Romana Exklusiv Band 271

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VERFÜHR MICH - IMMER WIEDER von KENDRICK, SHARON
Verträumt blickt Shelley aufs Meer - an diesem Strand hat Drew sie das erste Mal in die Arme genommen. Ob er ihr je verzeihen wird, dass sie ihn damals verlassen hat? Sie versucht, in seinen tiefblauen Augen zu lesen, doch alles, was sie sieht, ist brennende Begierde …

DU GEHÖRST NUR MIR ALLEIN von MILES, LINDA
Eine Hochzeit ohne Bräutigam? Das geht nicht. Zum Glück läuft der verzweifelten Natascha der attraktive Chase über den Weg und springt ein. Die Flitterwochen in Paris sind so romantisch, dass aus ihnen ein Liebespaar wird. Doch es gibt jemanden, dem das gar nicht gefällt …

GELIEBTE PRINZESSIN von OAKLEY, NATASHA
Kaum hat Sebastian erfahren, wie leicht und leidenschaftlich das Leben sein kann, ruft die Pflicht. Um das Thronerbe von Andovaria anzutreten, muss er sein Kostbarstes zurücklassen: die Liebe einer Frau. Denn eine Bürgerliche kann niemals seine Prinzessin werden …


  • Erscheinungstag 03.06.2016
  • Bandnummer 0271
  • ISBN / Artikelnummer 9783733743512
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sharon Kendrick, Linda Miles, Natasha Oakley

ROMANA EXKLUSIV BAND 271

1. KAPITEL

Er hatte sie wie immer beim Vornamen genannt. Dennoch spürte sie sofort, dass etwas geschehen sein musste.

Etwas sehr Schwerwiegendes.

„Shelley?“

Sie blickte stirnrunzelnd auf die Sprechanlage. „Marco, was ist los?“

„Bist du gerade sehr beschäftigt?“ Dieser banale Satz klang aus seinem Munde wie die Zeile eines Gedichts: sexy, gefühlvoll und poetisch. Marco hatte genau die Stimme, die Frauen schwach werden ließ. Shelley hatte es oft genug erlebt.

Serviererinnen vergaßen darüber, dass sie auch noch andere Gäste hatten, und Lehrmädchen am Bankschalter bekamen verträumte Augen. Selbst Frauen, die alt genug waren, um es besser zu wissen, fühlten sich von Marco unwiderstehlich angezogen. Sie waren sogar die hartnäckigsten. Frauen im besten Alter, reich, selbstbewusst und gelangweilt, die von dem Wunsch besessen waren, sich einen feurigen Italiener als Geliebten zu leisten – auch zum Vorzeigen.

Shelley fragte sich, ob Marco wieder einmal Probleme mit einer dieser Frauen hatte, die vor nichts zurückschreckten. Vielleicht wollte er sie deshalb sprechen, und sie sollte seiner Verfolgerin auf möglichst nette und charmante Art beibringen, dass er nicht zu haben sei.

„Nein, ich habe im Moment nichts Dringendes zu tun.“ Shelley betrachtete flüchtig den aufwendig gestalteten Katalog, den sie gerade durchgelesen hatte. Marco war einer der gefragtesten Kunsthändler Italiens, und Shelley kümmerte sich darum, dass dies auch so blieb, indem sie für einen reibungslosen Ablauf seiner Geschäfte sorgte. „Was ist passiert, Marco?“

„Ich muss mit dir reden.“

„Dann also bis gleich.“ Shelley klappte den Katalog zu und schob ihn an den äußersten Rand des Schreibtischs.

Kaum hatte sie das getan, stand Marco auch schon in ihrem Büro. Shelley sah ihn erstaunt an. Er wirkte anders als sonst. „Ist was nicht in Ordnung?“, wollte sie wissen.

Marco zögerte. Er senkte die Lider mit den dichten schwarzen Wimpern. „Diese Frage ist einfacher gestellt als beantwortet.“

Shelley ließ ihn nicht aus den Augen, als er den elegant eingerichteten, lichtdurchfluteten Raum durchschritt und zum Fenster ging. Gedankenverloren blickte er auf den See, der im Sonnenschein des herrlichen Sommermorgens glitzerte. Dann drehte Marco sich um und sah sie an.

Wie immer erfreute sie sich an seinem Anblick. Es war, als betrachtete man ein herrliches Gemälde oder eine perfekte Statue. Shelley wusste, wie glücklich und beneidenswert sie war, denn seit drei Jahren schon hatte sie beides: einen idealen Job und einen idealen Boss.

„Soll ich uns einen Kaffee machen?“, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, danke.“

Erst jetzt fielen Shelley die dunklen Ringe unter Marcos Augen auf. Das beunruhigte sie, denn normalerweise war er immer frisch und ausgeschlafen. „Was ist los, Marco?“, fragte sie. „Wo liegt das Problem?“

Er setzte sich ihr gegenüber und machte eine weitausholende, sehr italienische Geste. „Es gibt kein Problem. Es hat sich nur etwas verändert.“

„Marco, bitte sprich nicht in Rätseln. Du weißt, ich mag keine Überraschungen. Ich gehöre zu den Leuten, die erst die Kritik lesen und dann in den Film gehen, nur um schon vorher das Ende zu wissen.“

„Es zu sagen fällt mir nicht leicht, Shelley.“

Plötzlich verstand sie. „Du hast jemanden kennengelernt?“

„Ja.“

„Und dich verliebt?“

„Wiederum ja.“

„Es ist dir also ernst!“

„Ja“, gab er zu. „Es ist mir ernst. Sehr ernst sogar.“

„So ernst, dass es schon ein gemeinsames Frühstück im Bett gegeben hat?“

„Shelley!“, empörte sich Marco, musste dann jedoch lächeln. „Wie kannst du nur solch eine Frage stellen?“

„Weil ich eine Frau bin und weil ich neugierig bin! Oder hast du etwa geglaubt, ich würde schockiert reagieren?“

„So ähnlich. Ich hatte jedenfalls angenommen, du hättest deine Schwierigkeiten mit dieser Situation.“

„Warum? Weil mir sämtliche Frauen Italiens am liebsten vor Eifersucht die Augen auskratzen würden?“

Er zögerte. „Shelley, du musst wissen, dass ich es ungeschehen machen würde, wenn ich es nur könnte.“

„Was? Dich verliebt zu haben?“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Das, was in der Vergangenheit vorgefallen ist.“

„Das kannst du nicht. Niemand kann das.“

„Aber ich habe dich jemandem weggenommen“, sagte er langsam und schmerzlich. „Ich habe dich Drew weggenommen.“

Drew!

Dieser Name rief so viele Erinnerungen wach. Shelley hatte so oft von ihm geträumt – besonders in der ersten Zeit, als alles noch so neu und schmerzlich gewesen war. Aber es war lange her, dass Marco oder sie Drews Namen erwähnt hatten. Seltsamerweise schmerzte das mehr, als sie vermutet hätte. Selbst nach all den Jahren.

Shelley schüttelte den Kopf. Sie wollte die Bilder verdrängen, die vor ihrem geistigen Auge entstanden waren. Blaue Augen und von der Sonne gebleichtes Haar. Ein durch harte Arbeit gestählter Körper und das Gesicht eines Engels.

„Sag bitte nicht, du hättest mich ‚weggenommen‘, Marco“, widersprach sie leise. „Das klingt so, als hättest du mich im Supermarkt mitgehen lassen wie eine Dose Bohnen.“

„Aber genau das habe ich getan“, sagte er düster. „Das weißt du ebenso gut wie ich.“

„Nein.“ Shelley blieb fest. „Man kann nur wegnehmen, was einem anderen gehört. Und ich habe Drew nicht gehört, selbst wenn er sich das eingebildet hat. Niemand kann einen anderen Menschen besitzen, sosehr er es vielleicht auch möchte.“

„Aber du warst doch verlobt mit ihm“, wandte er vorsichtig ein.

„Ich trug einen billigen Ring am Finger, das ist alles“, sagte sie. „Ein dünnes Band aus Metall, das andere abschrecken soll. ‚Lass die Finger von dem Mädchen – es gehört mir! Ich dagegen kann tun mit ihr, was ich will, denn sie trägt meinen Ring!‘“

Erstaunt stellte Shelley fest, dass sie mit den Tränen kämpfte. Sie hatte schon lange nicht mehr an den Ring gedacht, und auch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dazu, denn sie hatte Wichtigeres zu tun. Zum Beispiel sich jetzt dezent zurückzuziehen, wie Marco und sie es damals verabredet hatten. „Kannst du deine Beziehungen spielen lassen und dafür sorgen, dass ich für den nächsten Flug ein Ticket bekomme, Marco?“

„Natürlich. Aber wo willst du hin?“, fragte er.

„Nach Milmouth natürlich!“ Sie lächelte. „Wo sollte ich sonst hinwollen?“

„Wird dir das nicht schwerfallen?“

„Wahrscheinlich. Aber Milmouth ist nun einmal meine Heimat. Dort bin ich groß geworden, und – wichtiger noch – dort habe ich ein Haus, wo ich wohnen und in Ruhe überlegen kann, wie meine Zukunft aussehen soll.“

„Du willst dort bleiben?“ Marco war überrascht.

„Warum nicht? Weil man das winzige Haus nicht mit den palastähnlichen Villen vergleichen kann, in denen ich mit dir gelebt habe?“

„Ich glaube, deine Ansprüche sind gewachsen, Shelley. Mit dem, was du damals hattest, wirst du heute nicht mehr zufrieden sein. Aber davon abgesehen, hast du nicht daran gedacht, dass es ein viel schwerwiegenderes Problem gibt?“

Shelley wich Marcos Blick nicht aus. Sie wusste genau, worauf er anspielte, wollte es aber hören. „Welches Problem?“

„Drew, natürlich! Er lebt doch noch dort, oder?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nicht, was aus Drew geworden ist, schließlich bin ich schon lange aus Milmouth weg, und seit meine Mutter tot ist, schreibt mir auch niemand mehr. Ich gelte als Außenseiterin, als schwarzes Schaf, und keiner möchte etwas mit mir zu tun haben.“

Marco zögerte. „Ich lasse dir Zeit, damit du nichts überstürzen musst – sagen wir, einen Monat? Vorher werde ich mit niemandem darüber reden.“

Shelley stand auf, strich sich das Kleid glatt und blickte Marco erstaunt an. „Du willst es öffentlich machen?“

„Ja.“ Marco betrachtete sie ruhig und gefasst. Er sah glücklicher aus, als sie ihn in der vergangenen Zeit erlebt hatte. Aber er schien auch genau zu wissen, was auf ihn zukam. „Ich will nicht länger mit einer Lüge leben.“

„Schön.“ Sie nickte. „Ich auch nicht.“

„Shelley?“ Seine Stimme klang jetzt dunkler und weicher, aber dennoch kraftvoll und unnachgiebig. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie dieser Stimme nicht widerstehen können. Damals war sie jedoch naiv und verträumt gewesen, jetzt dagegen war sie eine erwachsene Frau, die ihre Erfahrungen gemacht hatte.

