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Südstaaten, 1863: Ein Feuer der Yankees verwüstet Shannas Baumwollplantage! Allein die zärtliche Liebe des Südstaaten-Offiziers Rafe Amberville vermag ihre bitteren Tränen jetzt zu trocknen. Doch dessen grausamer Stiefbruder schmiedet einen Plan. Er will Rafe nicht nur das Familienanwesen entreißen, sondern auch Shanna...


  • Erscheinungstag 01.08.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733764005
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

In weniger als einer Stunde wird es ein Gewitter geben, dachte Shanna, als sie aus dem Fenster blickte. In der Ferne zuckte bereits ein greller Blitz über den schwarzen Himmel. Sie hasste diese Gewitter im Frühsommer … wenn das Grollen des Donners durchs Haus hallte, die Kristallprismen der Lüster klirrten und die Fensterläden klapperten. Sie zuckte jedes Mal zusammen, wenn ein Blitzstrahl bis in den letzten Winkel der Zimmer vordrang, als wolle er nach ihr greifen.

Heute war es den ganzen Tag über schon schwül gewesen. Von den Reisfeldern und den dahinter liegenden Sümpfen, wohin sich Shanna noch nicht vorgewagt hatte, war die feuchtwarme Luft herübergezogen und hatte ihre ganze Energie aufgezehrt.

Allerdings besaß sie davon zurzeit sehr wenig. Kurz nachdem sie vom Tod des geliebten Vaters erfahren hatte, war sie völlig zusammengebrochen. Erschreckend langsam war sie wieder zu Kräften gekommen. Erst jetzt, nach mehreren Woche Ruhe, wich die Schwäche aus den Gliedmaßen. Sie hatte keine Ahnung, was aus ihr geworden wäre, wenn Alexander Amberville, ein enger Freund der Familie, sie nicht in die Ruhe seines friedlichen Heims gebracht hätte.

Shanna hatte erfahren, was es hieß, allein und schutzlos feindlichen Soldaten im Haus preisgegeben zu sein, als die Nordstaatler wie die Vandalen eingefallen waren und alles zerstörten und niedermachten. Keine Frau war vor ihnen sicher gewesen, die das Unglück gehabt hatte, in ihre Nähe zu geraten. Niemals wollte Shanna wieder einen derartigen Albtraum erleben.

Hier in South Carolina schienen die Schrecken des Krieges so unwirklich zu sein. Das Land war friedlich, da die Truppen der Konföderierten alles unter Kontrolle hatten. Ja, hier würde sie im Lauf der Zeit gesunden und wieder zu Kräften kommen. Da war sie ganz sicher. Aber was würde sein, wenn der Krieg vorüber war? Shanna wollte darüber nicht nachdenken. Sie hatte kein Heim mehr, in welches sie zurückkehren konnte, keine Familie. Außer Tante Lea, der treu ergebenen Mulattin, welche seit ihrer Kindheit zu ihrem Leben gehörte, hatte sie niemanden mehr … und besaß nichts mehr außer einem tiefen, brennenden Hass auf die Soldaten in den blauen Uniformen, welche ihr alles und alle, die sie je geliebt hatte, genommen hatten.

Shanna zog die Vorhänge vor die Fenster, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass diese fest geschlossen waren. Dann drehte sie sich um und betrachtete sich in dem hohen Pilasterspiegel neben der Frisierkommode. Bei dem Anblick verzog sie schmerzlich das Gesicht. Mit fast durchsichtiger Hand strich sie sich prüfend durch das lange Haar, welches über das Morgenkleid bis zur Taille herabfiel. Früher war ihr die schwarze Haarpracht, glänzend wie Rabenschwingen, wie eine seidige Kaskade über den Rücken gefallen, doch jetzt war alles glanzlos und strähnig. Auch die Haut war während der langen Krankheit matt und bleich geworden. Sie sah schrecklich aus! Wie ein Gespenst!

Die großen grauen Augen, welche Shanna von ihrer Mutter geerbt hatte, verdunkelten sich vor Verzweiflung, als sie ihr Spiegelbild betrachtete. Wie sehr hatte sie sich verändert!

Shanna verließ selten ihr Zimmer. Doch als es wärmer geworden war, hatte sie öfters auf dem Balkon gesessen. Dann brachte ihr Tante Lea auf einem Tablett etwas zu essen. Allerdings ließ sie meist alles fast unberührt stehen. Es gab jedoch auch Tage, an denen die Sonnenwärme ihr Gesicht aufleben ließ. Dann versprach sie sich, am nächsten Tag einen Ausritt zu wagen. Shanna war eine hervorragende Reiterin, und Alexander Amberville hatte ihr angeboten, sich von seinen prächtigen Pferden, meist Arabern, ein Tier auszuwählen.

Doch es gab auch immer wieder Tage, an denen sie die Augen geschlossen hielt und das Buch auf ihrem Schoß ungeöffnet blieb. Dann wanderten ihre Gedanken zurück zum Herrenhaus der Plantage in Baton Rouge. Der Ansturm der Erinnerung brachte eine Tränenflut und Wut auf diesen sinnlosen, blutigen Krieg, welcher Familien zerriss und Bruder gegen Bruder kämpfen ließ. Danach fühlte sie sich nur noch einsamer und verlassener.

Shanna war keineswegs arm. Tatsächlich hatte sie nach dem Tod ihres geliebten Vaters den gesamten Familienbesitz geerbt, welcher beträchtlich sein musste. Aber bis jetzt hatte sie es noch nicht über sich gebracht, nach Savannah zu fahren und herauszufinden, wie reich sie wirklich war. Spielte es denn noch eine Rolle? Was nützte ihr Geld? Sie konnte damit ihr Heim wieder aufbauen, falls die Yankees etwas stehen gelassen hatten, jedoch wozu? Um dort allein mit Tante Lea zu leben? Allein mit nichts als Erinnerungen? Nein, eine derartige Existenz fasste sie nicht ins Auge.

Shanna würde niemals heiraten; denn sie hatte keine Liebe mehr, welche sie hätte verschenken können. Der junge Mann, mit dem sie verlobt gewesen war, wurde in den Krieg geschickt. Er ging mit tapferem Lächeln und einer Umarmung. Er war ein Teil ihres bisherigen, unbeschwerten Lebens gewesen. Wie bei den guten Familien in New Orleans üblich, hatte man die Heirat arrangiert, als sie erst zwölf gewesen war. All die Jahre, in denen sie sich auf ein Leben als Ehefrau und Mutter vorbereitet hatte, waren binnen zweier Monate zunichte gemacht worden. Der erste Schmerz über diesen Verlust war kaum gelindert, als ihr Bruder im folgenden Jahr ebenfalls sein Leben für den Süden gab.

