Romana Exklusiv Band 337

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LIEBESERWACHEN AM TAJ MAHAL von NICOLA MARSH
Bei einem Ausflug zum Taj Mahal lässt sich Tamara nicht nur vom märchenhaften Flair dieses Wahrzeichens der Liebe verzaubern – sondern auch vom Charme ihres unverhofften Begleiters. Bald werden die Nächte in Indien sinnlicher, als Tamara je gedacht hätte…

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  • Erscheinungstag 25.06.2021
  • Bandnummer 337
  • ISBN / Artikelnummer 9783751503204
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Nicola Marsh, Penny Roberts, Miranda Lee

ROMANA EXKLUSIV BAND 337

1. KAPITEL

Tamara Rayne eilte durch die Straßen von Melbourne. Die Absätze ihrer hochhackigen Stiefel klapperten laut auf dem Pflaster. Sie konnte es kaum erwarten, zum Ambrosia zu kommen, dem angesagtesten Restaurant der ganzen Stadt, einem wahren Gourmettempel, und gleichzeitig der Ort, an dem sie ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen hoffte.

Es regnete in Strömen, doch sie hatte keine Hand frei für einen Schirm, da sie mit zahllosen Taschen und Tüten beladen war.

Jetzt könnte ich einen Ritter in schimmernder Rüstung brauchen, dachte sie. Früher einmal hatte sie geglaubt, in Richard, ihrem verstorbenen Ehemann, so jemanden gefunden zu haben. Aber das war ein großer Irrtum gewesen! Schnell blinzelte sie ein paar Tränen des Ärgers über die verschwendeten Jahre mit ihm fort.

Sie erreichte das Ambrosia und drückte die schwere Eingangstür mit ihrem Po auf. Dabei wäre sie fast mit einem Ritter zusammengestoßen, der ihr von drinnen zu Hilfe entgegengeeilt kam.

Im Designeranzug, mit regenfeuchtem dunklem Haar, tiefblauen Augen und einem umwerfenden, verwegenen Lächeln wirkte er eher wie ein Pirat – ein Pirat der Geschäftswelt.

„Brauchst du Hilfe?“

Tamara vermutete, dass Ethan Brooks, ein stadtbekannter Frauenschwarm, dieses verwirrende Lächeln häufig und immer mit großem Erfolg einsetzte.

„Du bist wieder zurück!“, begrüßte sie ihn verhalten.

„Hast du mich vermisst?“

Sie war sich unsicher, wie sie auf seinen Flirtversuch reagieren sollte, denn genau dafür hielt sie die Frage. Deshalb antwortete sie schroffer als beabsichtigt: „Eigentlich nicht.“

Sie kannte Ethan nur flüchtig, hatte ihn im letzten Jahr höchstens dreimal in geschäftlichen Angelegenheiten getroffen. Warum behandelte er sie auf einmal so vertraulich?

„Zu schade.“ Er zuckte nur beiläufig die Schultern, lächelte breit und deutete auf ihre vielen Taschen.

„Soll ich dir damit helfen?“

Schnell unterdrückte sie den Impuls, auf dem Absatz kehrtzumachen und davonzulaufen. Stattdessen nickte sie. „Gern.“

Er nahm ihr etliche Taschen ab und stöhnte erstaunt auf. „Was trägst du da mit dir herum? Ziegelsteine für einen neuen Tandoor-Ofen?“

„Etwas fast ebenso Wichtiges.“ Tamaras Stimme schwankte leicht, nur eine Spur, und sie musste, von Erinnerungen überwältigt, erneut gegen Tränen ankämpfen.

Ihre Mutter kam ursprünglich aus Indien und hatte Tandoori-Hähnchen geliebt, delikat marinierte Fleischspieße, die im Tandoor-Ofen gegrillt werden. Bei ihrer Heirat hatte sie damals den gemauerten Ofen im indischen Goa zurücklassen müssen und diesen Verlust oft beklagt.

Ja, selbst nach dreißig glücklichen Jahren in Australien hatte ihre Mutter ihre Heimat immer noch schmerzlich vermisst. Aus diesem Grund hatten sie gemeinsam eine ganz spezielle Reise geplant. Khushi wollte an die Stätten ihrer Kindheit und Jugend zurückkehren und dabei ihrer Tochter die Kultur Indiens nahebringen.

Richard aber hatte ihr die Reise nicht gestattet, was Tamara ihm nie verzieh. Denn bald darauf war ihre Mutter gestorben.

In den vergangenen schweren Monaten war ihr der Verlust der Mutter erneut bewusst geworden. Ihr allein hätte sie die Wahrheit über Richard anvertrauen können. Sie hätte ihr geholfen, nach seinem Tod zu sich selbst zurückzufinden und ein neues Leben zu beginnen.

Wieder brannten Tränen in ihren Augen, und sie wich Ethans forschendem Blick aus.

„Kannst du auch die restlichen Taschen nehmen? Meine Arme tun schrecklich weh“, bat sie ihn.

Er würde sie nicht fragen, was mit ihr los sei, da war sie sicher. Als sie sich nach Richards Tod ganz in sich selbst zurückzog, hatte er sie auch nicht bedrängt, sondern ihr geduldig geholfen, die komplizierten rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit Richards Geschäftsanteil am Restaurant zu regeln.

Genauso viel Zurückhaltung hatte er aufgebracht, als sie ihn vor sechs Monaten gebeten hatte, das Ambrosia als Basis für ihren Wiedereintritt ins Berufsleben nutzen zu dürfen. Allerdings hatte sie ihn in der Zeit danach kaum mehr zu Gesicht bekommen, da er eine mehrmonatige Geschäftsreise unternommen hatte.

Manchmal hegte sie sogar den Verdacht, er könne sie nicht leiden, denn in ihrer Gegenwart verhielt er sich äußerst reserviert.

Letztlich hatte Tamara jedoch keinen weiteren Gedanken an ihn verschwendet. Er war Richards Freund gewesen, das allein war Grund genug, Distanz zu wahren. Wie alle anderen hatte auch Ethan ihren Mann bewundert. In den Augen seiner Freunde war der berühmte Koch Richard Rayne ein amüsanter Gastgeber und Prachtkerl gewesen.

Wenn sie alle nur wüssten!

Hilfsbereit nahm Ethan ihr nun auch die letzten Taschen ab und hielt ihr mit dem Fuß die Tür einladend auf. „Kommst du jetzt herein?“

Tamara ließ sich nicht zweimal bitten und betrat rasch den einzigen Ort, an dem sie sich derzeit zu Hause fühlte.

Ambrosia – die Speise der Götter – und meine Seelennahrung, dachte sie.

Das Restaurant war in den letzten Monaten zu ihrem Zufluchtsort, ihrem sicheren Hafen geworden. Das hätte sie nie für möglich gehalten, denn immerhin war Richard hier vom ersten Tag an Küchenchef gewesen und später sogar Teilhaber geworden, und hier hatte sie ihn kennengelernt, als sie in ihrer Eigenschaft als Restaurantkritikerin gekommen war, um über den neuesten Stern am kulinarischen Himmel von Melbourne zu berichten.

Aus all diesen Gründen hätte sie das Restaurant verabscheuen müssen.

Aber die Wärme, die ihr im Ambrosia entgegenschlug, die blank polierten Mahagonitische, der offene Kamin und die bequemen Polsterstühle zogen sie magisch an. Im letzten halben Jahr hatte sie jeden Montag hier verbracht, und sie hätte keinen besseren Ort finden können, um sich in Ruhe auf ihre Rückkehr ins Berufsleben vorzubereiten.

Tamara half Ethan, die Taschen auf einem Tisch abzuladen, dann streckte sie die schmerzenden Arme aus. Ethan war zwischenzeitlich zum Kamin gegangen und versuchte nun, ein Feuer zu entfachen.

Was macht er eigentlich hier? überlegte sie.

Dass er im Allgemeinen als unberechenbar galt, war ihr bekannt. Selbst seine Angestellten, die ihn sehr schätzten, wussten nie, wann genau er im Restaurant auftauchte.

Im Gegensatz zum Personal und den Gästen, die jeden Abend in Scharen ins Ambrosia strömten, hatte Tamara ihn nicht vermisst. Denn bei den seltenen Begegnungen mit dem Mann, der im Ruf stand, ein unerbittlicher, gerissener Geschäftsmann zu sein, war ihr jedes Mal seltsam unbehaglich zumute gewesen.

Woran das lag, hätte sie nicht sagen können. Vielleicht an der unterschwelligen Härte, die er ausstrahlte, an der fast greifbaren Elektrizität, die ihn ständig knisternd umgab. Er war der geborene Anführer, der Beste seiner Branche, und er verteidigte diese Spitzenstellung energisch und erfolgreich.

Jetzt stand Ethan auf, und Tamara ertappte sich dabei, wie sie seinen knackigen Hintern bewunderte. Rasch sah sie weg und errötete.

Sie staunte über sich selbst, denn nie zuvor hatte sie ihn als Mann wahrgenommen. Wenn sich bislang ihre Wege gekreuzt hatten, war er höflich, aber distanziert gewesen. Er war Richards Geschäftspartner – mehr nicht.

Warum also wurde ihr auf einmal heiß, warum fühlte sie einen Anflug von Schuldgefühl?

Seit Richards Tod war ein Jahr vergangen, zwei Jahre war es her, dass ein Mann sie berührt hatte. Vielleicht waren mit dieser Tatsache ihre hungrigen Blicke zu entschuldigen. Sie fühlte sich innerlich erstarrt und wie betäubt, aber sie war gewiss nicht tot, und jede Frau hätte die Gelegenheit genutzt, Ethans attraktiven Po eingehend zu betrachten.

„Verrätst du mir, was in den Taschen ist, wenn ich dir einen Drink hole?“, fragte er jetzt.

Tamara schlüpfte aus ihrem nassen Kamelhaarmantel und hängte ihn über eine Stuhllehne. Einen Moment zögerte sie. Ihr war die Vorstellung unangenehm, ihm die Ergebnisse ihrer Arbeit zu präsentieren.

Heute war sie ins Ambrosia gekommen, um ungestört Ideen zu entwickeln. Das war ihr jetzt nicht mehr möglich. Schließlich gehörte ihm das Restaurant, und es stand ihm frei zu kommen und zu gehen, wann er wollte. Doch insgeheim ärgerte sie sich noch immer über die vertrauliche Begrüßung, sein verwirrendes Lächeln und seine Anwesenheit.

