Romana Exklusiv Band 379

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DIE SONNE ÜBER DER TOSKANA von AMY WINTERFIELD 

Warum ist Mario Cassano ihr gegenüber bloß so feindselig? Sie spürt doch deutlich, dass er sie gleichzeitig begehrt? Annie muss herausfinden, was der attraktive Italiener verbirgt. Und macht sich mit den Waffen einer Frau daran, sein Geheimnis zu lüften …


VERFÜHRUNG IN SAN FRANCISCO von LUCY MONROE 

Es heißt, dass Max Black alles für seinen Erfolg tut. Deshalb sollte die junge Erbin Romi Grayson gewarnt sein, als der attraktive Tycoon in San Francisco heiß mit ihr flirtet. Doch ihr dummes, unschuldiges Herz will einfach nicht auf die Stimme der Vernunft hören …


SPIEL NICHT MIT MEINEM HERZEN, GELIEBTE von KIANNA ALEXANDER 

Spielt Sierra nur mit ihm? Das fragt sich Geschäftsmann Campbell Monroe, als die faszinierende Schauspielerin in einem seiner Häuser auf Sapphire Shores absteigt. Schnell kommen sie sich näher. Doch nach einem hingebungsvollen Kuss rennt Sierra prompt davon …


  • Erscheinungstag 21.09.2024
  • Bandnummer 379
  • ISBN / Artikelnummer 9783751524049
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Amy Winterfield, Lucy Monroe, Kianna Alexander

ROMANA EXKLUSIV BAND 379

1. KAPITEL

„Bitte halten Sie hier!“ Annie warf sich ihren Rucksack über die Schulter, zerrte ihren Koffer zwischen den Sitzen hervor und winkte dem Busfahrer. „Ich muss hier raus, prego!“

Drei schwarzgekleidete Damen fortgeschrittenen Alters, außer ihr die einzigen Fahrgäste, blickten missbilligend in ihre Richtung. Der dicke Busfahrer schien Annies Bitte ignorieren zu wollen, schließlich gab es hier keine Haltestelle. Doch dann bremste er so plötzlich, dass sie einen langen Ausfallschritt machen musste, um das Gleichgewicht zu halten. Zischend glitt die hintere Bustür auf. Annie beeilte sich, ihr Gepäck ins Freie zu wuchten, und kaum war sie draußen, schloss sich die Tür. Der Bus fuhr wieder an.

Und sie war allein in gottverlassener Einöde.

Ich muss verrückt sein, dachte Annie.

Aber sie hatte es gesehen. Gerade eben. Das Traumhaus. Das Traumhaus schlechthin. Allerdings war der Bus danach eine sanfte Kurve gefahren, und jetzt war es hinter einem Hügel verborgen. Stattdessen umgab Annie nichts als Wildnis. Wunderschöne, in der Sonne leuchtende toskanische Wildnis.

Sie rückte sich den kleinen Lederrucksack zurecht, in dem ihre kostbare Fotoausrüstung verstaut war, zog den Griff des Rollkoffers heraus und marschierte zur letzten Kurve zurück. Dort hatte sie nah an der schmalen Straße ein schmiedeeisernes Tor gesehen, dahinter einen zypressengesäumten Aufweg, an dessen Ende zwischen mächtigen Eichen die Fassade des Traumhauses hervorgelugt hatte. Ganze zwei Sekunden, bevor der Bus abgebogen war.

Ihr Herz klopfte vor Aufregung. Hoffentlich hatte sie sich nicht getäuscht! Sonst würde dieser lange Anreisetag, der in den frühen Morgenstunden in London Heathrow begonnen hatte, mit einer wahrhaft schlechten Pointe enden. Erst war ihr Flugzeug mit zweistündiger Verspätung gestartet. In Florenz hatte die Sicherheitsschranke selbst dann noch gepiepst, als sie barfuß hindurchgelaufen war – das passierte ihr immer –, dann hatte sie ihren Leihwagen nicht bekommen, weil ihre Kreditkarte abgelaufen war. Kurzerhand war sie in den nächstbesten Bus gestiegen, der gottlob in die richtige Richtung fuhr.

Im Hotel in Radda in Chianti hätte sie in Ruhe überlegen können, wie sie weiter verfuhr. Stattdessen sprang sie im Niemandsland aus dem Bus. Weil sie ein Haus gesehen hatte.

Typisch Annie, würde ihre gut organisierte Freundin Holly sagen, chaotisch bis zum Abwinken.

Aber wegen Traumhäusern wie diesem war sie ja hier: Für die Zeitschrift Living Select & Wonderful wollte sie einen ausführlichen Bildbericht über toskanische Landhäuser schreiben. Es war ihr bisher größter und wichtigster Auftrag. Und es würde ihr letzter sein, wenn sie nicht eine geradezu bahnbrechende Arbeit ablieferte.

Sie hasste diesen Druck. Aber sie konnte ihn auch vergessen, jedenfalls in solchen Augenblicken wie diesem. Als sie das Tor erreicht hatte, seufzte sie auf. Sie hatte sich nicht getäuscht; das Haus war umwerfend, es war das steingewordene Versprechen eines Lebenstraums, es war … Jetzt reiß dich zusammen, mahnte sich Annie selbst. Sie kramte die Kamera aus dem Rucksack und schoss durchs Gitter ein prächtiges Foto. Schnell noch eines von dem wunderschönen Weingarten links. Von dem kleinen Seitengebäude gleich hier rechts. Dann suchte sie nach einem Namensschild. Sie fand keines. Aber einen Klingelknopf, den sie entschlossen drückte.

In einer knorrigen Pinie vor dem Tor sirrte eine Überwachungskamera, die sich auf Annie ausrichtete. Ansonsten herrschte Stille. Ein Insekt begann zu zirpen, wohl eine Zikade. Das Lächeln, das Annie in Richtung der Kamera aufsetzte, tat allmählich weh. Nun, das Anwesen war groß. Schließlich kam ein Mann mit italienischer Gemütlichkeit den Aufweg herunter.

„Buongiorno.“ Er lüpfte eine Kappe, die das sonnenzerfurchte Gesicht eines etwa siebzigjährigen Mannes beschattete. „Was kann ich für Sie tun, Signora?“

„Mein Name ist Annie Wilkes. Ich komme aus London.“ Das klang wichtig. Sie streckte die Hand durchs Gitter, die der ältere Herr höflich schüttelte. Mehr als Smalltalk gab ihr Italienisch nicht her, also wechselte sie ins Englische. „Ich kam gerade zufällig vorbei und …“

„So, wirklich zufällig?“, erwiderte er in ihrer Sprache. Sein Blick war an ihrer Fotoausrüstung hängen geblieben.

„Ja, natürlich.“

„Signora …“ Er schüttelte den Kopf. Warum wirkte er plötzlich so abweisend? „Niemand kommt zufällig hierher.“

Nein? Das klang ja geheimnisvoll.

Zufällig, dachte Mario verächtlich. Das sagen sie immer.

Er stand hinter einem flachen Sandsteinhäuschen, von wo aus ihn die fremde Frau und Tommaso, sein väterlicher Angestellter, nicht sehen konnten. Tommaso kümmerte sich liebevoll um den kleinen Weinanbau, die Gärten rund ums Haus, um fast alle anfallenden Reparaturen und darum, ungebetene Besucher loszuwerden. Der Stimme nach handelte es sich dieses Mal um eine junge Frau.

„Ich arbeite für den renommierten Londoner Verlag Collin Lee“, hörte er sie auf Englisch sagen. Natürlich. Collin Lee verlegte alles Mögliche, unter anderem das schlimmste Klatschblatt Großbritanniens. In der Boulevardpresse Deutschlands und Frankreichs hatte der Verlag auch seine Finger.

„Tut mir leid, wir kaufen nichts“, erwiderte Tommaso freundlich. Der alte Schlawiner tat so, als begriffe er nicht, wovon sie sprach.

„Aber nein, es geht nicht um ein Abonnement …“ In ihrer Stimme lag jetzt ein Hauch nervöser Ungeduld.

„Bitte gehen Sie, Signora.“ Tommaso nickte ihr höflich zu und drehte sich auf dem knirschenden Kies um.

„So warten Sie doch! Das ist ein Missverständnis!“

„Ich denke nicht.“

Prego. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir wenigstens helfen könnten. Ich bin ohne Leihauto unterwegs, und der Akku meines Mobiltelefons hat leider den Geist aufgegeben. Könnte ich es bitte bei Ihnen aufladen?“

Mario schnaubte. Gewöhnlich taten diese Damen, als seien sie auf einer Spazierfahrt, und brachten die banalsten Ausreden, um an ihn heranzukommen: Ich wollte nur nach dem Weg fragen. Wo ist die nächste Tankstelle? Können Sie mir eine gute Trattoria empfehlen? Könnte ich bitte meinen Handyakku aufladen? Nichts war ihnen zu billig, um eine Gelegenheit zu bekommen, sich an seinem Leid zu ergötzen.

Er beugte sich noch ein Stück vor. Jetzt sah er einen pinkfarbenen Hartschalenkoffer. Hoffte diese Journalistin – Klatschreporterin, verbesserte er sich innerlich selbst –, sich hier einquartieren zu können? Was für eine Frechheit!