Der Tod hatte alle Mitglieder der Familie der de Lancel nacheinander ereilt! Diesen Furcht einflößenden Gedanken konnte Shanna nicht aus dem Kopf vertreiben. Er peinigte sie Tag für Tag, Nacht für Nacht. Jetzt hatte er auch ihren Vater geholt. Wann war sie an der Reihe?

„Es ist vorbei, Kind. Glaubst du etwa, Tante Lea lässt zu, dass dir irgendetwas Böses geschieht? Habe ich nicht für dich in Baton Rouge gesorgt? Und in New Orleans?“

Ein leises Lächeln huschte über Shannas blasse Wangen, als sie sich zu der Frau umdrehte, welche leise das Zimmer betreten hatte. Wie lange hatte Tante Lea schon da gestanden und sie beobachtet? Shanna wusste nur selten, was hinter diesen tiefschwarzen Augen vorging, welche ihr bis in die Seele schauen konnten.

„Ich bin nicht allein, nicht wahr, Lea? Nie werde ich allein sein, solange du bei mir bist“, sagte sie. Ihre Lippen bebten, wenn sie daran dachte, was sie seit ihrer Flucht aus New Orleans alles durchgemacht hatten. Tante Lea hatte sie dort vor den Yankee-Soldaten gerettet und später noch einmal auf der Plantage außerhalb von Baton Rouge, als der Trupp über den Rasen und durch die Gärten geritten war und sich Eingang ins Herrenhaus verschafft hatte. Wie hatten die Yankees gelacht, als sie feststellten, dass die Plantage nur von zwei Frauen und einer Handvoll Neger verteidigt wurde. Die Hälfte der Dienerschaft war beim Anblick der blauen Uniformen sofort weggelaufen. Tante Lea hatte für Shanna getötet. Wenn nicht, hätte sie diesen grauenvollen Tag wohl kaum überlebt.

Die Mulattin nahm Shanna liebevoll in die Arme. Man hatte sie ins Heim der de Lancels gebracht, als sie zwanzig war. Das zitternde Mädchen in ihren Armen war damals zehn Jahre alt gewesen. Zwei Jahre später war Shannas Mutter gestorben. Danach war Lea Shannas ständige Begleiterin, Ratgeberin und Vertraute geworden.

In den zehn Jahren ist Tante Lea überhaupt nicht gealtert, dachte Shanna, als sie jetzt ins Gesicht der Farbigen blickte. Keine Falte, kein Fleck verunstaltete die honigfarbene glatte Haut in dem lieben Gesicht. Lea trug eine leuchtend rote Bluse und einen ebensolchen eng anliegenden langen Rock, dazu Sandalen an den nackten Füßen. Das glänzende mahagonifarbene Haar steckte unter einem weißen Tuch, das vorn über der Stirn zu einem Knoten geschlungen war.

Vielleicht stimmte es sogar, obwohl die Diener darüber nur zu flüstern wagten: Lea sei die Tochter einer Voodoo-Priesterin und habe das Geheimnis ewiger Jugend von ihrer Mutter erlernt. Lea verstand so viel von Heilkunst und war so weise, dass Shanna dieses Gerücht immer für wahr gehalten hatte.

„Die Dunkelheit weicht dem hellen Tag.“ Lange, schlanke Finger strichen über Shannas Wange. Wie immer tröstete sie diese Berührung. „Es ist an der Zeit, dass du ein neues Leben beginnst. Du kannst die Vergangenheit nicht ungeschehen machen; aber jetzt musst du wieder anfangen zu leben – für dich!“

„Ja.“ Shanna akzeptierte die Weisheit dieser Worte, welche die Mulattin ihr während der vergangenen Woche jeden Tag gesagt hatte. „Ich war wirklich ein schlechter Gast. Was müssen die Ambervilles nur von mir denken?“

„Ab morgen wird alles anders, ma petite. Jetzt hole ich dir einen guten Kräutertrank, damit du schläfst. Morgen früh fangen wir ein neues Leben an, n’est-ce pas?“

„Ja, Tante Lea. Morgen“, versprach Shanna.

Shanna wurde von einem Donnerschlag aus tiefem Schlaf gerissen. Trotz der geschlossenen Vorhänge konnte sie den darauf folgenden grellen Blitz sehen, der den Raum sekundenlang in ein fahlgelbes Licht tauchte. Das Gewitter tobte mit voller Macht. Sie zitterte und setzte sich auf. Dann schlang sie die Arme um die Knie. Solange das Unwetter nicht vorbei war, würde sie nicht mehr einschlafen können. Sie versuchte sich zu entspannen; aber es war unmöglich. Irgendwo unten schlug ein Fensterladen gegen die Wand. Das alte Haus stöhnte und ächzte unter dem Ansturm des Windes.

Trotz des Unwetters draußen war es im Zimmer erstickend heiß. Shanna schlug die Decke zurück und überlegte, ob ein Glas warme Milch ihr wohl helfen würde. Vielleicht waren Hannah oder Abraham noch wach? Die beiden Schwarzen waren für den Haushalt zuständig. Aber als sie in die Pantöffelchen neben dem Bett schlüpfte, schüttelte sie den Kopf. Nein, wäre einer der beiden wach, hätte er längst den klappernden Fensterladen festgemacht.

Shanna griff nach dem Morgenmantel am Fußende des Betts. Da hörte sie noch ein Geräusch. Es war ganz in der Nähe und nicht durch das Gewitter verursacht. Jemand hatte etwas im Nebenzimmer umgestoßen. Tante Lea! Natürlich war die Gute in der Nähe geblieben, da sie Shannas Angst vor Gewittern kannte. Sie brauchte also nicht zur Küche hinunterzugehen. Wie gut!

Vorsichtig drehte Shanna die Lampe höher, die während der wenigen Stunden, in denen sie Schlaf fand, ständig brannte. Dann ging sie über den dicken Teppich und öffnete die Tür, welche in einen großen und gemütlich ausgestatteten Salon führte.

Als man ihr bei ihrem Eintreffen in Wildwood diese Zimmer gab, hatte in diesem Raum ein schwerer Schreibtisch aus Mahagoni gestanden, dessen Platte mit rotem Leder bezogen war, außerdem standen damals noch zwei Ledersessel und reich geschnitzte Bücherschränke an zwei Wänden. Alles war durchaus geschmackvoll, aber nicht für den Komfort eingerichtet, den eine Frau nun einmal brauchte. Keine hübschen Vorhänge an den Fenstern, keine Sessel mit bunten, hellen Bezügen, kein Teppich auf dem Parkettboden. Shannas Gedanke beim ersten Blick war: Dies ist ein typisch männlicher Raum!

