haltung. Fast so, als sei er aufgewühlt. Besorgt wegen irgendetwas. Was lächerlich war, denn Giles war nie wegen irgendetwas besorgt. Niemals.

„Ich habe in der Zeitung alles über Ihren Ball gelesen, Giles.“ Vee war nicht dort gewesen, weil Olivia sie für solcherlei Ausschweifungen für zu jung befunden hatte. „Scheint ja ein großer Spaß gewesen zu sein.“

„Ja, ziemlich.“ Selbst die Art, wie er die jüngste Merriwell-Schwester anlächelte, schien falsch und spröde. Wenigstens kam es Diana so vor.

Vee bemerkte jedenfalls nichts, denn sie lehnte sich vor, um den Klatsch voranzutreiben. „War Lord T. wirklich so betrunken, dass man ihn hinaustragen musste?“

Giles grinste sie an und neigte sich verschwörerisch in ihre Richtung. Im Grunde war er nun wieder sein unverbesserliches Selbst. „Nicht nur Lord T., sondern auch Lady T.! Keiner von beiden konnte mehr aufrecht stehen, aber um den Ruf der Lady zu wahren, haben wir sie durch die Hintertür hinausbefördert!“

„Nein!“ Vee kicherte. Sie war noch so unschuldig und behütet, dass sie so etwas schockierend fand. Was ziemlich erstaunlich war, wenn man bedachte, wo sie herstammte. „Und in der Orangerie gab es tatsächlich ein verbotenes Stelldichein?“

„Die Informationen, die ich von der Orangerie habe, sind zu vage, als dass ich sie bestätigen könnte, Miss Vee, aber zum Glück gab es ja auch noch den Skandal um Lady Sewell im Musikzimmer.“ Giles zwinkerte ihr zu und entfaltete seine Serviette. „Und außerdem war da noch der dubiose russische Graf.“ Als sein Blick Diana streifte, bemerkte sie hinter dem üblichen schillernden Schalk in seinen Augen eine tiefe Unruhe. „So heißt es zumindest in der London Tribune, die aus irgendeinem Grund über den Abend ausgezeichnet informiert zu sein scheint.“

„Aber haben die Skandale ausgereicht, um Ihren Vater ausreichend zu reizen?“ Das war das erste Mal, dass Diana seit ihrer Ankunft sprach. „Kam ihm der Dampf heute Morgen zu den Ohren heraus?“ Sie beide wussten, dass sie auf Tilda und das Verlobungsgerücht anspielte. „Nein … jedenfalls nicht deswegen. Allerdings …“ Sein schönes Gesicht wirkte plötzlich ziemlich ratlos, als er sich vorbeugte. Diana und Vee imitierten unbewusst seine Körperhaltung.

„Warum flüstert ihr denn alle so heimlichtuerisch?“ Diana hätte fast laut aufgestöhnt, als Olivia dazwischenpolterte.

„Klatsch über die Skandale von gestern Abend“, sagte Vee, ohne die Spannung zwischen Giles und Diana zu bemerken. „Ich lasse mir alles aus erster Hand berichten, da ich ja schließlich nicht hingehen durfte.“

Olivia warf Vee einen Blick voll mütterlichen Mitgefühls zu. „Es wäre fahrlässig von mir, meine Pflicht als Anstandsdame zu vernachlässigen und einer naiven jungen Dame in meiner Obhut zu erlauben, eine Veranstaltung zu besuchen, die man den jährlichen Schurkenball nennt.“

„Aber Diana ist auch in deiner Obhut, und sie durfte hingehen.“

„Deine Schwester ist ja auch schon lange volljährig. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie zwar ihr Bestes gibt, unsichtbar zu sein, aber naiv war sie nie.“

„Abgesehen davon“, fügte Jeremiah mit einem verschwörerischen Lächeln hinzu, „wissen wir ja alle, dass sie zum Arbeiten dort war.“

„Wie oft muss ich euch allen noch erzählen, dass ich bei der Zeitung nur die Zeichensetzung und Grammatik korrigiere?“

„So oft ich in der Klatschspalte deinen lieblichen, markigen Tonfall erkennen kann, Fräulein. Wir können immer sagen, wann du etwas geschrieben hast – weil sich nur bei dir dieses Klagelied auf die Gesellschaft interessant anhört.“ Als Amerikaner hielt Jeremiah prinzipiell nichts vom englischen Adel, auch wenn er hineingeheiratet hatte. „Der Artikel, den du über die lächerlichen Versuche dieses Idioten Lord R., sich an Liebesgedichten zu versuchen, geschrieben hast, war wahnsinnig lustig. Ich wüsste nur zu gerne, wo du dieses Sonett ausgegraben hast. Es muss ihm furchtbar peinlich gewesen sein, dass er es herumliegen ließ.“

Er hatte es nicht herumliegen lassen und sie hatte es nicht gefunden. Stattdessen hatte sie sich hinter einer Statue versteckt. Von dort hatte sie gehört, wie der liebestolle Depp es auf einer Terrasse vor einer jungen Debütantin rezitie...

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