„Eine heiße Schokolade wäre prima, danke.“

„Kommt sofort.“

Herausfordernd ließ er seinen Blick über die Taschen schweifen. „Ich gebe nicht auf, ehe ich nicht weiß, was du da mit dir herumträgst. Du kannst es mir also auch gleich verraten.“

Ohne einen Funken von Unsicherheit im Blick sah er ihr in die Augen. Seine Hartnäckigkeit bewies Tamara, dass er daran gewöhnt war, genau das zu bekommen, was er wollte.

Nervös strich sie mit der Hand über eine der Taschen, in denen buchstäblich ihre Zukunft lag. Nur zu gern hätte sie Ethan gebeten, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Seine unverblümte Neugier ärgerte sie. Andererseits war sie ihm dankbar für seine Unterstützung, für die Erlaubnis, im Ambrosia zu trainieren. Also sollte sie zumindest höflich zu ihm sein.

„Wenn du noch ein paar Marshmallows in den Kakao gibst, zeige ich es dir.“

„Abgemacht.“

Einen militärischen Gruß andeutend, berührte er kurz mit der Hand die Stirn und zwinkerte ihr zu, bevor er an die Bar ging.

Aha, er spielt wieder den ruchlosen Piraten, stellte Tamara amüsiert fest. Zum Glück war sie immun gegen diese Art von Charme, wenngleich sie es für den Bruchteil einer Sekunde lang genoss, Gegenstand seiner ungeteilten Aufmerksamkeit zu sein.

Während Ethan die Espressomaschine betätigte, ließ sie sich auf einen der Stühle sinken, streckte die Beine aus und wackelte mit den Zehen. Sie liebte ihre Stiefel, aber jetzt schmerzten ihre Füße, ebenso wie ihr Rücken, wie sie bemerkte, als sie sich streckte.

Das kommt von den schweren Taschen, die ich durch die Straßen geschleppt habe. Aber sie hatte keine Wahl gehabt. In den Ordnern lag ihre Zukunft, und obwohl sie allein bei dem Gedanken daran Lampenfieber bekam, war sie fest entschlossen, endlich durchzustarten. Es konnte nicht schaden, vorher Ethans Meinung zu ihren Ausarbeitungen zu hören. Schließlich verstand er mehr vom Gastronomiegewerbe als jeder andere.

„Bitte schön! Heiße Schokolade mit einer doppelten Portion Marshmallows.“

Ethan stellte eine große Tasse auf den Tisch, sich selbst hatte er einen starken Espresso mitgebracht. Dann nahm er auf einem Stuhl Tamara gegenüber Platz und betrachtete sie halb amüsiert, halb neugierig.

„Nachdem ich meinen Teil der Abmachung eingehalten habe, bist du jetzt dran. Also: Was ist in den Taschen?“

„Lass mich erst trinken.“

Sie nahm den Becher in beide Hände, spürte die Wärme an ihren Handflächen und sog den bittersüßen Duft der Schokolade ein, dann schloss sie die Augen und trank genüsslich einen großen Schluck.

Ethan gab ein seltsames Geräusch von sich, und sie schlug die Augen wieder auf. Verwirrt beobachtete sie, wie für einen winzigen Moment ein finsterer, geheimnisvoller Ausdruck seine Miene verdüsterte.

„Gut. Jetzt zeig, was du da hast.“ Neugierig deutete er auf eine der Taschen.

„Erfolgreiche Geschäftsleute sind doch alle gleich: viel zu ungeduldig!“, beklagte Tamara sich, doch sie stellte die Tasse ab, öffnete die Tasche und zog einen dicken Aktenordner heraus.

Ethan neigte den Kopf zur Seite, um die Beschriftung auf dem Ordnerrücken lesen zu können. „Was ist das?“

„Eine vollständige Aufstellung aller Restaurants in Melbourne. Ich habe sie erstellt.“

„Du wirst also wieder einsteigen.“

In seinem Blick lag so viel echtes Verständnis, dass Tamara staunte. Richard hatte selbst nach drei Jahren Ehe keine Ahnung gehabt hatte, wie es in ihr aussah, aber Ethan konnte auf Anhieb nachempfinden, was in ihr vorging.

„Ja. Ich habe an den fantastischen Menüs, die dein Küchenchef mir vorgesetzt hat, geübt, und denke, dass ich inzwischen wieder in der Lage bin, Restaurantkritiken zu schreiben. Hältst du die Idee für verrückt?“

Erstaunt zog er die Brauen hoch. „Verrückt? Im Gegenteil, das ist ein ausgezeichneter Plan! Du brauchst etwas, auf das du dich konzentrieren kannst, etwas, das dich von Richards Tod ablenkt.“

Seinen mitleidigen Blick konnte Tamara kaum ertragen. Sie hasste es, immer noch Trauer oder gar Liebe zu ihrem Mann heucheln zu müssen, der an einem Herzinfarkt plötzlich verstorben war.

Geliebt hatte sie ihn schon lange nicht mehr – genaugenommen seit einem Vorfall vier Monate nach der Hochzeit, als ihr frisch angetrauter Mann ihr einen Furcht einflößenden Ausblick in die Zukunft gewährt hatte.

Am Anfang ihrer Ehe hatte sie geglaubt, Richard würde sie nie im Stich lassen und ihr das bieten, was sie sich am meisten wünschte: Sicherheit und Beständigkeit. Beides hatte sie seit dem Tod ihres Vaters, damals war sie gerade zehn Jahre alt gewesen, schmerzlich vermisst.

Aber Richard war nicht der, für den sie ihn gehalten hatte. Kunden, Kollegen und Mitarbeiter mochten ihn bewundern, sie allein kannte die Wahrheit.

Richard Rayne, Australiens berühmter Starkoch, war ein Schuft durch und durch gewesen. Jedes Mal, wenn Tamara vor seinen Freunden die liebende Ehefrau spielen musste, war sie von einer alles verzehrenden Wut ergriffen worden. Selbst über den Tod hinaus hatte er ihr Kummer bereitet.

„Das hat nichts mit Richard zu tun. Ich mache es nur für mich!“

Tatsächlich hatte sie viel zu viel Zeit damit vergeudet zu analysieren, mit sich zu hadern und sich selbst anzuklagen. Sie hatte seit Richards Tod vor einem Jahr fast nichts anderes gemacht – nur gegrübelt und über die Frage „Was wäre, wenn?“ nachgedacht: Was wäre, wenn sie früher von seiner Geliebten erfahren hätte?

Was wäre, wenn sie ihm die Stirn geboten hätte, anstatt seinem beruflichen Erfolg zuliebe den Schein zu wahren?

Was wäre, wenn sie mit ihrer Mutter nach Indien gereist wäre, als sie sie vor Jahren darum gebeten hatte?

„Ich wollte wirklich kein Salz in alte Wunden streuen“, entschuldigte sich Ethan.

Tamara schüttelte den Kopf. Wie schön wäre es gewesen, hätte sie mit dieser Bewegung auch die schmerzhaften Erinnerungen abstreifen können!

„Das hast du nicht. Ich denke sowieso jeden Tag an ihn.“

Nach dieser Bemerkung musterte Ethan sie eindringlich.

Überlegt er, ob ich meinen Kummer überwunden habe und fähig bin, wieder zu arbeiten? fragte sich Tamara.

Schließlich schien er zu einem Schluss gekommen zu sein.

„Ich finde, du solltest verreisen. Nimm dir eine Auszeit, bevor du dich wieder in die Tretmühle stürzt. Glaub einem erfahrenen Workaholic! Hast du erst angefangen zu arbeiten, bleibt dir keine einzige freie Minute mehr.“

Sie setzte zu einem Protest an, schließlich kannte er sie kaum. Doch er hielt einen Zeigefinger an ihre Lippen, weil er noch nicht zu Ende gesprochen hatte.

Diese harmlose Berührung verschlug Tamara die Sprache und fuhr ihr bis ins Mark. Ihr Herz setzte einen Moment lang aus, um dann viel zu schnell weiterzupochen. Sicher eine Folge ihres dringenden Wunsches, ihn in seine Schranken zu verweisen.

„Hör mir zu: Du hast dich in dem vergangenen halben Jahr wirklich gut gehalten, wenn man berücksichtigt, was du durchgemacht hast. Aber jetzt ist die Zeit reif“, fuhr Ethan fort.

„Wofür?“

„Dir Zeit für dich selbst zu gönnen. Zeit, deinen Kummer beiseite zu schieben und weiterzugehen.“

Er wies auf den Aktenordner und die Taschen auf dem Tisch zwischen ihnen. „Soviel ich weiß, warst du früher eine erstklassige Restaurantkritikerin, eine der besten in ganz Melbourne. Aber willst du meine ehrliche Meinung hören? Im Moment bist du noch zu labil für den Job: Wenn ich eine beiläufige Bemerkung über einen Ofen fallen lasse, weinst du beinahe, du denkst jeden Tag an Richard. Es wird dir schwerfallen, diesen anstrengenden Beruf auszuüben. Am Ende kannst du ein einfaches Hacksteak nicht mehr von einem Filetsteak unterscheiden, geschweige denn darüber schreiben.“

Für diese Worte hätte Tamara ihn eigentlich hassen müssen, sie brannten wie Feuer. Doch das tat die Wahrheit ja oft.

Trotzig antwortete sie: „Bist du jetzt fertig?“, und wusste im selben Moment, dass sie einen Fehler begangen hatte. Er würde vor einer solchen herausfordernden Geste nicht zurückschrecken.

„Noch lange nicht!“ Ethan beugte sich über den Tisch und küsste sie direkt auf den Mund.

Der Kuss wirkte gleichzeitig vernichtend und belebend auf Tamara. Zum ersten Mal seit Jahren spürte sie ihr Blut heiß wie Lava durch ihre Adern rinnen. Ihr schwindelte leicht, als Ethan den Druck seiner Lippen verstärkte und auf eine Antwort drängte, die ihr der Verstand zu geben verbot.

Doch ihr Intellekt hatte in dem Augenblick seinen Dienst eingestellt, als Ethans Lippen ihre berührten, und ehe sie noch einen klaren Gedanken fassen konnte, erwiderte sie seinen Kuss leidenschaftlich. All die verschmähten Gefühle, die sich in der langen Zeit voller Demütigungen in ihr aufgestaut hatten, ihr Bedürfnis nach ein wenig Aufmerksamkeit, fanden ein Ventil in diesem Kuss.

