Romana Exklusiv Band 315

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KOMM AUF MEIN SCHLOSS, JOSIE von FIONA HARPER
Nach einem Skandal hat Josie Ruhe auf Elmhurst Hall gefunden. Bis der neue Besitzer des Herrenhauses, auftaucht. Zwischen der unkonventionellen Josie und dem korrekten Lord William Radcliff, fliegen nicht nur die Fetzen. Können heiße Küsse William überzeugen, dass Julie die Richtige für ihn ist?

IM LAND DER SEHNSUCHT von MARGARET WAY
Holt McMaster, Besitzer einer imposanten Ranch in Queensland, findet Marissa einfach hinreißend. Mit ihrer sympathischen Art hat die junge Nanny nicht nur sein Herz, sondern auch das seiner Stieftochter im Sturm erobert. Doch da taucht seine Exfrau auf. Wird ihre brennende Eifersucht alles zerstören?

PARADIESISCHE TAGE AM INDISCHEN OZEAN von JESSICA HART
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  • Erscheinungstag 18.10.2019
  • Bandnummer 315
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744984
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Fiona Harper, Margaret Way, Jessica Hart

ROMANA EXKLUSIV BAND 315

1. KAPITEL

Will hielt an und stieg aus seinem Wagen, den er mit halb offener Tür mitten auf der Straße stehen ließ. Er ging ein paar Schritte vor.

Die Türmchen und Schornsteine von Elmhurst Hall erhoben sich über den Bäumen, die das Gebäude umgaben, seine Mauern aus Sandstein erglühten in der Nachmittagssonne in einem warmen Goldgelb. Die Front wurde von zahlreichen länglichen Fenstern durchbrochen.

Auf diesen Moment hatte er gewartet, seit er vor einem Monat den Brief des Notars geöffnet hatte. Der Moment, auf den seine Familie seit drei Generationen gehofft hatte. Wenn er jetzt versagte – untypisch für ihn, aber nicht ausgeschlossen –, mochte es wieder drei Generationen dauern, sich von der Niederlage zu erholen. Eine Möglichkeit, mit der er sich jetzt nicht länger auseinandersetzen wollte.

Er stieg wieder in seinen Wagen, und sein Blick streifte die Werbebroschüre auf dem Beifahrersitz. Sie behauptete, dass Elmhurst Hall wie „ein Traumbild aus einem Märchen“ sei. Er hatte das für reine Marketing-Poesie gehalten.

Doch nun holte er tief Luft. Es war viel mehr als ein Traumbild. Es war atemberaubend.

Und es gehörte ihm.

Er drehte den Zündschlüssel herum und fuhr mit gemächlichen dreißig Stundenkilometern die Landstraße zum Herrenhaus hinunter. Zum Glück gab es keinen Verkehr, den er mit seiner Fahrweise aufhalten konnte.

Vor den riesigen schmiedeeisernen Toren musste er anhalten. Sie waren über drei Meter hoch und verriegelt – vermutlich um Bauern wie ihm den Zutritt zu verwehren. Dieser Gedanke brachte ihn wieder zum Lächeln. Was für ein Pech! Jetzt war er hier, und es gab nichts, womit der Rest der Familie Radcliff ihn aufhalten konnte.

Aus geringerer Entfernung betrachtet, wirkte das Gebäude nicht mehr ganz so prächtig. Lose herabhängende Regenrinnen und bröckelnder Putz ließen es wie eine alternde Diva aussehen, die ihre Glanzzeit hinter sich hatte, deren ehemalige Schönheit aber noch immer sichtbar war.

Er grinste. Welch eine Ironie, dass nun gerade der Enkel des verstoßenen Sohns der Familie über genügend Geld und vor allem die Fertigkeiten verfügte, um dieser alten Lady die erforderliche Schönheitsoperation zu verpassen. Offensichtlich hatte der verstorbene Lord Radcliff entweder nicht das nötige Geld oder kein Interesse an einer Renovierung gehabt.

Was für eine Verschwendung! Er hatte schon alte Häuser in einem wesentlich schlechteren Zustand vorgefunden, die nach der Restaurierung wieder märchenhaft ausgesehen hatten und nicht mehr erahnen ließen, wie heruntergekommen sie vorher gewesen waren. Das war sein Geschäft. Nun würde er hier seine Talente zum Einsatz bringen.

Links von ihm verlief eine kleine Straße. Er folgte ihr und gelangte auf einen großen, fast leeren Besucherparkplatz, wo er parkte und ausstieg.

Der Fußweg zum Herrenhaus führte durch einen großen ummauerten Garten. Will sah auf die Uhr. Mr. Barrett erwartete ihn um vier Uhr, und jetzt war es schon fast fünf vor. Er sollte sich lieber etwas beeilen. Das klapperige Gatter, von dem die grüne Farbe abblätterte, ließ sich leicht aufstoßen. Der Garten war nicht die ausgedehnte Grünfläche, die er erwartet hatte, sondern durch dicke Eibenhecken in kleinere Abschnitte unterteilt.

Nachdem er fünf Minuten lang versuchsweise verschiedene Richtungen eingeschlagen hatte, wurde ihm klar, dass die Anlage keiner Logik folgte. An einer Kreuzung blieb er stehen und versuchte zu erschließen, welcher der Wege der richtige sein könnte. Der vor ihm liegende Weg schien ganz offensichtlich zum Wohnhaus zu führen, aber aus der Erfahrung der letzten fünf Minuten wusste er, dass hier nichts so war, wie es schien.

Gerade wollte er sich für den Weg zu seiner Linken entscheiden, als ein Wesen mit schimmernden Flügeln das Gebüsch durchbrach und direkt vor ihm landete. „Ein Traumbild aus einem Märchen“ hatte die Broschüre versprochen. Aber mit wirklichen Elfen hatte er nicht gerechnet. Wie erstarrt blieb er stehen, während sein Herz aufgeregt schlug.

Bevor er sich die Augen reiben konnte, purzelte noch eine Gestalt aus dem Strauchwerk und landete der Länge nach auf dem Weg. Melodisches Gelächter erfüllte die Luft. Das Geräusch verstummte abrupt, als die beiden bemerkten, dass sie nicht allein waren. Zwei Augenpaare betrachteten ihn verschmitzt.

Will starrte zurück, noch ganz überwältigt von den unerwarteten Eindrücken.

Die kleinere der beiden Gestalten, die mit den Flügeln, sprach zuerst.

„Wer bist du?“

Er entdeckte, dass die Flügel aus einem rosa Gewebe bestanden und von einem Gewirr von Gummibändern gehalten wurden. Das Ganze saß auf einer mit Pelz besetzten Jacke.

„Ich bin Will“, erwiderte er und wunderte sich dann, warum er sich nicht richtig vorgestellt hatte. Er legte großen Wert auf Manieren.

Sie stand auf und klopfte sich die Erde von ihrem Röckchen.

„Ich bin Harriet.“ Sie streckte ihm eine rosa behandschuhte Hand entgegen. Zu überrascht von dieser Geste, um nachzudenken, beugte Will sich vor und ergriff die ihm dargebotene Hand.

Ihm fehlte jegliche Erfahrung, das Alter kleiner Mädchen einzuschätzen. Älter als drei auf alle Fälle – sie sprach deutlich und korrekt –, aber vermutlich jünger als sieben. Ihm war nicht klar, warum es ihm so wichtig erschien, zu wissen, wie alt sie war. Vielleicht weil er einen konkreten Sachverhalt brauchte, um dieses ziemlich surrealistische Zusammentreffen in der Wirklichkeit zu verankern.

„Hattie, ich habe dir doch gesagt, dass du nur mit Fremden sprechen sollst, wenn ich es erlaube.“

Will registrierte die Stimme – sie klang älter, aber genauso klar und deutlich. Eigentlich wollte er die ältere Gefährtin der Elfe genauer unter die Lupe nehmen, aber das kleine Mädchen hielt seinen Blick fest.

Einen so intensiven Blick hatte er in seinem ganzen Leben noch nie gesehen. Und sie zog sich nicht schüchtern zurück oder versteckte sich hinter dem anderen Mädchen, wie er es erwartet hätte. Stattdessen musterte sie ihn mit einem geradezu königlichen Blick der Überlegenheit und wich seinen neugierigen Blicken nicht aus. Dann schien sie mit ihrer Abschätzung seiner Person fertig zu sein und nickte anerkennend.

Wie seltsam. Kinder erwärmten sich äußerst selten für ihn. Er fühlte sich immer steif und befangen in ihrer Gegenwart. Aber diesem merkwürdigen kleinen Mädchen schien das nichts auszumachen.

Jetzt lenkten die Geräusche, die die andere Person beim Aufstehen verursachte, seine Aufmerksamkeit auf sich. Ihr Blick war genauso intensiv wie der ihrer Freundin. Obwohl er sich inzwischen wieder gefangen hatte und mit Sicherheit wusste, dass sie nichts weiter als ein menschliches Wesen war, wurde er das Gefühl nicht los, dass sie irgendetwas Ungewöhnliches an sich hatte.

„Elmhurst Hall ist bis April donnerstags und freitags für Besucher geschlossen“, sagte sie jetzt. „Wie sind Sie hereingekommen?“

Will warf einen kurzen Blick in Richtung Parkplatz. „Durch die Pforte natürlich. Ich habe eine Verabredung mit Mr. Barrett.“

Sie nahm Hattie an die Hand.

„Dann sollten Sie mir am besten folgen. Die Anlage des Gartens ist in diesem Teil ziemlich verwirrend, wenn man sich nicht auskennt.“

Hattie hüpfte nun neben dem älteren Mädchen her. Inzwischen vermutete er, dass sie nicht die Schwester der Kleinen, sondern eher deren Babysitter war. Sie hatte einen mehrfarbig gestreiften Hut mit merkwürdigen rosa Troddeln an den Seiten tief über die Ohren gezogen, der ihn an einen altmodischen Kaffeewärmer erinnerte. Außerdem trug sie eine kurze Jeansjacke, eine Cargohose und Stiefel.

Er zuckte die Schultern. Es stand ihm nicht zu, über ihre Kleidung zu urteilen. Zumal sich ihre Aufmachung für den Gang durch den Garten als erheblich geeigneter herausstellte als sein Designeranzug, dessen Hosensaum schon schlammverkrustet war – genau wie seine italienischen Schuhe.

Jetzt betraten sie einen tiefer liegenden Teil des Gartens mit riesigen Blumenbeeten und einem Brunnen in der Mitte. Von hier aus hatte er endlich einen freien Blick auf die Rückseite des Herrenhauses.

Er verstand genug von Architektur, um zu erkennen, dass das Gebäude ein Flickwerk aus verschiedenen Stilen und Epochen war.