Alexander Amberville hatte das Problem in einem einzigen Tag gelöst, indem er eine mit burgunderfarbenem Brokat bezogene Chaiselongue und zwei dazu passende Fauteuils hineinstellen ließ. Die ursprünglichen Möbel wurden auf den Speicher verbannt. Neue Vorhänge wurden an den Fenstern aufgehängt, und auf dem Boden lag nun ein dicker rosa-beiger Teppich.

Shanna hatte eigentlich erst heute – nachdem der Schmerz über die Verluste etwas abebbte und sie akzeptiert hatte, dass sie weiterleben musste – bemerkt, wie viel Entgegenkommen man ihr im Hause des Freundes ihres Vaters und dessen Sohn erwiesen hatte. Beide besuchten sie täglich und hatten unzählige Male versucht, sie zu überreden, doch nach unten zu kommen oder eine Kutschfahrt zu machen, damit die Sonne ein bisschen Farbe auf die blassen Wangen malen könne. Niemals hatten sie jedoch versucht, Shanna ihren Willen aufzuzwingen, wenn sie stur alles ablehnte.

Morgen wollte sie den beiden zeigen, wie dankbar sie ihnen war. Nicht nur, weil sie ihr ein Heim boten, sondern vor allem für die Fürsorge, welche sie ihr hatten angedeihen lassen. Sie hatte nicht nur sich selbst sträflich vernachlässigt, sondern auch die Menschen, die so freundlich zu ihr waren. Nein, das war wirklich ganz gegen die Erziehung, welche sie genossen hatte!

Die Lampe im Salon warf einen unheimlichen Schein über den Boden. Als Erstes sah Shanna den kleinen Tisch, wo die unfertige Stickerei ordentlich zusammengefaltet in einem Körbchen lag, welche sie vor einer Woche angefangen hatte. Sie ging vorsichtig weiter und suchte nach dem Gegenstand, der umgefallen war.

„Tante Lea? Bist du da? Ich habe ein Geräusch gehört und …“

Ihr stockte die Stimme. Von hinten links, wo die Chaiselongue stand, hörte sie das unmissverständliche, grässliche Knacken, das entstand, wenn der Hahn einer Pistole gespannt wurde. Panik erfasste sie. Yankees! Nein, das war unmöglich. Sie waren Hunderte von Meilen entfernt. Ein Deserteur …

„Umdrehen und die Lampe hochhalten, damit ich Ihr Gesicht sehen kann!“, befahl eine Stimme. Shanna schlug das Herz in der Kehle, als sie gehorchte und sich langsam umdrehte. Der schwache Lichtschein fiel auf ihr blasses Gesicht. Das schwarze offene Haar glich den Schwingen eines Raben. Ihre Lippen zitterten, die Augen waren vor Angst geweitet.

Der Mann, der sich vom Sofa erhob, war groß, mehr als einen Meter achtzig, und kraftvoll gebaut. Trotzdem bewegte er sich mit der Geschmeidigkeit einer Wildkatze. Blitzschnell stand er vor ihr. Die Augen waren verengt, sodass sie die Farbe zuerst nicht erkennen konnte. Er musterte sie von Kopf bis Fuß. Shanna spürte, wie ihre Wangen zu brennen begannen. Kein Mann hatte sie je so unverschämt angestarrt! Das hätte sie nie gestattet!

Er trug die Uniform eines Offiziers der konföderierten Armee. Allerdings war die Uniform sehr schmutzig und stellenweise zerrissen. Die Jacke stand offen, und das halb geöffnete Hemd darunter ließ die Brust frei, auf der blondes Haar zu sehen war, welches die gleiche Farbe hatte wie das auf seinem Kopf. Das sonnengebräunte Gesicht wirkte abweisend durch den kalten Ausdruck der blauen Augen. Die staubigen Stiefel lagen auf dem Teppich vor dem Sofa, daneben war achtlos ein ebenso schmutziger Hut geworfen worden.

„Wer sind Sie?“ Shannas Stimme klang weniger fest, als es ihr lieb war.

„Wer zum Teufel sind Sie?“, stieß der Fremde hervor. Er starrte sie an, bis sie unter dem durchdringenden Blick die Augen niederschlug. Erst dann steckte er die Pistole zurück ins Holster. „Und was zum Teufel machen Sie in meinen Zimmern? Mit einem Willkommenskomitee hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.“

„Ich bin Shanna de Lancel, Mr. Ambervilles Gast.“

Shanna war erleichtert, dass er die Waffe weggesteckt hatte. Seit Baton Rouge hatte sie schreckliche Angst vor Fremden – vor jedem Schatten, vor jedem unbekannten Geräusch …

„Ich hatte keine Ahnung, dass er wieder auf Freiersfüßen wandelt. Ich gehe davon aus, dass Sie Alexander Amberville meinen und nicht Wayne … nein, mein Bruder versteckt seine Frauen lieber vor meinem Vater“, fuhr er bitter fort.

„Ihr Bruder … Vater …“, stammelte Shanna. Jemand hatte ihr erzählt, dass Alexander Amberville zwei Söhne habe; aber da sie den anderen Sohn nie gesehen hatte und die beiden Männer ihn niemals erwähnt hatten, wenn sie zu Besuch kamen, hatte sie ihn ganz vergessen.

Wäre Shanna vorher nicht so furchtbar erschrocken, hätte sie jetzt sicher gelacht, als der Mann einen Schritt zurücktrat und eine tiefe Verbeugung machte, wobei er in der einen Hand eine halb gegessene Hühnerkeule hielt. Dann schlug ihr der Whiskeygeruch ins Gesicht! Er hatte sich nicht nur über die Reste des Abendessens hergemacht, sondern auch noch über Alexanders Whiskey!

„Ja, der Krieg hat mich nicht meiner guten Manieren beraubt. Das kann ich Ihnen versichern; aber das gute Essen und eine halbe Flasche haben meine Sinne leicht getrübt. Gestatten Sie mir, dass ich mich Ihnen vorstelle: Ich bin Rafe Amberville. Mit Sicherheit haben Sie schon von mir gehört, oder?“

„Nein, Mr. Amberville, habe ich nicht.“ Shanna machte einen Schritt rückwärts.

Rafe Amberville ging zur Chaiselongue, ließ sich darauf fallen und legte die langen Beine über die Seitenlehne.