„Ja?“

„Ich werde dich vermissen.“

Shelley lächelte versonnen. „Und ich werde dich vermissen.“

Sie drehte sich um und verließ den Raum. Erst jetzt fiel ihr auf, dass dieser Satz der einzige der ganzen Unterhaltung gewesen war, den sie in ihrer Muttersprache gesprochen hatte.

2. KAPITEL

Vor der Kurve trat Shelley leicht auf die Bremse ihres schnittigen Autos.

Hier. Genau hier musste es sein. An dieser Stelle war das Meer zum ersten Mal zu sehen. Wenn man die Augen zusammenkniff, konnte man das intensive Blau des Wassers vom matteren des Himmels unterscheiden. Warum hatte das Meer aus der Ferne nur immer eine solch herrliche Farbe, wo es doch aus der Nähe immer so dunkel und trübe wirkte? Shelley gab Gas und fuhr weiter.

Das Auto, mit dem Marco sie anstelle eines Flugtickets überrascht hatte, war neu und ungewohnt. Auch erforderte es nach so langer Abwesenheit ihre ganze Konzentration, wieder auf der linken Seite zu fahren. Seit der Beerdigung ihrer Mutter vor fast zwei Jahren war sie nicht mehr zu Hause gewesen. Es würde sich bestimmt viel geändert haben.

Der Wegweiser nach Milmouth zeigte zwar nach rechts, doch Shelley wollte eigentlich geradeaus weiterfahren. Ihr Elternhaus lag nämlich außerhalb, in einer schmalen Straße mit einfachen Reihenhäusern, in denen keine wohlhabenden Bürger, sondern schlecht bezahlte Arbeiter wohnten.

Shelley hatte sich vorgenommen, als Erstes zum Haus zu fahren, denn sie wollte unbedingt duschen und die Räume, die so lange unbewohnt gewesen waren, gründlich lüften. In letzter Sekunde bog sie dann doch noch rechts ab. Die Neugier auf Milmouth war zu groß. Das Haus konnte warten. Shelley hatte das Meer lange nicht mehr gesehen und verspürte den unwiderstehlichen Wunsch, endlich wieder die salzige, nach Tang riechende Luft einzuatmen und das herrliche Gefühl zu haben, wach und lebendig zu sein.

Drei Jahre war sie in Italien gewesen und hatte sich sehr verändert. War es Milmouth auch so ergangen? Waren alte Gebäude abgerissen und durch moderne ersetzt worden? Wohnten unbekannte Menschen dort, wo früher ihre Freunde gelebt hatten?

Sie hatte keine Schwierigkeiten, im Ortskern einen Parkplatz zu finden, denn es herrschte kaum Betrieb. An einem Sonntagnachmittag war in keiner Stadt viel los und in Milmouth schon gar nicht.

Shelley stieg aus und schloss das Auto ab. Es schien schon so lange her, dass Marco mit seiner Neuigkeit ihre wohlgeordnete Welt auf den Kopf gestellt hatte, und doch war es erst vor zwei Tagen gewesen.

Es war ein klarer, frischer Herbsttag, und der Wind blies ihr die Haare aus dem Gesicht, als sie durch die Straßen mit den gepflegten Häusern und den untadeligen Vorgärten ging. Dann frischte der Wind noch mehr auf, und das Licht wurde intensiver. Shelley atmete tief durch, als sie den Kiesstrand erreicht hatte und das Meer direkt vor sich sah.

Als Kind hatte sie dort gespielt, später dann Mondscheinpartys gefeiert, und hier war es gewesen, wo Drew sie das erste Mal in die Arme genommen und geküsst hatte. Versonnen blickte sie aufs Wasser. Nur das Plätschern der Wellen und das heisere Geschrei der Möwen waren zu hören. Sie wusste nicht, wie lange sie so dagestanden hatte, als ihre Ruhe gestört wurde.

Sie hob den Kopf und sah einen Mann mit Hund auf sich zukommen. Der Hund sprang in die Brandung, lief dann zu seinem Herrchen zurück und bellte, als wollte er ihn zum Spiel auffordern. Der Mann reagierte aber nicht. Er hielt den Kopf gesenkt und schien ganz in seine Gedanken vertieft.

Der Anblick von Herr und Hund rührte Shelley, und sie lächelte. Doch als die beiden näher kamen, hielt sie erschrocken den Atem an. Ihr Herz schlug wie wild, als sich ihre Ahnung bestätigte. Es war Drew!

Er hatte sie noch nicht bemerkt, der Hund dagegen blickte sie an und spitzte die Ohren. Erkannte er sie etwa wieder? Shelley konnte es kaum glauben. „Fletcher!“, rief sie unwillkürlich und pfiff nach ihm. Ohne zu zögern, kam er im vollen Galopp auf sie zugerannt und sprang freudig an ihr hoch. Er legte ihr so ungestüm die Pfoten auf die Schulter, dass sie das Gleichgewicht verlor und recht unsanft auf dem Boden landete. „Fletcher!“, protestierte sie, als er versuchte, ihr das Gesicht zu lecken.

„Duke! Platz!“ Auf Drews Kommando ließ der Hund von Shelley ab und legte sich gehorsam auf den Boden.

Shelley war wie benommen. Duke? Nach Atem ringend, die Beine lang ausgestreckt, saß sie da. Drew stand vor ihr und blickte ungläubig auf sie herab.

„Shelley Turner“, sagte er schließlich.

„Genau die“, antwortete sie und wartete auf seine Reaktion.

„Welch böse Fee hat dich denn zurückgebracht, Kätzchen?“

Mit diesem verletzenden Zynismus hatte sie nicht gerechnet. Sie „Kätzchen“ zu nennen war eine alte Gewohnheit von ihm. Als er es das erste Mal getan hatte, hatte sie sich wie im siebten Himmel gefühlt. Jetzt tat es nur noch weh. „Keine Fee, weder gut noch böse, nur ein Auto.“ Sie lächelte ihn an, obwohl ihr nicht danach zumute war. Drew wirkte wie ein dunkler Racheengel.

„Und was machst du hier?“

„Im Moment? Ich sitze auf dem nassen Boden und friere.“

Seine Miene blieb verschlossen, doch er streckte die Hand aus, die sie dankbar ergriff. Dann beugte er sich vor, umfasste mit der freien Hand ihren Ellenbogen und stützte sie, sodass sie bequem aufstehen konnte, hielt sie danach aber immer noch fest. Er schien zu wissen, dass ihre Beine sie noch nicht wieder trugen.

Shelley hatte Drew seit der Beerdigung ihrer Mutter nicht mehr gesehen. Damals hatte er in der Kirche ganz hinten gestanden. In einem neuen Anzug – niemand in Milmouth hatte sich erinnern können, Drew je im Anzug gesehen zu haben. Er musste ihn sich extra gekauft haben. Shelley war tief gerührt gewesen.

Sie hatten damals kaum miteinander geredet. Shelley hatte ihm für sein Kommen gedankt, und er hatte ihr versichert, wie sehr er ihre Mutter geschätzt habe – was auch stimmte. Er hatte auf der Beerdigung verkrampft gewirkt, so als hätte er ihr offen ins Gesicht sagen wollen, was er von ihr halte, es aber in Anbetracht der Umstände als unpassend empfunden.

Unkonventionell wie immer, hatte er zur Trauerfeier keinen Kranz, sondern einen Strauß der Lieblingsblumen ihrer Mutter geschickt: kleine Bergastern, die äußeren Blütenblätter blasslila und die inneren leuchtend gelb wie lauter kleine Sonnen. Beim Anblick dieser Blumen hatte Shelley so weinen müssen, dass sie kaum wieder zu beruhigen gewesen war.

Ihr Herz schlug wie wild vor Aufregung: Drew stand nach so langer Zeit leibhaftig vor ihr. Wie gebannt sah sie ihn an. Sein Gesicht hatte sich verändert, in den Augenwinkeln hatten sich kleine Lachfältchen gebildet. Sein Haar dagegen war immer noch so voll, so zerzaust und von der Sonne gebleicht, wie sie es in Erinnerung hatte.

Er war größer als Marco, er war ungewöhnlich groß und hatte extrem lange Beine. Seine Jeans waren verwaschen, und sein dunkelblauer Pullover hatte genau die Farbe seiner Augen.

Sie musste verrückt gewesen sein, ihn jemals verlassen zu haben. Aber die Vergangenheit ließ sich nicht ändern. Und sein abweisender Blick sagte ihr, dass Drew das auch gar nicht wollte.

„He, Drew“, brachte sie schließlich über die Lippen.

Daraufhin ließ er sie los. Beinahe hätte sie wieder das Gleichgewicht verloren, denn die Absätze ihrer eleganten Schuhe, die in die City von Mailand passten aber nicht an den Strand, waren extrem hoch. Shelley lächelte freundlich. „Vielen Dank für deine Hilfe.“

„Keine Ursache! Der Hund hätte dich nicht anspringen dürfen. Er weiß genau, dass er das nicht tun soll.“

„Ich hätte ihn nicht rufen dürfen.“ Sie blickte auf den Hund und sah, dass es nicht der war, den sie kannte. Er hatte ein viel helleres Fell und war schlanker. „Aber das ist ja gar nicht Fletcher!“, rief sie aus.

„Wie sollte das wohl zugehen? Fletcher war schon alt und steif, als du England verlassen hast. Wie sollte er jetzt herumtollen wie ein Welpe?“

„Er ist ein wunderschönes Tier, Drew. Wie lange hast du ihn schon?“

„Es ist nicht meiner.“ Drew blickte sie kühl an. „Ich führe ihn nur aus.“

„Wem gehört er denn?“, wollte sie spontan wissen, merkte aber sofort, dass es eine neugierige und ungehörige Frage war.

Drew schien das auch zu denken. „Was würdest du sagen, wenn ich dir erklärte, dass er einer netten alten Dame gehört?“

Merkwürdigerweise glaubte sie ihm aufs Wort. „Ich würde dir antworten, dass du ein hilfsbereiter und vorbildlicher Mensch bist und deine Mitbürger sich an dir ein Beispiel nehmen sollten.“

„Wirklich?“, fragte er leise und betrachtete sie eingehend von oben bis unten.

Shelley trat von einem Fuß auf den anderen. Aus Italien war sie es gewohnt, dass sich die Männer nach ihr umdrehten. Dort war es völlig normal, wenn ein Mann eine Frau mit der gleichen Eindringlichkeit betrachtete wie ein schönes Gemälde. Aber Drew sah sie anders an. Er tat, als wäre sie ein Stück Treibgut, das er zufällig am Strand gefunden hatte.