Der Flügel, der mit seiner prächtigen Fassade dem Eingangstor gegenüberlag, war wohl erst später hinzugefügt worden, aber hier auf der Rückseite konnte man die Geschichte des Gebäudes ablesen. Jeder der ehemaligen Besitzer hatte einen Teil angebaut, wohl aus dem Wunsch heraus, es zu verschönern, und auch, um ihm seinen persönlichen Stempel aufzudrücken. Jetzt war es an ihm, das Gleiche zu tun.

Elmhurst Hall war wirklich ein ganz einzigartiges architektonisches Prachtstück, und er konnte es kaum erwarten, es genauer zu erforschen.

Plötzlich zogen kleine Finger an seiner Hand und schoben sich in seine Handfläche, bis sie mit seinen Fingern verschlungen waren.

„Komm schon, Will, hier entlang.“

Hattie zog ihn über eine ausgedehnte Rasenfläche bis zu einer Treppe, die zu einer großen Tür aus massivem Holz führte. Zu sehr damit beschäftigt, seine Umgebung in sich aufzunehmen, ließ er sich von dem kleinen Mädchen vorwärtsziehen.

Schließlich wandte er sich an Hattie. „Wenn heute keine Besucher zugelassen sind, was macht ihr dann hier?“

„Wir spielen Prinzessin und Trolle.“

Ihre Stimme klang so sachlich, als würde sie annehmen, dass jeder Besucher ähnlichen Aktivitäten nachging. „Ich bin die Prinzessin“, sagte sie, „und Mummy ist der Troll.“

Sie war die Mutter des Kindes? Will betrachtete sie genauer, während er nach oben stieg. Sie wirkte kaum älter als ein Teenager. Vielleicht lag es an ihrer Größe. Sie war sehr zierlich und höchstens einen Meter sechzig groß.

So, wie sie die Hand nach Hatties ausstreckte, glich das eher einem Befehl als einer Bitte. Hattie entzog ihm ihre behandschuhten Finger und rannte zu ihrer Mutter.

Irgendetwas an ihm versetzte diese Frau in Alarmbereitschaft. Will sah es daran, wie eigensinnig sie das Kinn hob und einem direkten Blickkontakt mit ihm auswich. Bevor er sie erreicht hatte, ging sie schon wieder weiter, wobei sie immer einen gewissen Abstand zu ihm hielt.

Er folgte ihr, doch sie stieg nicht die Treppe hinauf, sondern ging um die Ecke zum früheren Dienstboteneingang. Hattie riss sich los und verschwand durch die schmale Tür, die sie hinter sich offen ließ.

Die junge Frau drehte sich zu ihm um.

„Und was haben Sie wirklich hier gemacht?“, fragte er, als sein normalerweise sehr scharfer Verstand allmählich wieder einsetzte.

Sie zuckte die Schultern. „Wie Hattie schon sagte, haben wir hier gespielt. Es gibt keinen besseren Platz für fantasievolle Spiele.“

Nun ja, aber dafür war es doch sicher nicht nötig, unbefugt auf den Besitz einzudringen. Er war schon drauf und dran, seine Gedanken auszusprechen, hielt sich jedoch zurück und fragte nur: „Und Sie haben die Erlaubnis des Eigentümers dazu?“

Sie nickte. „In gewisser Weise schon. Ich lebe und arbeite hier. Nutzung der Anlagen ist einer der Vorteile dieses Jobs.“

Darüber würde er später mehr herausfinden.

Sie nickte in Richtung der geöffneten Tür.

„Viel Glück“, sagte sie, doch ihr Blick war alles andere als ermutigend. „Sie sind nicht der erste gut gekleidete Mann, der hier auftaucht. Aber Sie verschwenden nur Ihre Zeit. Als Lord Radcliff starb …“ Hier unterbrach sie sich, schüttelte einmal heftig den Kopf, wie um einen unerwünschten Gedanken zu vertreiben, und fuhr fort: „Ich fürchte, Sie werden mit leeren Händen gehen müssen. Es ist so gut wie nichts übrig, um seine Schulden zu bezahlen.“

Als er sie jetzt näher betrachten konnte, verstand er, warum er sie zuerst für ein Kind gehalten hatte. Sie hatte große Augen und volle Lippen in einem elfengleichen Gesicht. Wäre ihr störrisches Kinn nicht gewesen, hätte man sie für eine Fee halten können – zeitlos, alterslos und weise.

„Vielen Dank für Ihren Rat …“

Sie zwinkerte ihm zu.

„Josie.“ Während sie ihren Namen nannte, griff sie mit einer Hand nach ihrem Kaffeewärmerhut und zog ihn vom Kopf.

„Ich bin nicht hier, um …“ Weiter kam er nicht, denn jetzt ging ihm auf, dass die leuchtend rosafarbenen Troddeln nicht zum Hut gehörten. Erstaunt riss er die Augen auf.

Keine Troddeln. Zöpfchen! Kurze, stoppelige Zöpfchen in einem besonders aggressiven Rosaton.

Bei dieser Frau nahmen die Überraschungen kein Ende.

Er bemerkte, wie die Andeutung eines Lächelns ihre Lippen umspielte, bevor sie sich umdrehte und über die Türschwelle trat. Es gefiel ihr also, dass sie ihn so schockiert, ihm die Sprache verschlagen hatte.

Nun, dieses Spiel konnte man auch zu zweit spielen. Und er hatte das Gefühl, seine Ankunft hier würde weit mehr Aufregung verursachen als die Entdeckung einer Angestellten mit pinkfarbenem Haar. Wenn sein Instinkt ihn nicht trog, würden sie alle so überrascht sein, als hätten sie … plötzlich Elfen im Garten gesehen.

Im engen Gang des Dienstbotenflügels hallten die Schritte des Fremden hinter ihr. Josie klopfte an eine Tür, die in einem Jahrhundert angefertigt worden war, als die Menschen erheblich kleiner gewesen sein mussten.

Sie selbst mit ihren Einsachtundfünfzig hatte damit kein Problem, aber Will Wie-auch-immer-er-hieß würde den Kopf einziehen müssen.

Sie seufzte, als sie den Besucher zu Barrett hineingeführt und das Zimmer wieder verlassen hatte. Energisch schloss sie die Tür hinter sich. Sie verspürte nicht den Wunsch zu hören, was er zu sagen hatte. Das alles war viel zu deprimierend.

Harry war der liebenswerteste, reizendste alte Herr gewesen, den man sich vorstellen konnte, aber mit Geld hatte er überhaupt nicht umgehen können. Das hatte sie, seit sie vor sechs Jahren hierhergekommen war, immer geahnt. Aber erst nach seinem Tod und der Offenlegung seiner planlos geführten Konten hatte sich gezeigt, wie schlimm die Dinge wirklich standen.

Sie hingen jetzt alle in der Luft, bis die juristischen Streitereien um seinen Nachlass beendet waren. Er hatte ihr einmal gesagt, dass er ihr das Cottage, in dem sie lebte, vermachen würde. Doch in keinem der Räume, die mit Harrys angesammeltem Krimskrams vollgestopft waren, hatte sich ein Testament gefunden.

Damit waren sie und Hattie der Gnade des neuen Besitzers ausgeliefert. Ihr geliebter Patenonkel hatte sie in dem heruntergekommenen Cottage praktisch mietfrei wohnen lassen, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass der neue Lord Radcliff dieses Mietverhältnis anerkennen würde. Denn er hatte nicht nur das Herrenhaus geerbt, dessen Unterhalt Unsummen verschlang, sondern auch Harrys Schulden. Selbst wenn er gewillt war, ihr entgegenzukommen, so würde er es sich wahrscheinlich einfach nicht leisten können.

Das Gehalt, das sie dafür bekam, die Teestube zu führen, reichte nur knapp, um ihre festen Kosten zu decken. Miete konnte sie davon keine zahlen, selbst wenn sie Hatties Ballettunterricht strich.

Sie verzog das Gesicht, während sie sich durch die alten Korridore in Richtung Küche bewegte – denn dort würde sie ihre Tochter mit Sicherheit finden. Hattie liebte ihre Ballettstunden und würde mindestens einen Monat lang schmollen, wenn sie damit aufhören musste.

Josie selbst konnte nicht verstehen, warum man so viel Aufhebens darum machte. Es gab dabei keine Freiheit, keine Ausgelassenheit. Sich selbst zu unnatürlichen Posen zu verrenken und seine Füße in harte kleine Schuhe zu zwängen, die zwei Nummern zu klein waren – das war nichts für sie!

Aber Hattie schien diese Quälerei im Ballettröckchen zu mögen, und sie wollte sie nicht daran hindern, etwas zu tun, das sie liebte. Schließlich war es das, was gute Eltern taten: Sie förderten die Interessen ihrer Kinder und trugen dazu bei, dass sie zu den einzigartigen Wesen heranwuchsen, die sie sein sollten. Sie hatte nicht die Absicht, ihrer Tochter ihre eigenen Vorlieben und Abneigungen aufzudrängen, als wären es die Zehn Gebote.

Wie sie richtig vermutet hatte, saß Hattie am Küchentisch und sah Mrs. Barrett, die Küchenfee von Elmhurst, erwartungsvoll an. Ihr Ehemann hörte nur auf die Anrede „Barrett“, und Mrs. Barrett bestand darauf, mit „Cook“ angesprochen zu werden. Josie durfte „Mrs. B“ zu ihr sagen, wenn die Köchin in der richtigen Stimmung war.

„Das Übliche, Miss Hattie?“

Josie lächelte. Das war ein eingespieltes Ritual zwischen Hattie und der Köchin. Es erinnerte die treu ergebene Hausangestellte vermutlich an die glorreichen alten Zeiten, in denen sie zahlreiches Personal befehligte und die Bewohner des Herrenhauses zu verköstigen hatte.

Warum Hattie dieses Spiel gefiel, war leicht zu erraten. Der Traum eines jeden kleinen Mädchens: Dornröschen oder Aschenbrödel zu sein und in einem Schloss zu wohnen. Und sie würde Hattie ihre Träume nicht nehmen, auch wenn die Realität nicht so rosig aussah. Es würde nicht lange dauern, bis das kleine Mädchen lieber Rapunzel sein würde – sich die Haare wachsen lassen wollte, um aus diesem stickigen, altmodischen Mausoleum herauszukommen.

Hattie strahlte. „Ja, bitte, Cook.“

„Und kann ich Sie dazu mit einem frisch gebackenen Ingwerplätzchen in Versuchung führen, Miss?“

Josie musste sich beherrschen, um nicht loszuprusten, als Hattie mit schief gelegtem Kopf das Angebot in Erwägung zog. Sie sah so etepetete aus, wie sie mit absolut geradem Rücken und gekreuzten Knöcheln dasaß.