Er wandte sich ab. Seine Hand fuhr über seine Kehle, die sich rau anfühlte, wie immer, wenn er zu viel redete – oder sich ärgerte, wie jetzt. In der anderen Hand hielt er den Autoschlüssel. Richtig, er wollte ins nächste Dorf, dem Weinhändler seines Vertrauens einen Besuch abstatten. Wegen des anstehenden Festes, für das der eigene Wein niemals ausreichen würde. Das Tor des Sandsteinhäuschens, was offensichtlich als Garage diente, hatte Tommaso bereits geöffnet. Mario schlängelte sich an dem Ferrari und dem Mercedes vorbei und schloss das Alfa-Romeo-Cabrio auf. In einer fließenden Bewegung setzte er sich hinters Lenkrad und fuhr rückwärts aus der Garage. Ein lässiger Wink: Tommaso zog die schmiedeeisernen Torflügel auf. Als Mario darauf zuschoss, machte die englische Reporterin einen Satz nach hinten. Dabei fiel ihr Koffer um. Sie ging in die Knie, um danach zu greifen, und als sie sich erhob, bremste er sportlich unmittelbar neben ihr.

Großer Gott. Mit solch einer Schönheit hatte er nicht gerechnet.

Im Aufstehen entfaltete sie einen hochgewachsenen, schlanken Körper, der ein pinkfarbenes Top, eine kleine Jeansjacke und einen ausgestellten, geblümten Rock trug, der ihr bis an die Knie reichte. Ihre zierlichen Füße steckten in bequemen, jetzt staubigen Sneakers. Eine leichte Sommerbrise ließ ihr hellbraunes Haar aufflattern und rötliche Strähnen aufschimmern. Ihr Gesicht war herzförmig, der Mund groß und voll, der Teint noch nicht von der italienischen Sonne gebräunt. Und der Blick aus grünen Augen war trotz ihres Erstaunens … warmherzig. Blutjung war sie nicht, er schätzte sie auf Mitte zwanzig.

„Sie … Sie wollten mich sprechen?“

Seine Stimme klang noch rauer als sonst. Jedes Wort fühlte sich an, als reibe eine Feile über seine Stimmbänder. Mario musste mehrmals schlucken, und das hasste er: Es war das sichtbare Zeichen seiner Schwäche. Natürlich blieb ihr Blick für einen Moment an seinem Adamsapfel hängen, bevor sie ihm direkt in die Augen sah.

Irgendetwas geschah mit ihm. Es war wie leichter Stromschlag, der in der Tiefe seiner Brust eine warme Quelle öffnete. Er musste den Kopf schütteln, weil es ihn verwirrte. Hatte er je so intensiv grüne Augen gesehen? Fall nicht auf Kirke, die verführerische Zauberin der griechischen Mythologie, herein, ermahnte er sich. Die Götter schicken immer die Hübschesten, das weißt du doch. Und dann verbeißen sie sich in deiner Kehle.

„Ich bin unterwegs in der Toskana, um für einen Artikel zu recherchieren. Es geht um …“

Mario hatte Mühe, ihr zuzuhören. Diese Augen … diese Lippen, die sich flink bewegten, während sie schnell redete und ihm ein freundliches Lächeln schenkte. Plötzlich verschwand ihr Gesicht hinter einem Bild, das eine Frau vor einem schwedischen Landhaus zeigte. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er begriff, dass sie das Klatschblatt hochhielt, für das sie schrieb.

Er richtete den Blick geradeaus. „Das interessiert mich nicht.“

„Aber …“

Er legte alle Verachtung in seine Stimme. „Haben Sie nicht verstanden?“

„Darf ich …“

„Nein!“ Er musste sich zwingen, sich nicht an den Hals zu fassen. Reden war anstrengend. „Tommaso, erkläre ihr, wie sie die nächste Haltestelle findet.“

Tommaso machte ein mitleidiges Gesicht. „Es tut mir sehr leid, Signora, ich bin untröstlich …“ Er trat ans Tor und beschrieb gestenreich den Weg. Schwierig war der nicht: einfach der Straße folgen. Typisch Tommaso: Er war so höflich, als habe er die britische Queen vor sich. Der gewisse Zauber, der diese Engländerin umwob, würde seinen Vertrauten Tommaso gleich dazu bringen, selbst in eins der Autos zu steigen, um die Dame nach Radda in Chianti zu chauffieren.

Mario legte den Rückwärtsgang ein und bretterte den Aufweg zurück. Ein Manöver, dem die Engländerin mit großen Augen zusah. Ein kurzer Schlenker, und er war mit dem Auto zurück in das Häuschen.

Du Idiot! dachte er wütend. Er gab dem Lenkrad einen Klaps. Warum war er nicht einfach weitergefahren, statt einen so dämlichen Rückzug hinzulegen? Weil er Annie Wilkes bei seiner Rückkehr nicht begegnen wollte, während sie auf ihrem Hartschalenkoffer sitzend auf den Bus wartete? Ja. Das war der Grund. Verrückt.

Kein Risiko. Lieber verschob er die Fahrt auf später. Er sprang aus dem Wagen und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Wann fuhr eigentlich der nächste Bus? Erst in anderthalb Stunden, oder? Merda! Ihn erfasste das unangenehme Gefühl, dass diese Angelegenheit noch längst nicht ausgestanden war.

Eine Viertelstunde müsse sie gehen, hatte der freundliche ältere Herr gesagt. Und dann noch ein oder zwei Stunden warten. Ein oder zwei? Annie seufzte. Oder doch drei oder vier? Bereits nach ein paar Minuten Laufens parkte sie ihren Koffer am Straßenrand und setzte sich darauf. Wäre sie doch bloß nicht aus dem Bus gestiegen! Sollte sie Holly anrufen? Die würde in Nullkommanichts herausfinden, wann der nächste Bus fuhr. Was kostete eigentlich ein Anruf nach Großbritannien? Unwichtig – das hier war schließlich ein kleiner Notfall. Annie angelte das Smartphone aus der Jackentasche.

Oh Mist! Wie fluchte man auf Italienisch? Merda! Der Akku war wirklich leer!

Sie steckte das Handy wieder ein und fühlte sich von Gott und der Welt verlassen. Dazu passte das Sirren, das eine Zikade veranstaltete. Erstaunlich, dass ein Insekt so laut sein konnte. Die Hand über den Augen, hielt Annie in der Macchie, dem niedrigen, die Hügel überwuchernden Buschwald, Ausschau nach dem Tier. Nichts. Dabei musste es doch monströse Ausmaße haben. Okay, die Pause war vorbei. Weiter. Sie stand auf und schnappte sich den Koffergriff. Die Gurte ihres Rucksacks glühten auf der Schulter. An das herrliche Haus, das ihr gerade durch die Lappen ging, durfte sie nicht denken. Schon gar nicht an den mürrischen Hausherrn. Groß, athletisch gebaut. Schulterlange schwarze, vom Wind zerzauste Haare. Ein klassisch schönes Gesicht mit dunkelbraunen Augen. Ein etruskischer Gott.

Warum er wohl so griesgrämig gewesen war? Stark, jung, attraktiv, Besitzer eines solchen Anwesens – gute Gründe, zufrieden mit sich und der Welt zu sein. Aber es gab natürlich tausend andere Gründe, die für dunkle Wolken sorgen konnten. Vielleicht … Du liebe Zeit, warum dachte sie über einen Kerl nach, der sie hochkantig vor die Tür gesetzt hatte? Mochte er seine Probleme haben, sie hatte ihre eigenen. Zum Beispiel die Hitze. Wieso war ihr Sonnenhut im Koffer? Den jetzt zu öffnen, war gewagt, denn sie hatte alle Mühe gehabt, den Koffer so zu packen, dass er sich schließen ließ.

Sie kauerte sich also vor ihren Koffer auf den glühenden Asphalt, plötzlich hörte sie Motorengeräusch. Aus der Richtung, in die sie wollte, kam ein schnittiges weißes Cabrio gebraust. Annie sprang auf und drückte sich nah an die Macchie. Der Fiat Spider rauschte vorbei, bremste und rollte langsam zu ihr zurück. Eine Frau sprang heraus. Mit ihrem um den Hals flatternden Schal, der klassischen ärmellosen Bluse und dem engen Rock, alles in Weiß und Schwarz und Seide, sah sie fast wie eine Filmdiva aus den Sechzigern aus. Sie sagte etwas auf Italienisch.