Sie war in diesem Moment glücklich wie noch nie – bis sie sich auf einmal der Ungeheuerlichkeit ihres Verhaltens bewusst wurde.

Ethan, der berüchtigte Playboy, Freund von Richard, ein Mann, den sie kaum kannte, küsste sie – und sie ließ ihn gewähren!

Mit einem Ruck schreckte sie zurück, setzte sich kerzengerade hin und sah in entsetzt an, während eiskalte Schauer sie durchliefen.

Sie fühlte sich nicht dazu in der Lage, ihm an den Kopf zu werfen, wie wütend sie über sein Verhalten war, aber sie wusste genau, dass ihr Ärger sich nicht nur gegen ihn richtete.

Fast noch zorniger war sie auf sich selbst. Sie hatte den Kuss erwidert und sogar genossen!

„Erwarte jetzt keine Entschuldigung von mir!“ Ethan zeigte keine Reue, sondern betrachtete sie voller Verlangen.

Tamara erschauerte. Im Zentrum seiner Leidenschaft zu stehen – wenn auch nur für einen kurzen Augenblick – lähmte und erregte sie gleichermaßen.

„Ich wollte dir zeigen, dass du eine Frau aus Fleisch und Blut bist, die unbedingt wieder anfangen muss zu leben. Du solltest etwas machen, das du schon immer tun wolltest, bevor du dich ins Berufsleben stürzt“, erklärte Ethan.

Er hat recht! erkannte Tamara, wenngleich es ihr schwerfiel, das zuzugeben. Auch wenn ihr Körper noch unter dem Eindruck seiner Berührung und ihrer unerwarteten Reaktion darauf zitterte, hatte der Kuss doch seinen Zweck erfüllt. Alle Einwände, die sie vor wenigen Minuten noch gegen eine Reise vorgebracht hatte, waren wie weggeblasen. Sie musste schon allein aus dem Grund wegfahren, um einer weiteren, überaus peinlichen Begegnung mit diesem Mann zu entgehen.

Mit letzter Kraft setzte sie ihre hochmütigste Miene auf und schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht fassen, was du eben getan hast.“

Ethan zuckte lediglich die Schultern, lehnte sich auf dem Stuhl zurück und schlug die Knie übereinander, eine Geste voll männlichem Stolz und Selbstvertrauen.

„Kein Grund zur Panik! Es passiert oft, dass Menschen Dinge nicht fassen können, die ich tue. Reden wir lieber über deine Reise.“

„Nicht nötig.“ Tamara ärgerte sich über seine Beharrlichkeit, aber mehr noch über den plötzlichen Anflug von Vorfreude.

Tatsächlich hatte sie bereits selbst mit dem Gedanken gespielt zu verreisen, vielleicht sogar die Reise anzutreten, die sie mit ihrer Mutter geplant hatte.

Allerdings hatte sie die Idee wieder verworfen, bevor sie konkrete Gestalt annahm. Ohne ihre Mutter an ihrer Seite sah sie sich außer Stande, die Flut von Gefühlen zu ertragen, die die Reise sicher mit sich bringen würde.

Zum wiederholten Mal an diesem Tag traten ihr Tränen in die Augen, und sie blinzelte sie schnell weg. Gleichzeitig wünschte sie Ethan, der ihr gerade ein verheißungsvolles Lächeln schenkte, aus ihrem Leben fort.

„Stell dir vor: Sonne, Sand, Meer, tropische Pflanzen, ein Ort, an dem es heiß ist – nicht stürmisch und kalt wie hier in Melbourne“, pries er ihr die Vorzüge eines Urlaubs an.

In Anbetracht ihrer eisigen Zehen und der fast ebenso kalten Finger, erschien Tamara diese Vorstellung sehr verlockend. Ja, Indien war das ideale Ziel! Schnell zog sie einen Ordner hervor und blätterte hastig darin. Vor langer Zeit hatte sie dort eine Broschüre abgeheftet, daran erinnerte sie sich genau. Als sie die Reise mit ihrer Mutter plante, hatte sie Unmengen an indischen Reiseprospekten besorgt: über die „Blaue Stadt“ Jodhpur, über Sehenswürdigkeiten wie das Hawa Mahal und das Daulat Khana, Naturreservate wie den Ranthambhore National Park, in dem majestätische Tiger frei lebten, und viele mehr.

Nachdem Richard ihr verboten hatte, die Reise anzutreten, hatte sie die Broschüren überall vor ihm versteckt, in Büchern, Zeitschriften, ihren Arbeitsunterlagen.

Jetzt auf einmal erschien es ihr wichtig, sie dringend wiederzufinden. Allmählich erwachte in ihr die ursprüngliche Begeisterung für die Reise. Würde sie jetzt endlich den Mut aufbringen aufzubrechen?

Beinahe auf der letzten Seite des Ordners angekommen, stieß sie einen Freudenschrei aus. Hier befanden sich, ordentlich in einer Klarsichthülle abgeheftet, Hochglanzbroschüren über den Taj Mahal, das weltberühmte Mausoleum, und den Palace on Wheels, einen ursprünglich für eine Maharadschafamilie gebauten Luxuszug, der heute Touristen durch Rajasthan transportierte.

„Schau dir das an, du lästiger Quälgeist, damit du endlich Ruhe gibst.“

Tamara reichte Ethan die Prospekte.

Überrascht nahm er sie entgegen und betrachtete sie. „Indien?“

„Eigentlich wollte ich schon vor Jahren dorthin, aber es ging nicht.“ Gedankenverloren sah sie auf die faszinierenden exotischen Bilder.

Natürlich hätte sie diese Unterlagen schon vor langer Zeit wegwerfen sollen. Aber tief in ihrem Inneren hielt sie an der Traumreise fest, weil diese Pläne selbst nur als vage Möglichkeit sie mit ihrer Mutter verbanden.

Die Broschüren hatte sie ihr als Überraschung zu derem 60. Geburtstag überreicht, und die beiden Frauen hatten oft darin geblättert und in Vorfreude auf die Reise geschwelgt, bis Richard diesen Traum zerstört hatte.

Erneut befielen Tamara Zweifel. Die Reise ohne ihre Mutter wäre nicht dieselbe.

„Vielleicht sollte ich mich erst einmal nach Alternativen umsehen.“ Geistesabwesend spielte sie mit dem Flyer in ihrer Hand, faltete die Ecken um und strich sie wieder glatt.

„Oh nein!“ Ethan schnippte mit den Fingern. „Du wirst diese Reise antreten.“

Überrascht von seinem entschiedenen Tonfall, blickte Tamara auf. Bedauern schnürte ihr die Kehle zu. Sie räusperte sich kurz und sagte dann: „Ich kann nicht.“

Sie musste ein anderes Reiseziel finden, einen Ort, mit dem sie keine traurigen Erinnerungen verband, an dem sie ihre Mutter nicht ständig vermissen würde.

Doch Ethan klopfte mit dem Zeigefinger auf den Prospekt. „Sicher kannst du das. Sieh zu, dass du einen klaren Kopf kriegst. Mach einen Neuanfang.“

Traurig blickte sie ihn an. „Ursprünglich wollte ich gemeinsam mit meiner Mutter reisen. Es war ihr Herzenswunsch … Ich kann nicht alleine fahren.“

Ihre Stimme brach, und sie stand unvermittelt auf und ging zum Kamin, hielt die Hände über die Flammen und wünschte, das Feuer würde auch ihre einsame Seele wärmen.

„Du wirst nicht allein sein.“

Ethan war aufgestanden und trat hinter sie. Stärker als die Hitze des Feuers spürte Tamara die Wärme, die sein Körper ausstrahlte, und sie wünschte, sie könnte sich an ihn lehnen. Fast im selben Moment hätte sie sich für den Gedanken ohrfeigen mögen.

Inzwischen war er um sie herumgetreten und stand vor ihr. „Du wirst nicht allein sein, weil ich mit dir komme.“

„Aber …“

„Kein Aber!“

Gebieterisch hob er eine Hand. „Erstens muss ich sowieso nach Indien, um einen Küchenchef aus Delhi fürs Ambrosia abzuwerben.“

Als wäre damit der erste Punkt abgehakt, machte er eine Faust und streckte einen Finger wieder aus.

„Zweitens: Du brauchst Gesellschaft.“

Der zweite Finger wurde ausgestreckt.

„Und außerdem wollte ich schon immer einmal mit dem Palace on Wheels fahren, kam aber nie dazu. Du tust mir also einen Gefallen.“

Sie runzelte die Stirn. „Wie das?“

„Ich habe gehört, die Fahrt ist noch reizvoller, wenn man sie in Begleitung einer schönen Frau antritt.“

Als er ihr jetzt sein umwerfendes Lächeln schenkte, erwiderte sie es automatisch.

Doch auf einmal kam sie zur Besinnung. Was soll das? Er ist wirklich der Letzte, mit dem ich verreisen will! Immerhin hatte er versucht, sie mit seinem legendären Playboycharme einzuwickeln und sie sogar geküsst! Schöne Frau, von wegen!

„Deine Mutter hätte gewollt, dass du fährst.“

Oh ja, Ethan weiß genau, wie er mich behandeln muss! Und das Schlimmste war: Er hatte recht.

Ihre Mutter hätte gewollt, dass sie führe, Goa kennenlernte und den Strand besuchte, an dem ihre Eltern sich zum ersten Mal begegnet waren, die traumhafte Zugfahrt durch das indische Kernland unternähme, den Taj Mahal besichtigte, den ihre Mutter selbst so gern gesehen hätte.

Vielleicht kann eine Reise in das Land ihrer Ahnen mir bei der Suche nach meiner verlorenen Identität helfen, dachte Tamara.

Von ihrer eigenen Spontaneität überrascht – die erste spontane Handlung des Tages, ihre Antwort auf seinen Kuss, ignorierte sie geflissentlich – traf sie eine Entscheidung.

„Du hast recht, ich fahre.“

Entschlossen sah sie Ethan an, doch ihr Blick verlor an Festigkeit, als ihr die Tragweite ihres Plans bewusst wurde, und ihre Unterlippe begann leicht zu zittern.