Er schüttelte den Kopf, als traute er seinen Augen nicht. „Was hast du nur mit dir angestellt?“, wollte er wissen.

„Mit mir angestellt?“ Shelleys Empörung war nicht gespielt.

„Du bist ja nur noch Haut und Knochen. Kein Wunder, dass der Hund dich umgeworfen hat.“

Drew schien sie mit voller Absicht beleidigen zu wollen. „Begreifst du denn nicht, dass eine Frau nie zu schlank sein kann …“

„Was für ein Unsinn! Auszusehen, als hätte man schon seit Monaten keine warme Mahlzeit mehr bekommen, ist schon längst nicht mehr angesagt!“

Sah er denn nicht, dass die Designermode, für die Mailand so berühmt war, nur an schmalen Frauen chic und elegant aussah? „Kleider wirken viel besser, wenn die Frau, die sie trägt, nicht allzu üppig gepolstert ist“, klärte sie ihn auf.

„Mag sein. Aber ich sehe eine Frau lieber ohne Kleider.“ Zufrieden stellte Drew fest, dass Shelley schlucken musste. „Und nackt ist eine Frau mit ein paar Kurven bei Weitem einer vorzuziehen, die nur aus Haut und Knochen besteht.“

Shelley wurde übel bei dem Gedanken an Drew in den Armen einer unbekleideten Frau. „Willst du damit sagen, dass ich wie Haut und Knochen aussehe?“, fragte sie aggressiv.

Er zuckte die Schultern. „Keinesfalls viel besser, dass können selbst deine teuren Klamotten nicht verbergen. Und was hast du nur mit deinem Haar angestellt?“

Shelley traute ihren Ohren nicht. Während der Zeit mit Marco hatte sie gelernt, etwas aus sich zu machen. Aus dem Wildfang mit dem natürlichen Teint eines Mädchens, das viel an der frischen Luft war, war eine perfekt gestylte und kultivierte junge Frau geworden. In Mailand hatte man ihre Figur und ihren Stil bewundert, denn Shelley hatte knabenhaft schlanke Hüften und trug stets Schwarz, Grau oder Weiß, nie bunte Farben. Drew dagegen schien das alles nicht zu gefallen. Kritisch betrachtete er ihr graues Leinenkostüm, das – zugegebenermaßen – mittlerweile stark zerknittert war.

„Ich weiß, ich bin nicht für einen Strandspaziergang angezogen, aber dies Kostüm ist von einem berühmten Mailänder Designer.“

Als Drew daraufhin nur das Gesicht verzog, war es plötzlich aus mit ihrer Beherrschung. Die Anstrengungen der letzten Tage forderten ihren Tribut, und Shelley rastete ganz einfach aus.

„Die meisten Frauen würden sonst etwas dafür geben, ein Stück wie dieses zu besitzen“, schrie sie ihn an. „Und zu meinem Haar kann ich dir nur sagen, dass es von einem Starfriseur alle sechs Wochen geschnitten und neu gesträhnt wird. Weißt du überhaupt“, fragte sie völlig unsinnigerweise, „was es kostet, so auszusehen?“

Kaum hatte sie das ausgesprochen, als sie es auch schon bereute, denn sein Blick sprach Bände.

„Ich hätte es mir denken können, dass Geld bei dir immer noch die größte Rolle spielt. Du hast dich nicht verändert.“ Er lachte verächtlich. „Du gehörst zu jenen Frauen, die viel über Preise, aber nichts über Werte wissen. Anscheinend bin ich gerade noch einmal so davongekommen.“

„Anscheinend gefalle ich dir nicht, weil jeder sehen kann, dass ich eine unabhängige Frau bin.“

„Unabhängig? Du, die Gespielin eines reichen Mannes?“

Warum hatte Shelley das Gefühl, sie müsse sich verteidigen? Sie wählte ihre nächsten Worte mit Bedacht. „Nur zu deiner Information, ich habe die Galerie in Mailand geführt!“

„Wie? Vom Bett aus?“

Shelley fehlten die Worte. So hatte sie sich das Wiedersehen mit Drew nicht vorgestellt. Sie hatte es sich so schön ausgemalt gehabt, schließlich hätte sie Drew damals beinahe geheiratet. Sie hatte davon geträumt, er würde sie bewundernd anblicken und anerkennend pfeifen, wobei ihm deutlich anzusehen wäre, wie sehr er ihr nachtrauerte. Shelley hatte noch von ganz anderen Dingen fantasiert, von einem langen Schleier, Reis und Konfetti, was sie jedoch schnell wieder aufgegeben hatte, da ihr Kissen hinterher stets von Tränen durchnässt gewesen war.

Sie sah den Spott in seinen Augen und fühlte sich in ihrem Stolz tief verletzt. Darauf war sie wirklich nicht vorbereitet gewesen.

„Während du Nägel ins Holz gehauen hast, habe ich fließend Italienisch gelernt“, hielt sie ihm mit erhobenem Kopf entgegen und musterte seine abgewetzten Jeans. „Und ich weiß, wie man sich kleidet.“

„Aber nicht, wie man sich attraktiv kleidet“, antwortete er. „Shelley, deine Arroganz ist einfach atemberaubend.“

„Dann stehe ich dir ja in nichts nach, Drew!“

„Also, wo ist er?“

„Wer?“ Shelley tat erstaunt.

„Dein Lover, natürlich.“ Drew blickte sich um. „Wahrscheinlich sitzt er irgendwo im Warmen und poliert seine handgenähten Schuhe.“

Shelley sah unwillkürlich auf seine Füße. Er trug alte Bootsschuhe aus Leinen, noch dazu ohne Socken!

„Du siehst aus wie ein Bahnhofspenner!“ Ihre Augen blitzten wütend.

Drew schien etwas erwidern zu wollen, schüttelte dann aber nur den Kopf. „Ich glaube, wir haben jetzt genug Komplimente ausgetauscht, Shelley. Sag mir lieber, für wie lange du hier bist. Bist du auf der Durchreise, oder willst du das Haus deiner Mutter verkaufen?“

Shelley antwortete, ohne zu zögern, mit einer Bestimmtheit, von der sie selbst überrascht war. „Wer nach Milmouth kommt, ist nie auf der Durchreise, denn es liegt am Ende der Welt. Nein, Drew, ich bin nach Hause gekommen. Ich werde hier bleiben.“ Es gab ihr einen Stich, als sie sah, wie sich seine Miene verfinsterte.

Eine Möwe schrie im Wind, und die Wellen brachen sich am Strand.

„Du bleibst? Wie lange?“ Er musterte sie aus halb geschlossenen Augen.

„Selbst wenn ich es wüsste, würde ich es dir nicht sagen. Ich habe noch keine konkreten Pläne.“

Drew dachte nach. „Und wo genau willst du wohnen, Shelley?“

„Im Haus meiner Mutter natürlich, wo denn sonst?“ Sie betrachtete ihn. „Habe ich etwas Komisches gesagt?“

Er lachte. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie dich dein reicher Lover für eine rauschende Liebesnacht in diesem schäbigen Haus besucht!“

„Diese Bemerkung ist nicht nur geschmacklos, sondern falsch obendrein. Marco ist kein Snob!“

„So? Dann musst du es sein, die Probleme mit ihrem Image hat. Warum bist du mit ihm nie wieder nach Milmouth gekommen, nicht einmal zum Begräbnis deiner Mutter?“

Sollte sie es Drew sagen? Sollte sie ihm gestehen, dass sie genau das ihrer Mutter nicht hatte antun wollen? Ihre Mutter hatte Marco genauso verabscheut, wie sie Drew vergöttert hatte. Bis zu ihrem letzten Atemzug hatte sie Marco für das Scheitern ihrer Träume verantwortlich gemacht.

Veronica Turner war fest davon überzeugt gewesen, dass aus Shelley und Drew ein Paar geworden wäre, wäre Marco nicht plötzlich aufgetaucht. Deshalb hatte sich Shelley damals entschlossen, allein zur Beerdigung zu kommen. Sie hatte Konfrontationen und peinliche Situationen vermeiden wollen …

„Es ist zwecklos, dir meine Gründe erklären zu wollen, Drew“, antwortete sie resigniert. „Du glaubst nur, was du glauben willst, und außerdem weiß ich genau, wie sehr du mich hasst.“

„Ich und dich hassen?“ Er sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. „Das würde bedeuten, dass du mir wichtig wärst, Shelley. Und das bist du nicht. Schon lange nicht mehr. Duke!“ Der Hund erhob sich. „Komm, es wird Zeit!“

Ohne ein weiteres Wort, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, drehte Drew sich um und ging.

Shelley, plötzlich tieftraurig, sah ihm hinterher. Sie hatte alles verloren, was es einst zwischen ihr und Drew gegeben hatte. Das war die brutale Wahrheit. Sie musste daran denken, wie einfach er sie früher zum Lachen hatte bringen können und wie er sie damals voller Liebe und Bewunderung angesehen hatte. Und wie hatte Drew sie heute betrachtet? Sie schluckte.

Sie waren Freunde gewesen, richtig gute Freunde. Und sie hatte alles kaputtgemacht. Eine falsche Handlung, und sie hatte die Freundschaft und alles, was damit zusammenhing, für immer zerstört.

Sie hatte ihre Wahl freiwillig getroffen, niemand hatte sie zu etwas gezwungen. Aber erst jetzt erkannte Shelley, welch dunkle Schatten ihre damalige Entscheidung auf ihr Schicksal geworfen hatte.

3. KAPITEL

Shelley kannte Drew Glover schon, seit sie sich erinnern konnte.

Sie waren als Nachbarskinder in jenen ärmlichen Reihenhäusern aufgewachsen, die am Rande von Milmouth lagen, nicht nur Meilen, sondern Lichtjahre von den prächtigen Villen im Westen der Stadt entfernt. Shelley war acht Jahre jünger als Drew und genauso alt wie seine jüngste Schwester Jennie.

Von ihrer Mutter hörte Shelley immer wieder, wie Drew früher stets das Spielzeug eingesammelt hatte, das sie aus ihrem Kinderwagen geworfen hatte. Shelley war als Baby quengelig und sehr reizbar gewesen. Drew schien das verstanden zu haben, denn unaufgefordert hob er die Sachen auf und drückte sie ihr dann mit ernster Miene in die Hand. Aber vielleicht ließ sich sein Verhalten auch einfach dadurch erklären, dass er selbst zwei jüngere Schwestern hatte.