Annie hob hilflos die Schultern. „Sprechen Sie Englisch?“

„Natürlich. Sie sind Engländerin?“ Audrey Hepburn schob die Sonnenbrille in die dunklen Haare. „Willkommen in unserer schönen Toskana! Da Sie hier zu Fuß unterwegs sind, nehme ich an, Sie haben ein malanno? Ein Malheur?“

„Na ja. Das wäre übertrieben, ich will bloß zum Bus. Haben Sie aber vielen Dank, dass Sie mir helfen wollen.“

„Der Bus fährt erst in drei Stunden. So lange können Sie nicht in der Hitze herumstehen. Nein, das ist ganz und gar unverantwortlich!“

„Drei Stunden?“, keuchte Annie. „Wissen Sie das ganz genau?“

„Nein, so genau nicht. Aber das haben wir gleich.“ Die freundliche Dame holte ihr Smartphone aus ihrer Gucci-Tasche – beides weiß – und wischte darauf herum. „Zwei Stunden und zehn Minuten, um genau zu sein. Mit der zu erwartenden Verspätung sind es tatsächlich drei. Wo möchten Sie denn hin?“

„Nach Radda in Chianti.“

Sie runzelte die Stirn; vielleicht überlegte sie, ob ihre Hilfsbereitschaft so weit reichte, eine verirrte Touristin an ihr Ziel zu fahren. Zehn Kilometer kurvige schmale Straßen waren lang. „Wissen Sie was? Sie kommen erst einmal mit mir. Ich bin auf dem Weg zu meinem Bruder, er wohnt gleich um die Ecke. Sie trinken mit mir einen Caffé, und nachher fahre ich Sie zur Haltestelle. Was sagen Sie?“

Vor Staunen blieb Annie der Mund offen stehen.

„Keine Widerrede. Ich sehe doch, dass Sie ganz erschöpft sind. Steigen Sie ein.“

Die Hepburn lächelte. Irgendjemandem sah sie ähnlich. Doch nicht etwa …? „Ich heiße übrigens Dolca. Und Sie?“

„Annie.“

„Prima, Annie. Jetzt kennen wir uns, und da können Sie mir doch nicht abschlagen, einen Caffé zu trinken, nicht wahr?“

Annie nickte überrumpelt, überließ Dolca ihren Koffer und setzte sich auf den Beifahrersitz. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Zu Dolcas Bruder? Dem sie vermutlich erst eben entkommen war? Gleich jetzt? Hilfe!

Mario hockte sich vor der Werkstatt auf ein altes Mäuerchen und strich Gonzo über das schwarze Fell. „Hallo, alter Knabe. Genießt du die Sonne? Du glühst ja wie eine Herdplatte. Wie schaffst du es eigentlich, nicht in Flammen aufzugehen?“ Er hielt den Finger unter das Köpfchen, worauf der Kater sofort begann, sein Kinn an ihm zu reiben.

Mario vermisste es, drauflosreden zu können wie früher. Zu flüstern bereitete seiner Kehle dagegen keine Schwierigkeiten. Nur machte es wenig Freude, sich mit anderen Menschen im Flüsterton zu unterhalten. Nur bei Gonzo, da geriet er manchmal ins Plaudern. Der Kater forderte von ihm nichts ab, er erhob nicht die eigene Stimme, er hörte einfach zu.

„Na, du bist ja so schweigsam wie immer. Anders als Serafina, die jedem das Ohr abkaut, was? Eben war ich bei ihr, wollte sie fragen, ob sie Hilfe braucht. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie hat mich ausgelacht. Hm. Ja. Doch. Hat sie. Wie ich auf die Idee käme, zu glauben, sie könne das Haus nicht allein auf die Feier vorbereiten. Das macht Serafina mit dem kleinen Finger. Und wo, bitte schön, ist der Wein? ‚Wo bist du mir denn eine Hilfe, Mario, wenn du nicht mal den Wein holst?‘“ Er ahmte Serafinas Kopfschütteln nach. „‚Geh du nur schön in deine Werkstatt. Da sind Jungs wie du am besten aufgehoben.‘ Das hat sie gesagt! Mir!“ Anschaulich klopfte er sich mit der anderen Hand auf die Brust, während er Gonzos schnurrenden Leib kraulte. „Ich bin ja auch bloß zwei Köpfe größer als sie.“

Genüsslich hob Gonzo den Hintern.

„Wäre das Fest nur schon vorbei. Findest du, dass runde Geburtstage etwas sind, das man so ausufernd feiern sollte? Dreißig – das ist doch nur eine Zahl. Die die Verwandtschaft schamlos als Vorwand benutzt, mich mit ihrem Besuch zu behelligen. ‚Du musst doch auch mal wieder ein bisschen feiern, Mario! Früher war keine Party vor dir sicher!‘“

Ja, früher. Als sein Leben noch ein anderes gewesen war. „Früher war alles besser, was, Gonzo?“ Er klopfte dem Kater auf den Hintern. Gonzo kam maunzend auf die Beine und reckte die Glieder – bereit zur nächsten Pirsch. „Hast wohl auch keine Lust mehr, dir mein Geschwätz anzuhören, was? Kann ich dir nicht verdenken. Na, hau schon ab, Kumpel.“ Er gab dem Kater einen sanften Schubs; geschmeidig machte das Tierchen einen Satz und verschwand in einem der üppig blühenden Amarantbüsche. Dann erhob auch Mario sich. Zeit, etwas zu tun, bevor die Verwandtschaft in das Haus einfiel. Nein, mit den Vorbereitungen hatte er nichts zu tun, die lagen in Serafinas und Tommasos Händen. Lediglich den Wein hatte er holen sollen. Zwei Kisten Chianti Classico, eine Brunello, eine Prosecco, gerade ausreichend für die zu erwartende Meute. Morgen wollten sie kommen. Aus Mailand und Messina, und sogar sein Bruder Silvio aus den Staaten.

Zu dumm, dass ihm diese Engländerin in die Quere gekommen war. Zu dumm, dass ihm ihr Gesicht nicht aus dem Kopf ging. Selten hatte er eine Frau gesehen, die die Figur und das Gesicht eines Models besaß und gleichzeitig keinen Gedanken an ihre Schönheit zu verschwenden schien. Melania, seine Verflossene, hatte in jeder Situation auf ihr Styling geachtet. Bei ihr hatte jedes Haar sitzen müssen, und kein Stäubchen durfte das Make-up stören. Während Annie Wilkes’ Haar ganz zerzaust gewesen war. Und das hatte er wunderschön gefunden.

Er musste ihr Bild aus dem Kopf bekommen. Dringend! Also eilte er in seine Werkstatt, ein großer Schuppen hinter dem Haus. Hier frönte er seinem liebsten Hobby – für Hobbys hatte er Zeit.

Der Duft frischen Holzes empfing ihn. Tief atmete er ein. Ja, hier konnte er all seine Sorgen abwerfen. Allein der Anblick der Sonnenstrahlen, die wie lange Finger durch die Wandritzen stachen und den schwebenden Holzstaub schimmern ließen! Er ging zu dem fünf Meter langen Esstisch, der sich noch im Rohzustand befand und die Werkstatt mitsamt der fast ebenso großen Werkbank ausfüllte. Seine Finger glitten über Hämmer, Reibeisen und Stechbeitel. Serafina hatte darüber geklagt, dass der Tisch im Speisesaal viel zu klein sei. Er fand das nicht, schließlich waren sie doch nur zu fünft: sie, Tommaso, er selbst und gelegentlich Enzo und Federica, zwei Geschwister aus dem Dorf, die hin und wieder herüberradelten, um sich mit allem, was hier so anfiel, ein Taschengeld zu verdienen. Die zwei Zwölfjährigen liebten es, sich um die Tiere zu kümmern, sich in den Gärten ringsum die Hände schmutzig zu machen und sich hinterher von Serafina verwöhnen zu lassen. Aber wozu ein großer Tisch?

Ein großes Haus braucht einen großen Tisch, hatte Serafina gesagt. Damit der Postbote sich auch mal für einen Espresso dazusetzen kann, zum Beispiel.

Dem Postboten bietest du nie einen Caffé an, hatte Mario eingewendet.

Ja, wie denn auch? Der Tisch ist zu klein! Basta!

Er wusste, dass sie sich Familienzuwachs erhoffte. Nun, für die zu seinem Geburtstag einfallende Verwandtschaft musste es noch das hässliche Ensemble dreier alter, zusammengestellter Tische tun. Er knipste die Architektenlampe an, die an den Tisch geschraubt war, nahm den Schleifstein zur Hand und fuhr fort, die Oberfläche zu glätten. Bald brach ihm der Schweiß aus, und er dachte flüchtig daran, dass er eigentlich das gute Hemd ausziehen sollte, wollte er nicht Serafinas Zorn wecken. Doch wie üblich ließ die Tätigkeit alle belastenden Gedanken davonfliegen …

Draußen dröhnte ein Automotor und verstummte. Stirnrunzelnd lauschte er. Eine Autotür klappte. Eine weibliche Stimme erhob sich. Das war Dolca! Mario legte die Werkzeuge zurück und eilte aus dem Schuppen.

Tatsächlich, in der Auffahrt stand Dolcas Sportcabrio. Dolca teilte seine Vorliebe für weiße und schwarze Kleidung; sie dürfte eine der elegantesten Damen Mailands sein. Die andere Frau hingegen … Mario dachte, ihn träfe der Schlag.

Annie Wilkes.

2. KAPITEL

„Irgendwie hatte ich so eine Ahnung, dass ich Sie noch einmal sehen würde.“ Seine leise, raue Stimme bebte vor mühsam unterdrücktem Ärger. Er wandte sich an Dolca, fragte sie etwas auf Italienisch, sie erwiderte etwas, während sie mit einer Handbewegung auf Annie zeigte. Annie sah, wie an seinem Hals eine Ader schwoll. In einer Geste, die so hilflos wie zornig wirkte, fuhr er sich durch die halblangen Haare. Ob er wusste, wie lasziv das wirkte? Seine dunklen Augen blitzten seine Schwester wütend an. Er warf den Kopf zurück, deutete auf Annie und fauchte Worte, die Dolca zusammenzucken ließen.