„Aus den Augen, aus dem Sinn! Mein lieber Vater und mein lieber Bruder haben mich offenbar sehr vermisst!“

Hörte sie eine Spur von Lachen in seiner Stimme? Aber kein Lächeln lag auf diesem Gesicht. War es Traurigkeit? Ja, es war eine Bitterkeit, welche ihr zuvor bereits aufgefallen war und die sie nicht verstehen konnte. Rafe Amberville war aus dem Krieg zurückgekehrt, und sie hatte seine Räume belegt! Wie konnte sein Vater so gedankenlos sein?

„Ich werde Hannah wecken und mir ein Bett in einem anderen Zimmer machen lassen. Morgen werden Sie Ihre Suite zurückhaben, das versichere ich Ihnen. Ich hatte ja keine Idee …“

Aus der Richtung des Sofas kam keine Antwort. Shanna blieb einen Augenblick stehen und überlegte, warum er plötzlich so still war. Dann ging sie zögernd ein paar Schritte näher. Er hatte die Augen geschlossen! Rafe Amberville schlief! Wie albern von ihr, dass sie nicht daran gedacht hatte, wie erschöpft er war!

Shanna ging zur Tür. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie noch nie unten gewesen war und nicht wusste, in welchem Raum Hannah schlief. Aber sie wusste, dass ein großer Wäscheschrank auf dem Korridor in der Nähe ihres Zimmers war. Tante Lea hatte ihn erst neulich inspiziert und ihr erzählt, wie viel Bettwäsche, Gardinen und andere Dinge darin ordentlich zusammengefaltet und aufgestapelt seien. Offenbar benutzte man ihn selten.

Dort fand sie bestimmt etwas Passendes. Aber sie konnte Rafe nicht umbetten! Er musste hierbleiben bis zum Morgen. Der Gedanke gefiel ihr gar nicht; aber was konnte sie tun? Vorsichtig schlich sie den dunklen Korridor hinunter. Drei Türen öffnete sie, bis sie fand, was sie suchte. Hinter jeder Tür war ein leerer unbenutzter Raum gewesen. Wildwood war viel größer, als sie gedacht hatte. Endlich fand sie eine dicke Steppdecke und ging zurück in den Salon.

Rafe Amberville lag in voller Länge sehr unbequem auf dem Sofa, wie sie feststellte, als sie versuchte, ihn in die Steppdecke zu wickeln. Doch schließlich hatte sie Erfolg. Voller Mitleid betrachtete sie das unrasierte Gesicht. Sie hatte einiges vom Krieg gesehen, und das hatte genügt, um ihr tiefes Grauen einzuflößen. Was für schreckliche Gedanken gingen wohl jetzt durch den Kopf dieses Mannes, der soeben aus blutigen Schlachten zurückgekehrt war, wo er täglich dem Tod hatte ins Auge sehen müssen? Er war offenbar einige Jahre älter als Wayne, allerdings nicht so alt, wie die Bartstoppeln ihn aussehen ließen. Rasiert sah er bestimmt sehr gut aus.

Rafe murmelte etwas im Schlaf. Dann stieß er mit geballten Fäusten die Steppdecke weg. Der Krieg hinterlässt bei allen seine Spur, dachte Shanna verbittert, als sie die Decke wieder hochzog. Auch ihre Träume waren nicht mehr friedlich. Anstatt ihrer Familie, ihres Verlobten, sah sie jetzt blaue Uniformen, hörte Gewehrfeuer und Kanonendonner. Wie viel schlimmer musste es ihm ergehen, der an Schlachten teilgenommen und die Schmerzensschreie der verwundeten Kameraden vernommen hatte.

Plötzlich schlossen sich seine schmalen gebräunten Finger wie Stahlfesseln um ihr Handgelenk und hielten es fest.

„Bleib!“ Nur dieses einzige Wort kam ihm über die Lippen.

„Bitte, lassen Sie mich los. Es ist unmöglich …“, sagte Shanna, ehe ihr klar wurde, dass er sie nicht hörte.

An wen klammerte er sich wie ein kleines Kind, das mitten in der Nacht aus einem Albtraum erwacht und nach etwas oder jemandem sucht, wo es Trost und einen ungestörten Schlaf findet? Behutsam wollte sie die Finger vom Handgelenk lösen. Doch im selben Augenblick, da sie sie berührte, verkrampften sie sich. Erst als sie locker ließ, entspannten sie sich wieder.

„Ich bleibe“, flüsterte sie und betrachtete das hagere unrasierte Gesicht. „Schlaf! Ich verspreche dir, dass dich nichts mehr stören wird.“

Shanna machte es sich auf der schmalen Chaiselongue neben Rafe so bequem wie möglich. Sie legte einen Arm auf die Sofalehne. Während der Wochen, in denen sie Verwundete in New Orleans gepflegt hatte, ehe die Stadt an die Yankees fiel, hatte sie oft die Nächte bei kritischen Fällen verbracht. Damals hatte der Tag nicht genug Stunden gehabt, um die vielen Soldaten zu pflegen. Sie hatte die Ohren verschlossen, um die grauenvollen Schreie und das Stöhnen der Verwundeten nicht mehr zu hören, wenn die Ärzte kein Morphium mehr hatten, selbst bei Amputationen.

Jedes Mal, wenn sie das überfüllte Krankenhaus verließ, kehrte sie in das bis auf Tante Lea und drei Sklaven leere Haus zurück. Sie hatte die gehen lassen, die es wollten, da sie sowieso weggelaufen wären, um die goldene Zukunft zu suchen, welche man ihnen versprochen hatte. Auch wenn sie traurig war, hatte Shanna es nicht übers Herz gebracht, diese Menschen zurückzuhalten, von denen die meisten ihr noch aus ihrer Kindheit vertraut waren.

Immer, wenn sie aus dem Hospital zurückkam, ließ ihr Tante Lea ein heißes Bad ein und nahm ihr sogleich die blutbefleckte Schürze oder das Kleid ab, um jede Spur des Grauens im Krankenhaus zu tilgen. Aber so leicht konnte Shanna nicht vergessen. Es war leicht, die Flecken aus der Kleidung zu waschen; jedoch so lange sie auch Hände und Arme schrubbte, immer glaubte sie, das klebrige Blut der armen Soldaten zu spüren. Dieses Gefühl verließ sie nie.

An einem dieser endlos langen Tage hatte Shanna die Nachricht über den Tod ihres Bruders zu Hause vorgefunden. Ein einfacher Umschlag, darin der unpersönliche, wenn auch höfliche Brief, in dem man ihr mitteilte, dass Captain James de Lancel auf dem Schlachtfeld gefallen war. Er hatte sich durch große Tapferkeit ausgezeichnet und war als aufrechter Soldat gestorben.