Am Tag, als Drew und Shelley sich entschlossen hatten zu heiraten, hatte Veronica Turner strahlend gelächelt. „Drew hat schon als Kind ein gutes Herz gehabt“, hatte sie ihrer Tochter versichert. „Und das hat er sich bewahrt.“

Shelley konnte sich noch genau daran erinnern, dass Drew der erste Mensch in ihrem Leben gewesen war, der sie verteidigt und beschützt hatte. Sie war damals sieben Jahre alt und nur von einem Wunsch beseelt gewesen: sich durch nichts von den anderen Kindern im kleinstädtischen Milmouth zu unterscheiden.

„Und warum hast du keinen Vater, Shelley Turner?“, hatte eine Klassenkameradin sie vor anderen gefragt.

Shelley, den Tränen nahe, hatte darauf keine Antwort gewusst. Da war Drew plötzlich aufgetaucht, ein großer, starker Junge, fast schon ein Erwachsener. „Natürlich hat sie einen Vater“, hatte er erklärt. „Jeder hat einen Vater! Er lebt nur nicht hier, das ist alles.“

„Wo wohnt er denn?“, fragte das Mädchen, das sich nicht so schnell einschüchtern ließ.

Drew blickte Shelley aufmunternd an, und sie wusste plötzlich, dass sie sich nicht zu schämen brauchte. „Er lebt in Amerika“, antwortete sie laut und deutlich. „Er ist Zahnarzt.“

Diese ungewöhnliche Tatsache hatte ihr zwar in ihrer Klasse Respekt verschafft, doch Shelley war und blieb die Außenseiterin. Ihre Mutter hatte ihr von früh an eingeimpft, sich stets zurückzunehmen und kein Aufsehen zu erregen. Shelley sollte nur Freundinnen einladen, die sie wirklich mochte und, viel wichtiger noch, die sie mochten. Es war immer noch besser, arrogant zu wirken, als zurückgewiesen zu werden.

Veronica Turner wusste, wovon sie sprach. Sie war abgelehnt und gedemütigt worden und hatte es nie überwunden. Dieser Schicksalsschlag, den sie stets verschwieg, hatte ihr ganzes Leben geprägt. Nur Drew kannte das dunkle Geheimnis, denn Shelley hatte es ihm anvertraut. Sie konnte sich noch genau an den Tag erinnern.

Sie hatte auf der Mauer an der Landstraße gesessen, die nach Milmouth führte. Es war Sommer und Ferienzeit gewesen, und es hatte viel Verkehr geherrscht. Ein rotes Auto fuhr vorbei, und Shelley machte einen Strich in dem Heft, das auf ihren Knien lag. Drew kam gerade von der Werft, wo er nach der Schule arbeitete, und blieb bei ihr stehen.

„Was machst du da?“

„Ich zähle Autos.“

„Schon wieder? Ist das eine neue Marotte von dir?“

„Ich muss es für die Schule tun“, erklärte sie ihm. „Ich notiere mir die Farben der vorbeifahrenden Autos, weil ich eine Statistik erstellen muss.“

Er setzte sich neben sie. „Und welche Farbe liegt vorn?“

„Blau. Ich habe schon elf blaue Autos gezählt.“

Er sah sie von der Seite an. „Warum besucht dich dein Vater eigentlich nicht?“, fragte er sie dann völlig unvermittelt.

Shelley schluckte. Niemandem außer Drew hätte sie darauf eine Antwort gegeben. Aber bei Drew war das eben etwas anderes.

„Mein Vater hat mich schon einmal besucht“, erklärte sie ihm ernst. „Damals war ich drei Wochen alt.“

„Und danach hat er dich nie wieder sehen wollen?“

Shelley kämpfte mit den Tränen, und sie drückte unnötig fest auf, als sie einen weiteren Strich in ihr Heft machte. „Das war das siebte schwarze Auto“, brachte sie mühsam hervor.

„Es tut mir leid“, entschuldigte sich Drew. „Ich wollte nicht neugierig sein.“

„Was verstehst du schon!“ Ihre Stimme bebte vor Erregung. „Du hast eine Mutter und einen Vater und zwei Schwestern.“

„Natürlich, mir geht es gut!“ Er lachte zynisch. „Zu fünft in einem winzigen Haus zusammengepfercht und ewig Streit zwischen meinen Eltern und Schwestern! Ich sage dir, Shelley, einmal werde ich gehen und nie wieder kommen!“ Er blickte ihr tief in die Augen. „Glaubst du wirklich, du wärst der einzige Mensch, der unglücklich ist?“

„Nein, natürlich nicht.“ Shelley schüttelte den Kopf. Nie hätte sie gedacht, dass Drew so empfinden könnte.

„Ich werde dich nie wieder nach deinem Vater fragen“, versprach er. „Es ist nämlich gar nicht wichtig.“

Aber für Shelley war es wichtig. Drew hatte sie ins Vertrauen gezogen, und sie war ihm eine Antwort schuldig. Außerdem war ein Geheimnis leichter zu ertragen, wenn man es mit jemandem teilen konnte.

„Mein Vater war … ist Zahnarzt. Meine Mutter war seine Sprechstundenhilfe, und die beiden hatten eine wunderbare Romanze – das jedenfalls dachte meine Mutter damals. Aber sie wusste nicht viel über Männer, denn sie war in der Abgeschiedenheit Schottlands aufgewachsen und gerade erst nach London gekommen.“

Drew nickte nachdenklich, äußerte sich jedoch nicht.

„Dann stellte sie fest, dass sie schwanger war, und sagte es ihm. Er wurde schrecklich wütend und warf ihr vor, sie hätte ihn reingelegt. Er machte ihr ganz brutal klar, dass es sinnlos wäre, ihn zur Ehe zwingen zu wollen, da er bereits Frau und Kinder habe, ‚richtige‘ Kinder …“

Drews Miene wurde finster. „Und deine Mutter hatte das nicht gewusst?“

„Natürlich nicht!“, fuhr Shelley ihn an. „Meinst du denn, sonst hätte sie sich mit ihm eingelassen? Für wen hältst du meine Mutter eigentlich?“

„Ich wollte deine Mutter nicht beleidigen, Shelley“, antwortete er ruhig. „Es macht mich nur wahnsinnig, wenn Männer Frauen derart behandeln.“ Er strich sich das widerspenstige Haar zurück. „Und was geschah dann?“

„Er kehrte mit seiner Frau und seinen ‚richtigen‘ Kindern nach Amerika zurück und brachte meine Mutter und mich hierher. Seitdem hat sie ihn nie wieder gesehen.“

„Und warum fiel die Wahl gerade auf Milmouth?“, wollte Drew wissen.

Shelley war erleichtert, dass ihre Ahnung sie nicht getrogen hatte: Drew hatte gefragt, weil er an ihrem Leben Anteil nehmen und nicht, weil er über sie oder ihre Mutter richten wollte.

„Sie wollte irgendwo billig leben und hatte nicht den Mut, mit Kind, aber ohne Vater nach Schottland zurückzukehren. Und meine Mutter liebt das Meer.“

Er lächelte. „Ich auch. Ich könnte es im Binnenland einfach nicht aushalten.“

Shelley erwiderte sein Lächeln schüchtern. „Mir geht es ebenso“, sagte sie leise und wusste, dass Drew der Held ihres Lebens war.

Danach trafen sie sich nur noch selten, denn bei dem Altersunterschied von sieben Jahren hatten sie keinen gemeinsamen Freundeskreis. Shelley erfuhr nur, dass Drews Lehrer enttäuscht waren, da er sich trotz seiner hervorragenden Zensuren für eine Tischlerlehre entschied. Jeder hatte fest damit gerechnet, dass er studieren würde.

„Er hat eine große handwerkliche Begabung“, hatte seine Mutter Shelley einmal erklärt, als sie sich beim Einkaufen getroffen hatten. „Und er will an der frischen Luft sein und nicht irgendwo in einem stickigen Büro sitzen. Ich finde, das ist eine richtige Entscheidung.“

Shelley nahm an Drews Entlassungsfeier teil. Er hatte das beste Zeugnis von allen, und Shelley musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um ihm dazu zu gratulieren. „Ich habe gehört, dass du Tischler werden willst“, sagte sie dann.

Er kniff die Augen zusammen und betrachtete sie prüfend. „Was soll das heißen, Shelley? Willst du mir zu verstehen geben, ich wäre nicht ehrgeizig genug?“

Shelley wurde verlegen, schließlich war sie gerade erst elf. „Nein“, log sie. „Ich dachte nur, du würdest dir einen anderen Beruf aussuchen.“

„So?“ Drew lächelte. „Und welchen? Arzt? Oder Pilot?“

„Vielleicht.“

„Wir leben in einer unsicheren Welt, Kätzchen, Häuser jedoch werden die Menschen immer brauchen.“

Shelley errötete vor Freude, dass er sie „Kätzchen“ genannt hatte. „Das stimmt“, antwortete sie.

Manchmal, wenn Shelley auf ihrem Bett lag und las, konnte sie durchs Fenster beobachten, wenn Drew von der Arbeit kam, mit entblößtem Oberkörper, muskulös und sonnengebräunt. Dann verschwammen ihr die Buchstaben vor den Augen.

Als sie siebzehn war, sah sie ihn das letzte Mal, bevor er auf Wanderschaft ging. Diese Begegnung würde sie nie vergessen können. Sie hatte mit ihren Freundinnen am Strand in der Sonne gelegen, gut versteckt hinter einem Felsen – so hatten sie wenigstens geglaubt und deshalb die Bikinioberteile ausgezogen. Aber Drew, der den Strand entlangjoggte, entdeckte sie und wurde schrecklich wütend, besonders über Shelley. Ihre Freundinnen nahmen das zum Anlass, sie hinterher damit aufzuziehen, denn ihrer Meinung nach konnte das nur bedeuten, dass Drew ein Auge auf Shelley geworfen hatte. Sie war da anderer Ansicht, denn Drew reiste ab, ohne sich von ihr zu verabschieden.

Shelley vermisste ihn unbeschreiblich. Am Wochenende ging sie oft mit seiner jüngsten Schwester Jennie aus, bummelte mit ihr durch die Stadt, oder die beiden gingen zu einer Tanzveranstaltung. Vor Shelleys Augen fand jedoch keiner der jungen Männer Gnade, mit denen sie sich trafen, denn keiner konnte es mit Drew aufnehmen.

„Hat dein Bruder eigentlich gesagt, wann er wieder nach Hause kommt?“, fragte sie Jennie eines Abends beiläufig.

Jennie lächelte, denn sie war es gewohnt, von ihren Freundinnen nach ihrem gut aussehenden großen Bruder gefragt zu werden. „Nein. Soll ich ihm schreiben, dass du es gern wissen möchtest?“

„Untersteh dich!“

Es dauerte noch drei Jahre bis zu seiner Rückkehr. Es war in der Adventszeit, und die Straßen waren weihnachtlich geschmückt, als Shelley ihn traf. Sie arbeitete mittlerweile als Empfangssekretärin in Milmouth’ größtem Autohaus und war gerade auf dem Weg nach Haus, als sie sich begegneten. Shelley musste sich beherrschen, um ihm nicht wie ein albernes kleines Mädchen um den Hals zu fallen.