Plötzlich schwieg er. Er griff sich an die Kehle. Schmerzlich verzog er das Gesicht. Annie mit einem grimmigen Blick streifend, trat er den Rückzug an. Er marschierte in die Richtung, aus der er gekommen war, und Annie starrte verblüfft seinem muskulösen Rücken nach, der sich deutlich unter dem schweißfeuchten Hemd abzeichnete. Was für ein Temperament, wie ein Vulkan. Annie fühlte sich ganz klein.

„Sie haben sich die Begrüßung sicher anders vorgestellt“, murmelte Annie. Unterwegs hatte Dolca ihr erzählt, dass sie ihren Bruder zuletzt vor drei Monaten gesehen hatte. Und dass es hier um ein Familienfest ging, seinen Geburtstag. „Tut mir leid, das ist meine Schuld.“

Die schöne Dolca musterte sie neugierig. „Ich dachte, Sie seien eine Touristin. Mein Bruder meinte aber, Sie seien eine neugierige Journalistin, die auf ihn angesetzt ist. Stimmt das?“

„Journalistin ja. Neugierig – auch, geb ich zu. Aber auf ihn angesetzt?“ Verwirrt zuckte Annie mit den Achseln. Sie war doch keine Detektivin. Hätte Dolca ihr nicht seinen Namen verraten – Mario Cassano –, wüsste sie nicht einmal den. „Ich arbeite für eine britische Zeitschrift, die sich mit Häusern und Interieurs beschäftigt. Eine Wohnzeitschrift, wie man auch schlicht dazu sagt. Aber der gehobenen Klasse! Ein Porträt dieses fantastischen Hauses …“

„Ach so?! Aber das klingt doch großartig!“, rief Dolca, ihre Augen strahlten. „Und das wollte Mario nicht? Gut, er mag keine fremden Leute auf seinem Grund, was man ihm nicht verdenken kann, weil …“ Sie brach ab, als sei ihr bewusst, dass sie schon zu viel preisgegeben hatte. Weil was? Das wüsste Annie zu gerne. „Aber dass er es so kategorisch ablehnt, sein Haus in einer renommierten Zeitschrift zu sehen, wundert mich. Er liebt es sehr und ist auch sehr stolz darauf, da sollte man doch zumindest darüber nachdenken.“

„Ich würde wirklich sehr gerne ein paar Fotos machen.“ Die würden niemals genügen. Was sie brauchte, waren ein umfassendes Porträt und eine Geschichte dazu. Aber sie wären ein Anfang. „Vielleicht können Sie ein gutes Wort für mich einlegen?“

„Das werde ich tun. Ich mag es, wenn Frauen um ihre Chancen kämpfen.“ Dolca warf eine Hand hoch; sie hatte eine umwerfende Art zu gestikulieren. „Ich weiß, wie schwer das ist!“

„Was machen Sie denn beruflich, Dolca?“

„Ich bin Modedesignerin. Mirabile ist meine erfolgreichste Linie.“

„Wirklich? Fantastisch! Was Sie tragen, gehört dazu?“

Dolca strich sich über die Hüfte, bei ihr wirkte es kein bisschen aufgesetzt. „Aber ja.“

Annie hatte von Mirabile nie gehört, aber in der Modebranche kannte sie sich nicht wirklich aus. „Es sieht umwerfend aus“, sagte sie mit ehrlicher Bewunderung. Dolca sähe jedoch auch in Lumpen umwerfend aus. Annie hielt sich selbst nicht für unattraktiv, aber neben Dolca und in ihren staubigen Sachen kam sie sich wie die kleine Schwester des hässlichen Entleins vor.

„Jetzt lassen Sie uns aber unseren Caffé trinken“. Dolca hakte sich bei ihr unter. Ein warmes Gefühl durchflutete Annie. Sie war dieser Frau sehr dankbar, dass sie sie willkommen hieß. „Andiamo! Bestimmt möchten Sie sich ein wenig frisch machen?“

„Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen“, sagte Annie. „Ich würde mir sehr gerne die Hände waschen.“ Plus ein paar natürliche Bedürfnisse erledigen, wie etwa ihr Make-up zu erneuern. Und das nicht, oh nein, um später beim Hausherrn Eindruck zu machen. Nach diesen stressigen Stunden würde es einfach nötig sein. Was Mario Cassano über sie dachte, war ihr herzlich gleichgültig. Wo er sich jetzt wohl verkroch?

„Mario sagte, er wird Sie nachher zur Haltestelle fahren“, sagte Dolca.

„Oh.“ Annie meißelte sich ein verzweifeltes Lächeln ins Gesicht. „Das ist aber sehr nett von ihm.“

Bestimmt wollte er sichergehen, dass sie auch wirklich verschwand. Die Aussicht, später neben diesem schweigenden Vulkan im Auto zu sitzen, bereitete ihr jetzt schon Bauchschmerzen.

Der Kaffee war ein Traum, das Haus sowieso. Auf der Hügelkuppe lag es wie eine kleine Burg, das Dach aus Terrakottaziegeln, die Mauern aus verblichenem Sandstein, überwuchert von Efeu, Rosenranken, in leuchtendem Purpur blühendem Amarant. Von den Fensterläden blätterte die grüne Farbe.

In Gedanken fotografierte Annie die marmorne Balustrade des ersten Stocks, einige verwitterte Statuen in Wandnischen oder die dreiflügelige Rundbogentür, durch die Dolca trat. Das Innere war angenehm kühl. Warme Farben herrschten vor: das Terrakotta der gefliesten Böden, Ocker der Wände, die Patina weißen Stucks.

Dann die Küche! Groß und gemütlich. An einem Pinienholztisch – den der Hausherr selbst gezimmert hatte, wie Dolca stolz verkündete – hatte Annie den köstlichsten Kaffee ihres Lebens genossen. Und den riesigen Herd bestaunt, der noch aus dem neunzehnten Jahrhundert stammte. Die mit Töpfen und Gerätschaften überquellenden weißen Borde an rostrot gestrichenen Wänden. Die Milchglaslampe in einem verschnörkelten Gestell aus Gusseisen, die von weiß gebeizten Deckenbalken hing – es gab so viel zu bewundern. Am schönsten jedoch war die Tatsache, dass man überall durch offene Fenster und Türen auf herrliche Gärten und die grandiose Landschaft dahinter blickte.

Und das Licht! So hell und warm. Wollte man solches Licht in England sehen, musste man schon einen guten Tag in Cornwall erwischen. Dieser Ort war ganz bestimmt der schönste Platz auf der ganzen Welt.

Ihr Gefühl hatte Annie nicht getrogen. Sie hatte sofort erkannt, welch ein Traum dieses Anwesen war. Aber die Zeit verging wie im Flug, wie es in Träumen so war. Nach dem Kaffee mit leckeren Cantuccini, die die dicke muntere Haushälterin Serafina gebacken hatte, hatte sich Annie draußen auf eine Bank gesetzt.

Ein Schatten fiel auf sie. Sie schreckte hoch. Sie war tatsächlich eingenickt! Und über ihr stand niemand anderer als Mario Cassano. Sofort schlug ihr Herz wie verrückt. Das ist nur der Schreck, sagte sie sich und atmete tief durch. Wie er so vor ihr stand, erschien er ihr noch größer. Ein geschmeidiger Athlet, eine prächtige Götterstatue … mit einem finsteren Blick, der sie sich entsetzlich klein fühlen ließ. Hastig erhob sie sich, er trat zugleich einen Schritt zurück. So war es besser. Auch wenn sie immer noch zu ihm aufblicken musste.

Das verschwitzte Hemd hatte er gegen ein dunkelgraues Sporthemd gewechselt, dessen geschmeidiger Stoff wie eine zweite Haut auf seinem Körper lag. Sogar seine Brustwarzen waren deutlich erkennbar. Sie musste alle Kraft aufbieten, um nicht darauf zu starren.

„Ich bringe Sie jetzt zum Bus“, sagte er.

Seine kühle raue Stimme war wie eine kalte Dusche. Es war so schön hier. Annie wollte noch nicht weg. Sie hatte doch noch viel zu wenig gesehen! Die wenige Zeit auch noch verschlafen!

Irgendjemand hatte bereits ihren Koffer neben die Bank gestellt. Es war vorbei. Sie hatte ihre Chance vertan.

„Okay.“ Sie schnappte sich ihren Rucksack, erhob sich und sah sich hilfesuchend nach Dolca um, doch von ihr war nichts zu sehen. Der Himmel hatte sich deutlich gerötet, war es schon so spät? Noch nie war sie im Freien auf einer Bank sitzend eingenickt. In London hätte sie sich niemals so sehr entspannen können. Hier wirkte alles so friedlich …

Seufzend ergriff sie ihren Koffer und folgte Mr. Cassano zu dem flachen Ziegelbau. Daneben wartete bereits der Alfa Romeo. Er legte ihren Koffer auf den Rücksitz, öffnete ihr die Beifahrertür – nicht wie ein Kavalier, sondern mit beiläufiger Geschäftigkeit – und warf sich hinters Steuer. Auch das Tor war offen. Er brauste auf die Landstraße hinaus.