„Prima. Wir …“

Ich fahre. Allein!“

„Aber …“

„Wir kennen uns doch kaum.“ Erschauernd dachte Tamara an die Gefühle, die sein Kuss in ihr ausgelöst hatte, und an ihre Reaktion. Daraus musste er die falschen Schlüsse gezogen haben. Wie käme er sonst auf die Idee, dass sie mit einem flüchtigen Bekannten verreisen würde?

Vielleicht überreagierte sie auch nur und interpretierte seine funkelnden Blicke und sein anziehendes Lächeln falsch?

Unvermittelt beugte Ethan sich vor, kam ihr viel näher, als ihr lieb war, und raunte ihr verheißungsvoll ins Ohr: „Aber dafür sind Reisen doch da. Man hat jede Menge Zeit, sich kennenzulernen.“

Oh nein, ich überreagiere nicht! dachte Tamara. Er versuchte eindeutig, mit ihr zu flirten!

Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu, ging zum Tisch zurück, nahm ihren Mantel vom Stuhl und schlüpfte hinein.

„Vielen Dank für dein Angebot, aber ich fahre allein.“

Als er zu einer Antwort ansetzte, gebot sie ihm mit erhobener Hand zu schweigen. „Ich will es so.“

Ehe er protestieren konnte, ergriff sie ihre Handtasche und deutete auf die Ordner und Taschen. „Das hole ich morgen ab.“

Sie war schon auf dem Weg zum Ausgang, als er ihr nachrief: „Single-Reisen werden deutlich überschätzt.“

Die Hand am Türgriff hielt sie inne und blickte über die Schulter zu ihm zurück.

„Es war mir klar, dass du so denkst.“

Ethan lächelte triumphierend, als hätte er soeben ein Kompliment erhalten.

„Immerhin kenne ich mich mit Frauen ähnlich gut aus wie mit Restaurants.“

„Nach allem, was man hört, bist du in dieser Hinsicht geradezu überqualifiziert.“

Sie erschrak über ihre indiskrete Bemerkung. Wie konnte sie nur sein Privatleben kritisieren! Das ging sie gar nichts an.

Doch er lehnte seelenruhig an der Bar, lächelte sogar noch breiter als eben und wirkte jeder Zoll wie ein Pirat, lediglich eine Augenklappe und eine Bandana um den Kopf fehlten.

„Bist du dir ganz sicher, dass ich nicht mitkommen soll?“

„Absolut.“

Sie trat aus der Eingangstür und hörte befriedigt, wie sie mit lautem Krachen hinter ihr ins Schloss fiel.

Mit einem Playboy-Piraten wie Ethan Brooks verreisen?

Lieber ginge sie über die Planke!

2. KAPITEL

„Was tust du denn hier?“, fragte Tamara entgeistert.

Ethan, der gemächlich über den Bahnsteig des Bahnhofs von Delhi auf sie zuschlenderte, amüsierte sich köstlich über ihre schockierte Miene.

„Meinst du, was ich in Delhi oder was ich hier auf dem Bahnhof mache?“

In ihren smaragdgrünen Augen blitzte es gefährlich auf. „Keine Wortklaubereien bitte! Warum bist du hier?“

„Geschäfte. Du weißt doch, ich bin ein Workaholic. Der Küchenchef aus Delhi hat mir abgesagt, jetzt will ich versuchen, einen Koch aus Udaipur abzuwerben. Und da Flugreisen mich langweilen, habe ich mich für die landschaftlich reizvolle Fahrt mit dem Zug entschieden.“

Die Arme vor der Brust verschränkt, die Lippen fest zusammengepresst, wich sie keinen Millimeter zurück. Schließlich stieß sie hervor: „Und dass du gleichzeitig mit mir verreist …“

„Ist reiner Zufall“, ergänzte er.

Sein selbstzufriedenes Lächeln ärgerte sie maßlos. Auch wenn er damit durchschlagenden Erfolg bei den Damen in Melbourne erzielte, sie würde seinem Charme nicht verfallen!

Als er ihr eine Hand auf den Arm legte, versteifte sie sich und trat einen Schritt zurück.

„Keine Sorge, der Zug ist groß und die Fahrt dauert nur eine Woche“, versuchte Ethan, sie zu beschwichtigen. Seit er Tamara kannte, hatte er sie für schön gehalten, aber wütend sah sie einfach umwerfend aus. Nur ihretwegen war er hierhergekommen. Und es war höchste Zeit, er hatte schon zu lang auf sie gewartet!

„Anstatt uns zu streiten, sollten wir lieber die Reise genießen.“

Zunächst sah es aus, als würde Tamara niemals einlenken, doch dann bedachte sie ihn mit einem letzten bösen Blick und wandte sich zu dem Empfangskomitee um, das neben dem Zug, dem berühmten Palace on Wheels, auf die Fahrgäste wartete.

„Ziemlich eindrucksvoll“, raunte Ethan ihr ins Ohr.

Sie nickte, schwieg aber weiter. Um sie aus ihrem Stimmungstief zu locken, setzte Ethan nun gezielt seinen Charme ein. „Sieh doch, wer alles zu deiner Begrüßung gekommen ist: Ein Trommler mit seiner Tabla, hübsche Inderinnen, die dir Blumengirlanden umhängen wollen, sogar dein eigener Abteildiener erwartet dich. Ist das etwa kein würdiger Empfang?“

Als der Diener auf die beiden Fahrgäste zutrat und Ethan zur Begrüßung einen knallroten Turban auf den Kopf setzte, konnte Tamara sich ein Lächeln nicht mehr verkneifen.

„Sieht aus, als würden sie nicht nur mich willkommen heißen.“

Ethan nickte, dabei geriet der Turban gefährlich ins Schwanken, und Tamara lachte unwillkürlich auf.

„Gut, du kannst bleiben. Aber denke daran: Ich reise allein.“

Diesen Umstand werde ich gewiss nicht respektieren, dachte Ethan, denn er hielt nicht viel vom Alleinsein. Er liebte Gesellschaft, genoss die lärmende Geschäftigkeit in einem Restaurant, blühte im Zentrum der Geschäftswelt erst so richtig auf und war am glücklichsten in Begleitung schöner Frauen. Am wichtigsten aber war es ihm, alles zu kontrollieren. Jetzt bot sich ihm die Gelegenheit, sein Verlangen nach Tamara zu stillen. Von der ersten Begegnung an hatte er sie begehrt, doch bis zu Richards Tod, hatte er sich von ihr ferngehalten und die Ehe seines Freundes geachtet. Jetzt war Richard tot, und Ethan sehnte sich mehr denn je nach dieser wunderbaren Frau. Es gab keinen Grund, noch länger zu warten.

Der Kuss im Ambrosia hatte alles verändert.

Einen Augenblick lang hatte er die Beherrschung verloren und seiner Leidenschaft für sie nachgegeben. Ihre überraschende Reaktion auf den Kuss hatte ihn förmlich umgeworfen, und indem sie anschließend einfach fortgegangen war, hatte sie die Führung in ihrer Beziehung übernommen. Das konnte er nicht hinnehmen! Er würde sich das Heft nicht von einer Frau aus der Hand nehmen lassen, mochte sie noch so schön sein.

Auf dem langen, steinigen Weg zum Reichtum hatte er gelernt, gründlich, beharrlich und entschlussfreudig zu sein. Ziele im Geschäftsleben erreichte er durch eine wohldosierte Kombination aus Hartnäckigkeit und Charme.

Jetzt wollte er Tamara. Er tippte sich kurz mit einem Finger an die Stirn und versprach: „Ich werde versuchen, daran zu denken. Aber diese Hitze macht mich schrecklich vergesslich.“

„Dann lass uns endlich einsteigen. Vielleicht helfen das luxuriöse Ambiente und die Klimaanlage deinem Gedächtnis auf die Sprünge.“

„Willst du damit andeuten, ich wäre ein Snob?“

„Bist du das etwa nicht? Ach nein, ich vergaß: Du bist nur ein einfacher Milliardär, einer der bedeutendsten Gastronomen der Welt, und natürlich kein bisschen verwöhnt.“

„Komm endlich, du Spaßvogel. Es wird Zeit einzusteigen.“

Sie lächelte ihm übermütig zu und ging voran. Während Ethan ihr mit dem Handgepäck zu dem luxuriösen Abteil folgte, wunderte er sich, wie sehr Tamara sich bereits verändert hatte.

Natürlich wirkte sie noch zerbrechlich, und ein Hauch von Traurigkeit umgab sie, doch Indien bekam ihr offenbar gut. Nachdem sie seine Anwesenheit erst einmal akzeptiert hatte, hatte sie in den vergangenen Minuten so viel gelächelt wie in den ganzen Jahren nicht, die er sie kannte.

„Ich habe mir einen eigenen Waggon reservieren lassen, aus Sorge, du könntest mich kompromittieren“, scherzte er.

Wieder lächelte sie, und Ethans Herz setzte einen Schlag aus. Diese Wirkung hatte sie von ihrer ersten Begegnung an auf ihn gehabt – eine Stunde, nachdem sie Richard kennengelernt hatte. Leider!

Sie hatte sich Hals über Kopf in den attraktiven Starkoch verliebt und nur Augen für ihn gehabt. Daher hatte Ethan seine Leidenschaft für die Frau, die er nicht haben konnte, unterdrückt und jahrelang geheim gehalten.

„Ich werde deinen Ruf schon nicht gefährden. Bestimmt wissen die schönen Erbinnen und Models, in deren Begleitung du ständig gesehen wirst, dass eine langweilige alte Witwe wie ich keine Konkurrenz für sie darstellt“, entgegnete Tamara.

„Du bist weder langweilig noch alt“, widersprach Ethan.

Tatsächlich ging er mit sehr vielen Frauen aus. Er zog kurzweilige, aber kurze Beziehungen einer festen Bindung vor. Und dafür gab es einen Grund, einen wirklich guten sogar.

„Aber ich bin Witwe“, stellte sie traurig fest.

Ethan bedauerte zutiefst, was Tamara durchgemacht hatte, den Schmerz über Richards Tod, und wie sie kämpfen musste, um ihr Leben zurück in ruhiges Fahrwasser zu lenken. Gleichzeitig war er froh, dass sie wieder Single war.

Bin ich deswegen herzlos? Schon möglich, aber in der Vergangenheit hatte er gelernt, Realist zu sein und weder sich selbst noch anderen etwas vorzumachen.

„Vielleicht solltest du allmählich deine Trauer ablegen?“, schlug er ihr daher vor.