Tapfer – aber tot! Shanna wollte einen lebendigen Bruder, keinen toten Helden. Keine Erinnerungen! Zwei Männer waren in einem einzigen Jahr aus ihrem Leben geschieden.

Beide tapferen Helden waren an Orten mit fremd klingenden Namen beerdigt worden. In Bull Run lag der Mann, den sie hätte heiraten sollen. In Shiloh hatte ihr Bruder die letzte Ruhestätte gefunden. Und vor einem Monat war ihr Vater in Resaca beerdigt worden, wohin Joseph Johnston, der General der Konföderierten, mit seiner Armee zurückweichen musste, als die Blauen auf Atlanta marschierten.

Shanna hatte auch an jenem Tag Verwundete gepflegt, als man ihr die traurige Nachricht überbrachte. Doch konnte sie nicht mehr weinen. Als sie den Brief las, war sie wie erstarrt, ohne Gefühle. Niemals wieder würde sie jemanden lieben! Das hatte sie sich damals geschworen. Der Verlust eines geliebten Menschen tat zu weh! Nein, niemals, niemals wieder!

Shannas Lider wurden schwer. Sie döste ein, ohne es zu merken. Als sie aufwachte, war das Gewitter vorüber. Draußen wurde es bereits hell. Der Mann auf dem Sofa schlief immer noch fest. Im Schlaf hatte er ihr Handgelenk losgelassen. Vorsichtig stand sie auf und breitete wieder die Decke über ihn. Plötzlich umschlangen zwei starke Arme sie und zogen sie an die Brust. Ehe sie richtig verstand, was geschah, presste der Mann gierig seine Lippen auf ihren Mund. Dann erforschte er mit der Zunge mit viel Erfahrung ihren Mund. Shanna wehrte sich in Panik. Und dann stieß er sie abrupt von sich. War er aus einem Traum erwacht, in dem er sie für eine andere gehalten hatte, oder waren es noch immer die Folgen der halben Flasche Whiskey? Er betrachtete sie mit durchdringenden blauen Augen so merkwürdig, als könne er bis ins Innerste ihrer Seele schauen.

„Wie können Sie es wagen, Sir!“, sagte Shanna leise. Sie wünschte, ihre Stimme zitterte weniger stark. Angst beherrschte sie mehr als Empörung. Ohne es zu wissen, hatte Rafe die Erinnerung an das letzte Mal wachgerufen, bei dem Shanna ein derartig brutales Benehmen hatte erleiden mussen. Dafür hasste sie ihn. „Mir scheint, der Krieg hat Sie tatsächlich dazu gebracht, Ihre guten Manieren zu vergessen.“

Dann wurde sie sich bewusst, dass ihr dünnes Nachtgewand keinen Schutz vor seinen bohrenden Blicken bot. Erschreckt wandte sie sich ab und floh in ihr Zimmer und drehte nicht nur den Schlüssel um, sondern stellte noch einen Stuhl unter den gläsernen Türknopf. Rafe Amberville war überhaupt nicht wie sein stiller, freundlicher Bruder. Vielleicht gab es einen guten Grund, warum niemand im Haus seinen Namen erwähnte.

2. KAPITEL

Shanna drehte sich vom Fenster weg, als jemand an der Tür rüttelte. Mehrere Stunden waren vergangen, seit sie sich eingeschlossen hatte. Sie hatte sich angekleidet und auf die Chaiselongue am Fenster gelegt. Von dort aus hatte sie durchs offene Fenster den Sonnenaufgang betrachtet. Als sich im Zimmer nebenan vor Kurzem etwas gerührt hatte, war sie zusammengezuckt; aber niemand hatte den Türknopf bewegt. Sie hoffte, dass Rafe sich seines empörenden Benehmens wegen schämte. Jetzt hörte sie Tante Leas Stimme durch die Tür. Erleichtert stellte sie schnell den Stuhl weg und schloss auf.

Über Tante Leas Schulter hinweg sah Shanna, dass das Nebenzimmer leer war. Die Vorhänge waren zurückgezogen. Die Morgensonne flutete herein. Weder Stiefel noch Hut lagen auf dem Teppich. Von dem Mann, der mitten in einer stürmischen Nacht in ihr Leben getreten war, war keine Spur mehr zu sehen. Hätte nicht die Steppdecke zusammengefaltet über der Sofalehne gelegen, hätte sie glauben können, alles nur geträumt zu haben. Aber da waren auch noch ihre wunden Lippen. Nein, es war kein behutsamer, scheuer Kuss gewesen.

Tante Lea sagte nichts, sondern blickte nur mit schief gelegtem Kopf auf das Sofa. Dann holte sie eine halb abgenagte Hühnerkeule hinter dem Rücken vor.

„Seit wann plünderst du Hannahs Vorratskammer, Kind? Vor zehn Minuten hat sie den armen Benjamin furchtbar beschimpft und ihm vorgeworfen, er habe die Reste vom Abendessen gestohlen. Und Abraham musste feststellen, dass eine Flasche Whiskey fehlte. Ich wusste nicht, dass du jetzt eine Vorliebe für starke Getränke entwickelt hast.“

„Sei nicht albern, Lea.“ Shanna nahm sie am Arm und zog sie zurück ins Schlafzimmer. „Hast du ihn denn nicht gesehen? Habe ich ihn etwa als Einzige gesehen? Rafe, Mr. Ambervilles zweiter Sohn, war gestern Nacht hier. Dies waren seine Zimmer, und er hatte wirklich nicht erwartet, mich darin vorzufinden.“

„Rafe Amberville ist zurück?“ Überrascht hob die Mulattin die Brauen. „Na, das wird einen Riesenwirbel geben, wenn es stimmt, was ich gehört habe. Sein Vater und er schaffen es nicht mehr, zivilisiert miteinander umzugehen, und für seinen Bruder hat er auch nichts übrig.“

„Das erklärt, warum keiner der beiden ihn je erwähnt hat“, meinte Shanna und runzelte die Stirn. „Doch ich verstehe es nicht. Sie tun so, als hätten sie ihn im selben Augenblick vergessen, als er in den Krieg zog.“

„Aus den Augen, aus dem Sinn“, hatte der bittere Kommentar gelautet. Aber warum? Was um alles auf der Welt hatte Rafe getan, um derartig behandelt zu werden?

„Was hast du über ihn gehört, Lea?“, fragte Shanna.