Toskana. Sonnenuntergang. Ein schickes Auto. Ein attraktiver Mann an der Seite. Eine perfekte Szenerie. Doch weder für ein anregendes Gespräch noch für – für was? Dass er eine Hand vom Lenkrad nahm und um ihre Schultern legte? Sie anlächelte? Irgendetwas Romantisches tat? Immerhin war seine ungeheure Präsenz ziemlich … anregend. Ach, was denkst du denn, Annie? Er ist froh, wenn er dich los ist, und du bist froh, wenn du seinen düsteren Blick nicht mehr ertragen musst.

Nein. War sie nicht.

Sie wollte die Fotos. Immer noch.

Du bist zwar chaotisch und hast zu viel Laissez-faire im Leib, hatte Holly neulich zu ihr gesagt, aber wenn du wirklich etwas willst, unglaublich hartnäckig.

„Bevor Sie mich in den Straßengraben werfen, möchte ich Sie noch etwas fragen, Mr. Cassano.“

Seinem Stirnrunzeln nach fand er die Sache mit dem Straßengraben erwägenswert. „Nun?“, fragte er kühl.

„Warum gefällt Ihnen die Idee eines Porträts für meine Zeitschrift nicht? Der Verlag Collin Lee ist …“

Er riss seine Hand hoch. „Vergessen Sie’s. Meine Antwort ist Nein.“

„Aber …“

„Nein.“

„… ich …“

„Ich sagte Nein, geht das so schwer in Ihren Kopf? Oder hören Sie schlecht? Nein! Nein!“ Er schrie es fast. Und wie vorhin verzog er das Gesicht und griff sich an den Hals. Mehrmals schluckte er. Sie konnte nicht aufhören, sein vollkommenes Profil zu betrachten. Und sich zu fragen, was ihn plagte. Na, was wohl? beantwortete sie sich diese Frage. Ihn plagt seine eigene Giftigkeit. Ersticken soll er an seinem Kloß im Hals!

Annie starrte in die Landschaft, die so über alle Maßen schön war. Die sinkende Sonne überflutete die Macchie mit einem orangegoldenen Schimmer. Insekten tanzten summend und scheinbar fröhlich kreuz und quer durch die Luft. Die Pinien und Zypressen auf den Hügeln wirkten wie schwarze Skulpturen. Und die warm-würzige Luft war erfüllt von eisigem Schweigen. Schließlich hielt der Alfa am Straßenrand. Tatsächlich, ein einsames Halteschild erhob sich an der unbefestigten Böschung. Mr. Cassano sprang heraus und stellte ihren Koffer so schnell auf dem Asphalt ab, als könne er es nicht erwarten, sie loszuwerden.

Annie stieg aus. Über den Koffer hinweg sahen sie sich an. „Ciao“, sagte sie.

„Arrivederci“, sagte er. In dem Wort schwang mit, dass er sie nicht wiedersehen wollte. Sie schnappte den Griff, wollte den Koffer an den Straßenrand bugsieren.

„Was habe ich Ihnen eigentlich getan, dass Sie mich so unverschämt behandeln?“, platzte es aus ihr heraus.

Er schwieg eine Weile. Einen so intensiv anschauen, dass man meinte, er blicke in die Seele, das konnte er. „Noch haben Sie nichts getan. Ich behandle Sie so, damit das so bleibt.“

Was sollte sie mit dieser Antwort anfangen? „Sie sind wie ein Fisch, wissen Sie das?“

Fragend hob er eine Braue.

„Eiskalt und nicht zu fassen“, ergänzte sie.

„Gut. Das freut mich.“ Geschmeidig setzte er sich auf den Fahrersitz und schloss die Tür. Dann wendete er auf der schmalen Straße. Und wartete. Weshalb, begriff sie, als der Bus ihm entgegen um die nächste Biegung kam, langsam an ihm vorbeifuhr und hielt. Zischend öffnete sich vor ihr die Tür, und während sie mitsamt Koffer auf die unterste Stufe trat, sah sie den Alfa hinter dem Bus davonbrausen. Mr. Cassano hatte sichergehen wollen, dass sie den Bus bekam. Und jetzt verschwand er auf Nimmerwiedersehen.

In ihr kochte es. Wie konnte man so … arrogant sein?

Sie trat auf die Straße zurück. „Entschuldigung“, sagte sie zu dem Busfahrer. „Ich hab’s mir anders überlegt.“

Achselzuckend schloss er die Tür und fuhr an. Erneut war sie allein auf einer verlassenen Straße inmitten der Toskana.

Irgendwie würde sie schon zurück zu dem Haus gelangen. Und wenn sie das ganze Stück lief. Mario Cassano würde sie töten. Aber sie musste dieses Porträt kriegen. Sie wollte es wie nichts sonst. Sie wollte … Ach, sie wusste nicht recht, was sie sonst noch wollte. Ihm eins auswischen? Das auch. Eines jedoch stand felsenfest: Säße sie jetzt in ihrem Hotelzimmer in Radda in Chianti, würde sie vor Enttäuschung und Sehnsucht sterben.

Es war dunkel, nur die Windlichter an der Pergola erhellten den lauschigen Abend. Mario saß mit Dolca in der Weinlaube, hörte ihrer Erzählung und den Grillen zu und nippte ab und zu an seinem Wein. Serafina räumte die Reste des rasch gezauberten Abendessens ab und brachte zwei Schälchen Tiramisu. Mit Begeisterung nahm Dolca ein winziges Löffelchen und schob die Schale von sich.

„Ich sehe schon, nach der Feier werde ich mit vier Pfund mehr auf den Hüften nach Mailand zurückkehren“, seufzte sie.

Marios Schälchen war schon fast leer. Er schielte auf ihres. „Vier Pfund wären doch nichts, willst du wirklich nicht …“

„Nimm nur. Vier Pfund wären eine Katastrophe!“ Mit Sorgenfalten auf der Stirn betastete sie ihren nicht vorhandenen Bauch. „Ich modele zwar nicht selbst, aber dass die Chefin von Mirabile nicht als Presswurst herumlaufen darf, versteht sich von selbst.“

Er liebte seine Schwester. Er liebte alles an ihr. Nur nicht ihr Getue um ihren Beruf. Designerin von Mode und Schmuck, Inhaberin einer Modeagentur, Jet-Setterin, die überall dort gefragt war, wo sich reiche und berühmte Leute die Klinke in die Hand gaben. Vielleicht bin ich ja nur neidisch? überlegte er, während er ihr Dessert aß. Für mich ist das alles unwiderruflich vorbei.

Nein, die Partys vermisste er nicht. Auch nicht die seltsamen oberflächlichen Leute. Aber dass er nicht mehr frei war zu entscheiden, sie zu treffen oder links liegen zu lassen, das vermisste er.

Beispielsweise diese Engländerin, Annie … Annie Wilkes? Früher hatte er gerne Interviews gegeben. Er, der gefeierte Tenor, überall umschwärmt, wo er auftauchte. Er war freundlich mit ihnen umgegangen, und sie mit ihm.

Nach dieser … Angelegenheit – er hasste es, den Skandal, den Melania angezettelt hatte, beim Namen zu nennen – hatten Journalisten und Fans ihre wahre Seite gezeigt. Erst mitleidig, dann gierig. Und je mehr er sich zurückzog, desto schlimmer wurde es. Paparazzi waren in seinem Anwesen in Florenz über die Mauern geklettert.

Dann war er hierher geflüchtet, in dieses Traumhaus, das er sich für eine Familie gekauft und hergerichtet hatte, die es noch nicht gab. Und vielleicht nie geben würde. Man hatte natürlich schnell herausgefunden, wo er lebte. Seit er einen aufdringlichen Fotografen gerichtlich dazu verdonnert hatte, sich fernzuhalten, war es besser geworden.

Das war ein halbes Jahr her, und in ihm war die Hoffnung gewachsen, die Welt könne ihn vergessen. Anfragen für Interviews, Porträts und dergleichen gab es nur schriftlich. Er lehnte sie höflich, aber entschieden ab.

Annie Wilkes wandelte auf einem schmalen Grat, und sie tat mit Bravour so, als wüsste sie das alles nicht. Seit wann war eigentlich das Interesse an seiner Person in Großbritannien so groß, dass der Verlag Collin Lee die Klatschpresse schickte, und dann gleich eine so dreiste Abgesandte? Er war bekannt in Frankreich, Italien natürlich, auch den Staaten, aber in England war er noch nie gewesen. Die Insel interessierte ihn schlichtweg nicht. Und das Gebahren der dortigen Presse war durchaus angsteinflößend. Dort, so hieß es, schreckte man vor nichts zurück. Womöglich würde man später Wilkes’ Fotos übelst manipulieren. Seinen Mund wegretuschieren, solche Dinge. Mario Cassano, der große Schweiger. Mario Cassano, die Krähe, wie sie in ihrem Nest hockt. Gut, das war vielleicht übertrieben. Aber er würde kein Risiko eingehen. Wozu auch? Honorare konnten ihn nicht locken, Geld hatte er bis ans Lebensende genug verdient. Im besten Falle würde man ihn nicht mit Spott, sondern mit Mitleid überhäufen. Das eine war so grässlich wie das andere.