„Hallo, Drew“, sprach sie ihn an. „Jennie hat mir schon erzählt, dass du wieder da bist.“

„Bist du das, Shelley Turner?“, fragte er ungläubig, denn er hätte nicht für möglich gehalten, dass seine attraktive Nachbarin noch schöner geworden war. Aber während der letzten drei Jahre hatte sie eine Figur bekommen, die einen Mann zum Wahnsinn treiben konnte. Ihr langes braunes Haar glänzte wie Seide, die Haut war makellos rein, und ihre Augen hatten das zarteste Blau, das er je gesehen hatte.

„Natürlich bin ich es.“ Sie lachte. „Wer sollte es sonst sein?“

„Ich war mir nicht sicher“, antwortete er versonnen. „Hast du heute Abend schon etwas vor?“

„Und ob! Schließlich werde ich morgen zwanzig! Meine ganze Clique trifft sich nachher im Pub.“

Er lächelte. „Hast du etwas dagegen, wenn ich auch komme?“

Etwas dagegen haben? Am liebsten hätte Shelley einen roten Teppich für ihn ausrollen lassen. Aber sie ließ sich von ihrer Freude nichts anmerken. „Natürlich bist du herzlich eingeladen“, antwortete sie nur.

Auf der Feier im Pub setzte sich Drew neben Shelley, die sich am liebsten nur mit ihm unterhalten hätte.

„Du hast mich also vermisst, kleines Mädchen?“, fragte er.

„Ja“, antwortete Shelley, der zwar jede Art von Verstellung noch fremd war, die aber von einer inneren Stimme gewarnt wurde, ihre Gefühle allzu offen zu zeigen. „Aber ich bin kein kleines Mädchen mehr.“

„Das sehe ich.“ An seiner Schläfe pochte eine Ader. „Ich muss einfach immer wieder hinsehen.“ Zu ihrer Überraschung streichelte er behutsam ihre Wange und strich ihr die Haare hinters Ohr zurück. Doch plötzlich runzelte er die Stirn. „Seit wann benutzt du Wimperntusche?“

Erstaunt sah sie ihn an. „Wimperntusche? Wie kommst du denn auf die Idee?“

„Willst du damit sagen, dass deine Wimpern schon immer so dicht, lang und schwarz waren?“

Shelley lachte. „Genau. Und du hast es eben erst bemerkt?“

Drew betrachtete sie gedankenvoll. „In dieser Sekunde.“ Dann beugte er sich unvermittelt vor und küsste sie zärtlich auf den Mund. Und das vor aller Augen!

Über Nacht waren sie für alle, die sie kannten, ein Paar geworden. Drew und Shelley. Shelley und Drew.

Drew arbeitete hart, denn außer seinem Job an der Werft nahm er auch noch Nebentätigkeiten an. Und davon gab es viele, ein Tischler mit seinem Können war stets gefragt. Außerdem studierte er an einer Fernuniversität Architektur. Für alles hatte er Zeit. Nur für Shelley nicht.

„Oh Drew“, beklagte sie sich einmal, als sie sich in der Mittagspause trafen, um gemeinsam ihre Brote auf einer Bank an der Strandpromenade zu essen, „immer musst du arbeiten!“

„Geld ist wichtig, Kätzchen. Sonst gibt es für uns keine Zukunft.“

„Aber ich habe überhaupt nichts von dir!“

„Das wird sich ändern, sobald wir unser eigenes Zuhause haben.“ Er nahm ihre Hand und küsste jede Fingerspitze einzeln. „Ich weiß auch schon, wo. Das Haus des Strandwarts ist nämlich immer noch zu haben.“

„Die alte Hütte?“ Shelley verzog das Gesicht. „Das die keiner haben will, kann ich mir vorstellen. Um dort wohnen zu können, müsste man praktisch alles abreißen und neu aufbauen.“

„Und genau das will ich tun. Dafür arbeite ich und bilde mich weiter, für das Haus und für dich.“ Er küsste sie innig. „Möchtest du mich heiraten?“

„Oh ja!“

Als Drew Veronica Turner um die Hand ihrer Tochter bat, gab sie strahlend lächelnd ihre Einwilligung. Sie war überglücklich, dass für Shelley Wirklichkeit wurde, was für sie stets ein Traum geblieben war: eine harmonische und dauerhafte Beziehung.

Drew kaufte Shelley einen schmalen Verlobungsring mit einem winzigen Brillanten. Shelley kümmerte sich nicht darum, wenn ihre Freundinnen abfällig bemerkten, dass der Stein ja recht klein sei. Für Shelley gab es keinen schöneren.

Mit der Hochzeit wollten sie noch so lange warten, bis sie das Geld für das alte Strandwärterhaus zusammengespart hatten. Und wenn auch ihre Küsse und Zärtlichkeiten hinter den Felsen am Strand immer leidenschaftlicher wurden, Drew ließ es nie bis zum Letzten kommen, was Shelley einfach nicht verstehen konnte.

Sie wusste, dass er auf seinen Reisen Frauen kennengelernt haben musste, denn ab und zu erhielt er Briefe mit fremdländischen Marken, die er ungelesen fortwarf. Einmal kam Shelley eine Postkarte unter die Augen, deren Inhalt ihr Übelkeit verursachte und die von einer Angie unterschrieben war.

„Und wer, bitte sehr, ist Angie?“, wollte Shelley wissen.

„Ein Mädchen, das ich einmal kannte.“ Drew zerriss die Karte in winzige Schnipsel und warf sie in den Papierkorb.

Shelley spürte rasende Eifersucht, wenn sie sich vorstellte, was sich zwischen Drew und Frauen wie Angie abgespielt haben mochte. Umso unverständlicher war ihr, dass Drew sich ihr gegenüber so völlig anders benahm.

„Du bist eben für mich eine ganz besondere Frau“, erklärte er ihr.

„Das ist doch kein Argument!“ Shelley hatte Angies Ansichtskarte noch nicht vergessen.

„Gut, dann lass es mich so formulieren: Ich möchte nicht, dass du vor unserer Hochzeit schwanger wirst, denn das würde deine Mutter nie verwinden, Shelley. Ich habe ihr mein Ehrenwort gegeben, dass ich auf dich achten und für dich sorgen werde.“

„Drew, wir beide wissen, dass es Verhütungsmittel gibt.“

„Und wir beide wissen, dass sie nicht hundertprozentig zuverlässig sind. Ich möchte nicht, dass irgendetwas schief läuft zwischen uns, denn du bist eine ganz besondere Frau für mich, Shelley“, wiederholte er noch einmal. „Ich liebe dich und möchte mein ganzes Leben mit dir verbringen. Und auf die schönsten Dinge des Lebens lohnt es sich, zu warten, das wirst du auch noch feststellen.“

Aber Shelley sah das anders, und sie diskutierten noch bis tief in die Nacht darüber. Am folgenden Morgen betrat dann Marco den Ausstellungsraum des Autohauses. Er war extra aus Italien nach England gekommen, um ein ganz bestimmtes Coupé in Sonderausführung zu kaufen – und ausgerechnet in Milmouth hatte er es gefunden.

Shelley saß gerade am Schreibtisch und blätterte lustlos in einem Aktenordner, als er eintrat. Er sah einfach umwerfend aus und glich mit dem glänzenden pechschwarzen Haar und den dunklen Augen einem Filmstar.

„Hallo“, sagte er langsam und sah sie an.

Shelley war wütend auf sich, weil ihr Herz schneller schlug. Schließlich war sie verlobt und sollte immun sein gegen den Charme fremder Männer. Sie setzte daher eine geschäftsmäßige Miene auf. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie betont kühl.

„Das kommt darauf an, wobei.“ Er lächelte strahlend und bemerkte mit offensichtlicher Bewunderung, dass Shelley sich geschmeichelt fühlte. Sie errötete, und sein Lächeln vertiefte sich.

Shelley hatte noch nie einen Mann wie ihn gesehen. Obwohl er sich lässig gab, strahlte er Macht und Autorität aus und wirkte obendrein unwiderstehlich sinnlich. Er war die Verführung in Person.

Er deutete auf das lang gestreckte, extrem flache silberfarbene Coupé, das teuerste Auto der ganzen Ausstellung. „Würden Sie mit mir hierin eine Probefahrt unternehmen, cara?“, fragte er.

„Ich? Da muss ich Sie leider enttäuschen, das ist nicht meine Aufgabe. Ich werde Geoff rufen, der dafür zuständig ist.“

Er lächelte. „Ihre Augen haben die Farbe von Aquamarin, und ihre Haut ist wie Alabaster. Die Männer müssen verrückt nach Ihnen sein“, überging er ihren Einwand.

Shelley sagte sich, dass er maßlos übertreibe, errötete aber dennoch. Erst viel später erkannte sie, dass es ihre Unschuld gewesen war, die beide Männer fasziniert hatte – Marco genau wie Drew.

Marco sprach mit Geoff und setzte durch, dass Shelley die Probefahrt mit ihm machen durfte. Marco mit seiner Überzeugungsgabe hätte Geoff zu allem überreden können. Wie Marco Shelley dann erzählte, war er Kunsthändler und hatte eine eigene Galerie in Mailand. In bildhaften Worten beschrieb er ihr die Gemälde, auf die er sich spezialisiert hatte. Er sagte ihr auch, dass sie schöner sei als jedes Kunstwerk und dass sie jederzeit einen Job bei ihm bekommen könne.

Marco kaufte den Wagen sofort und bezahlte ihn zu Geoffs großer Freude bar. Am nächsten Tag schickte Marco Shelley Blumen, um sich für ihre Hilfe zu bedanken. Shelley ließ sie abends auf dem Schreibtisch stehen, denn sie wagte nicht, den Strauß mit nach Hause zu nehmen. Ihre Mutter hätte sie bestimmt gefragt, von wem er sei.

Shelley war unausgeglichen und unzufrieden. Sie war jetzt fast einundzwanzig, hatte noch nichts vom Leben gehabt, und Drew kannte nur seine Arbeit. Das Leben schien ihr nichts zu bieten zu haben. Als Marco vorbeikam und sie für abends auf einen Drink einlud, wurde sie unsicher.

„Ich weiß nicht recht“, sagte sie zögernd.

„Sie haben einen Freund?“

„Einen Verlobten.“ Shelley zeigte ihm den Ring an ihrer Hand.

„Soll ich ihn um Erlaubnis bitten?“

„Nein, nein, bitte nicht“, wehrte Shelley ab.