„Ja, ich denke, das würde mir sehr zusagen, Cook.“

Mrs. B nickte und goss Hatties Saft in eine zierliche kleine Teetasse, die eigens zu diesem Zweck reserviert war.

„Hi, Mrs. B“, begrüßte Josie die Haushälterin und zerzauste ihrer Tochter das Haar. Das brachte ihr einen finsteren Blick von Hattie ein, die ihre Tiara abnahm und sich das Haar glättete.

„Guten Tag, meine Liebe. Haben Sie heute irgendwelche Trolle gefangen?“

Josie lachte in sich hinein und setzte sich Hattie gegenüber an den Küchentisch. „So kann man das nicht sagen.“

Mrs. Barrett sah sie verwundert an und stellte einen Becher Tee für sie hin.

Hattie gab bereitwillig Auskunft. „Wir haben einen Mann im Garten getroffen. Sein Name ist Will. Ich glaube, er mag Elfen.“

„Ich habe ihn zu Barrett gebracht“, fügte Josie hinzu. „Allerdings wird er nicht viel Freude haben, bis der neue Lord ausfindig gemacht ist. Und selbst dann muss er sich in einer langen Schlange hinten anstellen, wenn er sein Geld bekommen will.“

Mrs. Barrett ließ sich mit ihrer ausladenden Figur auf dem Stuhl neben Josie nieder. „Barrett hat mir vorhin erzählt, dass sie ihn gefunden haben. Er arbeitet in Übersee und ist der Großneffe des verstorbenen Lord Radcliff. Er wird wohl irgendwann im Laufe der Woche ankommen. Heute Nachmittag um sechzehn Uhr dreißig findet eine Krisensitzung des Personals statt. Ich passe auf Hattie auf, während Sie dort sind. Barrett kann mir später alles berichten.“

Josie trank einen Schluck Tee. „Ich wusste gar nicht, dass Edward Radcliff einen Sohn hatte. Sie hatten mir doch erzählt, er habe den Versuch nach vier Töchtern aufgegeben.“

„Nein. Edward war der jüngste Bruder von Lord Radcliff. Der Großvater des neuen Lords wäre dann der mittlere der drei Radcliff-Brüder.“

„Es gab noch einen dritten Radcliff-Bruder? Ich kann mich nicht erinnern, über ihn etwas im Stammbaum gesehen zu haben.“

„Das können Sie auch nicht. Diese Ereignisse liegen in der Zeit lange vor Ihrer Geburt, Josie. Es gab einen großen Zwist zwischen der Familie und dem mittleren Sohn, der enterbt wurde. Der Detektiv, den die Anwälte beauftragt hatten, hat herausgefunden, dass er seinen Namen geändert hatte, weshalb es auch so schwierig war, seine Nachkommen aufzuspüren.“

Josie lächelte ironisch. „Noch ein schwarzes Schaf also.“

Mrs. B wechselte das Thema. „Sie sollten sich lieber beeilen, sonst kommen Sie noch zu spät zu der Versammlung.“

Josie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und legte die Beine auf den Tisch. Die vorwurfsvollen Blicke der beiden anderen ignorierte sie. „Ein paar Minuten habe ich noch. Jedenfalls genug Zeit, um meinen Tee auszutrinken.“

Der Enkel des schwarzen Schafes hatte also Elmhurst geerbt. Zweifellos bewegte sich das Leben auf Elmhurst Hall in ausgefahrenen Gleisen und konnte es vertragen, aus diesem Alltagstrott herausgerissen zu werden. Nur wollte sie nicht, dass irgend so ein aufgeblasener Angehöriger der Oberschicht in ihr Revier stürmte und Unruhe stiftete. Wenn es einen Aufruhr geben sollte, dann wollte sie ihn schon selbst verursachen.

Als Josie von der Personalversammlung zurückkehrte, kam sie sich ein wenig dumm vor. Was hieß hier „ein wenig“? Sie kam sich sehr dumm vor. Aber das hatte sie sich gegenüber Will Wie-auch-immer-er-hieß nicht anmerken lassen.

Sie stürmte zurück in die Küche. Wie konnte er es wagen, in Elmhurst Hall aufzutauchen und dabei ganz normal auszusehen? Er entsprach überhaupt nicht dem, was sie erwartet hatte. Er war selber schuld, wenn sie sich ihm gegenüber nicht ganz angemessen verhalten hatte. Es gehörte sich nicht, sich an jemanden im Garten heranzuschleichen und dann zu erwarten, dass derjenige wusste, wer er war.

Am darauffolgenden Montagmorgen, als sie mit Mrs. B die Kuchen für die Teestube arrangierte, war Josie immer noch nicht ganz darüber hinweg.

„Wer ist dieser Typ überhaupt? Und wohin ist er am Freitag nach der Versammlung verschwunden? Er hat sich das ganze Wochenende über nicht blicken lassen.“

Mrs. B seufzte und schnitt den Möhrenkuchen weiter in gleichmäßig große Stücke.

„Barrett sagt, dass er Geschäftsmann ist, ein ziemlich erfolgreicher sogar.“

„Was für Geschäfte betreibt er? Das würde ich gern wissen!“, murmelte Josie vor sich hin.

Mrs. B zuckte die Schultern und platzierte den geschnittenen Kuchen in der Vitrine. Ihre Backwaren gehörten zu den beliebtesten Angeboten in der Teestube.

„Och, irgendetwas, das mit alten Gebäuden zu tun hat“, erwiderte Mrs. B.

Es war sinnlos, weiter nachzufragen. Für die treue Köchin war er Lord Radcliff, und damit basta.

Niemand wusste etwas über ihn. Alte Gebäude. Das konnte alles Mögliche bedeuten. Er konnte ein Bauunternehmer sein, der vorhatte, das ehrwürdige Herrenhaus abzureißen und stattdessen eine scheußliche moderne Wohnanlage zu errichten.

Josie wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch trocken und nahm die Schürze ab. „Ich gehe dann mal zum Abholmarkt, um unsere Vorräte an Chips und Knabberzeug aufzustocken. Ich müsste vor der Mittagszeit wieder zurück sein.“

Mrs. B nickte und beschäftigte sich damit, Muffins ansprechend auf einem Teller zu arrangieren. Josie zog ihren Mantel an, holte eine gestreifte Mütze aus der Manteltasche hervor und setzte sie auf, wobei sie sich die Haare hinter die Ohren schob.

Wenig später ließ sie das Dorf Elmhurst hinter sich und fuhr weiter zum nahe gelegenen Städtchen Groombridge. Nachdem sie ihre Einkäufe erledigt und den Kofferraum des alten Morris Minor mit Vorräten für die Teestube vollgeladen hatte, beschloss sie, noch einen kleinen Abstecher zu machen. Zwar hatte das nicht direkt etwas mit der Arbeit zu tun, aber alle Angestellten im Herrenhaus würden davon profitieren, also konnte man es beinahe als Arbeit gelten lassen.

Nur fünf Minuten später betrat sie die Stadtbücherei. Josie ignorierte die Bücherregale und ging direkt zu einem der Computer mit Internetanschluss. Sie rief eine Suchmaschine auf und tippte den Namen William Roberts ein. Seinen Nachnamen hatte sie von Barrett erfahren.

Sofort wurde ihr eine lange Liste von Einträgen angezeigt. Zuerst landete sie auf der Website eines William Roberts, der ein begeisterter Angler war. Aber nach zwei, drei weiteren Versuchen wurde sie schließlich fündig.

Ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich.

Sie war auf einen Zeitungsartikel gestoßen. Es sah so aus, als habe Will vor ein paar Monaten einen Preis für eins seiner Projekte gewonnen. Die Bildunterschrift unter einem Foto beschrieb seine Firma als ein Unternehmen, das sowohl alte Gebäude restaurierte als auch neue Bauprojekte durchführte.

Sie stützte den Kopf in die Hände und massierte sich die Schläfen. Schon sah sie ihr derzeitiges Leben zerbrechen. Wenn Elmhurst Hall geschlossen wurde, hätte sie keine andere Wahl, als zu ihren Eltern zu ziehen. Dabei hatte sie sich immer geschworen, das niemals zu tun.

Josie surfte weiter, in der Hoffnung, etwas mehr Informationen über den mysteriösen Mr. Roberts zusammenzutragen. Sie fand nicht sehr viel, stellte aber fest, dass er seine Firma quasi aus dem Nichts aufgebaut hatte und sehr erfolgreich war.

Wie aus heiterem Himmel hörte sie plötzlich die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf widerhallen: „Er mag ja reich sein, Schätzchen, aber er ist wohl kaum einer von uns.“

Ihre Mutter war so ein Snob.

„Er ist ziemlich attraktiv, nicht wahr?“

Josie sah sich um. Marianne, die Bibliothekarin, stand hinter ihr und sah ihr über die Schulter. Seit sie hier arbeitete, wurde das Gebot der Ruhe, die in einer Bibliothek zu herrschen hatte, nicht sehr strikt eingehalten. Irgendwie hatte sich dieser Ort der Besinnlichkeit und des Studiums eher in eine Gerüchteküche verwandelt. Und das lag hauptsächlich an Marianne.

„Ach, darauf hatte ich noch gar nicht geachtet.“

Marianne schlug ihr scherzhaft mit einem Taschenbuch auf die Schulter.

„Nun hör aber auf! Mich kannst du nicht für dumm verkaufen. Sieh nur, was für schönes, dichtes Haar er hat, und dieser nachdenkliche, ernsthafte Blick. Jede Wette, dass sich unter seinem Anzug auch eine sehr gute Figur verbirgt.“

„Marianne, du hast zu viel Zeit in der Abteilung mit den pikanteren Liebesromanen verbracht. Nicht jede Frau denkt bei einem Mann nur an seinen Waschbrettbauch und seine muskulösen Oberschenkel. Es gibt Dinge, die wichtiger sind.“

Marianne lachte und schlenderte davon.

Josie schloss die Seite und stand auf. Will Roberts mochte attraktiv aussehen, konnte aber auch das Schlimmste sein, was Elmhurst Hall seit fünf Jahrhunderten zugestoßen war. Und dagegen konnte sie absolut nichts tun.

2. KAPITEL

Will saß in der Ecke der Teestube, halb verborgen hinter einem hässlichen Rankgitter, um das sich verblasster Plastikefeu wand. Er nahm ein Blatt auf, das entweder abgefallen oder von einem gelangweilten Kunden abgezupft worden war, und befestigte es wieder an den Plastikranken.

Hier würde man einiges ändern müssen.

Während das Haus insgesamt noch eine gewisse schäbige Eleganz verströmte, sah die Teestube einfach nur billig und geschmacklos aus.