Dabei war die Wilkes gar nicht mal unsympathisch. Er musste sich sogar eingestehen, dass sie … nun ja, einen gewissen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Sie war ein wenig wie er selbst früher: zielstrebig, leidenschaftlich, von ihrer Aufgabe erfüllt.

Er stieß eine winzige Fliege vom Rand seines Weinglases und trank. Hübsch war Annie Wilkes, ja. Mehr als das. Anders als Dolca. Oder gar seine Ex Melania, die ebenso wie seine Schwester eine strenge Schönheit war. Annie Wilkes war frisch, salopp, ungezwungen, so war sie gekleidet, so waren ihre Haare, und Schminke hatte sie nur einen Hauch nötig. Im Privaten war sie bestimmt eine Frau, mit der man Pferde stehlen konnte. An einen Ring an ihrer Hand konnte er sich jetzt nicht erinnern, aber ganz sicher war sie liiert. Er tippte auf einen unkonventionellen Typ, ebenfalls Medienbranche, vielleicht auch Künstler. Oder sie stand auf das Gegenteil und hatte einen Anzugträger an der Angel. Einen Banker.

Nicht zu fassen! Er saß hier mit Dolca, die er seit ein paar Monaten nicht mehr gesehen hatte, und dachte an diese Journalistin!

War er zu grob zu ihr gewesen? Ein wenig. Jetzt war er dank des schönen Abends in milderer Stimmung. Würde er sie noch einmal sehen, wäre er geneigt, sie ebenso entschieden, aber freundlicher abzuweisen. Nun, über verschütteten Wein musste man nicht mehr nachdenken. Sollte sie auf Kosten ihres Verlags Radda in Chianti noch ein bisschen genießen und dann auf ihre verregnete Insel zurückkehren!

„… und dann sagte ich zu Karl Lagerfeld … Sag mal, hörst du überhaupt zu?“

Mario blinzelte. „Natürlich, Dolca. Und, hat er zugehört?“

Du hörst nicht zu, mein lieber Bruder! Ich glaube, die ganze Zeit schon nicht.“

„Tut mir leid, ich bin müde.“

Sie blickte auf ihre Armbanduhr: „Zehn Uhr, spät ist das noch nicht. Na ja, vielleicht sollten wir vorschlafen. Damit wir morgen Abend bis Mitternacht durchhalten. Stoßen wir im Pool an?“ Jetzt strahlte sie ihn an. „Das müssen wir machen! Unbedingt.“

„Wenn du meinst …“

„Was wollt ihr unbedingt machen?“, erklang es hinter Mario. Er fuhr herum und sprang auf.

„Silvio!“

Auch Dolca war auf den Beinen und fiel dem Neuankömmling um den Hals. „Dann ist das Geschwistertrio ja komplett!“

Sie gab ihm stürmische Küsschen auf die Wangen und ließ ihn nur widerstrebend los, damit er Mario begrüßen konnte. „Der alte Silvio, na sowas“, neckte Mario ihn. Silvio war zwei Jahre älter als er. „Was machst du denn hier?“

„Na, was wohl? Meinen kleinen Bruder hochleben lassen. Ich dachte, ich komme ein bisschen früher, bevor der Rest der Familie hier einfällt.“ Silvio schlug ihm auf die Schulter. Er war einen halben Kopf kleiner als Mario, auch nicht so athletisch – eher ein Hänfling. Mario klopfte ihm auf den Bauch.

„Geben Sie dir in New York nichts zu essen, hm?“

Silvio tat so, als müsse er sich die Hose ein Stück hochziehen. „Du weißt doch, auf Hot Dogs stehe ich nicht. Und eine gute Trattoria zu finden ist dort eine Lebensaufgabe.“

„Und an die frische Luft lässt man dich auch nicht“, ergänzte Dolca lachend. „Du bist blass wie ein Nordeuropäer.“

„Versuch mal im dreißigsten Stock das Fenster aufzumachen.“ Silvio war aus der Art geschlagen. Keine künstlerische Ader, dafür ein phänomenales Zahlengedächtnis. In seiner New Yorker Bank war er ein ganz hohes Tier, und er spekulierte recht erfolgreich mit diversen Anlagen. Seit Jahren war er glücklich verheiratet. Dass er allein kam, lag daran, dass zeitgleich der Vater seiner Amy einen runden Geburtstag feierte – in Kalifornien. „Ich werde glatt müde von der guten Luft hier. Wenn ich in drei Tagen zurückfliege, werde ich vor Energie platzen. Aber was stehe ich denn hier herum und rede?“ Er schlug sich die Hand an die Stirn. „Wie unhöflich von mir! Ich bin ja gar nicht allein gekommen!“

„Nein?“, fragte Dolca. „Ist Amy etwa …?“

Silvio schüttelte den Kopf und drehte sich um. Aus dem Schatten löste sich eine weibliche Gestalt.

Mario war wie vom Donner gerührt. Das konnte nicht wahr sein. Das konnte einfach nicht wahr sein!

Annie Wilkes. Wirklich und wahrhaftig Annie Wilkes. Die hübsche Journalistin und ihr blöder Koffer. Der leibhaftige Kastenteufel. Verlegen hatte sie die Hände vor dem Schoß gekreuzt und blickte schüchtern zu Mario herüber.

„Wieso …“, keuchte dieser. Der Rest blieb ihm in der Kehle stecken.

„Darf ich vorstellen? Miss Annie Wilkes aus London. Sie ist …“

„Ich weiß, was sie ist“, unterbrach er seinen Bruder.

„Genau, hilfebedürftig.“ Der leutselige Silvio bemerkte noch nichts von Marios Groll.

„Du hast doch sicher nichts dagegen, wenn sie für eine Nacht bleibt. Die Dame hat den letzten Bus verpasst, und wir Italiener sind ja schließlich gute Gastgeber.“

„Sie hat den letzten Bus verpasst?“

„Hat sie.“

„Mario“, begann Dolca, die das Gewitter offenbar schneller bemerkte, doch er schnitt ihr mit herrischer Geste das Wort ab.

„Warum seid ihr eigentlich gekommen?“, fragte er leise.

„Aber das weißt du doch …“

Wieder riss er die Hand hoch, damit sie schwieg. Er starrte zu Annie Wilkes hinüber, und sie hatte wenigstens den Anstand, die Augen zu senken. „Um mich zum Narren zu halten?“

Dolcas Blick flog zwischen der Engländerin und ihm hin und her. „Niemand …“

„Sei still.“

Er sagte es so leise, dass sie erschrocken schwieg. Die Stille war unerträglich. Wilkes’ Anwesenheit noch mehr. Und der Schmerz in seiner Kehle und jetzt auch in seinem Kopf. Zig Gedanken wirbelten ihm durch den Sinn. Silvio sollte sie gefälligst sofort nach Radda in Chianti fahren. Oder Dolca. Aber wie konnte er das verlangen, da sie doch erschöpft von ihren Reisen sein mussten? Er könnte für Wilkes ein Taxi rufen. Aber sie würde unterwegs dem Fahrer sagen, er solle umkehren. Alles half nichts, weil sie sowieso wie aus dem Boden gewachsen wieder dastehen würde. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, ihn heimzusuchen, um ihn zu quälen.

Heute würde er keine Lösung für dieses Problem finden, er war selbst viel zu kaputt. Obwohl er seine ohnmächtige Wut noch irgendwo loswerden musste, und er wusste auch schon, wo.

„Da ihr euch anmaßt, das Haus so zu führen, wie ihr wollt, bitte, tut das. Macht von mir aus ein Hotel daraus. Für heute Nacht überlasse ich euch das Feld. Morgen früh verschwindet diese Frau.“

Er ging, kehrte aber noch einmal zu ihnen zurück. Sie hatten sich alle nicht vom Fleck gerührt, als habe sie der Blitz getroffen. Er ging zu Annie Wilkes und streckte die Hand aus. „Geben Sie mir ihre Fotoausrüstung.“ Inzwischen konnte er nur noch flüstern. Möglicherweise machte genau das Eindruck auf sie, jedenfalls öffnete sie ihren Rucksack und händigte ihm die Kamera anstandslos und mit großen Augen aus.

„Die war teuer, gehen Sie bitte sorgfältig damit um“, sagte sie mit bebenden Lippen.

Er schwieg. Sollte sie sich ausmalen, was er tat.

3. KAPITEL

Kein Hotelzimmer hätte schöner als dieses Gästezimmer sein können. Die in zartem Grün gestrichenen Wände waren mit Kassettenelementen bemalt – Trompe-l’oeil-Malerei, die vorgab, echter Stuck zu sein. In der größten dieser Kassetten war ein etruskisches Fresko, in den anderen Wandteller. Dichte Teppiche, die zierlichen Möbel cremeweiß, und von der Decke hing ein Lüster. Und vor dem Fenster stand ein Himmelbett. Auf der hüfthohen Matratze kam man sich vor wie eine Königin.