„Nichts, was dich interessieren könnte, Kind. Darf ich jetzt dein Haar frisieren? Du hast es versprochen.“

„Nur, wenn du mir etwas über Rafe Amberville erzählst.“

„Na schön.“ Tante Lea nahm mit einem tiefen Seufzer die silberne Bürste von der Frisierkommode und strich damit durch Shannas langes Haar.

„Es gibt nicht viel zu erzählen. Ich weiß nur, dass Rafe Amberville den Teufel im Leib hat. Er geht seinen eigenen Weg und ist sein eigener Herr. Niemand wird den je bändigen oder sein Herz stehlen. Es gehört dieser Plantage: Wildwood.“

„Das finde ich gar nicht so schlecht. Wildwood ist wirklich wunderschön.“

„Und vernachlässigt, seit er in den Krieg gezogen ist. Als er hier alles beaufsichtigte, war das anders. Jetzt haben sie diesen Jack Hanson als Aufseher, weil der jüngere Sohn andere Dinge im Kopf hat und sich nicht ums Geschäft kümmert. Dieser Hanson ist ein schlechter Mensch – und grausam. Viel zu schnell peitscht er die aus, die sich nicht verteidigen können.“

Tante Lea stammte aus der Verbindung zwischen einer Farbigen und dem Sohn eines reichen Plantagenbesitzers in New Orleans. Der junge Gentleman hatte trotz des Widerstands seiner Familie die Frau, die er liebte, in einem hübschen kleinen Haus untergebracht und für ausreichend Geld und Personal gesorgt, sodass sie keine Not leiden musste. Lea hatte als Kind nichts entbehren müssen. Doch nach dem Tod des Vaters hatte es kein Geld mehr gegeben. Sie mussten das Haus und die gesamte Einrichtung verkaufen. Trotzdem war es Lea und ihrer Mutter immer schlechter ergangen. Hätte nicht Therese de Lancel sie zu sich genommen, hätte ihre Zukunft trostlos ausgesehen. Doch so hatte sie es gut getroffen. Ihre neue Herrin nahm auch die Mutter in ihre Dienste, sodass diese bis zum Tod ein relativ sorgenfreies Leben führen konnte.

Lea hatte nie erfahren, wie es ist, geschlagen zu werden, dass die Haut in Fetzen vom Rücken hing, wie es einigen armen Teufeln auf Wildwood erging. Hier mussten die Sklaven arbeiten, bis sie zusammenbrachen, und dann wurden sie ausgepeitscht, weil sie nicht schnell genug wieder aufstanden.

„Lea, träumst du?“ Shanna versuchte schon seit einer Minute ihre Aufmerksamkeit zu erregen. „Mr. Amberville muss aber doch wissen, was vor sich geht. Warum tut er nichts, wenn alles so schlimm ist, wie du sagst? Er ist doch ein so freundlicher, hilfsbereiter Mann.“

„Er ist blind, wenn du mich fragst. Den einen Sohn schickt er in den Krieg, weil er seinen Anblick nicht ertragen kann, und beim anderen sieht er keine Fehler, weil er diesen vom Tag der Geburt an hoffnungslos verwöhnt hat. Wayne Amberville kann nichts falsch machen. Er trinkt zu viel; aber das wird seinem Temperament zugute gehalten. Er spielt mit dem Geld seines Vaters – wie er daran kommt, weiß niemand. Und die Plantage ist ihm vollkommen gleichgültig. Wenn sein Bruder sieht, wie alles während seiner Abwesenheit heruntergewirtschaftet wurde, gibt es Ärger.“

„Der Arme! Niemand hat ihn im eigenen Heim willkommen geheißen“, sagte Shanna. Dann merkte sie, dass Tante Lea sie scharf musterte.

„Und wieso bist gerade du ihm begegnet?“, fragte die Mulattin.

„Ich dachte, dass du dich im Salon aufhältst. Ich hörte ein Geräusch und wollte dich bitten, mir ein Glas warme Milch heraufzuholen. Stattdessen …“ Shanna lief es kalt über den Rücken, als sie daran dachte, wie hinter ihrem Rücken der Hahn der Pistole gespannt wurde.

„Stattdessen war er da … furchtbar müde und ziemlich betrunken. Er hat mich nicht angerührt“, fügte sie schnell hinzu, als sie sah, wie sich Tante Leas Augen verengten. Was die Mulattin tun würde, wenn sie herausfand, dass Rafe Amberville gewagt hatte, ihren Schützling durchaus anzufassen, wollte Shanna sich lieber nicht ausmalen. Niemals wieder wollte sie diese Frau wütend sehen! „Er schlief auf dem Sofa ein, und ich habe ihm eine Steppdecke geholt. Ich wusste nicht, was ich sonst tun könnte. Offenbar ist er sehr früh aufgewacht.“

Und muss nach den Mengen Whiskey einen grauenvollen Kater haben, fügte sie in Gedanken hinzu.

„Es sieht nach einem schönen Tag aus, Lea. Ich werde heute unten frühstücken. Gibt es einen Platz, wo ich im Freien sitzen kann?“

„Auf der Veranda kannst du die Morgensonne genießen. Ich bringe dich hin, und dann lasse ich dir von Hannah etwas besonders Leckeres zubereiten. Es wird Zeit, dass wir etwas Fleisch auf deine Rippen bekommen und du wieder wie eine Frau und nicht wie ein mageres Mädchen von siebzehn aussiehst.“

„Ich werde nächste Woche einundzwanzig!“, protestierte Shanna. Tante Lea war der einzige Mensch, dem sie gestattete, so mit ihr zu sprechen; aber die Gute hatte recht. Obwohl ihr Haar jetzt einigermaßen ordentlich aussah und das hellblaue Kleid ihre zarten Rundungen betonte, war sie zu dünn und sah in der Tat viel jünger aus, als sie war.

Einundzwanzig. Eine erwachsene Frau – und doch keine Frau. Niemand füllte die Leere in ihr aus, nichts ließ die grauen Augen strahlen oder brachte einen Hauch Rot auf die blassen Wangen.

Shanna war von der langen Reise aus Atlanta zu müde und zu gramgebeugt gewesen, um das Haus der Ambervilles bei ihrer Ankunft genau zu betrachten. Sie erinnerte sich vage an eine lange, von Bäumen gesäumte Auffahrt, von denen Flechten herabhingen, an weiße Säulen, die im grellen Sonnenlicht leuchteten, großzügig breite Veranden und schmiedeeiserne Balkone an den oberen Stockwerken, zu denen sich ein dichtes Gewirr von Geißblatt und purpurroten Bougainvilleen emporrankte.