Nur würde die Geschäftsführerin möglicherweise Probleme machen. Er war jetzt seit einem Monat hier – nun ja, nicht einen ganzen Monat, eigentlich nur an den Wochenenden –, und er hatte immer noch keine Ahnung, wie sie auf die Neuigkeit reagieren würde, dass er eine Kompletterneuerung der Teestube plante. Schließlich hatte er heute am Montagmorgen seine Arbeit in London frühzeitig beendet und war nun am Nachmittag hier.

Man sollte meinen, dass das Mädchen mit den rosa gefärbten Haaren sich darüber freuen würde, wenn er die Schönheit dieses Raumes wieder zum Vorschein bringen wollte, aber in ihrer Gegenwart spürte er eine starke Missbilligung seiner Person.

Er sah ihr zu, wie sie mit Kunden plauderte und sich von ihnen verabschiedete, während sie den Tisch abräumte. Sie mochte etwas seltsam aussehen, konnte aber gut mit Menschen umgehen. Sie war herzlich, bezaubernd – zu anderen Menschen.

Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, dass die Teestube in fünf Minuten geschlossen wurde. Dann würde Josie mit ihm reden müssen.

In den vergangenen Wochen hatte er das gesamte Personal getroffen, einen nach dem andern, um mit ihnen über ihre Arbeit zu sprechen und in Erfahrung zu bringen, ob sie Verbesserungsvorschläge hatten. Er hatte ihnen aufmerksam zugehört, auch wenn ihn manche der Ideen nicht überzeugt hatten. Beispielsweise passte ein Gartenzwerg-Museum so gar nicht zu seinen Vorstellungen von Elmhurst Hall. Was er brauchte, waren Ideen, die Klasse hatten, einen gewissen Respekt für die Tradition und Geschichte des Ortes.

Eine Tasse Tee wurde klappernd auf den Tisch gestellt. Er sah auf. Josie stand vor ihm und starrte ihn an. Bringen wir es hinter uns, sagte ihr Gesichtsausdruck.

„Danke. Setzen Sie sich doch.“

Nach kurzem Zögern ließ sie sich auf den hässlichen Plastiksitz fallen.

„Ich habe mir die Abrechnungen der Teestube angesehen. Sie sehen nicht besonders gut …“

Sie lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. „Ich tue, was ich unter den gegebenen Umständen tun kann. Versuchen Sie einmal, eine solche Teestube zu führen, wenn Sie nur einen funktionierenden Ofen zur Verfügung haben, nicht genügend Personal und ein Budget, das Ihnen nur die billigsten Zutaten erlaubt. Dann möchte ich sehen, ob Sie es besser machen.“

„Ich sagte, die Zahlen sehen nicht gut aus. Ich sagte nicht, dass sie erschreckend wären. Wenn Sie mich hätten ausreden lassen, wüssten Sie, was ich gerade feststellen wollte: dass die Teestube der einzige Teil des Anwesens zu sein scheint, der in den letzten Jahren überhaupt etwas Geld eingebracht hat. Und ich meine, das hat sehr viel mit Ihnen zu tun.“

Sie ließ die Arme sinken. „Oh.“

„Ich will nicht um den heißen Brei herumreden, Josie. Sie leisten Großartiges mit äußerst begrenzten Mitteln, aber diese Teestube hier ist eine Spelunke.“

Sie richtete sich auf und stemmte die Hände in die Hüften. Doch dann sah sie sich im Raum um, ihr Blick blieb an dem Plastikefeu hängen, und sie sank wieder in sich zusammen.

„Sie haben recht. Dieser Ort ist grauenhaft. Das habe ich Harry immer wieder gesagt, aber er wollte nichts von Veränderungen hören. Hat das Problem einfach nicht gesehen.“

Will trank einen Schluck Tee. Er war heiß und stark und genau so, wie er ihn mochte.

„Dann hätten Sie also keine Einwände gegen ein wenig Renovierung?“

„Ein wenig? Meiner Meinung nach sollten wir alles herausreißen und ganz von vorne anfangen!“ Sie sprang auf. „Sehen Sie sich das an.“

Sie holte einen Stuhl aus Holz, stellte ihn auf den Tisch und schwang sich hinauf.

Was, zum Teufel, führte sie da vor? Zirkuskunststücke?

Leider waren seine Beine irgendwie unter dem Plastiktisch eingezwängt, und er konnte nicht so schnell aufstehen, wie er wollte.

„Josie! Das sollten Sie lieber nicht …“

„Schon gut. Ich bin nicht sehr schwer, das geht schon.“

Endlich bekam er die Beine frei und versuchte, Josie festzuhalten. Zu spät. Sie stand auf dem Stuhl und stocherte in der mit Styropor-Platten abgehängten Decke herum.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu ihr auf den Tisch zu steigen und zu hoffen, dass die Tischplatte solider war, als sie aussah.

„Da, schauen Sie mal.“

Über dem Styropor, das sie entfernt hatte, kam die eigentliche Decke mit ihren Balken zum Vorschein. Dunkel und staubig, aber nach der Restaurierung würde sie sensationell aussehen.

Josie lächelte auf ihn herab. Sogar wenn sie – wie jetzt – auf dem Stuhl stand, war sie nicht viel größer als er, und plötzlich fiel ihm auf, wie sich ihre Brüste hoben und senkten und ihre Augen strahlten.

„Hm, ich glaube, wir sollten das auf Bodenhöhe ausdiskutieren.“

Etwas in der Art, wie sie ihn ansah, veränderte sich. Sie blickte ihn an, direkt, aber ohne die gewohnte Missbilligung. „Okay … Lord Radcliff.“

Nachdem sie heruntergeklettert waren und wieder am Tisch saßen, meinte er: „Nennen Sie mich Will.“

Sie lächelte ihn an. Das verwandelte ihr Gesicht. Ohne den breiten Lidstrich und das rosa Haar musste sie umwerfend aussehen. „Das wäre wohl recht unpassend.“

„So, wäre es das?“

Josie schüttelte den Kopf. „Barrett sagte mir, dass Sie sehr großen Wert darauf legen, sich korrekt zu verhalten – auf diesen ganzen Etikette- und Benimm-Regeln-Zauber. Es gehört sich nicht, zu vertrauten Umgang mit den Angestellten zu pflegen. Das macht keinen guten Eindruck.“

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Für mich ist das alles ganz neu.“

„Das sehe ich.“

„Ist es wirklich so offensichtlich?“

Sie musterte ihn. „Ihre Kleidung ist zwar teuer, aber völlig ungeeignet für das Landleben. Sie sehen wie ein Londoner Banker aus.“

„Nun ja, ich … ich arbeite in London.“

„Dann tragen Sie Ihren Armani-Anzug im Büro. Ihre Rechnungen für die Reinigung werden astronomisch ausfallen, wenn Sie sich nicht bald praktische Kleidung besorgen, die Sie hier tragen können.“

Er zog eine Augenbraue in die Höhe. Er hätte Josie nicht für ein Mädchen gehalten, das einen Armani-Anzug erkannte.

„In dem Anzug wirken Sie hier fehl am Platz.“

Und sie in ihrer Kleidung nicht? Doch es wäre nicht sinnvoll, das jetzt zu erwähnen, das hatte noch Zeit. Wichtig im Augenblick war ihm, Brücken zu bauen. Zum ersten Mal, seit er ihr begegnet war, hatte er nicht das Gefühl, von ihr verachtet zu werden. Das war immerhin ein großer Fortschritt.

Wenn sein Instinkt ihn nicht trog – und das tat er nie, wenn es um Geld und Geschäfte ging –, war sie der einzige Grund dafür, dass die Teestube ihre Pforten noch nicht hatte schließen müssen. Josie würde eine nützliche Verbündete sein, und er brauchte sie. Deshalb nickte er nur und behielt ihren Rat für später im Gedächtnis.

„Verstanden. Danke.“

Die Tür öffnete sich, und Hattie hüpfte herein. Josie stand auf und begrüßte eine Frau, von der er annahm, dass sie eine Mutter aus dem Dorf war. Während sie sich am Eingang zur Teestube unterhielten, kam Hattie direkt an seinen Tisch.

„Hallo, Will“, sagte sie und setzte sich auf seinen Schoß.

Will hielt den Atem an. Was, um Himmels willen, sollte er jetzt tun? Er wusste nicht, wie man mit kleinen Kindern sprach, und erst recht nicht, wie man mit ihnen spielte. Hilfe suchend blickte er zu Josie hinüber, doch die war noch in ihre Unterhaltung mit der anderen Frau vertieft.

Er sah Hattie an. Sie erwiderte seinen Blick.

Kein Lächeln. Kein kindliches Geplapper. Nur ein Blick.

Ein Blick, der ihm sagte, dass es ihr gleichgültig war, wer er war oder wie viele Häuser er restauriert hatte, und sogar, dass ihm Elmhurst Hall gehörte. Sie mochte ihn – das war alles.

Merkwürdig.

Aber angenehm.

Sie starrten sich noch immer an, als Josie zurückkam. Er warf ihr einen flehenden Blick zu und bemerkte die Andeutung eines Grinsens über ihr Gesicht huschen.

„Geh und hol dir ein Muffin, Kleines. Du kannst es dir aussuchen: Blaubeere oder Zitrone-Himbeere.“

Das ließ Hattie sich nicht zweimal sagen und schoss zur Theke hinüber. Will verlor seinerseits keine Zeit und stand eilig auf.

„Ich werde meinen Architekten sofort auf die Renovierung ansetzen.“

Sie sagte nichts, sondern nickte nur. Als er die Teestube verließ, war er sich immer noch nicht sicher, ob sie nun Freund oder Feind war.

Schon aus einer Entfernung von zwei Kilometern war Harrington House zu sehen. Josie wurde das Herz schwer, und als sie in den dritten Gang schaltete, krachte das Getriebe.

„Hurra!“, jubelte Hattie auf dem Rücksitz.

Josie wünschte, sie könnte die Begeisterung ihrer Tochter teilen. Wie sie in einem Haus mit fast einhundert Räumen Platzangst empfinden konnte, war ihr ein Rätsel. Aber so war es. Und so war es schon immer gewesen.

Als sie näher kamen, schien es zu wachsen und drohend über ihr aufzuragen. Merkwürdig. Elmhurst Hall hatte noch nie solche Empfindungen bei ihr ausgelöst. Natürlich war es auch nicht einmal halb so groß wie Harrington House, das erbaut worden war, um seine Umgebung zu dominieren, ja einzuschüchtern.

Sie jedenfalls war entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen.

Trotzdem kam sie sich schrecklich klein vor, als sie wenig später aus dem Wagen stieg. Nachdem sie den Fahrersitz nach vorne geklappt hatte, um Hattie herauszulassen, rannte diese sofort zum Eingang hinüber. Die Tür öffnete sich, und Hattie verschwand im Inneren, während Josie noch den Wagen abschloss. Dann ging sie langsam zu der Frau hinüber, die an der Türschwelle auf sie wartete.