Dummerweise sorgte der Lärm eines Hammers dafür, dass Annie diese Nacht nicht genießen konnte. Bis zwei Uhr in der Früh hatte Mr. Cassano irgendwo gewerkelt – da Dolca eine Werkstatt erwähnt hatte, in der er gerne arbeitete, zweifelte sie keinen Augenblick daran, dass er es gewesen war. Aus keinem anderen Grund als den, ihr den Aufenthalt zu verderben. Hoffentlich hatte er nicht ihre Kamera zerschlagen! Zuzutrauen wäre es ihm.

Dann dämmerte der Morgen mit seinem Vogelgezwitscher. Obwohl sie todmüde hätte sein sollen, war sie hellwach.

Sie sprang aus dem Bett, öffnete die schmale Tür, die ins Freie führte, und atmete die herrliche Luft ein, die selbst zu dieser Zeit von angenehmer Milde war. Im Dämmerlicht konnte sie sich orientieren. Dort, dieses lauschige Plätzchen unter einer weinumrankten Laube war ihr gestern aufgefallen. Da zu sitzen und in die Hügel ringsum zu blicken, musste herrlich sein. In ihren Espadrilles und mit nichts als ihrem hüftlangen Nacht-T-Shirt lief sie dorthin.

Und blickte über das Mäuerchen hinter der Sitzecke.

Das war ja … Ja, der Himmel auf Erden!

Die Mauer fiel auf der anderen Seite an die vier Meter hinab. An sie geschmiegt führte eine Treppe hinab. Zu einem Swimmingpool.

Oh Gott.

Das Haus war nicht nur ein Traum. Es war ein mit einem Pool bekrönter Traum.

Sollte sie …? Wäre das nicht sehr dreist? Aber wer würde es merken? Während sie mit sich rang, öffnete sie ein Türchen in der Mauer und huschte die Treppe hinab. Wenigstens den Zeh konnte sie ja ins Wasser stecken. Es war herrlich warm. Solche Temperaturen kannte man in englischen Pools nicht – nicht dass sie je in einem gewesen wäre! Weg mit den Bedenken! Sie schlüpfte aus ihren Sachen.

Passend zum Ambiente besaß der Pool eine barocke Muschelform und war aus glasierten Ziegeln gebaut. Eine Metallleiter hätte ihn nur verunziert, so gab es eine Treppe mit gerundeten Stufen. Die jedoch glitschig waren. So leise wie möglich ließ sich Annie ins Wasser gleiten.

Gemächlich schwamm sie mehrere Bahnen. Was konnte man hier für herrliche Poolpartys feiern! Ob der mürrische Hausherr das ab und zu machte? Nach dem, was Dolca angedeutet hatte, war er früher netter und offener gewesen. Wieder einmal fragte sie sich, warum ein Mann, der, von außen betrachtet, alles hatte, so unglücklich mit sich und der Welt war.

Aber jetzt wollte sie den Augenblick genießen. Sie dümpelte auf dem Rücken und betrachtete den Sternenhimmel, der hier so dicht und hell war, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Sie wünschte sich, die Zeit anhalten zu können. Sie wünschte sich … Ja, was noch?

Einen Menschen, mit dem sie den Zauber des Augenblicks teilen konnte. Plötzlich fühlte sie sich entsetzlich einsam, und es versetzte ihr einen Stich.

Jemand kam die Treppe herunter. Eine riesige, dunkle Gestalt. Annie japste und verschluckte sich fast. Strampelnd kam sie in die Senkrechte. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals vor Furcht. Sie war allein, schutzlos, nackt und fremd. Alles gute Gründe, um Hilfe zu rufen. Nein, besser, sie versteckte sich. So leise wie möglich glitt sie in eine Ecke, wo die Blätter einer Palme über das Wasser ragten.

Ein Mann näherte sich dem Pool. Annie rieb sich die Nässe aus den Augen. War das nicht …? Aber ja. Kein Einbrecher, kein nächtlicher Herumtreiber. Es war der Hausherr höchstpersönlich. Was wollte er um diese Zeit hier, musste er von seiner Werkelei nicht todmüde sein?

Blöde Frage, dachte Annie. Du bist doch auch hier.

Am Beckenrand zog er sich aus. Dann bückte er sich und sprang kopfüber ins Wasser. Weg war er. Annie war wie erstarrt. Prustend kam er fast am anderen Ende wieder an die Oberfläche, kehrte um, schwamm zurück. Der Anblick, wie er die nassen Haare in den Nacken warf, sorgte für ein Frösteln auf ihrer Haut. Er strich sie zurück, die Ellbogen hochgereckt, und ihr wurden die Knie weich. Gott sei Dank war sie im Wasser, andernfalls würde sie fallen. Mario Cassano tauchte wieder unter, auf ihre Seite zu …

Fast hätte sie geschrien, als seine Hand gegen ihren Schenkel stieß. Unmittelbar vor ihr tauchte er auf.

„Nicht!“, rief sie mit mühsam unterdrückter Stimme und schob abwehrend die Hände vor. Unter den Handflächen spürte sie seine sich heftig hebende Brust. „Ich bin’s, erschrecken Sie nicht!“

Anders als sie erschrak er keineswegs. „Sie?! È incredibile! Was tun Sie hier?“

„Ich glaube, das Gleiche wie Sie“, murmelte sie.

„Ach ja? Ich bezweifle, dass ich Ihnen so sehr auf die Nerven gehe wie Sie mir.“

„So meinte ich das nicht. Ich meinte …“

Er riss die Hand hoch – diese Geste kannte sie bereits von ihm, er wollte, dass sie den Mund hielt. „Ich weiß, was Sie meinten.“ Er sprang herum, tauchte ins Wasser und an den anderen Beckenrand zurück, wo er, die Arme auf dem Terrakottarand gekreuzt, stehen blieb. Annie schwamm ihm hinterher.

„Hören Sie, es tut mir leid. Ich hätte das nie getan, hätte ich gewusst, dass Sie herkommen.“

Statt einer Antwort stöhnte er auf und schüttelte den Kopf, aber er wandte sich nicht um. Also kam sie an seine Seite und legte ebenfalls die Arme auf den Rand. Was sollte sie noch sagen? Entschuldigungen nahm er offenbar nicht an, jedenfalls nicht von ihr. Allmählich war auch sie genervt. Musste man denn so ein Drama daraus machen? Er war aber auch schwierig!

So standen sie eine Weile beieinander, und sie nahm an, dass er ihrem Atem genauso lauschte wie sie ihrem. „Darf ich Sie etwas fragen, Mr. Cassano?“, fragte sie schließlich.

Die Antwort war ein Knurren.

„Warum hassen Sie mich so?“

„Ich hasse, was Sie tun.“

„Was tue ich denn?“

„Okay, Sie wollen also ganz unschuldig tun?! Dann erkläre ich es Ihnen: Sie nerven mich unglaublich. Ihnen ist keine Grenze heilig. Sie sind ein skrupelloses Luder.“

Was? Was? „Und Sie? Sie sind arrogant, halten sich selbst für einen Heiligen innerhalb Ihrer heiligen Grenzen, sind unhöflich, geradezu frech, und für das ‚skrupellose Luder‘ gehört Ihnen eine Klage an den Hals!“

„Schreien Sie nicht so, Sie wecken ja das ganze Haus auf.“

„Ach ja? Das sagt mir der, der die halbe Nacht herumgehämmert hat? Wahrscheinlich mit einem diabolischen Grinsen auf dem Gesicht, stimmt’s? Sie sind ein Egoist.“

„Weil ich auf meinem Grund und Boden tue, was mir gefällt?“

„Mir die Nacht zur Hölle zu machen war Ihnen so wichtig, dass Sie nicht mal auf Ihre Familie Rücksicht genommen haben.“

„Meine Familie geht Sie nichts an. Dolca und Silvio haben dort, wo sie schlafen, nichts gehört.“

„Mir gezielt eins auszuwischen, macht die Sache nun auch nicht besser.“

„Wenn es Sie so sehr gestört hat, warum haben Sie sich dann nicht ein Taxi gerufen? Seien Sie still, ich kenne die Antwort.“

„Und die wäre?“

„Ihr Arbeitgeber verlangt es. Sie müssen ja Ihren großen Bericht schreiben.“ Seine angestrengte Stimme triefte vor Hohn. „Und wenn ich Ihnen statt einem Bett ein Mauseloch anbieten würde, würden Sie sich einnisten. Weil Sie eine unerträgliche Klette sind.“

„Sie beleidigen mich schon wieder!“

Er lachte rau. „Sie müssen das ertragen, nicht wahr? Weil Sie sonst Ihren großen Bericht nicht kriegen.“ Er drehte seinen Kopf ganz nah zu ihr, und sie konnte erkennen, dass er sie aus schmalen Augen fixierte. Gut, dass sie im Wasser war, andernfalls hätten ihre weichen Knie sie nicht getragen. „Den werden Sie auch nicht bekommen, egal was Ihnen sonst noch so einfällt. Meinetwegen sollen Sie noch Ihr Frühstück kriegen, aber danach sind Sie verschwunden. Wenn ich Sie um – sagen wir, elf Uhr – noch auf meinem Grundstück sehe, rufe ich die Polizei. Haben wir uns verstanden? Und jetzt raus aus dem Pool.“

Bis zum Kinn war sie im Wasser versunken. Dass er so nah war, raubte ihr den Atem. Plötzlich spürte sie irgendetwas im Magen. Einen Kloß? Oder was war das? So unangenehm fühlte sich das gar nicht an. Das Gefühl weiter oben, in ihrer Brust, konnte dagegen durchaus als Angst durchgehen.