Vom Innern des Hauses wusste sie nur noch, dass sie über eine breite Treppe nach oben in ihre Zimmer gegangen war, sonst nichts. Am meisten beeindruckt hatte sie der Friede, welcher hier herrschte. Nach dem Lärm in den Zügen war die Stille wohltuend gewesen. Im Abteil hatte sie während der Reise zwischen Alexander Amberville und einer schrecklich dicken Frau eingezwängt gesessen, die unentwegt über den Krieg und ihr persönliches schweres Schicksal sprach, als hätten nicht alle anderen ebenfalls Leid zu ertragen. Beinahe hätte Shanna die Nerven verloren. Alle sprachen immer nur über den Krieg!

Als General Sherman die Konföderierte Armee zurück nach Atlanta trieb, waren alle Abteile überfüllt mit Flüchtlingen, welche woanders Sicherheit suchten. Einige waren in Macon ausgestiegen; doch sogleich hatten andere deren Plätze eingenommen, weil sie hofften, dass Savannah, Charleston oder Augusta weit genug vom Kriegsschauplatz und den feindlichen Soldaten entfernt seien, um Zuflucht zu bieten.

Wenn Alexander Amberville Shanna nicht den letzten Brief ihres Vaters gezeigt hätte, in welchem er den Freund bat, sie in sein Heim aufzunehmen, hätte sie nie Atlanta verlassen. Es war ihr gleichgültig, was mit ihr geschehen würde. Doch der Anblick der letzten Zeilen des geliebten Vaters hatte ihr den letzten Rest an Mut geraubt. Sie war in Tränen ausgebrochen und willenlos mitgegangen. Jetzt war sie froh, dass sie es getan hatte.

Sie hatte auf der Veranda Platz genommen. Tante Lea war zurück ins Haus gegangen. Die Sonne streichelte Shanna das Gesicht, von den Dächern gurrten Tauben, der Duft frisch gemähten Grases vermischte sich mit dem der Magnolien, welche dicht neben ihr blühten. Ja, es war ein gutes Gefühl zu leben! Shanna genoss den Augenblick, denn er erinnerte sie an ihr Zuhause. Zum ersten Mal konnte sie ohne tiefen Schmerz wieder an das zerstörte Herrenhaus der Plantage denken, in welchem sie geboren worden war.

„Guten Morgen, Miss Shanna! Welch schöner Anblick für diese alten Augen!“ Abraham tauchte mit einem Tablett neben ihr auf und stellte dieses auf den langen Tisch aus Pinienholz. Dann reichte er ihr ein Glas frisch gepressten Orangensaft und einen Teller mit gebratenem Schinken und Eiern. „Hannah hat mir gesagt, dass sie keinen Krümel davon wiedersehen will und dass sie jederzeit noch mehr machen kann. Frisch gebackenes Brot und Kaffee bringe ich auch gleich.“

Shanna wusste aus Erfahrung, dass sie bei ihrem geringen Appetit niemals alles aufessen konnte; aber sie wollte die Gefühle des alten Dieners nicht verletzen. Tante Lea hatte ihn und seine Frau Hannah, beide Ende fünfzig, auf Anhieb in ihr Herz geschlossen, und das reichte ihr. Sie sah ihm lächelnd in das faltige Gesicht und fragte sich, ob Abraham wohl Tante Lea von Rafe Ambervilles Verhältnis zu seiner Familie erzählt hatte.

„Ich werde mein Bestes tun. Es duftet köstlich. Danke, Abraham.“

Der alte Mann schien überrascht zu sein, als sei er nicht an eine derartige Höflichkeit gewöhnt. Shanna war in einem Haus groß geworden, wo die farbige Dienerschaft eher wie Familienmitglieder als wie Sklaven behandelt wurde. Darauf hatte ihre Mutter bestanden. Ihr Vater war zwar mit dieser Behandlung nicht ganz einverstanden gewesen, hatte sich aber den Wünschen seiner Frau gebeugt, die den Haushalt fest, indes ohne Peitsche oder harte Worte, gelenkt hatte.

Shanna dachte zurück, wie ihre Mutter trotz ihrer stillen Art über eine Stärke verfügt hatte, welche sie alle Situationen hatte ertragen lassen, selbst, als sie das letzte Lebensjahr krank im Bett verbringen musste. Niemals hatte sie geklagt. Niemals hatten die Diener ihre Schwäche ausgenützt. Als Shanna später die Pflichten der Hausfrau übernommen hatte, erwiesen ihr alle ebenso großen Respekt und die gleiche Rücksicht wie der alten Herrin.

Plötzlich donnerten Hufe auf der Koppel rechts von ihr. Sie sah gerade noch einen prächtigen schwarzen Hengst über den Zaun setzen und am Haus vorbeipreschen. Ein Mann mit einem harten gebräunten Gesicht hatte kurz zu ihr herübergeschaut. Dann waren Ross und Reiter unter den Bäumen verschwunden.

Erst nach mehreren Minuten wurde ihr klar, dass sie dieses Gesicht kannte. Allerdings waren Kinn und Wangen bei ihrer letzten Begegnung von Bartstoppeln bedeckt gewesen.

Das Frühstück erwies sich als zu reichlich, wie sie gleich gewusst hatte. Mit Bedauern betrachtete sie die beiden Scheiben Schinken und das frische Butterhörnchen, die sie nicht angerührt hatte. Dann schob sie die Teller beiseite. Vielleicht würde sie nachher zu den Stallungen hinübergehen und die Pferde inspizieren. Wenn Rafe Ambervilles Pferd ein gutes Beispiel war, gab es herrliche Tiere.

Morgen werde ich ausreiten, dachte sie. Schritt für Schritt würde sie wieder zu Kräften kommen und dann mit Tante Lea nach Savannah fahren, um den Rechtsanwalt aufzusuchen, den Alexander Amberville damit betraut hatte, sich um alle bürokratischen Angelegenheiten nach dem Tod ihres Vaters zu kümmern. Nach dem Tod der Mutter hatte sie eine stolze Summe Geld und kostbaren Schmuck geerbt. Jetzt war ihr Erbe noch gewachsen – da war das Haus in New Orleans, welches im Augenblick die Yankees besetzt hatten, und die Plantage in Baton Rouge, welche verlassen den Unbillen der Witterung ausgesetzt war.