Beide ignorierten die Verlegenheit zwischen ihnen und küssten sich förmlich auf die Wange.

„Hallo, Mum. Schön, dich zu sehen.“

Ihre Mutter musterte sie kritisch von Kopf bis Fuß, ihr Blick blieb eine Weile an den rosa Haaren hängen. Sie war vernünftig genug, sich nicht zu einer tadelnden Äußerung hinreißen zu lassen. Das hätte nur Unfrieden gestiftet.

„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Josephine. Dein Bruder ist schon hier.“

Josie zwang sich zu einem Lächeln. „Toll. Wann gibt es Mittagessen?“

„Wir wollen uns um halb zwei zu Tisch setzen.“

Sie begannen, die riesige Eingangshalle zu durchqueren. Das laute Klacken der Pumpsabsätze ihrer Mutter verlieh der Spannung Ausdruck wie Trommelschläge einem Hollywood-Thriller. Als sie den Salon betraten, wirkte Josies Lächeln weniger gekünstelt.

„Glückwunsch, Alfie!“ Sie lief zu ihrem älteren Bruder hinüber und drückte ihn an sich. Sein blondes Haar fiel ihm wie üblich in die Stirn, und auf seinem Gesicht lag das typische alberne Grinsen, das heute noch breiter und alberner ausfiel als sonst – was mit ziemlicher Sicherheit an dem schlanken Mädchen lag, das neben ihm stand und sie mit unverhohlener Neugier ansah.

Josie gab Alfie einen Klaps auf den Arm. „Hast du sie nicht vor mir gewarnt, Brüderchen?“ Sie gab dem Mädchen einen Kuss auf die Wange. „Schön, dich kennenzulernen, Sophie. Dein Verlobter hätte dich über seine unartige kleine Schwester aufklären sollen. Aber vielleicht hielt er es auch für klüger, mich auf Abstand zu halten, bis du Ja gesagt hattest. Jetzt möchte ich aber den Ring sehen.“

Gehorsam hob Sophie ihre linke Hand.

Josie zeigte sich gehörig beeindruckt von dem geradezu unanständig großen Diamanten.

Sophie starrte sie noch immer an. „Dein Haar ist … ich meine, es ist sehr …“ Sie riss die Augen noch weiter auf. Das hatte sie vermutlich nicht herausrutschen lassen wollen, aber das arme Ding schien unter Schock zu stehen.

„Ich denke, das Wort, nach dem du suchst, ist Pink. Der Name auf der Schachtel lautete ‚Hot Pants Pink‘, wenn ich mich recht erinnere.“

„Also bitte, Josephine!“

Sie drehte sich zu ihrer Mutter um und zuckte die Schultern. Sie dachte nicht daran, sich dafür zu entschuldigen, dass sie aussah, wie sie aussehen wollte, und so war, wie sie sein wollte.

Das Essen zog sich so sehr in die Länge, wie Josie schon erwartet hatte. Wenigstens schien Hattie es zu genießen, zwei Portionen einer raffinierten Apfeltorte mit Bergen von Vanilleeis zu verzehren.

Die arme Sophie – Josie kannte das Mädchen erst seit zwei Stunden und konnte nicht anders, als automatisch „arme“ vor seinen Namen zu setzen – war fast zu eingeschüchtert, um zu kauen. Dabei hätte sie es gar nicht nötig, vor Schreck zu erstarren, denn sie, Josie, war ja da, um alle negativen Gefühle auf sich zu ziehen.

Neben Josie sah Sophie wie ein vollkommener Engel aus. Und das schien sie auch zu sein mit ihrem stillen Wesen und ihren tadellosen Manieren.

Arme Sophie! Wenn sie genau wüsste, in was für eine Familie sie einheiratete, würde sie wohl schreiend davonlaufen.

Nach dem Essen, als sie sich in den Salon zurückgezogen hatten, beobachtete Josie, wie ihre Mutter ein künstliches Lächeln aufsetzte und zu ihr herüberkam.

„Hattie ist wirklich ein Schätzchen, nicht wahr?“

Da haben wir’s, dachte Josie, Mutter will was von mir, das habe ich doch gleich geahnt.

„Ja, sie ist ein ganz besonderes Mädchen.“

Die Züge ihrer Mutter wurden weicher, als sie zu Hattie hinübersah, die auf dem Boden lag und mit voller Konzentration ein Malbuch bearbeitete.

Zweifellos fand das Rüschenkleidchen, das Hattie unbedingt hatte anziehen wollen, bei ihrer Mutter Anklang. Josie schüttelte den Kopf. Hatties Strumpfhose war makellos sauber, und sie hatte sich nicht mit Eis bekleckert.

Ihre Mutter schien ihre Gedanken zu lesen. „Sie sieht entzückend aus, nicht wahr? Ganz die kleine Dame. Wenn ich an dich denke, als du in dem Alter warst …“

Jeder Vergleich würde zu meinem Nachteil ausfallen. Mutter könnte es gleich offen aussprechen: Sie versteht nicht, wie eine Versagerin wie ich etwas so Perfektes habe hervorbringen können.

Um ehrlich zu sein, sie wusste es selbst nicht so genau. Diese Ernsthaftigkeit und ungewöhnliche Ordnungsliebe hatte das Kind auf keinen Fall von ihr.

Soweit sie sich erinnern konnte, stammten diese Eigenschaften auch nicht von Hatties Vater. Miles entsprach dem Urbild eines Playboys. Reichlich Charme, gepaart mit Kultiviertheit und einem Anflug von Gefahr. Und ein Lächeln, das schon aus der Entfernung ihre Knie hatte weich werden lassen. Es war unmöglich gewesen, ihm zu widerstehen.

Sie hatten beide zu viel Geld gehabt und zu wenig Verstand, um sich wie verantwortungsbewusste Menschen zu benehmen. Deshalb gab es dann bald eine schwangere Achtzehnjährige und zwei zutiefst entsetzte Elternpaare.

„… könnte sie vielleicht die Ferien hier verbringen?“

Plötzlich wurde Josie bewusst, dass sie tief in Gedanken versunken gewesen war und ihre Mutter gar nicht gehört hatte.

„Wie bitte, Mum?“

Da war er wieder, dieser Blick. „Ich habe gefragt, ob Hattie vielleicht die Sommerferien hier bei uns verbringen sollte. Sie könnte reiten lernen.“

„Bis jetzt habe ich noch keine Pläne gemacht.“

Sie wusste, dass sie ihre Mutter nicht ewig hinhalten konnte, aber eine vage Antwort würde ihr wenigstens eine kurze Ruhepause verschaffen, Zeit, sich etwas einfallen zu lassen.

Keinesfalls kam es infrage, dass Hattie sechs Wochen in Harrington House verbrachte. Kurze Besuche alle paar Monate waren in Ordnung, aber eineinhalb Monate waren bei Weitem zu lang. Am Ende der Ferien würde Hattie eine Gehirnwäsche hinter sich haben.

All ihre Unschuld und die Freude daran, das Leben zu entdecken, wären verschwunden und ersetzt von dem Gefühl, den Erwartungen, die an eine Harrington-Jones gestellt wurden, nicht gewachsen zu sein, sosehr sie es auch versuchte. Alles, was sie tat, jede Entscheidung, die sie traf, würde danach gemessen werden, ob sie „richtig“ oder „angemessen“ war, nicht danach, ob sie ihrer Seele guttat.

Ihre Mutter beobachtete sie.

„Ich weiß, dass wir nicht immer übereinstimmen, aber das ist keine Ausrede dafür, Hattie von uns fernzuhalten.“

„Darum geht es nicht.“

Ihre Mutter zog fragend die Augenbrauen hoch.

„Du weißt doch, wie es in den Sommermonaten ist. Da habe ich viel zu tun mit der Arbeit, und das macht es schwer, so lange im Voraus zu planen.“

„Wie zweckmäßig!“ Ihre Mutter strich mit dem Finger über das Kaminsims, um es auf Staub zu untersuchen. „Aber du musst nicht arbeiten. Ich habe dir schon mehrfach gesagt, dass du und Hattie hier bei uns leben könnt – sogar eine eigene Wohnung könntet ihr haben, wenn ihr ein wenig Unabhängigkeit wünscht.“

Das wäre nicht dasselbe. Eine eigene Wohnungstür wäre für den eisernen Willen ihrer Mutter kein Hindernis.

Im Handumdrehen wäre ich mit einem unbedeutenden Lord verheiratet, dem meine Leiche im Keller nichts ausmacht, und Hattie würde als Debütantin in die Gesellschaft eingeführt, dachte Josie.

„Ich bin schwanger geworden, Mum, also sollte ich auch die Konsequenzen dafür tragen.“

„Du solltest Hattie nicht bestrafen, nur weil du nicht hier leben willst.“

„Mum, Hattie ist wohl kaum sozial benachteiligt. Sie hat sehr viel mehr, als manche anderen Kinder haben. Ich ermögliche ihr nur eine glückliche Kindheit. Nicht alles, was ich tue, geschieht, um es dir heimzuzahlen.“

Als ihre Mutter antwortete, war jede Wärme aus ihrer Stimme verschwunden. „Gut zu wissen.“

„Ich weiß, was du denkst, Mum. Ich weiß, dass ich in der Vergangenheit viele Fehler gemacht habe, aber das hat sich geändert. Durch Hattie bin ich erwachsen geworden und habe mir mein Leben genauer angesehen. Ich trage zwar keine Twinsets und Perlenketten und habe auch nicht in eine gute Familie eingeheiratet …“

„Du hättest die Möglichkeit gehabt.“

Nun ja, in diesem Glauben hatte sie ihre Eltern gelassen. Miles hatte sich aus dem Staub gemacht, als sie ihm die Neuigkeit von der Schwangerschaft mitgeteilt hatte. Ihre Eltern sollten denken, sie hätte ihn abgewiesen. Das war weniger erniedrigend für sie. Was sie tatsächlich abgewiesen hatte, war ein Termin in einer Klinik in der Harley Street, um das Problem „loszuwerden“.

„Ich weiß, du verstehst es nicht, Mum, aber ich wollte eine Chance haben, selbst mit dem Leben fertig zu werden, anstatt den einfachen Weg zu gehen.“

Ihre Mutter hörte damit auf, die Figürchen auf dem Kaminsims umzustellen. „Josephine, von der Geschichte zu lernen bedeutet, dass man dieselben Fehler nicht wiederholen muss – und unsere Familie hat eine lange und erfolgreiche Geschichte.“

Ich könnte mir den Mund fusslig reden – Mutter würde trotzdem nie verstehen, worauf ich hinauswill, dachte Josie. Eine Lady zu sein, in einem grauenhaften Steinhaufen wie diesem zu leben, das war alles, was ihre Mutter sich je gewünscht hatte.