Sie hatte einen Arm um ihre Brüste gelegt. „Ich kann nicht“, murmelte sie. „Ich hab nichts an.“

„Porca miseria!“, zischte er; es klang wie ein Fluch. Vor Ärger drehte er sich um die Achse, sodass das Wasser über ihr Gesicht schwappte. Dann war er wieder viel zu nah vor ihr. Sie wagte es, eine Hand aus dem Wasser zu stecken und sich die nassen Strähnen aus den Augen zu streichen.

„Gehen Sie zuerst raus“, schlug sie vor. „Wenn ich weg bin, können Sie ja weiterschwimmen.“

„Ich habe auch nichts an.“

„Das hat Sie doch eben nicht gestört?“

„Da dachte ich ja auch, ich sei allein!“

„Nun“, sie überlegte. „Ich habe Sie ja eben nackt gesehen, da ist es jetzt doch egal, oder?“

„Würden Sie dieses Argument im umgekehrten Fall gelten lassen?“

„Vermutlich nicht“, gab sie zu. „Und jetzt?“

Jetzt überlegte er. Dabei schluckte er mehrmals, räusperte sich und berührte seine Kehle. „Irgendein Arrangement werden wir finden müssen, um dieses Problem zu lösen.“

Jetzt klang er beinahe höflich. Wie ungewöhnlich. Durchaus anziehend. Ohne diese ganze mehr als unangenehme Vorgeschichte, die sie beide miteinander verband, hätte sie ihn sympathisch finden können. Mehr als das. „Je länger wir warten, desto heller und somit schwieriger wird es“, erinnerte sie ihn.

Seine Stirn krauste sich, während er in den Himmel blickte. „Sie verschwinden in Ihr Eck, in dem Sie eben schon lauerten, drehen sich um und warten, bis ich weg bin.“

„Das ist gentlemanlike“, sagte sie.

„Ich würde es eher eine Notmaßnahme nennen“, widersprach er. „Sonst dümpeln wir hier in einer Stunde noch herum und ich bin taub.“

„Zu viel Wasser im Ohr?“

„Nein, zu viele Worte.“

Ihr lag auf der Zunge, dass er das Reden, so sehr es ihn anstrengte, ja selbst nicht lassen konnte.

„Los, drehen Sie sich um“, befahl er.

Seine ohnehin raue Stimme war immer leiser geworden, und doch blieb sie so bestimmt, dass Annie gehorchte. Natürlich wagte sie im Pooleck einen vorsichtigen Blick über die Schulter, doch er hatte sich bereits hochgestemmt und verschwand hinter einem Strauch, wo seine Sachen lagen. Dann hörte sie, wie er die Treppe hochlief.

In Windeseile war sie in ihrem Zimmer verschwunden. Dort trocknete sie sich erst einmal ab. Bis auf die Gesänge der Vögel war noch alles still. In seiner Werkstatt war Mario Cassano nicht – jedenfalls hämmerte er nicht. Vielleicht war er ja in den Pool zurückgekehrt.

Annie durchzuckte der Gedanke, zur Laube zu schleichen und einen Blick über die Mauer zu wagen. Vorhin hatte sie von seinem Körper viel zu wenig gesehen, doch jetzt war es heller. Er war sehr durchtrainiert, bestimmt schwamm er jeden Morgen etliche Runden. Sie schloss die Augen, holte sich seinen Anblick in ihre Erinnerung zurück. Bronzefarbene Haut über perfekten Muskeln; von den dunkelbraunen Haaren rann das Wasser … Sie seufzte. Schon gut, Annie, dachte sie. Wir wollten das doch lassen mit den Männern.

Es war warm genug, um noch eine Weile nichts als das T-Shirt am Leib zu tragen. Frühstück war bestimmt erst in zwei Stunden. Sie überlegte, was sie bis dahin tun konnte. Noch ein wenig Schlaf nachholen, um den Widrigkeiten des Tages besser trotzen zu können? Kein Gedanke, sie war hellwach.

Sie warf sich aufs Bett, ließ das seltsame Gespräch – konnte man dieses Herumzerren ein Gespräch nennen? – Revue passieren. Etwas an Marios Aussagen passte ihr nicht. Besser gesagt, die passten nicht zu ihr.

Skrupelloses Luder.

Sie hatte ihn fragen wollen, wie er darauf kam, sie so zu nennen, aber das war irgendwie untergegangen.

Ihr großer Bericht.

Er hatte das „Groß“ gedehnt und betont. Genauso gut hätte er sagen können: „Ihr Bericht, den Sie für ach so wichtig halten.“ Natürlich war er ihr wichtig, immens sogar, aber woher wollte er das denn wissen?

Und was, verflixt, war daran skrupellos?

Hielt er sie womöglich für eine andere Frau?

Nein, das konnte nicht sein. Sie hatte ihren Namen genannt. Und den hatte er sich gemerkt.

Ruckartig setzte sie sich auf. Warum war sie nicht gleich auf die Idee gekommen, Mario Cassano zu googeln? Fast wäre sie hingefallen, so schnell hüpfte sie von der Matratze. Sie angelte ihr Smartphone unter dem Bett hervor, wo sie es gestern hingelegt hatte, damit sie es an der Steckdose neben dem Bett laden konnte. Sie zog das Kabel mitsamt Reiseadapter ab und weckte es aus dem Schlafmodus. Ob es hier WLAN gab? Natürlich nicht, dies hier war ja kein Hotel. Es gab nicht einmal normalen Netzempfang, wie sie enttäuscht feststellte. Das Mobilfunknetz schien zumindest in diesem Teil der Toskana nicht gut ausgebaut zu sein.

Damit musste sie ihre schöne Idee vorerst begraben. Wie ärgerlich! Sie war sich plötzlich sicher, dass das Internet dort draußen vor Erklärungen schier platzte. Aber es musste sie ja an einen Ort verschlagen, der noch wie vor fünfzig Jahren tickte. Dazu passte der Messingwecker auf dem Nachttisch, den man noch per Hand aufziehen musste. Oder die Stehlampe mit der aus dem Schirm hängenden Schnur, die unzählige Hände braun gefärbt hatten.

Annie knipste das Licht an und betrachtete die Handyfotos, die sie am Vortag vom Anwesen geknipst hatte. Allein diese Fotos wären einen kleinen Artikel wert – hätten sie die Bildqualität der großen Kamera. Aber die hatte sie nicht, auch nicht die Erlaubnis. Diese Schnappschüsse hier waren nur private Erinnerungsfotos, dagegen konnte ja wohl keiner etwas haben. Im Schneidersitz hockte sie sich aufs Bett und wischte sich durch die Bilder. Davor hatte sie ein paar Fotos der Landschaft gemacht. Ein Selfie vor Michelangelos David in Florenz; den hatte sie vor der Weiterreise unbedingt sehen wollen. Als nächstes ein Bild von ihrem Kater Henry, daheim in ihrer kleinen Bude im angesagten Viertel Notting Hill. Dann hatte sie sich zum letzten Besuch bei ihrer Mutter Dolores und ihrem Stiefvater George in Kent durchgewischt. Ihre Mutter im Vorgarten des hübschen, efeuumwucherten Cottages, wie sie auf der blaulackierten Bank neben der Tür saß und in sich hineinzulauschen schien. Ihr ernstes, sorgenvolles Gesicht. Die Fragen, die über ihrem Kopf zu schweben schienen: War es richtig, noch einmal zu heiraten? Mit George hier herauszuziehen? Ist es richtig, immer noch hier auszuharren? Statt den Fehler rückgängig zu machen und nach London zurückzukehren?

Und George in den Allerwertesten zu treten, dachte Annie und schaltete das Handy aus.

An ihren früh an Krebs verstorbenen Vater konnte sie sich kaum erinnern. An George, ihren nachlässigen Stiefvater, der seine Tage im Sessel und seine Abende im Pub verbrachte, umso besser. Mom hatte nicht allein bleiben wollen. Doch wozu es führte, wenn man um jeden Preis einen Partner suchte … Ärger, Probleme und am Ende doch wieder Einsamkeit, selbst wenn der Mann im gleichen Zimmer war.

Sie selbst ...

Autor

Kianna Alexander
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Amy Winterfield
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Lucy Monroe
<p>Die preisgekrönte Bestsellerautorin Lucy Monroe lebt mit unzähligen Haustieren und Kindern (ihren eigenen, denen der Nachbarn und denen ihrer Schwester) an der wundervollen Pazifikküste Nordamerikas. Inspiration für ihre Geschichten bekommt sie von überall, da sie gerne Menschen beobachtet. Das führte sogar so weit, dass sie ihren späteren Ehemann bei ihrem...
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