Marco zuckte die Schultern. „Nächste Woche fahre ich zurück nach Italien. Vielleicht rufe ich Sie an, wenn ich das nächste Mal in England bin. Wir könnten uns dann in London treffen.“

Hatte er eine Ahnung! Genauso gut hätte er sie bitten können, zum Mars zu kommen. Shelley war verzweifelt. Sie befürchtete, Marco im Leben nie wieder zu sehen, und dabei war er so aufregend, so anders, so italienisch. Drew war in der ganzen Welt herumgereist und hatte viele interessante Menschen kennengelernt, sie dagegen hatte überhaupt noch nichts erlebt. Warum sollte sie Marcos Einladung ablehnen? Was konnte schon passieren?

Sie war noch nie im „Westward“ gewesen, dem besten Haus am Platz. Obwohl sein Glanz schon etwas verblichen war, konnten es sich nur die reicheren Touristen erlauben, dort zu wohnen.

Marco führte Shelley zu einem Tisch, von dem man einen atemberaubenden Blick aufs Meer hatte. Die elegante Umgebung, Marcos Charme und der eisgekühlte Champagner stiegen Shelley schnell zu Kopf, und sie fühlte sich beschwipst.

Marco brachte sie natürlich in seinem neuen Coupé nach Hause. Als er den Motor abgestellt hatte, beugte er sich vor und küsste Shelley, der alles wie ein Film und nicht wie die Wirklichkeit vorkam. Sie beruhigte sich damit, dass sie lediglich neugierig sei, schließlich hatte sie außer Drew noch nie einen Mann geküsst.

Aber sie küsste Marco mehr als einmal und konnte sich nur mit äußerster Willensanstrengung aus seiner Umarmung befreien, die Autotür aufreißen und ins Haus flüchten. Sie hörte zwar, dass Fletcher irgendwo in der Nähe bellte, die dunkle Silhouette des Mannes, der unter den Bäumen gestanden und die Szene beobachtet hatte, sah sie jedoch nicht.

Erschrocken blickte Shelley auf ihre Armbanduhr. Über eine Stunde hatte sie hier am leeren Strand gestanden und mit offenen Augen geträumt! Langsam ging sie zum Auto zurück. Sie fühlte sich leer und ausgebrannt, was sie als Ironie des Schicksals empfand. Schließlich hatte sie sich so viel darauf eingebildet, wie reif und abgeklärt sie in den letzten Jahren geworden war.

Und jetzt war sie verzweifelt und deprimiert, nur weil Drew sie nicht freudig begrüßt hatte. Was hatte sie denn erwartet? Dass er sie in die Arme nehmen und ihr gestehen würde, er habe sie nicht vergessen können?

4. KAPITEL

Shelleys Haus war viel kleiner, als sie es in Erinnerung gehabt hatte. Und es war schrecklich vernachlässigt. Die Fensterscheiben waren blind vor Schmutz, und von den Rahmen blätterte die Farbe. Aber der kleine Rasen vor dem Haus war geschnitten und gepflegt, kein Unkraut war zu entdecken, und die Kanten waren sauber abgestochen. Wie mag das kommen? fragte sich Shelley, als sie den Karton mit den Lebensmitteln aus dem Auto hob.

Sie musste die Haustür mit aller Kraft aufdrücken, denn dahinter hatten sich vergilbte Postwurfsendungen und Reklamezettel zu einem richtigen Berg aufgetürmt. Shelley fröstelte. Es war eisig kalt, und es roch unangenehm muffig – so wie es eben in einem unbewohnten Haus roch.

Shelley ging durch den Flur in das winzige Wohnzimmer, wo sich die geblümte Tapete von den Wänden löste. Überall hingen und standen Bilder von ihr, aber sie blieb nur vor einem stehen. Es zeigte sie mit Drew und musste zur Zeit ihrer Verlobung aufgenommen worden sein. Drew hatte den Arm um ihre Schultern gelegt, und keiner von beiden blickte in die Kamera. Sie hatten nur Augen füreinander, und jeder konnte sehen, wie verliebt sie waren.

Abrupt drehte Shelley sich um und ging die Treppe hoch in ihr altes Zimmer. Auch hier hatte sich nichts verändert. Als Shelley aus dem Fenster blickte, hielt sie jedoch erstaunt den Atem an. Der Garten, einst der ganze Stolz ihrer Mutter, war genauso tadellos gepflegt wie zu deren Lebzeiten.

Das Kräuterbeet, der Kiesweg, die beiden Kübelpflanzen neben der Gartentür, der niedrige Holzzaun – alles war wie früher. Einen Moment lang fühlte sich Shelley in die Vergangenheit zurückversetzt. Sie schluckte und wandte sich ab, ihr war schwindlig, und sie brauchte jetzt dringend eine Tasse Tee.

Sie ging in die Küche, und zum ersten Mal fiel ihr auf, wie veraltet und schlicht die Einrichtung war. Nichts hier im Haus ließ sich auch nur im Entferntesten mit der Villa vergleichen, in der sie mit Marco gelebt hatte.

Als sie den Hahn aufdrehte, kam kein Wasser, und als sie den Lichtschalter betätigte, ging die Lampe nicht an. Shelley biss sich auf die Lippe. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Natürlich waren Wasser und Strom abgestellt!

Ein lautes Klopfen an der Haustür ließ sie aufschrecken. Als sie öffnete, blickte sie in Drews unfreundliches und verschlossenes Gesicht. Aber es war das Gesicht des Mannes, den sie einst geliebt hatte, und ihr Herz klopfte plötzlich wild.

„Hallo, Drew“, begrüßte sie ihn atemlos. „Dass du mein erster Besucher sein würdest, hatte ich ganz bestimmt nicht erwartet.“

Er lächelte grimmig. „Ich auch nicht. Aber meine Schwester Jennie hat mich angerufen und gebeten, bei dir vorbeizuschauen.“

„Ach so.“ Bevor Marco ihre Welt durcheinander gebracht hatte, waren Shelley und Jennie die besten Freundinnen gewesen. Jennie hatte dann natürlich die Partei ihres Bruders ergriffen, und Shelley hatte nie wieder mit ihr gesprochen. „Woher wusste sie denn, dass ich hier bin?“

„Woher? Sie ist schließlich deine Nachbarin.“

„Jennie?“ Shelley konnte es nicht fassen, dass Jennie immer noch in Milmouth lebte, denn sie hatte es von jeher gehasst. „Wohnt sie denn noch bei euren Eltern?“

„Nein.“ Drew schüttelte den Kopf. „Die haben sich auf der Isle of Wight einen Alterssitz gesucht, und Cathy ist nach London gegangen.“

„Und wie geht es Jennie?“

„Sie freut sich wahrscheinlich mehr als ich, dass du wieder hier bist.“

Shelley atmete tief durch, dann fragte sie: „Drew, weißt du, wer den Garten in Ordnung gehalten hat?“

Er zögerte kaum merklich. „Meine Schwester.“

„Jennie?“ Shelley blickte ihn ungläubig an. „Dann muss sie sich aber sehr geändert haben! Seit ich sie kenne, hat sie doch noch nie etwas für Gartenarbeit übrig gehabt.“

Drew lachte. „Sie macht es natürlich nicht selbst. Sie hat jemanden dafür eingestellt, der auch gleich deinen Garten gepflegt hat, damit es hier nicht wie in der Wildnis aussieht.“

„Der Garten sieht einfach traumhaft aus“, sagte Shelley ehrlich.

Drew ging nicht darauf ein. „Wo bleibt eigentlich dein Lover?“, fragte er.

„Er ist nicht hier.“

„Meinst du, das wüsste ich nicht? Meinst du, ich würde zu dir kommen, wenn er hier um dich herumscharwenzeln würde?“

„Und was macht dich da so sicher?“

„Jennie hat gesehen, dass nur eine Person im Auto saß.“

„Jennie hatte also nichts Besseres zu tun, als über mich zu tratschen?“

Drew schüttelte den Kopf. „Das siehst du falsch. Sie hat nur ein fremdes Auto beobachtet und mich angerufen, weil sie befürchtete …“

„Weil sie was befürchtete?“ Shelley wurde ärgerlich. „Weil sie befürchtete, dass ein ihr unbekannter Mensch hier zu Besuch sein könnte? Die Mafia von Milmouth reagiert wirklich schnell, alle Achtung!“

Drew lächelte belustigt. „Das kann man auch anders sehen. Hier halten die Menschen die Augen noch offen. Wenn Jennie als alleinstehende Frau bemerkt, dass plötzlich ein Auto vor ihrem Nachbarhaus hält, das schon seit zwei Jahren unbewohnt ist, wäre sie doch dumm, nicht misstrauisch zu werden, oder? Besonders wenn es ein auffälliges, protziges Auto ist.“

„Was hast du gegen mein Auto?“

„Nichts.“ Er zuckte die Schultern. „Es bestätigt nur meine Vorurteile, denn es stinkt nach Geld, ohne wirklich ausgefallen zu sein. Ist es vielleicht ein kleines Trostpflaster zum Abschied?“

„Das geht dich gar nichts an!“

„Warum ist Marco nicht hier?“ Drew ließ nicht locker. „Ist es aus zwischen euch beiden?“

Shelley entschied sich, die Wahrheit zu sagen, die er ja früher oder später doch herausfinden würde. „Du hast es erkannt. Wir haben Schluss gemacht.“

„Du gehst nicht zurück?“

„Nein.“

„Was ist geschehen?“

Sie sah ihn fest an. „Darüber bin ich dir keine Rechenschaft schuldig.“

„Nein, natürlich nicht.“ Seine Augen glitzerten. „Aber du könntest mir eine andere, ebenso interessante Frage beantworten: Wusstest du nicht, dass in einem Haus, das schon seit Jahren unbewohnt ist, Strom und Wasser abgestellt sind? Du kannst weder das Badezimmer benutzen, noch kannst du dir einen Kaffee machen.“ Er sah sie spöttisch an. „Es scheint so, als hättest du sehr unüberlegt gehandelt, meine liebe Shelley.“

„Ich habe Italien ziemlich … ziemlich überstürzt verlassen.“

„Das ist nicht zu übersehen.“ Er musterte ihr zerknittertes Leinenkostüm. „Er hat dich also rausgeworfen!“

Shelley drehte sich um, war jedoch nicht schnell genug, um die Tränen in ihren Augen vor ihm zu verbergen. Sie war übermüdet und fühlte sich ausgestoßen und heimatlos, dennoch kämpfte sie tapfer gegen die Tränen an. „Bist du nur gekommen, um mich zu beleidigen, Drew? Darauf kann ich im Moment nämlich gut verzichten.“

„Ich will dir sagen, warum ich hier bin“, antwortete er ruhig. „Du scheinst in deiner dreijährigen Abwesenheit vergessen zu haben, wie kalt es in Milmouth im Oktober ist. Wir haben heute Sonntag, und vor Montagmorgen kannst du weder Wasser noch Strom beantragen. Du kannst die Nacht nicht in einem ungeheizten Haus verbringen.“

Das Schlimmste an der Sache war, dass Drew recht hatte. Shelley hätte schreien können vor Wut. „Wenn du erwartest, dass ich jetzt vor dir in die Knie gehe und dich anflehe, hast du dich getäuscht“, antwortete sie hitzig.