Es hätte ihn nicht gewundert, hätte sie sich nach diesem ungebetenen Ratschlag in ihr Schneckenhaus zurückgezogen oder ihn wieder so verächtlich angesehen wie nach jenem Kuss im Ambrosia. Stattdessen neigte sie den Kopf zur Seite und betrachtete ihn intensiv.

„Bist du immer so direkt, Ethan?“

„Immer.“

„Wenn ich dich bitte, deine Einschätzungen für dich zu behalten, führt das eher zum Gegenteil, fürchte ich. Schließlich hast du dich ja auch entgegen meinem ausdrücklichen Wunsch mir auf meiner Reise angeschlossen“, dachte sie laut nach.

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich geschäftlich unterwegs bin.“

So leise, dass er es gerade noch hören konnte, murmelte sie: „Unfug!“

Keine andere Frau übte eine solche Anziehungskraft auf ihn aus. Er wurde von dem unwiderstehlichen Drang getrieben, sie zu besitzen. Doch zuerst musste es ihm gelingen, dass sie ihn überhaupt als Mann wahrnahm, nicht nur als aufdringlichen Bekannten.

Mit viel Glück und einer Menge Charme würde er sie dazu bringen, an jenen ersten, verheißungsvollen Kuss anzuknüpfen.

„Bist du noch sauer, weil ich dich geküsst habe?“

„Nein. Ich denke gar nicht mehr daran“, schwindelte sie errötend.

„Dann war ich anscheinend schon mal besser!“

„Das ist es nicht …“

Schnell unterdrückte er ein triumphierendes Lachen. Er hatte für einen Moment die Beherrschung verloren und sie geküsst, doch ihre leidenschaftliche Antwort hatte ihn überwältigt. Jetzt begehrte er sie noch stärker als zuvor und begann, verrückte Dinge zu tun, wie Urlaub zu nehmen – bisher ein höchst seltenes Ereignis –, um mit ihr zusammen zu sein.

„Vielleicht sollten wir den Kuss in einem fernen Winkel unserer Erinnerung begraben und einfach weitermachen wie zuvor?“, schlug Ethan vor.

Doch zu seinem großen Schreck traten Tamara Tränen in die Augen. Es tat ihm weh, sie so traurig zu sehen. Unwillkürlich streckte er die Arme nach ihr aus und zog sie an sich. „Tut mir leid, das war eine dumme Bemerkung.“

Sie schmiegte sich fest an seine Brust, und sein Körper reagierte prompt. Sein Herzschlag beschleunigte sich, und er spürte das Blut heiß durch seine Adern fließen. Instinktiv wollte er sie weit von sich schieben, um wieder die Beherrschung zu erlangen, doch als sie leise aufschluchzte, zog er sie fester an sich.

Beruhigend streichelte er über ihr dichtes schwarzes Haar. Er verzehrte sich danach, seine Finger in der schimmernden dunklen Flut zu vergraben und den süßen Duft, der den seidigen Strähnen entströmte, einzuatmen. Am liebsten hätte er sie die ganze Nacht so gehalten.

„Geht es wieder?“ Vorsichtig gab Ethan sie nach einer Weile frei und trat einen Schritt zurück. Er brauchte den Abstand. Tamara besaß bereits viel zu viel Macht über ihn. Außerdem konnte er nicht gut trösten, das hatte es nie gut gekonnt. Nie hatte er ein Taschentuch dabei oder die passenden Worte parat. An seiner Schulter konnte man sich nicht ausweinen, er umarmte niemanden zum Trost – nur aus Leidenschaft.

Was ist in den letzten Minuten mit mir passiert? Was genau stellt diese Frau mit mir an? fragte Ethan sich daher verwundert.

„Ja, danke.“ Tamara lächelte ihn aus tränenverschleierten Augen an, straffte die Schultern und hob tapfer den Kopf.

Genauso hat sie auch bei Richards Beerdigung ausgesehen, erinnerte sich Ethan.

Er bewunderte die Stärke, die sie nach Richards überraschendem Tod bewiesen hatte. Schnell hatte sie den ersten Schock überwunden und die mit einem Todesfall einhergehenden Arbeiten bewältigt. Er hatte ihr in rechtlichen Angelegenheiten beratend zur Seite gestanden. Und als sie ihn einige Monate später gebeten hatte, im Ambrosia ihre Fähigkeiten als Restaurantkritikerin trainieren zu dürfen, war sein Respekt vor ihr nur noch weiter gewachsen, ebenso wie sein Verlangen nach ihr. Tamara war schlicht und einfach eine unglaubliche Frau.

„Ich sehe, du trauerst noch immer. Solltest du einmal das Bedürfnis haben, über Richard und die Zeit mit ihm zu sprechen, bin ich für dich da, okay?“

Wenn Tamara sich ihm öffnete, könnte er ihr vielleicht helfen, mit dem Tod ihres Mannes abzuschließen und ihr eigenes Leben wieder aufzunehmen.

Aber zu seiner großen Überraschung rümpfte sie lediglich kurz die Nase.

„Wenn ich ehrlich bin, möchte ich nicht über Richard sprechen. Ich habe meine Trauer überwunden.“

Sie sah Ethan trotzig an. Das sanfte Moosgrün ihrer Augen war einem strahlenden Smaragdton gewichen. „Jetzt will ich diese Reise genießen und mich danach auf die Zukunft konzentrieren.“

So entschlossen und resolut kannte er Tamara nicht. Sie hatte sich verändert. Bisher hatte er sie als Dame der Melbourner Gesellschaft, perfekte Gastgeberin, kluge Geschäftsfrau und trauernde Witwe erlebt. Ihr neues selbstbewusstes Auftreten gefiel ihm. Seiner Meinung nach musste sie erst die Vergangenheit loslassen, um neu anfangen zu können. Diese Reise sollte ein Neubeginn für sie werden, und er wollte daran teilhaben.

„Hört sich gut an!“

Als sie ihm zulächelte, überlief es ihn heiß und kalt. Mit einem letzten Rest an Selbstbeherrschung ballte er die Hände zu Fäusten, um nicht erneut nach ihr zu greifen und sie an sich zu ziehen.

Dafür war später noch Zeit genug.

Tamara streckte sich auf ihrem Bett aus, reckte die Arme über dem Kopf und lächelte zufrieden.

Das gleichmäßige Rütteln der Waggons, das Rattern der Räder, während der Zug Delhi allmählich hinter sich ließ, der Duft nach Masala-Tee, dem von ihr heiß geliebten indischen Gewürztee, den sie sich hatte servieren lassen – beruhigte und belebte sie gleichermaßen.

Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sie sich frei. Frei, das zu tun, wonach ihr der Sinn stand, und diejenige zu sein, die sie sein wollte. Ein herrliches Gefühl, geradezu fantastisch!

Vor langer Zeit hatte sie Richard wirklich geliebt und sich danach gesehnt, mit ihm die Art von Ehe zu führen, die ihre Eltern ihr vorgelebt hatten. Doch so glücklich wie heute war sie selbst damals nicht gewesen.

Nach Richards tödlichem Herzanfall hatte sie monatelang die trauernde Witwe gespielt. Sie hatte ihre Demütigung, die Bitterkeit und den Schmerz vor allen anderen verborgen.

Hinter der Fassade der untröstlichen Witwe hatte es gebrodelt: Sie war wütend auf ihren Mann gewesen, der ihre Ehe zu einer Farce gemacht hatte, aber auch auf sich selbst, weil sie so leichtgläubig und naiv auf ihn hereingefallen war. Und sie ärgerte sich, dass ihr selbst über seinen Tod hinaus die Meinung anderer Leute wichtig erschien.

Bis zu ihrer Hochzeit hatte sie sich nicht einen Deut um gesellschaftliche Konventionen geschert und sich über Richards Besessenheit, den Schein zu wahren, amüsiert. Bald jedoch hatte sie erkannt, dass es ihm damit todernst war, und sich schließlich unter seinem Druck in die perfekte Ehefrau verwandelt, die er haben wollte, während er gleichzeitig eine Geliebte ausgehalten hatte, behaglich untergebracht in einem luxuriösen Haus am Strand, nur eine gute Stunde mit dem Auto von der ehelichen Wohnung in Melbourne entfernt.

Doch sie wollte sich den Beginn ihrer wunderbaren Reise nicht durch bittere Erinnerungen verderben lassen. Sie setzte sich auf, und ihr Blick fiel auf das leere Bett in ihrem Abteil. Dort hätte ihre Mutter liegen und märchenhafte Geschichten über Goa und seine Strände erzählen sollen, besonders über Colva Beach, wo sie ihren Mann kennengelernt und sich auf den ersten Blick in ihn verliebt hatte, einen australischen Rucksacktouristen mit freundlichen Augen und einem Lächeln auf den Lippen.

Mit aller Kraft wünschte Tamara sich die Mutter herbei. Dann wischte sie sich mit einer ärgerlichen Geste über die feuchten Augen.

Ich wollte doch nicht mehr weinen, wies sie sich selbst zurecht. Das hatte sie sich schon in Melbourne vorgenommen, als sie sich zu der Reise entschloss.

Auch wenn sie hinter jeder Kurve, bei jedem neuen faszinierenden Anblick, ihre Mutter schmerzlich vermissen würde, war sie dankbar dafür, einen weiteren Schritt in Richtung auf ein neues Leben unternommen zu haben.

Richards Verhalten konnte sie nicht mehr demütigen, und sie würde sich erst recht nicht länger selbst bedauern.

Denn jetzt war ihre Zeit gekommen!

Zeit für ein neues Leben, einen neuen Anfang.

Was aber sollte sie mit Ethan Brooks anfangen, der sich ihr so dreist aufgedrängt hatte?

Nicht Ethan, der knallharte Geschäftsmann, war mit ihr in den Zug gestiegen, sondern der Pirat, der Spieler und Playboy mit dem gefährlichen Lächeln. Ihr Selbstschutz riet ihr dringend, sich von ihm fernzuhalten, aber sie wollte auch nicht unhöflich sein.

Immerhin hatte er ihr geholfen, den Nachlass zu regeln, und ihr den Weg zurück ins Berufsleben erleichtert, indem er sie im Ambrosia trainieren ließ. Sie hatte ihm viel zu verdanken.

Aber er brachte sie aus dem Konzept.