„Wenn ich meine eigenen Fehler mache, meine eigenen Lektionen vom Leben lerne, dann fühle ich mich lebendig.“

Und sie hatte auch aus den Fehlern anderer Menschen gelernt, nur eben nicht aus denen ihrer entfernten Vorfahren. Die Generation, von der sie am meisten gelernt hatte, hielt sich gerade hier in diesem Zimmer auf.

Sie sah zu Hattie hinüber, die auf dem Bauch lag, mit den Beinen in der Luft herumstrampelte und ganz vertieft in die Zeichnung einer Prinzessin war, und ihr Herz zog sich zusammen.

Hattie sollte auf keinen Fall mit dem Gefühl aufwachsen, sich Liebe verdienen zu müssen. Auch wenn ihre eigenen Teenagerjahre ziemlich wild verlaufen waren, so wusste Josie doch, dass alles nur ein Hilferuf gewesen war, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Sie hoffte, Hattie würde es nie nötig haben, gewisse Dinge zu tun, die sie selbst getan hatte.

Natürlich war es leicht, ihr ihre Freiheit zu lassen, solange sie in diesem Alter war, in dem sie sich hauptsächlich für Puppen und Prinzessinnenspiele interessierte. In ein paar Jahren würde das alles ganz anders aussehen. Jungen, Drogen, Alkohol. Wege zur Selbstzerstörung würden sie an jeder Ecke verlocken.

Der Drang, Hattie für immer in Elmhurst zu behalten und dort mit ihr Elfen und Trolle zu spielen, wurde plötzlich übermächtig. Josie sah wieder ihre Mutter an, die gedankenverloren in die lodernden Flammen des Kaminfeuers blickte.

Sie wollte sich zu ihr beugen, ihr einen Kuss auf die Wange geben, ihr damit zeigen, dass sie ihren Beschützerinstinkt verstand, sich davon aber nicht einschränken ließ. Doch noch ehe sie sich bewegen konnte, war ihre Mutter aus ihrer Trance erwacht und weggegangen.

„Hattie? Schau doch bitte mal aus dem Fenster, und sieh nach, wer an der Tür ist, ja?“ Josie, die über die Badewanne gebeugt war, hob den Kopf und kümmerte sich nicht um die rosa Tropfen, die auf die Badematte platschten. „Hattie?“

Schweigen.

Verflixt! Sie drehte den Wasserhahn zu, ließ den Duschkopf in die Wanne fallen und griff nach der Plastiktüte, die sie beim Einkauf der Haarfarbe bekommen hatte. Sie stülpte sich die Tüte über die Haare, während sie die Treppe hinunterlief, riss die Haustür auf und erstarrte.

Will stand mit schreckgeweiteten Augen vor ihr.

Oje, noch schlimmer! Selbst wenn sie eine Frau war, die nicht viel darauf gab, was die Leute von ihrem Aussehen hielten, so wollte sie ihrem Boss doch nicht mit einer Plastiktüte auf dem Kopf die Tür öffnen.

Sie hielt seinem Blick herausfordernd stand. Na los, sag schon etwas, dachte sie. Seine Mundwinkel zuckten. Er sollte sich hüten, sie auszulachen!

Sie zeigte auf ihre Haare und wischte dann mit der Hand einen Tropfen ab, der ihr über die Wange lief. Danach waren ihre Finger knallrot.

„Es ist wegen der Teestube“, erklärte Will. „Ich … ich kann später wiederkommen, wenn …“

„Nein! Kommen Sie herein. Ich will nur …“

Sie trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Sobald sie die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sprintete sie nach oben ins Badezimmer. Er würde warten müssen, bis sie mit ihren Haaren fertig war.

Zehn Minuten später, nachdem sie die überschüssige Farbe gründlich ausgespült hatte, richtete sie sich auf und rubbelte sich die Haare kräftig mit einem Handtuch.

Aus dem Wohnzimmer drangen keine Geräusche, als sie die Treppe hinunterstieg. War er wieder gegangen? Es wäre das Letzte, was sie jetzt gebrauchen könnte, wenn sie das gesamte Grundstück nach ihm absuchen müsste, so kurz vor Hatties Schlafenszeit.

Sie trat ins Wohnzimmer und blieb erstaunt stehen. Zwei Köpfe waren über ein Brettspiel gebeugt. Wortlos würfelten Will und Hattie und setzten ihre Spielfiguren. Es dauerte nicht lange, dann hatte Hattie gewonnen. Sie schaute zu Will auf, und sie lächelten sich an. „Danke, Will.“

Josie ging zu ihnen hinüber und wuschelte Hattie durchs Haar. „So, Prinzessin, jetzt wird es aber Zeit, dass du deinen Schlafanzug anziehst und dir die Zähne putzt.“

Hattie strich sich mit der Hand die Haare wieder glatt und verschwand nach oben.

„Das tut mir leid“, sagte Josie zu Will und zuckte die Schultern.

Verwundert sah er sie an.

„Zu einer Runde ‚Mensch ärgere dich nicht‘ verdonnert zu werden – ich hoffe, Sie haben sich nicht allzu sehr gelangweilt.“

Er schüttelte den Kopf. „Es hat Spaß gemacht.“

Wirklich? Nach Spaß hatte das nicht geklungen! Er war wohl einfach nur höflich.

„Was führt Sie an einem Sonntagabend zu mir?“

Er nahm eine Aktentasche hoch, die er ans Tischbein gelehnt hatte, und zog einen Hefter heraus.

„Mein Architekt hat einige Skizzen für die Teestube angefertigt. Ich dachte, die würden Sie sich gerne ansehen. Wenn Sie irgendwelche Vorschläge haben, lassen Sie es mich wissen.“

Er gab ihr die Mappe.

Das war eine ganz neue Erfahrung. Jemand wollte tatsächlich ihre Meinung wissen. Wenn sie an all die Jahre dachte, in denen sie versucht hatte, Harry dazu zu bringen, auf sie zu hören …

Das war das Problem, wenn man als Enfant terrible abgestempelt war. Niemand nahm einen ernst. Nun bot sich ihr endlich die Gelegenheit, der Welt zu beweisen, dass sie keine wandelnde Katastrophe war.

Will schien wirklich nur das Beste für das Anwesen im Sinn zu haben. Da er keine Ahnung von ihrer anrüchigen Vergangenheit hatte, betrachtete er sie vorurteilsfrei und sah ihr Potenzial anstatt möglicher Gefahren. Das gab ihr ein gutes Gefühl. Wenn sie nur sicherstellen konnte, dass es so blieb. Sie durfte keinen Fehler machen, damit er seine Meinung von ihr nicht änderte.

„Möchten Sie einen Kaffee? Ich könnte mir die Pläne sofort anschauen, sozusagen das Eisen schmieden, solange es heiß ist.“ Nicht zu übereifrig erscheinen, sagte sie sich. Sie musste professionell wirken.

Er nickte, und ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht. „Das wäre großartig, danke.“

„Gut. Wenn Sie sich …“, sie befreite einen Sessel von dem Papierstapel, der darauf lag, „… setzen wollen? Ich bin gleich wieder da.“

Will sah sich im Zimmer um und steuerte dann auf einen hölzernen Lehnstuhl zu.

Josie streckte warnend die Hände aus. „Nein! Nicht auf den!“

Will erstarrte in der Bewegung.

Sie klopfte auf die Rückenlehne des Sessels, den sie gerade freigemacht hatte. „Versuchen Sie den hier. Der andere würde unter Ihnen zusammenbrechen. Das alte Ding kann höchstens noch Hattie tragen.“

Skeptisch betrachtete Will den Sessel.

„Dieser hier hält, das verspreche ich Ihnen.“

Mit wenigen Schritten war Will wieder neben ihr, setzte sich vorsichtig auf die Kante des Sessels und schwieg.

„Harry hat mir erlaubt, das Cottage mit Möbeln vom Dachboden einzurichten, als ich hier einzog. Einige sind vom Holzwurm befallen.“

„Oh, ich verstehe.“ Er rutschte weiter nach hinten, schien sich aber noch immer so unbehaglich zu fühlen wie vorher.

Josie stürzte in die Küche und begann, Kaffee zu machen. Sie musste lernen, sich zu beherrschen, und durfte nicht so sinnlos drauflosplappern.

3. KAPITEL

Als Josie mit zwei Tassen Pulverkaffee zurückkam, hatte Will es geschafft, sich einigermaßen entspannt in seinem Sessel zurückzulehnen. Sie stellte die Tassen ab, nahm den Hefter und breitete die Unterlagen auf dem Tisch aus.

„Wie Sie sehen, plane ich keine allzu einschneidenden Veränderungen. Doch wenn wir alles schaffen wollen, bevor die Touristensaison losgeht, müssen wir uns beeilen.“

Sie war nicht daran gewöhnt, Pläne zu lesen. Es erschien ihr alles ein wenig zu theoretisch und schwierig, sich etwas darunter vorzustellen. Zu zweidimensional. Keine Farben. „Was ist das hier?“

Will stand auf und trat hinter sie. Sie zeigte auf einen Punkt der Zeichnung, und er beugte sich über sie, um ihrem Finger folgen zu können.

„Das ist der Selbstbedienungsbereich.“

„Der bleibt also, wo er schon immer war?“

Sie drehte den Kopf herum, um ihn anzuschauen, und stieß mit ihrer Nase beinahe an seine. Sie hatte nicht verstanden, warum Marianne so hingerissen war von seinem nachdenklichen Blick. Doch nun, selbst im Brennpunkt dieses Blickes, begann sie zu begreifen, worin die Anziehungskraft bestand, und es verschlug ihr den Atem.

„Glauben Sie, dass wir diesen Bereich verlegen sollten?“

Ruckartig wandte sie sich wieder dem Plan zu. „Hm …“

Alles verschwamm ihr vor den Augen. Sie blinzelte ein paarmal, um wieder richtig sehen zu können.

„Momentan gelangen alle Kunden über diesen Gang zur Kasse. Leute, die nur ein Getränk wollen, müssen sich hinter denen anstellen, die etwas zu essen bestellen. Ich habe mir immer vorgestellt, dass es so besser wäre …“

Sie langte nach Hatties Malblock und nahm in Ermangelung eines Bleistifts einen violetten Buntstift zur Hand. Will beugte sich noch dichter über sie – sie merkte es daran, dass sie plötzlich sein After Shave roch –, während sie mit ein paar Strichen auf ein leeres Blatt den Grundriss der Teestube skizzierte.

Dann zeichnete sie eine Hufeisenform mit einigen Lücken auf das Blatt. „Wenn wir unterschiedliche Bereiche für Getränke und warmes und kaltes Essen hätten – und vielleicht sogar zwei Kassen –, würde das den Besucherstrom beschleunigen und außerdem offener und einladender wirken.“

Will nahm den Block auf und sah sich ihre Zeichnung genau an. Dann nickte er.