Er zog die Brauen hoch. „Du kannst jederzeit vor mir auf die Knie fallen, Kätzchen“, sagte er anzüglich. „Und großartig zu bitten brauchst du mich auch nicht.“

Diese offene sexuelle Anspielung trieb ihr die Röte ins Gesicht, dennoch wich sie seinem Blick nicht aus. „Ich nehme mir ein Hotelzimmer.“

„Hast du dir eins reservieren lassen?“

„Aber sicher doch!“ Sie lächelte sarkastisch. „Ich habe nur so zum Spaß versucht, das Wasser aufzudrehen und die Heizung einzuschalten. Ich fand das eben lustiger, als warm und gemütlich in einem Hotel zu sitzen.“

„Du unverschämte kleine Hexe!“, sagte er leise. „Ich weiß nicht, warum ich überhaupt hierher gekommen bin. Anscheinend ist mein Verantwortungsgefühl unzeitgemäß und nicht erwünscht. Ich sollte dich einfach deinem Schicksal überlassen.“

„Und warum tust du es nicht?“

„Soll ich es dir verraten? Weil ich im Gegensatz zu deinem verflossenen Lover noch bestimmte Wertvorstellungen besitze. Weder würde ich die Verlobte eines anderen anrühren, noch könnte ich ruhig schlafen, wenn ich wüsste, dass eine Frau die Nacht allein in einem unbewohnbaren Haus zubringt. Selbst wenn es sich dabei um dich handelt, Shelley.“

„Jetzt erzähl mir nur noch, dass du mir ein Bett für die Nacht anbieten willst, Drew!“

Er hob den Kopf, und in seinen blauen Augen stand ein amüsiertes Lächeln. „Das ist es also, was du möchtest! Ein bisschen Wärme, ein wenig Kuscheln, vielleicht sogar mehr?“ Er betrachtete sie eingehend von Kopf bis Fuß.

„Sieh mich nicht so an, Drew! Ich mag das nicht.“

„Lügnerin! Es gefällt dir.“

„Das möchtest du wohl!“ Drew hatte jedoch die Wahrheit erkannt, denn ein angenehmes Gefühl durchströmte sie, und das Verlangen, das aus seinen Augen sprach, erregte sie. Sie versuchte, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, doch ihre Fantasie war stärker, und ihre Sehnsucht wuchs.

Am peinlichsten jedoch war, dass ihr Körper sie verriet, denn die Knospen ihrer Brüste zeichneten sich plötzlich deutlich unter dem dünnen Stoff ihres Kostüms ab. Shelley stellte sich anders hin und hoffte, dass Drew nichts davon bemerkt hatte.

„So?“ Sie hatte vergeblich gehofft, wie sein wissender Blick ihr zeigte. „Hör doch auf, die naive Unschuld zu spielen, Shelley! Hast du vergessen, dass ich beobachtet habe, wie du dich im Auto einem völlig Fremden hingegeben hast? Erinnerst du dich noch daran?“ Er schüttelte den Kopf. „Hätte ich gewusst, dass du so verrückt nach Sex bist, Kätzchen, hätte ich dir gern zu Diensten gestanden.“

Sie zuckte zusammen. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich mich nicht ‚hingegeben‘ habe! Du weißt genau, dass es nicht stimmt.“

„Im eigentlichen Sinn vielleicht“, antwortete er ungerührt. „Zu dem Zeitpunkt war er noch nicht eingedrungen.“

„Sei still!“ Sie hielt sich die Ohren zu. „Und sei nicht so vulgär! Das muss ich mir von dir nicht anhören!“

„Doch, Shelley“, erwiderte er hart. „Denn es ist die Wahrheit.“

„Die Wahrheit ist viel komplizierter, als du denkst, Drew Glover. Und was dein Angebot für diese Nacht angeht, kann ich dir nur sagen, dass ich überall lieber schlafe als in deiner Nähe.“

„Habe ich dir angeboten, die Nacht in deiner Nähe zu verbringen? Ich kann mich nicht erinnern. Ich habe nur gefragt, ob du dir ein Hotelzimmer genommen hast. Die Saison ist nämlich vorbei, und wenn du überhaupt unangemeldet ein Zimmer bekommst, dann höchstens im ‚Westward‘.“

„Im ‚Westward‘?“ Sie dachte an die enormen Preise dort, denn sie hatte wenig Lust, ihre Ersparnisse aus Italien für unnötigen Luxus auszugeben.

„Es wird bestimmt glückliche Erinnerungen in dir wecken“, spöttelte er. „Schließlich hattest du dort dein erstes Schäferstündchen mit diesem Italiener.“ Er fasste sich gespielt verzweifelt an den Kopf. „Nein, wie konnte ich das nur vergessen! Ihr habt ja nur ein Glas Sekt zusammen getrunken. Wir alle wissen ja, was für ein bescheidenes Mädchen du bist, Shelley.“

Das war mehr, als sie ertragen konnte. Sie hob die Hand und holte aus. Aber Drew hatte ihre Absicht erraten und sich schnell geduckt.

„Was für ein Temperament! Obwohl ich durchaus etwas für Frauen übrig habe, die es wild mögen, haben wir damals leider diese Seite unserer Beziehung sehr vernachlässigt, nicht wahr, Shelley?“

„Du …“ Sie versuchte, ihm das Gesicht zu zerkratzen, aber wieder kam er ihr zuvor.

„Nein, du kleine Wildkatze“, sagte er gefährlich leise und hielt ihre Handgelenke fest. Shelleys Puls raste, was er spüren musste, denn er lächelte zufrieden.

„Immer noch erregt?“, fragte er spöttisch.

„Nein, nur enttäuscht“, widersprach sie. „Ich hätte dir so gern ins Gesicht geschlagen!“

Drew schüttelte den Kopf. „Das glaube ich dir nicht. Du möchtest etwas ganz anderes mit mir tun, das zeigen mir deine Reaktionen nur zu deutlich. Aber es wäre unter den gegebenen Umständen nicht sehr passend, und deshalb versuchst du, deine Leidenschaft auf andere Art auszuleben.“ Seine Stimme klang jetzt heiser. „Aber warum eigentlich? Steh dazu. Lass uns hinaufgehen und es tun – jetzt, sofort.“

Shelley war schockiert, dass seine Worte sie nicht erschreckten, sondern ganz im Gegenteil ein unbändiges Verlangen in ihr weckten, ein Verlangen, wie sie es noch nie gespürt hatte. Willenlos und mit großen Augen sah sie ihn an. „Hör auf“, bat sie schwach.

„Oh ja, du willst mich, Shelley, du willst mich sogar sehr“, sagte er triumphierend. „Deine Augen sind ganz dunkel und deine Wangen stark gerötet. Und sieh dir das an!“ Er betrachtete ihre Brüste. „Zwei kleine Knospen, den Geliebten zu verführen …“, zitierte er.

„Aber du bist nicht mein Geliebter, Drew. Du bist es nie gewesen!“

„Das stimmt. Aber das können wir gleich ändern.“

„Nie im Leben. Und jetzt geh!“

„Drew! Drew, bist du noch da?“

Völlig verwirrt und immer noch benommen von der Macht ihrer Gefühle, sah Shelley Drew an. „Wer ist das?“, fragte sie kaum hörbar.

„Meine Schwester“, antwortete er grimmig und ließ sie los, um die Haustür zu öffnen. Shelley und Jennie Glover standen sich unvermittelt gegenüber.

Shelley hatte ihre ehemalige Freundin seit gut drei Jahren nicht mehr gesehen – seit sie Milmouth unter skandalösen Umständen verlassen hatte. Shelley hatte erwartet, dass Jennie sie mit Verachtung strafen würde, hatte sich aber getäuscht. Jennie blickte sie freundlich an.

Jennie hatte sich jedoch so verändert, dass Shelley ihre Überraschung kaum verbergen konnte. Sie schien kleiner geworden zu sein, was aber nur an ihrer Haltung lag, die mangelndes Selbstbewusstsein verriet. Jennies Haar hatte dringend einen Schnitt nötig, und ihr Teint wirkte ungesund. Am erschreckendsten aber war ihre Figur.

Jennie hatte nicht nur zugenommen, sondern war auch völlig außer Form geraten, was durch ihre unvorteilhafte Kleidung noch betont wurde. Sie trug zu enge Jeans und einen verwaschenen Pullover, und nichts erinnerte mehr an das lebenssprühende Mädchen, das sie einmal gewesen war.

Shelley wurde plötzlich sentimental und sehnte sich nach früher zurück, als sie und Jennie noch jedes Geheimnis geteilt hatten. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr sie in den vergangenen Jahren eine Freundin vermisst hatte. „Hallo, Jennie, wie schön, dich endlich wieder zu sehen“, sagte sie aufrichtig.

„Hallo, Shelley.“ Jennies Lächeln wirkte ehrlich. „Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, dass ich Drew angerufen und ihn hierher geschickt habe, aber …“

„Das ist schon in Ordnung, Jennie. Du hast getan, was jede andere gute Nachbarin auch gemacht hätte. Es war wirklich dumm von mir, dass ich meine Rückkehr nicht besser vorbereitet habe.“

„Ich war besorgt, weil du nicht heizen kannst. Und das bei dieser Kälte, die für dich bestimmt besonders unangenehm sein muss, da du ja gerade aus Italien kommst.“ Sie biss sich auf die Lippe, als wäre sie zu vertraulich gewesen. „Drew hat in unser Haus eine Zentralheizung einbauen lassen, aber deine Mutter hatte sich nie dazu entschließen können.“

„Drew hat eine Zentralheizung einbauen lassen?“ Shelleys Gedanken überstürzten sich. „Wohnst du denn immer noch zu Hause, Drew?“

Er lachte. „Um Himmels willen, nein!“

Auch Jennie amüsierte sich. „Könntest du dir das vorstellen, Drew?“, fragte sie ihren Bruder.

Shelley merkte, dass sie etwas Dummes gefragt hatte, und schwieg, obwohl sie zu gern gewusst hätte, wo Drew jetzt lebte. Aber sie wollte nicht neugierig scheinen.