Wenn er, voll auf seine Geschäfte konzentriert, gleichzeitig mit Unterlagen und Laptop jonglierend, seinen Angestellten Anweisungen erteilte und ihre Anwesenheit im Ambrosia bestenfalls mit einem abwesenden Nicken zur Kenntnis nahm, kam sie ausgezeichnet mit ihm zurecht.

Wenn sich zu Richards Lebzeiten ihre Wege gekreuzt hatten, hatte er sie weitgehend ignoriert, was ihr nur recht gewesen war. In seiner Gegenwart hatte sie sich immer unwohl gefühlt, obwohl sie sich doch kaum kannten.

Erst nach Richards Tod hatte sie begonnen, Ethan mit anderen Augen zu sehen. Sie hatte angefangen, Kleinigkeiten wahrzunehmen: Die Art, wie er Pistazien aß, indem er sie in die Luft warf und mit dem offenen Mund auffing, seine Vorliebe für Shiraz Grenache, einen ausgezeichneten Rotwein, und Date Pudding, ein sehr süßes australisches Dessert. Außerdem kannte sie ihn inzwischen als Fan des Melbourner Football Clubs.

Für sich genommen waren diese Details trivial, aber allein die Tatsache, dass sie sie bemerkt hatte, irritierte sie.

Und dann der Kuss! Tamara stöhnte gequält auf. Die Erinnerung daran verfolgte sie sogar noch im Schlaf. Sie erwachte regelmäßig schweißgebadet und völlig außer Atem, weil es im Traum nicht bei einem Kuss blieb!

Sie wollte nicht daran denken, wie süß dieser Kuss geschmeckt hatte, und wie mühelos es Ethan gelungen war, ihr eine Antwort zu entlocken.

Doch sie entsann sich jedes einzelnen atemberaubenden Moments. Mochte der Verstand ihr auch raten, diese Erinnerungen in den hintersten Winkel ihres Gedächtnisses zu verbannen, ihr Körper verlangte nach mehr.

Und jetzt war Ethan hier in Indien, in diesem Zug!

Seine Anwesenheit machte sie nervös. Er war freundlich und charmant und sah besser aus, als ihm guttat. Aber in ihrem neuen Leben war kein Platz für einen Mann – am allerwenigsten für einen Playboy wie Ethan Brooks.

Also beschloss sie, die verräterischen Gedanken, die sie in letzter Zeit immer wieder überfielen, wenn sie in den frühen Morgenstunden schlaflos dalag, zu ignorieren.

Und sie würde sich auch nicht ausmalen, was passiert wäre, hätte sie vor vier Jahren zuerst ihn und nicht Richard kennengelernt.

Schließlich hatte sie diese Reise angetreten, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen und sich auf die Zukunft zu konzentrieren.

3. KAPITEL

„Sag bloß nicht, du arbeitest!“ Bestürzt deutete Ethan auf das kleine blaue Notizbuch, das halb verborgen unter Tamaras Leinenserviette auf dem Tisch des Speisewagens lag, an dem sie gemeinsam ihr Dinner einnahmen.

„Dann sag ich es eben nicht.“ Ungerührt brach Tamara einen Pakora entzwei, einen in Kichererbsenmehl ausgebackenen Gemüsestick, tauchte ihn in die pikante Tamarindensauce und schob ihn genüsslich in den Mund.

Ethan schüttelte schmunzelnd den Kopf, dann nahm er sich eine Fleischsamosa, eine gefüllte Teigtasche, von dem Vorspeisenteller.

„Eigentlich wolltest du Urlaub machen!“

„Aber ich werde bald anfangen zu arbeiten und muss mich vorbereiten.“

Er legte sein Besteck zur Seite und sah Tamara eindringlich an. „Du bist eine Expertin, eine der besten Restaurantkritikerinnen in ganz Australien. Nur weil du ein Jahr lang nicht gearbeitet hast, verlierst du deine Fähigkeiten nicht.“

„Zwei Jahre“, berichtigte sie ihn. Richard zuliebe hatte sie nach der Hochzeit ihren Job aufgegeben, was sie inzwischen zutiefst bedauerte. „Und trotz des Trainings fühle ich mich noch ganz eingerostet. Ich brauche so viel Praxis wie möglich.“

Wieder biss sie in den Gemüsestick und kaute gedankenverloren. Noch aus einem weiteren Grund hatte sie das Notizbuch mitgenommen.

Als sie vor einigen Minuten die Abteiltür öffnete, hatte sie Ethan am anderen Ende des Waggons erblickt. In einer dunklen Baumwollhose und einem lässigen weißen Hemd mit offenem Kragen hatte er so umwerfend ausgesehen, dass sie, völlig aus dem Gleichgewicht gebracht, am liebsten die Tür wieder zugeworfen und sich in ihrem Abteil versteckt hätte.

Schuld daran waren vermutlich ihre dummen Grübeleien. Sie betrachtete Ethan neuerdings mit anderen Augen, sah den Mann in ihm, den charmanten, attraktiven Mann, nicht mehr nur den … den was? Geschäftsfreund? Reisebegleiter? Freund?

Die beiden letzten Möglichkeiten sagten ihr am wenigsten zu, denn sie beinhalteten mehr Nähe, als ihr lieb war. Und doch hatten sie in dem Moment, als er sie geküsst hatte, unwiderruflich aufgehört, einfach nur Bekannte zu sein.

Tamara gefiel die Richtung nicht, die ihre Gedanken einschlugen. Sie wollte nicht einmal vor sich selbst eingestehen, dass sie das sexy Grübchen in seiner linken Wange bemerkt hatte, die feinen Linien um die Augenwinkel, die seinem Gesicht zusätzlichen Charakter verliehen, oder das leicht zerzauste schwarze Haar, das ihm bis zum Hemdkragen reichte.

All das war ihr vorher nie aufgefallen – oder hatte sie zumindest nicht in die seltsame Aufregung versetzt, die sie jetzt verspürte. Das Notizbuch sollte ihr als Schutzschild dienen, hinter dem sie sich während des Dinners verschanzen konnte. Es sollte ihr zumindest über den ersten Abend hinweghelfen.

Aber was war mit den restlichen sechs Tagen, die sie gemeinsam in diesem Palast auf Rädern verbringen würden auf ihrer Traumreise durch Rajasthan?

Halt suchend griff sie nach dem Notizbuch, doch im selben Moment nahm Ethan ihre Hand in seine. Die Berührung rief ein Kribbeln auf ihrer Haut hervor, ihr Pulsschlag beschleunigte sich, und sie wurde von jäher Panik befallen.

Sie fürchtete, dass sich die Beziehung zwischen ihnen, ohne dass sie es bemerkt hatte, bereits unumkehrbar verändert hatte, und dass sie das ursprüngliche Ziel ihrer Reise – die Selbstfindung – aus dem Blick verlieren könnte, wenn sie sich durch die neue Situation ablenken ließe.

„Das ist dein erster Urlaub seit Jahren. Sei also nicht so streng mit dir“, ermahnte Ethan sie, drückte dann sanft ihre Hand und ließ sie los.

Tamara atmete tief durch und spürte erst jetzt, dass sie die Luft angehalten hatte.

„Ich bin sicher, du bist ganz schnell wieder in Bestform. Sobald ich dem Lake-Palace-Hotel den Küchenchef ausgespannt habe und er im Ambrosia anfängt, kannst du an seinen Gerichten weitertrainieren“, fuhr Ethan fort.

„Das ist wirklich nett von dir!“

Und das war es auch. Ebenso nett war es von ihm gewesen, mit ihr zusammen Richards Geschäftspapiere durchzugehen und ihr regelmäßig einen Tisch im Ambrosia reservieren zu lassen, weit genug entfernt von den lebhaften Gästen, sodass sie ungestört ihre Kritiken schreiben konnte.

Doch in dem Blick, mit dem er sie jetzt bedachte, in der knisternden Spannung, die seit wenigen Augenblicken zwischen ihnen herrschte, lag keine Spur von Nettigkeit mehr. Kein Wunder, dass Ethan unzufrieden war mit ihrer Antwort.

„Nett ist eine schreckliche Bezeichnung für einen Mann!“

„Okay, wenn es dir lieber ist, nenne ich dich einen herzlosen, kalten Unternehmer, der über Leichen geht.“

„Viel besser.“

Sein unverfrorenes Lächeln ließ sie erröten. Hastig griff sie nach ihrem Notizbuch, schlug es auf und bat Ethan: „Koste das gegrillte Fleisch und sag mir, was du davon hältst.“

Folgsam nahm er ein Stück von dem kräftig gewürzten Lammfleisch am Spieß, das im Tandoor-Ofen perfekt zubereitet worden war. Er kaute genüsslich und stieß dann einen Seufzer aus. „Fantastisch!“

Tamara sah von ihrem Notizbuch auf, und ihr Blick blieb an seinen ausdrucksvollen Lippen hängen.

Ethan nahm einen weiteren Bissen und kaute konzentriert. „Ich schmecke Ingwer, einen Hauch von Knoblauch und Kreuzkümmel.“ Er verzehrte den Rest und klopfte zufrieden auf seinen Bauch, der sehr fest und durchtrainiert wirkte, soweit Tamara das durch sein Hemd hindurch beurteilen konnte.

Nicht schon wieder! dachte sie entsetzt über sich selbst. Solche Details sollten ihr gar nicht auffallen! Nervös schrieb sie in ihr Buch und drückte dabei mit dem Stift so fest auf, dass das Papier einriss.

„Gar nicht schlecht“, lobte sie ihn. „Als Besitzer etlicher Sternerestaurants ist es jedoch das Mindeste, dass du die wichtigsten Gewürze herausschmecken kannst.“

Er nahm ihr Kompliment lächelnd entgegen und wies dann auf das Notizbuch. „Jetzt bist du dran. Was sagst du zu den Speisen?“

Als sie auf ihre Aufzeichnungen blickte, spürte sie auf einmal Aufregung. Sie liebte ihren Job, jede Facette dieser Arbeit, vom ersten Verkosten der Gerichte, wenn sie im Mund zergingen und die Aromen ihren Gaumen kitzelten, bis zu dem Moment, an dem sie es nicht mehr erwarten konnte, ihre Eindrücke zu Papier zu bringen. Ebenso gern erprobte sie selbst neue Rezepte und tauschte sich mit Gleichgesinnten aus.

Die indische Küche war der Geschmack ihrer Kindheit, ihrer Meinung nach gab es keine bessere auf der ganzen Welt.