Josie biss sich auf die Lippe.

„Ich sage den Architekten, dass sie die Pläne ändern sollen. Wir fangen nächste Woche mit der Arbeit an, aber diese Details sind erst gegen Ende relevant, sodass wir dadurch kaum Zeit verlieren.“

Josie stand auf, nahm ihre Kaffeetasse und zog sich in eine sichere Entfernung zurück. „Gut. Freut mich, dass ich helfen konnte.“ Bevor sie sich zurückhalten konnte, sprudelte es aus ihr heraus: „Ich bin ganz aufgeregt wegen der Renovierung und habe ein paar gute Ideen für die Einrichtung und Dekoration. Ich dachte an Holzstühle und weiß gestrichene Wände mit großen, modernen Gemälden …“

Um ihre Vorschläge zu untermalen, hatte sie wild mit den Händen gestikuliert. Die schob sie jetzt sicherheitshalber in die Hosentaschen. „Ach, schon gut. Wir müssen ja nicht jetzt sofort darüber diskutieren.“

„Okay.“ Er faltete die Pläne ordentlich zusammen und verstaute sie wieder in seiner Aktenmappe. „Dann lasse ich sie jetzt tun … was immer Sie gerade tun wollten.“

Sie griff automatisch nach ihren feuchten Strähnen. „Ich habe meine Ansätze nachgefärbt.“

Verlegen spielte sie mit ihren Armreifen, während er nur dastand und sie ansah. „Welche Farben hatten sie vorher?“

Was? Ach so, ihre Haare! „Ich glaube, sie waren weißblond.“

„Nein, bevor Sie angefangen haben, sie in merkwürdigen – ich meine, besonderen Farben zu tönen.“

Josie machte eine wegwerfende Handbewegung und zog die Mundwinkel nach unten. „Oh, Sie wissen schon. Nichts Besonderes. Langweilig. Warum wollen Sie das wissen?“

Will sagte nichts. Josie war sich ziemlich sicher, dass er selbst nicht wusste, warum er gefragt hatte. Er war heute ziemlich gesprächig gewesen für einen Mann wie ihn, der den „starken und schweigsamen Typ“ geradezu lehrbuchmäßig verkörperte.

Das Trappeln kleiner Füße hinter ihr lenkte sie ab. Hattie kam die schmale Treppe heruntergestürmt, stürzte sich auf Will und umschlang seine Beine mit den Armen.

„Bye, Will.“

Er sah hinunter zu dem kleinen Mädchen und lächelte, als ob irgendetwas in ihm geschmolzen wäre. Wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde.

„Bye, Hattie.“ Will versuchte, sich von der Kleinen loszumachen.

„Nun mach schon, Hattie. Lass ihn los.“

Hattie ließ die Arme sinken und trat zurück.

Will wandte sich Josie zu. „Vielen Dank für Ihre Vorschläge, Josie.“

„Nichts zu danken.“ Er ging zur Haustür.

Zweifellos brennt er darauf, so schnell wie möglich zu entkommen, dachte Josie. Dann fiel ihr etwas ein. „Oh, warten Sie einen Moment. Ich habe etwas für Sie.“

Sie lief zurück ins Wohnzimmer und fischte etwas aus einer großen Tasche, die neben dem Sessel stand. An der Haustür reichte sie es Will. „Das habe ich für Sie gehäkelt.“

Er drehte es ein paar Mal um. „Was ist das?“

Josie versuchte, sich nicht gekränkt zu fühlen. „Es ist eine Mütze. Der März kann hier draußen noch ziemlich kalt sein.“ Was dachte er denn, was es sonst sein sollte? Ein Kaffeewärmer?

„Oh, vielen Dank. Sie ist … schön bunt.“ Er faltete die Mütze zusammen, steckte sie in seine Jackentasche und machte sich auf den Weg.

„Ja dann, auf Wiedersehen.“ Dummerweise rief sie ihm nach: „Dann sehe ich Sie nächstes Wochenende, falls ich noch mehr Ideen habe – also, falls Sie hier sein sollten.“

Er blieb stehen und blickte über die Schulter. „Die Innenarchitekten sind jetzt mit der Privatwohnung fertig. Ich habe beschlossen, eine Weile hierzubleiben und die Arbeiten selbst zu beaufsichtigen.“

Weiter sagte er nichts, sondern hob nur winkend die Hand und ging weiter Richtung Gartentor.

Josie antwortete mit einem lahmen „Bye“, das viel zu leise war, als dass er es hätte hören können, und schloss die Tür.

Papierstapel überall. Ein ausgestopfter Fasan hatte von einem Regal herab ein wachsames Auge auf ihn, als Will versuchte, sich durch das Durcheinander in Harry Radcliffs Arbeitszimmer zu schlängeln.

Ich habe mich getäuscht, als ich annahm, ich könne die Firma weiterführen wie bisher und nebenbei ein Teilzeit-Lord sein, dachte Will. Dieses Projekt – oder eigentlich sein Heim – zu verwalten würde eine Vollzeitbeschäftigung werden, und er brauchte Büroräume.

Die Wände waren von Bücherregalen bedeckt, und jede Lücke war angefüllt mit Kartons, Papieren und Mitbringseln von Harrys Reisen. Will wusste gar nicht, wo er anfangen sollte.

Eigentlich wollte er auch gern mehr herausfinden über den Mann, der vor ihm dieses Arbeitszimmer benutzt hatte. Sowohl sein Vater als auch sein Großvater waren gestorben, als er noch sehr jung gewesen war, und deshalb hatte er niemanden gehabt, der ihm seine unzähligen Fragen über die Familie hätte beantworten können, als seine Neugier dafür erwachte.

Seltsamerweise hatte er sich nie als ein Radcliff gefühlt. Er war schon fünfundzwanzig gewesen, als er herausfand, dass sein Großvater seinen Namen in Roberts geändert hatte – indem er einen seiner zahlreichen Taufnamen zum Nachnamen machte.

Großvater war beim Thema Familie immer sehr wortkarg gewesen. Schließlich hatte seine Großmutter ihm die ganze traurige Geschichte erzählt. Die Familie ihres Mannes hatte ihn enterbt und wie einen Ausgestoßenen behandelt, und das nur, weil er sich in die „falsche“ Frau verliebt hatte. Diese Ungerechtigkeit tat Will immer noch weh.

Dass er nach seinem Großvater genannt worden war, machte Will stolz. Nach dem frühen Tod seines Vaters war Großvater die prägende männliche Figur in seinem Leben gewesen. Und viel mehr als ein Ersatzvater: ein Freund, Lehrer und Mentor.

William Radcliff hatte es nicht verdient, mit dem Gefühl zu sterben, dass die Familie, die er gegründet hatte, auf immer zu den gesellschaftlichen Außenseitern und Versagern gehören würde. Aber jetzt habe ich die Gelegenheit, im Schicksal der Familie Roberts eine Wende herbeizuführen und das Ansehen zurückzugewinnen, das Großvater für immer verloren sah, dachte Will.

Die Radcliffs hatten Elmhurst Hall verfallen lassen. Unter seinem Einfluss sollte der Familiensitz in neuem Glanz erstrahlen und wieder so einträglich werden, dass sein Weiterbestehen für zukünftige Generationen sichergestellt war – für seine Kinder. Dann würden die Radcliffs die wirklichen Versager erkennen.

Natürlich musste er die richtige Frau finden, die Mutter seiner zukünftigen Kinder. Eine Frau, zurückhaltend, aber nicht langweilig, bezaubernd, aber nicht überkandidelt. Eine Frau, die bereit war, eine Familie zu gründen und ein ruhiges Leben auf dem Lande zu führen. Wenn er so darüber nachdachte, schien ihm das fast zu viel verlangt. Wo sollte er eine solche Frau finden? Und selbst wenn er sie fand – würde er sich in sie verlieben?

Bestimmt. Falls solch eine perfekte Person wirklich existierte, würde er ihr zu Füßen fallen und sie verehren.

Zwei Stunden später hatte er es geschafft, den größten Teil des Schreibtisches freizuräumen. Es erwies sich als schwierig, seine Funde zu sortieren. Harrys persönliche und finanzielle Angelegenheiten waren unentwirrbar mit den Geschäften des Anwesens verwoben.

Anscheinend war Harry niemals auf die Idee gekommen, den Grundbesitz von privaten Belangen zu trennen. Das musste sich ändern. Elmhurst brauchte einen Verwalter, jemanden, der sich um die Organisation und die Angestellten kümmerte.

Will nahm ein gerahmtes Foto in die Hand, das bis vor wenigen Minuten noch unter einem Stapel von Landkarten und Magazinen verborgen gewesen war.

Es war ein Schwarz-Weiß-Foto, vermutlich aus den Fünfzigerjahren. Mehrere Menschen standen auf der Wiese oberhalb des Rosengartens und blinzelten im grellen Sonnenlicht eines Sommertages. Der Mann in der Mitte war Harry. Will erkannte ihn, weil er schon andere Fotos von ihm gesehen hatte. Bei dem Rest der Gruppe musste es sich um Harrys Bruder und dessen Kinder handeln. Verwandte, die er nie kennengelernt hatte.

„Mummy, kann ich noch ein Stück Kuchen haben?“

Josie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. „Eins ist genug, Süße. In einer Dreiviertelstunde habe ich Feierabend, und dann gehen wir zum Abendessen nach Hause.“

„Bitte?“ Mit großen Augen blickte Hattie sie an.

„Tut mir leid. Mal doch noch ein bisschen in deinem Buch.“

Hattie ließ die Schultern hängen. „Diese Tische sind alle so wackelig. Andauernd rutscht mir der Stift weg.“

Josie sah sich in der provisorischen Teestube um, die sie in einer Ecke des Andenkenladens aufgebaut hatten, solange die Renovierungsarbeiten im Gange waren. Es war wirklich nicht ideal.

„Sieh mal! Die Leute an dem Ecktisch gehen gerade. Der wackelt nicht. Ich helfe dir, deine Malbücher und Buntstifte dorthin zu tragen.“

Ein Stift fiel hinunter und rollte unter den Tisch. Josie kroch darunter, um ihn aufzuheben. In diesem Moment bimmelte die altmodische Glocke an der Tür. Vorsichtig kam Josie unter dem Tisch hervor, peinlich berührt, weil die Kunden einen sehr guten Blick auf ihren Po präsentiert bekamen.