„Wenn Sie den Teller so in die Küche zurückschicken, wird Hannah tödlich beleidigt sein“, sagte eine Stimme so nah, dass sie zusammenzuckte. Dann ließ sich der Hüne mit den durchdringenden blauen Augen ihr gegenüber in einen Sessel fallen. „Ich wollte Sie nicht in Panik versetzen. Wenn Sie keinen Hunger haben, helfe ich Ihnen.“

Dann legte Rafe Amberville den Schinken auf zwei Scheiben Weißbrot und biss herzhaft hinein. Shanna erkannte in ihm den ungepflegten Soldaten kaum wieder, dem sie vor wenigen Stunden begegnet war. Obwohl er jetzt glatt rasiert war, konnte sie sein Alter schlecht schätzen. Er mochte achtundzwanzig oder dreißig sein. Das blonde Haar war von der Sonne ausgebleicht. Es war dicht und kräuselte sich leicht im Nacken. Rafe trug ein frisches weißes Hemd, das am Hals offen stand. Die Ärmel waren über die dunkelbraunen Arme hochgerollt. Die Hosenbeine steckten in offenbar neuen, glänzend polierten Stiefeln. Er sah jeder Zoll wie ein Gentleman aus. Trotzdem spürte Shanna bei seinem Anblick eine Unruhe, die sie sich nicht erklären konnte.

Sie wünschte sich sehnlichst, seine Fähigkeit zu haben, so schnell wieder zu Kräften zu kommen. Jetzt sah er so gesund aus, nicht wie in der Nacht …

„Ich hoffe, Sie haben mir vergeben, dass ich vorige Nacht bei Ihnen eingedrungen bin.“ Er nahm sich noch eine Scheibe Brot und streckte die langen Beine aus.

„Sie konnten ja nicht wissen, dass man mir Ihre Suite gegeben hatte. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen“, erwiderte Shanna höflich. „Ich lasse meine Sachen von Hannah in einer Stunde wegbringen.“

„Das werden Sie auf keinen Fall tun! Wir haben so viele Zimmer. Da kann ich mir ein anderes aussuchen. Außerdem bleibe ich nicht lange, vielleicht ein paar Tage. Dann bekomme ich neue Befehle. Aber Sie bleiben doch viel länger hier, nicht wahr, Miss de Lancel?“

„Ich bin erstaunt, dass Sie sich an meinen Namen erinnern können.“ Die Worte waren ihr herausgeschlüpft.

Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Der Whiskey dämpft den Schmerz meiner Gedanken, nicht aber meinen Verstand. Es ist auch nicht das Einzige, woran ich mich erinnere …“, fügte er hinzu. Shannas Wangen färbten sich rot. „Es ist lange her, seit ich eine Frau so entzückend rot werden sah. Und noch viel länger, seit ich etwas – oder jemanden – in den Armen gehalten habe, der so reizend und weich war. Eine wunderschöne Erinnerung für einsame Nächte. Aber keine Angst“, sagte er schnell, als er die Furcht in Shannas Augen erkannte. „Es ist unser Geheimnis. Es wäre Ihrem guten Ruf nicht dienlich, wenn das Gerücht sich verbreitete, dass Sie die ganze Nacht über meine Hand gehalten hätten. Allerdings bezweifle ich, dass jemand glauben würde, dass alles so harmlos war, wenn ich daran beteiligt war.“

Abraham kam auf die Veranda und stellte einen Teller vor Rafe, auf dem alles in großen Portionen vorhanden war: Eier, Schinken, Tomaten und dicke Scheiben frisch gebackenes Brot.

„Hannah hat gesagt, dass Sie im Morgengrauen schon hinausgeritten sind, Master Rafe. Ich schätze, Sie wollten sich alles ansehen. So wie Sie auf Balthazar zurückgekommen sind, kann ich mir denken, wo Sie waren.“

„Zum Glück bin ich meinem Bruder nicht begegnet. Ich hätte ihm das Genick gebrochen“, erklärte Rafe grimmig und stach mit der Gabel wütend in den Schinken. „Was zum Teufel ist hier passiert, seit ich weg bin? Das Dach der Scheune für die Baumwolle bricht bald ein. Die Sklavenquartiere haben in zwei Jahren keine Spur Farbe bekommen, und irgendjemand hat den Menschen, die früher Wildwood als Heimat ansahen, entsetzliche Angst eingejagt. Und man hat die Peitsche benutzt, Abraham. Das werde ich nicht dulden. Früher hat man sie auch nie gebraucht.“

Die blauen Augen funkelten wütend. Wieder war Shanna sich bewusst, dass er Mühe hatte, einen Kampf im Innern niederzuringen.

„Aber Sie sind nicht da, Master Rafe, und Master Wayne hat einen Aufseher eingestellt, der Mann heißt Jack Hanson.“ Abraham sprach den Namen nur zögernd aus.

„Hanson! Diesen Abschaum! Ist mein Bruder nicht fähig, die Plantage mit meinem Vater allein zu leiten? Was ich bis jetzt gesehen habe, beweist mir, dass keiner der beiden einen Finger krumm gemacht hat, seit ich weg bin. Sie haben alles verlottern lassen.“

„Es ist der Krieg. So ein Elend. Kaum Geld für Reparaturen. Unsere Baumwolle lagert noch in Savannah. Wegen der Blockade kann sie nicht verschifft werden.“

„Zwei erwachsene Männer sind unfähig zu arbeiten. Nicht der Krieg zerstört die Plantage, sondern meine Familie. Aber nur über meine Leiche, Abraham. Wenn ich weiß, wo ich stationiert bin, schreibe ich dir. Ich will wissen, was hier vor sich geht, hast du verstanden?“

„Ja, Sie werden wissen, wenn auch nur ein Blatt vom Baum fällt“, versprach der alte Mann feierlich. „Ich bringe Ihnen jetzt Kaffee. Ganz so, wie Sie ihn mögen: heiß, schwarz und so stark, dass der Löffel stehen bleibt.“

Shanna hatte das Gespräch stumm mitangehört, da sie wusste, dass es für sie nicht angebracht war, sich einzumischen. Sie war ein Gast, kein Familienmitglied. Offenbar hatte Tante Lea ihr die Wahrheit erzählt: Rafe Amberville ging seinen eigenen Weg, und sein Herz gehörte Wildwood. Diese innere Unruhe, die sie bei ihm spürte, war Jähzorn, welchen er wohl nicht immer kontrollieren konnte. Wenn er seinen Bruder nach dem Inspektionsritt getroffen hätte, wäre er mit Fäusten oder Worten oder beidem über den Jüngeren hergefallen.

Rafe Amberville aß das letzte Brot auf, lehnte sich dann im Sessel zurück und genoss den starken Kaffee, den Abraham ihm gebracht hatte. Shanna hatte gesehen, wie der alte Mann lächelte, als er die leeren Teller abräumte.

Autor

Valentina Luellen
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