„Das Keema – das Lammhack“, erklärte sie auf seinen fragenden Blick hin, „ist raffiniert gewürzt mit Kardamom, Zimt, Gewürznelken, schwarzem Pfeffer und Kreuzkümmel. Weitere Zutaten sind getrocknete Mango, indischer Kümmel, Papayapaste, eine ordentliche Prise Zwiebel, Ingwer, Knoblauch und ein Hauch Muskat.“

„Und das alles schmeckst du aus einem einzigen Bissen heraus?“, staunte Ethan.

Obwohl Tamara sich auf die Lippen biss, gelang es ihr nicht, ein Lachen zu unterdrücken, als er von dem Lammgericht nahm und es ihr gleichzutun versuchte.

„Meine Mutter hat oft Keema zubereitet. Schon mit zehn Jahren kannte ich die Zutaten auswendig“, gestand sie. Doch dann verging ihr das Lachen, als sie sich daran erinnerte, was in jenem Jahr passiert war: Ihr Vater war bei der Arbeit tot zusammengebrochen, Ursache war ein Gehirnschlag gewesen. Damals hatte die Welt, wie sie sie kannte, zu existieren aufgehört.

Später hatte sie sich nach einer Liebe gesehnt, so einzigartig wie die ihrer Eltern. Mit Richard hatte sie dieses Gefühl nicht erlebt. Würde sie jemals ihre große Liebe finden? Sie bezweifelte es sehr.

„Hallo? Alles in Ordnung?“

Sie nickte und presste die Lippen fest aufeinander, bis sie zu zittern aufhörten. Dann erklärte sie knapp: „Ich vermisse Kushi – meine Mutter – immer noch schrecklich.“

Nach kurzem Zögern griff Ethan nach ihrer Hand. „Erzähl mir von ihr.“

Was sollte sie ihm erzählen?

Dass ihre Mutter jeden Morgen vor Schulbeginn ihr das hüftlange Haar zu Zöpfen geflochten hatte, ohne ihr beim Kämmen wehzutun oder die Geduld zu verlieren?

Wie sie aus Linsen und Gewürzen ein Festmahl gezaubert hatte?

Dass sie ihre Tochter geliebt und behütet hatte und seit dem Tod des Vaters immer für sie da gewesen war?

Tamara war nicht in der Lage, auch nur die Hälfte ihrer Gefühle für ihre Mutter in Worte zu fassen oder die Trauer zu beschreiben, die sie empfand, weil Khushi sie nicht auf dieser Reise begleiten konnte.

Und sie war obendrein nicht sicher, ob sie ihre persönlichen Erinnerungen mit Ethan teilen wollte. Das setzte ein hohes Maß an Vertrauen voraus, und gerade daran fehlte es ihr derzeit.

„Was habt ihr am liebsten zusammen unternommen?“, erkundigte er sich.

„Am liebsten haben wir uns Bollywood-Filme angesehen“, antwortete sie seufzend. Die überraschend ehrliche Anteilnahme, die in seiner Stimme mitgeschwungen hatte, verführte sie zum Sprechen.

Während sie sich an die vielen Sonntagnachmittage erinnerte, die sie mit ihrer Mutter auf der abgenutzten Ledercouch im Wohnzimmer vor der neuesten indischen Filmromanze verbracht hatte, eine Platte indischer Leckereien zwischen sich, fiel ein kleiner Teil ihrer Trauer von ihr ab.

Gemeinsam hatten sie über die übertrieben dramatischen Gesten der Schauspieler gelacht und die wunderschönen bunten Saris bewundert.

In Melbourne als Tochter eines australischen Vaters aufgewachsen, hatte sie sich Indien nie sehr verbunden gefühlt, aber an jenen kostbaren Sonntagnachmittagen war sie in eine andere Welt eingetaucht, eine Welt voller faszinierender Menschen, Farben und Magie.

„Und was noch?“, wollte Ethan wissen.

„Wir sind gern an den Strand gegangen.“

Auf diese Weise ermutigt, schwelgte sie in lang verdrängten Erinnerungen, die sie sonst nur zuließ, wenn sie sich gelegentlich nachts in ihrem Zimmer in den Schlaf weinte.

Richards Mitgefühl nach dem Tod ihrer Mutter hatte nicht lange angehalten. Sehr schnell hatte er sie aufgefordert, ihren Kummer zu überwinden und sich wichtigeren Dingen zu widmen – etwa einer Dinnerparty für seine Freunde.

Das war jetzt drei Jahre her, drei lange Jahre, in denen ihre Ehe sich zum schlechteren entwickelt und ihr Ehemann allmählich seinen Hang zur Grausamkeit offenbart hatte. Noch heute wunderte Tamara sich über ihre miserable Menschenkenntnis, die sie zur Heirat mit diesem Mann verleitet hatte.

Körperlich hatte er sie nie angegriffen, aber der verbale und psychische Missbrauch schmerzte und verletzte sie fast ebenso.

Ethan musste gespürt haben, dass sie in Gedanken abgeschweift war, denn er hakte nach: „Seid ihr an einen bestimmten Strand gegangen?“

„Nein, es ging uns nicht so sehr um einen bestimmten Ort, wir brauchten nur Sonne, Sand und das Meer.“

Nach dem Tod des Vaters hatte sie mit ihrer Mutter fast alle Strände entlang der Great Ocean Road besucht, wo Khushi der ersten Begegnung mit ihrem Mann gedachte, eine Geschichte, die sie der Tochter unzählige Male erzählt hatte.

„Das war bestimmt schön.“

„Ja. Deshalb bleibe ich nach der Fahrt mit dem Palace on Wheels auch noch eine Woche in Goa. Das war als Höhepunkt der Reise mit meiner Mutter gedacht.“

Da ihre Stimme leicht belegt klang, nahm Tamara ihr Glas und trank einen Schluck Wasser. „Meine Eltern haben sich dort kennengelernt, am Colva Beach. Mein Vater war nach dem Medizinstudium ein Jahr lang als Rucksacktourist unterwegs, meine Mutter hat in einem der Hotels dort gearbeitet.“

Leise seufzend brachte sie das Wasser in dem Glas, das sie noch immer in der Hand hielt, zum Kreisen. „Es war wohl Liebe auf den ersten Blick. Vater nannte meine Mutter immer seine exotische Prinzessin. Er liebte Asien.“

„Warum ist deine Mutter denn nach seinem Tod nicht nach Indien zurückgekehrt?“

Tamara zuckte die Schultern. „Ich fürchte, meinetwegen“, antwortete sie schuldbewusst. „Sie wollte, dass ich die bestmögliche Ausbildung bekomme und in Australien aufwachse, wie mein Vater es geplant hatte.“

„Aber du bist selbst zur Hälfte Inderin, dieses Land hier ist ein Teil von dir.“

„Meinst du? Ich weiß selbst nicht mehr, wer ich eigentlich bin.“ Das klang so traurig und verloren, wie sie sich seit Langem fast ständig fühlte. Sie hatte ihre größte Angst in Worte gefasst.

Sie wusste nicht mehr, wer sie eigentlich war. Im Verlauf ihrer Ehe mit Richard hatte sie ihre Identität eingebüßt. Viel zu lange hatte sie eine Rolle gespielt, erst die der pflichtbewussten Ehefrau, dann die der trauernden Witwe. Doch beide Rollen waren nur Theater gewesen.

Durch diese Verstellung war sie ihm gewissermaßen ähnlich geworden. Wie er war sie auf den äußeren Schein bedacht gewesen, sogar über seinen Tod hinaus, und hatte bei seiner Beerdigung die angemessene Trauer geheuchelt, obwohl sie innerlich getobt hatte über die Demütigungen, Unterdrückung und Lügen.

Ethan stand schnell auf und kam um den Tisch herum. Er hockte sich neben Tamara, legte ihr einen Arm um die Taille, umfasste ihr Kinn mit der anderen Hand und hob es an, damit sie ihm in die Augen sehen musste.

„Ich weiß, wer du bist. Du bist eine wunderbare Frau, der die Welt zu Füßen liegt. Das darfst du nie vergessen.“ Zärtlich streichelte er ihr über die Wange.

Tamara war zutiefst gerührt, und ihr Hals fühlte sich an wie zugeschnürt, sodass sie nicht sprechen konnte. Tränen verschleierten ihren Blick. Daher war sie völlig unvorbereitet, als er sie sanft und zärtlich auf den Mund küsste. Ihr blieb keine Zeit zu denken oder zu reagieren.

Stattdessen schloss sie unwillkürlich die Augen und gab sich dem Kuss hin, der ihre Seelenqualen ein wenig linderte.

Ethan ließ sie los und betrachtete sie eine Zeit lang intensiv, dann flüsterte er: „Du bist etwas ganz Besonderes.“

Noch lange, nachdem Ethan sich zurückgezogen hatte, fühlte Tamara die Berührung seiner Lippen auf ihren.

Und ein kleiner Teil von ihr wollte glauben, was er gesagt hatte.

Ein größerer Teil sehnte den zauberhaften Augenblick zurück, an dem sie sich zum zweiten Mal innerhalb einer Woche wie eine Frau gefühlt hatte.

Hauptsächlich aber erschrak sie, als ihr bewusst wurde, dass sie schon wieder geküsst worden war – von eben dem Mann, mit dem sie sich keinesfalls einlassen durfte.

Doch Ethan war schon wieder aufgestanden und an seinen Platz auf der anderen Seite des Tisches zurückgekehrt.

Sie hat es schon wieder getan! dachte er.

Sie hatte ihm den Kopf verdreht und seine Selbstbeherrschung untergraben.

Schuld waren ihre Tränen, die bisher ungeahnte Gefühle in ihm geweckt und ihn veranlasst hatten, sie zu küssen und zu beruhigen – die ihn dazu gebracht hatten, Gefühle zu entwickeln!

Er hätte sie nicht drängen sollen, über ihre Mutter zu sprechen. Natürlich war sie dabei traurig geworden, und ihm war die Rolle des Trösters zugefallen.

„Du machst das wirklich gut.“

Überrascht sah er auf. Er hatte Misstrauen erwartet, Tamara hingegen erwiderte seinen Blick voller Neugier, als könne sie sich keinen Reim auf sein Verhalten machen.