„Und was ist mit dir, Shelley?“, fragte Jennie jetzt. „Bist du zurückgekommen, um zu bleiben?“

Um nichts in der Welt wollte Shelley in Drews Anwesenheit über ihre Pläne sprechen. „Das ist noch offen“, antwortete sie daher ausweichend. „Ich möchte hier erst einmal zur Ruhe kommen, und dann werde ich weitersehen.“

Jennie blickte sich um und fröstelte. „Eins ist jedenfalls sicher, die Nacht kannst du hier unmöglich verbringen“, erklärte sie.

„Ich habe Shelley geraten, sich im ‚Westward‘ einzuquartieren“, warf Drew ein. „Eine andere Möglichkeit gibt es um diese Jahreszeit nicht.“ Er sah sie spöttisch von der Seite an. „Und deinem Auto nach zu urteilen, wirst du es dir auch leisten können.“

„Natürlich kann ich das“, bestätigte Shelley etwas zu laut.

„Du könntest die nächsten ein, zwei Tage natürlich auch bei mir wohnen“, schlug Jennie vor, sah dabei aber ihren Bruder fragend an. Täuschte sich Shelley, oder schüttelte Drew wirklich den Kopf? „Das halte ich für keine gute Idee“, sagte er und ließ Shelley dabei nicht aus den Augen.

Wieder musterte er sie in dieser unverschämten Weise von oben bis unten, begutachtete den Brillanten, den sie an einem Platinkettchen um den Hals trug, und die teuren Lederstiefel. „Ich glaube, Shelley ist mittlerweile zu fein geworden, um sich bei dir noch wohl zu fühlen, Jennie.“

Shelley schoss die Röte ins Gesicht. „Anscheinend reicht es dir nicht, mich als hochnäsig hinzustellen, sondern du musst auch noch deine Schwester beleidigen.“ Sie sah ihn wütend an. „Außerdem kann ich auch selbst antworten, Drew!“

Jennie lächelte schwach. „Ist schon gut“, sagte sie. „Ich bin nicht beleidigt, schließlich hat Drew recht. Bei mir ist es wirklich etwas eng.“

Shelley verstand das nicht ganz, denn wenn die Eltern, Cathy und Drew dort nicht mehr wohnten, müsste Jennie zwei Zimmer haben, in denen sie Gäste unterbringen konnte. Aber erstens ging es sie nichts an, und zweitens wollte sie auch gar nicht bei Jennie übernachten. Jennie würde ihr bestimmt nur vorschwärmen, wie schön Drews Leben sei, seit sie, Shelley, ihn verlassen habe. Und darauf konnte sie gut verzichten.

„Es ist nicht zu eng!“ Shelley wandte sich an ihre Freundin und lächelte. „Ich bin hier aufgewachsen und habe hier viele glückliche Stunden verlebt, wie könnte ich da über dein Haus die Nase rümpfen? Dennoch stimme ich Drew in einem Punkt zu: Es wäre ungehörig von mir, mich dir aufzudrängen.“

„Ich mache euch einen Vorschlag“, sagte Drew in einem Ton, der eher nach einem Befehl klang. „Du gehst mit Shelley rüber und machst ihr eine Tasse Tee, und ich fahre ins ‚Westward‘ und frage nach einem Zimmer.“

„Das ist völlig unnötig, denn das kann ich auch allein.“ Shelley wich seinem Blick nicht aus.

„Ich weiß, aber zufällig bin ich ein Gentleman und möchte sichergehen, dass du für die Nacht gut untergebracht bist.“

Sie betrachtete ihn prüfend. „Das überzeugt mich, ehrlich gesagt, nicht so richtig.“

„Das ändert nichts an der Tatsache, dass du ein Bett für die Nacht brauchst.“

„Warum machst du eigentlich einen solchen Umstand? Wir können doch einfach anrufen.“

Drew schüttelte den Kopf. „Ein Gespräch unter vier Augen ist immer besser als eins am Telefon, Shelley. Das müsstest du doch inzwischen gelernt haben. So kann ich sie besser überreden, dir ein Zimmer zu geben.“

„Überreden? Du?“ Shelley lachte. „Was sollte denn dein Wort im ‚Westward‘ schon für ein Gewicht haben!“

Nur ein Zucken seines Mundwinkels ließ ahnen, wie sehr sich Drew durch diese Bemerkung getroffen fühlte. „Oh, im Laufe der Jahre habe ich schon etliche Aufträge fürs ‚Westward‘ erledigt. Und sie behandeln ihre Handwerker wirklich gut.“

Jennie kicherte. „Komm rüber, und lass uns einen Tee trinken, Shelley. Ich freue mich schon darauf.“

Shelley nickte, doch Drew widersprach. „Ich gehe mit dir, Jennie. Shelley braucht bestimmt noch etwas Zeit, um sich im Haus umzusehen.“

Dem konnte Shelley nicht widersprechen, sie hatte jedoch das unbestimmte Gefühl, dass Drew doppeltes Spiel trieb. Aber sie war viel zu erschöpft, um sich über seine Gründe dafür den Kopf zu zerbrechen.

5. KAPITEL

Shelley öffnete die Fenster in ihrem Zimmer und im Bad. Als sie wieder die Treppe hinunterging, fiel ihr Blick zufällig in den Spiegel auf dem Flur, und sie blieb entsetzt stehen. Wie sah sie denn aus!

Sie war zwei Tage unterwegs gewesen und hatte während dieser Zeit keine Gedanken an ihr Äußeres verschwendet. Das Ergebnis war niederschmetternd. Sie hatte vorhin gedacht, dass Jennie sich nicht gerade zu ihrem Vorteil verändert hatte – mit letzter Sicherheit hatte Jennie das gleiche Urteil über sie gefällt. Ihr Erscheinungsbild war einfach verheerend!

Das Gesicht wirkte blass und eingefallen, ihre sonst so perfekte Frisur war völlig außer Fasson geraten, die Wimperntusche verschmiert, und sie hatte dunkle Schatten unter den Augen. Kein Wunder, dass Drew sich so abfällig über ihr Aussehen geäußert hatte.

Sie suchte nach ihren Toilettenartikeln, machte sich frisch und bürstete sich das Haar. Danach fühlte sie sich besser, wenn sich an ihrem Aussehen auch nicht viel geändert hatte. Wie gern hätte sie jetzt in Ruhe gebadet und sich dann ins Bett gelegt, ohne den Wecker zu stellen. Aber stattdessen musste sie zu Jennie.

Shelley schloss hinter sich ab und ging zum Nachbarhaus. Sie hatte noch nicht geklingelt, als Jennie auch schon die Tür öffnete. Auch Jennie hatte etwas für sich getan, war frisch frisiert und hatte etwas hellen Lippenstift aufgetragen. Shelley fand, dass ihre Freundin schon viel besser aussah. Wenn sie nur nicht so verbittert wirken würde.

„Komm rein“, empfing Jennie sie. „Aber entschuldige bitte die Unordnung.“

Shelley trat ein und blickte sich erstaunt um, weil sich alles so verändert hatte. Es war herrlich warm – besonders wenn man aus dem eisigen Haus nebenan kam – denn unter den Fenstern standen jetzt flache, moderne Heizkörper.

„Wie angenehm warm du es hier hast, Jennie.“ Shelley seufzte. „Und wie schön alles hergerichtet ist.“

„Danke. Aber lass uns ins Wohnzimmer gehen, dort ist es gemütlicher, und der Tisch ist auch schon gedeckt.“

Die Wände des Wohnzimmers waren hell gestrichen, auf dem Boden lag ein modern gemusterter Teppich, und die Polstermöbel waren beige bezogen. Auf dem flachen Couchtisch standen Tee und eine Schale mit Keksen bereit.

Als Shelley sich Jennie gegenüber aufs Sofa setzte, entdeckte sie auf der Kommode das Foto eines Babys mit dunklen Locken. Ob das Cathys Kind, Jennies Nichte, war?

Shelley schob sich eins der jadegrünen Kissen in den Rücken. „Deine Couch ist so bequem, Jennie, dass ich mich vorsehen muss, hier nicht einzuschlafen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann einfach nicht fassen, wie geschickt du diesen Raum gestaltet hast! Er wirkt mindestens doppelt so groß wie meiner. Es muss viel Geld und Mühe gekostet haben, diesen Effekt zu erzielen.“

„Das ist Drews Werk, nicht meines“, antworte Jennie und schenkte Tee ein. „Während ich im Krankenhaus lag, hat er das Haus von Grund auf renovieren lassen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich gestaunt habe, als ich wieder nach Hause kam.“

„Das war ja wirklich spendabel von ihm“, gestand Shelley widerwillig zu.

Jennie runzelte die Stirn. „Aber du musst doch wissen, wie großzügig er ist!“

„Ja, natürlich, schließlich war ich mit ihm verlobt und kenne seine guten Seiten.“ Plötzlich kam Shelley ein Verdacht. „Bezahlt er dir auch die Gartenpflege?“, fragte sie.

„Ja.“

„Dann ist er also die ganze Zeit auch für meinen Garten aufgekommen?“

Jennie blickte verlegen in ihre Tasse. „Es wäre ihm bestimmt nicht recht, wenn du davon ein großes Aufheben machtest. Drew hat dem Gärtner gesagt, er solle das Unkraut jäten, mehr nicht.“

Shelley schüttelte den Kopf. „Nein, es ist mehr gemacht worden, denn der Garten sieht so schön aus wie zu Lebzeiten meiner Mutter.“ Sie seufzte und wünschte, Drew hätte sich nicht so großzügig verhalten. „Es muss ihm sehr gut gehen, wenn er sich das alles leisten kann“, fügte sie nachdenklich hinzu. „Als wir noch zusammen waren, hatte er nicht so viel Geld.“

„Darum hast du ihn doch auch verlassen, oder?“

Shelley sah ihrer Freundin in die Augen. „Glaubst du das wirklich?“

Jennie zuckte die Schultern. „Du hast ihn für einen Mann verlassen, den du so gut wie überhaupt nicht kanntest, der aber sehr reich war. Was sollte ich da denken?“

„War das auch die Meinung anderer?“

„Ja. Soll ich dir Tee nachschenken?“

„Bitte.“

Jennie reichte Shelley die Tasse mit dampfendem Inhalt und sah sie dabei neugierig an. „Und jetzt bist du zurück.“ Shelley lehnte sich zurück und wartete auf die unausweichliche Frage, die auch prompt kam. „Warum?“

„Wer will das wissen, Drew oder du?“

„Drew wird es bestimmt am meisten interessieren, andere Leute aber auch. Du weißt ja, wie das in Milmouth so ist.“

Ja, Shelley wusste, dass Milmouth eine Kleinstadt mit all ihren Nachteilen war. „Ich bin hierher zurückgekommen, weil das mein erster Gedanke war“, sagte sie ehrlich. „Milmouth ist mein Zuhause.“

Jennie betrachtete sie skeptisch. „Ich dachte, das wäre das Apartment in Mailand und die Villa am Gardasee.“

Autor

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