Sie begann zu sprechen, während sie sich aufrichtete. „Entschuldigen Sie bitte. Ich habe nur gerade … Oh.“

Es waren keine Kunden. Es war der Boss. Er hielt den ihr schon vertrauten Hefter in der Hand. Während der vergangenen Wochen hatte er am Ende des Tages hin und wieder vorbeigeschaut, um sie über die Renovierungsarbeiten auf dem Laufenden zu halten. Bildete sie sich das nur ein, oder waren seine Besuche häufiger geworden? Das war jetzt schon das zweite Mal in dieser Woche, und es war erst Mittwoch.

Er hielt ihr den Ordner hin. „Ich dachte, Sie möchten sich vielleicht diese Prospekte wegen der neuen Kassen ansehen.“

„Das würde ich gern, aber …“ Ihr Blick wanderte zu einem Vierertisch auf der anderen Seite des Raumes. „Ich muss eben noch ein paar Tassen Tee vorbereiten.“

Er zuckte mit den Schultern. „Kein Problem. Ich setze mich hierher und leiste Hattie Gesellschaft, bis Sie fertig sind. Ich habe übrigens eine Überraschung für dich, Prinzesschen.“

Hattie riss die Augen auf. „Ist es Schokolade?“

Will lachte und legte den Ordner auf den Tisch.

Josie ging hinter die Theke, wo sie begann, Gebäck auf Teller zu verteilen und Tee zuzubereiten. Aber zwischendurch warf sie immer wieder verstohlene Blicke zu dem kleinen Tisch in der Ecke hinüber. Will holte eine hölzerne Schachtel aus seiner Aktentasche. Hattie klatschte in die Hände, als er ein Schachbrett und Schachfiguren herausholte.

Wie aufmerksam von Will. Er hat wohl bemerkt, dass Hattie sich manchmal langweilt an den Tagen, an denen sie zwischen ihrem Schulschluss und meinem Feierabend ruhig an einem Tisch sitzen muss, dachte Josie. Dieser Mann hatte einen positiven Einfluss auf Hattie. Sie lächelte. Ihre Tochter konnte auf jeden Fall ein gutes männliches Vorbild gebrauchen.

Als einige Zeit später der letzte Kunde die Teestube verlassen hatte, nahm Josie ihre Schürze ab und ging zu den beiden hinüber. „Dann zeigen Sie mir doch jetzt die Prospekte.“

Will holte den Hefter wieder hervor und gab ihn ihr. Mit einem Nicken zu dem Schachbrett hin fragte er: „Spielen Sie?“

Sie schüttelte den Kopf. „Mein großer Bruder hat versucht, es mir beizubringen, aber ich war ein hoffnungsloser Fall. Ich habe immer wieder verbotene Züge gemacht, habe meine Bauern über das Brett flitzen lassen und meinen Turm diagonal bewegt.“

Hattie verdrehte die Augen. „Mum! Das ist doch nicht so schwer zu merken.“

Josie lachte. „Ich weiß, aber ich konnte einfach nicht widerstehen, die Regeln zu missachten.“ Sie wandte sich an Will. „Sie sind schockiert, geben Sie es zu.“

„Sie werden nie gewinnen, wenn Sie sich nicht an die Spielregeln halten.“

Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Hände. „Ich spiele eben gern nach meinen eigenen Regeln.“

Will schüttelte den Kopf, während er einen Bauern ein Feld weiter schob. „Das habe ich bei Ihnen schon festgestellt. Aber im Leben ist es so ähnlich wie im Spiel. Wenn man sich nicht an die Spielregeln hält, kommt man nicht voran.“

Das stimmte so nicht. Sie kannte genügend Leute, die einfach nur deshalb vorankamen, weil sie mit einem Titel oder mit Geld geboren worden waren. Sie waren mit einem Sprung an der Spitze, niemand hinderte sie daran – und sie selbst hielten das für ihr angeborenes Recht. Das hatte nichts mit dem Einhalten von Spielregeln zu tun, aber ganz erheblich mit guten Beziehungen.

Vielleicht waren das auch einfach nur andere Spielregeln. Wie auch immer. Sie wollte trotzdem nicht danach leben. Sie hatte ihre eigenen Wertvorstellungen und brauchte keine anderen Menschen, die ihr ihre Werte aufdrängten. Freiheit. Ehrlichkeit. Bedingungslose Liebe. Auf diese Dinge kam es ihr an. Nach diesen Regeln zu leben war kein Problem für sie.

Der neue Lord Radcliff musste noch eine Menge lernen, wenn er irrigerweise an der Überzeugung festhielt, dass harte Arbeit und Integrität ihm in den Kreisen, zu denen er jetzt gehörte, zum Erfolg verhelfen würden. Er wusste noch nicht, dass er in ein Haifischbecken geraten war.

Was sie sah, entsprach nicht unbedingt dem, was sie sich vorgestellt hatte. Josie ging langsam durch die generalüberholte Teestube und fuhr dabei mit den Fingern über die Rückenlehnen der robusten Holzstühle.

„Wie finden Sie die Einrichtung?“ Will sah sie erwartungsvoll an.

„Sie ist …“ Bieder? Spießig? Muffig? „… sehr traditionell.“

„Gut. Das ist genau der Eindruck, den ich angestrebt habe.“

Josie seufzte leise, als sie an die unzähligen Pläne dachte, die sie im Lauf der Jahre auf Zettel gekritzelt hatte. Sie hatte so tolle Ideen für das Lokal gehabt, es wäre fantastisch geworden.

Aber nicht so. Das war langweilig. Nicht nur etwas langweilig – extrem langweilig.

„Es gefällt Ihnen nicht.“ Will zog die Stirn in Falten.

„Alles ist sehr … zweckmäßig.“ Allein schon dieses Wort – zweckmäßig.

Die Falten auf Wills Stirn wurden tiefer. „Es gefällt Ihnen nicht.“

„Was mir gefällt oder nicht gefällt, ist doch unwichtig.“ Elmhurst Hall war jetzt seine Residenz. Er konnte damit tun und lassen, was er wollte.

„Es ist ganz und gar nicht unwichtig. Ich hätte Sie nicht nach Ihrer Meinung gefragt, wenn ich sie nicht hören wollte.“

Das war typisch für Will. In den letzten Wochen, in denen sie ziemlich viel Zeit miteinander verbracht hatten, war ihr klar geworden, dass er keine Spielchen trieb. Abgesehen von den zwei Tagen pro Woche, an denen er Hattie Schach spielen beibrachte.

„Also, was habe ich falsch gemacht?“

Josie drehte sich einmal rundherum, um den ganzen Raum in Augenschein zu nehmen.

„All der weinrote Stoff sieht jetzt – am Ende des Winters – gut aus. Er macht den Raum gemütlich. Aber im Hochsommer wird er dadurch dunkel und trist wirken. Nicht sehr einladend an einem heißen Sommertag.“

„Wir sind hier in Kent, nicht in Florida.“

„Das weiß ich, trotzdem kann es hier im Juli und August ziemlich warm werden. Und vom Spazierengehen im Park wird es den Leuten heiß.“

„Wie hätten Sie die Teestube denn eingerichtet?“

„Ich hätte einen eher zeitgemäßen Stil gewählt. Hell, lichtdurchflutet und luftig. Klare Linien. Gardinen aus weißem Musselin. Moderne Möbel. Ein einheimischer Künstler wäre bereit, seine Werke an unseren Wänden auszustellen.“

„Das passt aber wohl kaum zur Geschichte dieser Räumlichkeiten.“

Josie sah ihn an. „Hier waren früher Stallungen untergebracht. Wenn es Ihnen um historische Genauigkeit geht, sollten Sie die Räume mit Sätteln, Zaumzeug, Pferden und Heu dekorieren. Und wo Pferde sind, gibt es auch viele …“

„Schon gut! Ich verstehe, was Sie meinen.“

„Pferdeäpfel. Das hatte ich sagen wollen – Pferdeäpfel.“ Sie schenkte ihm ein engelhaftes Lächeln.

„Natürlich.“

Will sah sie mit dem für ihn typischen unbewegten Gesichtsausdruck an, aber sie hätte schwören können, dass sie dahinter kurz ein Lächeln hatte aufblitzen sehen. Warum wollte sie mehr von diesem Lächeln sehen? Solche Wünsche sollte sie lieber nicht hegen, auch sollte es ihr vollkommen egal sein, was er mit seinem Mund tat, selbst wenn seine Unterlippe sehr verlockend aussah.

Insgeheim fügte sie eine weitere Regel zu ihrem ungeschriebenen Regelwerk, das sie bezüglich Will Roberts aufgestellt hatte, hinzu: seine sinnliche Unterlippe nicht beachten und auch nicht den Rest seines attraktiven Gesichts. Doch dann wanderten ihre Gedanken gegen ihren Willen zu den tieferen Regionen, zu dem Waschbrettbauch und den muskulösen Schenkeln, über die Marianne in der Stadtbücherei spekuliert hatte.

Vielleicht sollte ich versuchen, überhaupt nicht mehr über ihn nachzudenken.

Während sie diese inneren Kämpfe mit sich ausfocht, hatte er eine große Tasche geöffnet. „Da wir gerade von dem neuen Aussehen der Teestube reden …“ Er zog etwas heraus, das in dünne Plastikfolie verpackt war, solche, wie Chemische Reinigungen sie benutzen.

Sie trat etwas näher.

„Ich dachte, das Personal sollte einheitlich gekleidet sein, passend zur Atmosphäre.“ Er musterte sie von oben bis unten.

Das war jetzt zwar reine Spekulation, aber Josie war sich ziemlich sicher, dass verwaschene Jeans und ein T-Shirt mit dem Namen ihrer Lieblingsband auf der Vorderseite nicht das waren, was er für passend hielt. Umso besser, dass sie ihre Jacke anbehalten hatte und er den Spruch auf der Rückseite nicht sehen konnte.

Will ließ das gefaltete Bündel auseinanderfallen, und der Horror entfaltete sich in voller Größe vor ihr.

„Das kann nicht Ihr Ernst sein!“

4. KAPITEL

„Es ist nur eine Arbeitsuniform, Josie.“

„Nie im Leben! Ich meine … auf gar keinen Fall! Sehen Sie es sich an! Sie ist grau!“

Und knielang, bis zum Kinn zugeknöpft und mit einem Bubikragen.

„So etwas ziehe ich nicht an.“

Er sah ihr in die Augen. „Das gesamte Personal in der Teestube wird diese Kleidung tragen.“

Autor

Margaret Way
Mit mehr als 110 Romanen, die weltweit über elf Millionen Mal verkauft wurden, ist Margaret Way eine der erfolgreichsten Liebesroman-Autorinnen überhaupt. Bevor sie 1970 ihren ersten Roman verfasste, verdiente sie ihren Unterhalt unter anderem als Konzertpianistin und Gesangslehrerin. Erst mit der Geburt ihres Sohnes kehrte Ruhe in ihr hektisches Leben...
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