„Was meinst du damit?“

„Du weißt genau, was du sagen musst, damit eine Frau sich wieder besser fühlt.“

„Das liegt an der langjährigen Übung!“ Ethan zuckte scheinbar gleichmütig die Schultern. Mit voller Absicht warf er sie mit seinen bisherigen Eroberungen in einen Topf – was ihr genauso wenig zu gefallen schien wie ihm.

Aber es war notwendig.

Er musste auf Abstand gehen und seine Barrieren wieder errichten.

„Dafür sollte ich dankbar sein.“

Ihre sarkastische Antwort schmerzte ihn nicht so wie Tamaras Gesichtsausdruck, der Enttäuschung und Abscheu verriet.

Doch Ethan war es wichtiger, die Situation in den Griff zu bekommen, bevor sie außer Kontrolle geriet. Schnell wechselte er das Thema.

„Wir sollten unsere Vorspeisen aufessen. Das Linsencurry, das gleich serviert wird, soll ganz vorzüglich sein.“

Tamara nickte, aber Ethan erkannte ihre gedrückte Stimmung daran, dass sie nicht aß, sondern lediglich das Essen auf ihrem Teller hin- und herschob.

Er wusste nun mit Bestimmtheit, wie wichtig es war, tiefer gehende Gefühle aus ihrer Beziehung fernzuhalten. Er war mit dem Ziel angereist, sie zu verführen, aber verletzen wollte er sie keinesfalls.

„Was hältst du von dieser Kartoffelraita?“

Mit dieser harmlosen Frage wollte er sie ablenken und den leichten, angenehmen Ton wiederherstellen, der vorhin zwischen ihnen geherrscht hatte.

Doch als sie den Blick vom Teller hob und ihn vorwurfsvoll ansah, bekam er ein schlechtes Gewissen.

Einen Moment lang fürchtete er, sie würde ihm seinen nahtlosen Wechsel vom mitfühlenden Tröster zum coolen Playboy vorwerfen. Stattdessen musterte sie sein Gesicht und zuckte mit den Mundwinkeln, als hätte sich ihre schlechte Meinung von ihm bestätigt.

„Sie ist sehr lecker.“

Ethan, der nicht mit den unerwarteten Gefühlen zurechtkam, die Tamara in ihm weckte, schob ihr die Vorspeisenplatte hin. „Möchtest du mehr?“

„Nein danke.“

Beide schwiegen, und in der Stille schwangen all die Worte mit, die unausgesprochen zwischen ihnen standen. Aber Ethan konnte sich nicht überwinden, etwas zu sagen, aus Angst, dadurch erneut jene Nähe herzustellen, die er so fürchtete.

Er wollte sich nicht in sie verlieben noch sie in sich verliebt machen, sondern lediglich die Frau verführen, die er seit Jahren heimlich begehrte.

Daran würde er sich halten, denn die Alternative erschreckte ihn zutiefst.

4. KAPITEL

Vergeblich versuchte Ethan, sich ganz auf den Reiseleiter zu konzentrieren, der einen Vortrag über den Hawa Mahal, den Palast der Winde, in der Altstadt von Jaipur, hielt.

Das einzigartige Bauwerk mit seiner wabenartigen Fassade aus rosafarbenem und rotem Sandstein erinnerte ihn an einen riesigen Bienenkorb aus Zuckerwatte.

Architektur hatte ihn schon immer fasziniert. Beim Kauf eines neuen Restaurants war ihm neben der Lage auch stets das Gebäude selbst wichtig. Dennoch faszinierte ihn heute die Frau an seiner Seite weitaus mehr als die weißen Verzierungen aus Branntkalk, auf die der Führer gerade hinwies.

Während der Zug durch die Nacht gefahren war, von Neu Delhi nach Jaipur, der ‚Rosa Stadt‘, hatte er wach gelegen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und an die Decke gestarrt. Stundenlang.

Endlos hatte er über die zunächst gemütliche Szene im Speisewagen gegrübelt und sich darüber geärgert, was für ein Narr er gewesen war.

Er hatte Tamara erst ermuntert, von ihrer Mutter zu erzählen, dann aber in Panik einen Rückzieher gemacht, woraufhin sie sich wieder zurückgezogen und ihn ausgesperrt hatte. Damit waren die kleinen Fortschritte zunichte gemacht, die er seit Reisebeginn erzielt hatte.

Dumm, wirklich dumm!

Seit er sich im Zug befand, war er nervös und unkonzentriert, was ihm ebenso wenig behagte wie das Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben.

Die meisten seiner Freunde und Bekannten hielten ihn für einen Kontrollfreak, und in gewissem Maß traf das auch zu. Solange er alle Fäden in der Hand hielt, fühlte er sich mächtig, unverwundbar und zuversichtlich, dass alles nach seinen Wünschen laufen würde.

Diese Reise hatte er mit einem klaren Ziel angetreten: Er wollte Tamara verführen.

Begehrt hatte er sie schon immer, doch Richard war sein Freund gewesen und ein fantastischer Koch, den er gebraucht hatte, um den guten Ruf des Ambrosia zu festigen.

Das Restaurant war, damals wie heute, sein wertvollster Besitz, und Ethan war nicht bereit gewesen, dieses kostbare Gut aufs Spiel zu setzen, nicht einmal für eine wunderschöne, intelligente Frau. Zu jener Zeit hatte er auch nicht nach Ablenkung gesucht, sondern sich ganz darauf konzentriert, das Lokal als das beste Haus in ganz Melbourne zu etablieren. Das war ihm gelungen, dank Richards überragender Kochkünste und seines eigenen ausgeprägten Geschäftssinns.

Doch jetzt stand ihm nichts mehr im Weg – außer seinem eigenen Übereifer und seiner Dummheit.

Noch einmal sah er verstohlen zu Tamara hinüber und fragte sich, ob sie tatsächlich dem Vortrag so konzentriert lauschte, wie es schien, oder ob sie ihm lediglich die kalte Schulter zeigte.

Sie war ganz anders als die Frauen, mit denen er sonst zu tun hatte. Ständig von einer stillen Traurigkeit umgeben, ging sie auf seine Flirtversuche nur zögernd ein. Drängen lassen würde sie sich von ihm bestimmt nicht.

Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf!

„Ist der Palast nicht wunderschön?“, versuchte Ethan, Tamaras Aufmerksamkeit zu erregen.

Nach kurzem Zögern wandte sie sich ihm zu, ihr Blick war kühl und voller Misstrauen.

„Ja, wirklich eindrucksvoll.“ Sie wies auf die vielen hundert kunstvoll gestalteten, vergitterten Fenster. „Er wurde gebaut, um es den Damen der königlichen Familie zu ermöglichen, hinter diesen Fenstern die Festumzüge zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden.“

Ethan blickte ebenfalls zu den Fenstern, dann schüttelte er den Kopf. „Ich finde es traurig, dass sie versteckt gehalten wurden, während ihre Männer sich draußen präsentieren durften. Die Frauen heutzutage lassen so etwas nicht mehr mit sich machen!“

Tamara schien zu erstarren. „Manchen Frauen erscheint es auch heute noch besser, den Launen ihrer Männer nachzugeben, als täglich Gleichgültigkeit und Kälte ausgesetzt zu sein.“

Hat sie mir soeben unabsichtlich einen Einblick in ihre Ehe gewährt? fragte sich Ethan überrascht.

Im Ambrosia hatte er manches Mal selbst erlebt, wie hart Richard sein konnte. Meistens war er gut gelaunt und fröhlich gewesen, doch hatte er mit Kälte und Härte reagiert, sobald etwas nicht nach seinem Kopf gegangen war oder jemand gewagt hatte, eine eigene Meinung zu äußern.

War er auch zu seiner Frau so grausam gewesen? War sie auf Zehenspitzen herumgelaufen, um ihn bei Laune zu halten?

Das verdient keine Frau! dachte Ethan. Umso mehr bedauerte er seine unbeabsichtigte Taktlosigkeit. Als Wiedergutmachung nahm er sich vor, Tamara abzulenken und ihr die restlichen Stunden in Jaipur zu versüßen.

„Ich habe genug Paläste für einen Tag gesehen!“, stöhnte er daher. „Was hältst du davon, wenn wir uns jetzt die Kunsthandwerkläden anschauen, von denen unser Reiseführer vorhin erzählt hat?“

„Du hast wirklich Lust auf einen Einkaufsbummel?“, fragte sie voller Vorfreude.

Erfreut nahm er zur Kenntnis, dass sein Ablenkungsmanöver funktionierte.

„Absolut.“

„Dann nichts wie los!“ Die übliche Zurückhaltung schien von ihr abgefallen, und sie ging munter neben ihm her.

Ethan aber grübelte weiter über ihre Bemerkung. Im Grunde wusste er nichts über die Ehe von Richard und Tamara. Er hatte die beiden nur selten zusammen erlebt und sich zurückgezogen, wenn sie gelegentlich ins Ambrosia kam, um ihren Mann zu sprechen. Einladungen zu den zahlreichen Partys seines Küchenchefs lehnte er meist mit Hinweis auf dringende Termine ab. Tatsächlich hatte er es nach Möglichkeit vermieden, mit Tamara zusammenzutreffen.

Vielleicht las er aber auch nur zu viel in ihre Bemerkung hinein.

Doch warum quälte ihn dann das Gefühl, dass sich hinter ihrer melancholischen Haltung mehr als die Trauer um den verstorbenen Ehemann verbarg?

Entschlossen vergrub er die Hände tiefer in den Taschen und beschleunigte seine Schritte. Je schneller sie die Läden erreichten, desto eher wäre sie abgelenkt – und er von dem starken Bedürfnis erlöst, sie in seine Arme zu schließen und ihr Trost zu spenden. Eine Wiederholung des gestrigen Abends musste er um jeden Preis vermeiden.

Tamaras Ehe ging ihn nichts an, und je weniger er darüber nachdachte, desto besser. Er begehrte sie heftig, und der Gedanke, dass sie einst einen anderen geliebt und geheiratet hatte, war ihm nicht angenehm.

Autor

Nicola Marsh
Als Mädchen hat Nicola Marsh davon geträumt Journalistin zu werden und um die Welt zu reisen, immer auf der Suche nach der nächsten großen Story. Stattdessen hat sie sich für eine Karriere in der Gesundheitsindustrie entschieden und arbeitete dreizehn Jahre als Physiotherapeutin

Doch der Wunsch zu schreiben ließ sie nicht los...
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