Romana Extra Band 102

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LIEBESNÄCHTE AN DER CÔTE D’AZUR von SUSAN CLARKS

Auf den Spuren ihres Vaters reist Lina an die Côte d’Azur, wo sie prompt ihren Jugendfreund Maxime Rousseau wiedertrifft. Noch immer lässt er ihr Herz höherschlagen, und bald beginnen sie eine zarte Liebesbeziehung. Aber Maxime scheint etwas vor ihr zu verbergen …

SAG MIR NUR, DASS DU MICH LIEBST! von SCARLET WILSON

Sie ist zauberhaft! Obwohl er immer noch um seine Frau trauert, ist Arzt Joe Lennox hingerissen von seiner Kollegin Lien. Während seiner Arbeit in einer Klinik in Vietnam kommen sie einander näher. Doch was wird sein, wenn Joe nach sechs Monaten
wieder zurückmuss nach Schottland?

BLITZHOCHZEIT IN GRIECHENLAND von KATE HEWITT

"Komm mit mir nach Griechenland." Schockiert hört Lindsay, was ihr Noch-Ehemann Antonios von ihr verlangt. Ein halbes Jahr ist es her, dass sie den griechischen Tycoon verlassen hat. Wenn sie ihm jetzt folgt, beginnt alles von vorn: die Leidenschaft, die Hoffnung - die Furcht …

NICHTS ALS EINE PRICKELNDE ROMANZE? von ANDREA BOLTER

Nur damit er die Firma seines Vaters erbt, will Jin Zhang die süße Mimi heiraten. Sich richtig an eine Frau binden? Nach einer schlimmen Scheidung kommt das für ihn nicht infrage. Warum spürt Jin dann in Mimis Nähe dieses unwiderstehliche Prickeln?


  • Erscheinungstag 22.12.2020
  • Bandnummer 102
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748043
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Clarks, Scarlet Wilson, Kate Hewitt, Andrea Bolter

Romana Extra Band 102

SUSAN CLARKS

Liebesnächte an der Côte d‘Azur

Maxime Rousseau ist hingerissen, als er nach Jahren die reizende Lina wiedersieht. Wie wunderschön sie geworden ist! Doch das Vermächtnis seines Großvaters zwingt ihn, Lina zu hintergehen …

SCARLET WILSON

Sag mir nur, dass du mich liebst!

Lien lebt nur für ihren Beruf als Ärztin in Vietnam, wo sie den Ärmsten hilft. An eine Beziehung denkt sie nicht. Bis sie ihren neuen Kollegen Joe Lennox trifft. Soll sie ihm wirklich ihr Herz schenken?

KATE HEWITT

Blitzhochzeit in Griechenland

Nach nur einer Woche Ehe hat Lindsay ihn ohne eine Erklärung verlassen! Antoniosʼ Stolz ist unendlich verletzt. Trotzdem muss er sie jetzt bitten, mit ihm nach Griechenland zurückzukehren …

ANDREA BOLTER

Nichts als eine prickelnde Romanze?

Eine Ehe für ein Jahr – nur zum Schein! Dazu lässt Mimi sich überreden, um ihrem Jugendfreund Jin Zhang zu helfen. Außerdem braucht sie einen Job in seinem Mode-Imperium. Aber Jin ist unfassbar sexy …

1. KAPITEL

Wie sehr hatte sie den Duft des Mittelmeers vermisst!

Lina Girard sog die salzige Luft in ihre Lungen und lächelte glücklich. Erst vor vier Stunden war sie am Flughafen von Nizza gelandet und hatte wenig später ihre alte Freundin Zoé Dumont in die Arme geschlossen. Gemeinsam waren sie zu Zoés Haus an der Côte d’Azur gefahren, und bei der ersten Gelegenheit war Lina die steinernen Stufen hinter der Terrasse hinuntergestiegen, um endlich wieder an der felsigen Küste ihres geliebten Cap Ferrats zu stehen.

Wie hatte sie es so lange ohne diesen Anblick ausgehalten? Wie hatte sie so viele Jahre ins Land ziehen lassen können, ohne hierher zurückzukehren? Lächelnd schüttelte sie den Kopf. Ob ihr Vorhaben erfolgreich sein würde oder nicht, allein dafür, dass die salzige Brise des Mittelmeers wieder ihre Nase umwehte, hatte sich die Reise aus London gelohnt.

Als Kind hatte sie jeden Sommer hier verbracht. Zoé war die beste Freundin ihrer Mutter gewesen und verdankte das Haus am Cap Ferrat ihrem ersten Ehemann. Sie hatte keine Kinder, weswegen sie Lina umso mehr ins Herz geschlossen hatte und sich jedes Mal freute, wenn sie sie an der Côte d’Azur besuchte.

Nichtsdestotrotz hatte Zoé versucht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Sie fand es töricht und nannte es eine kindliche Träumerei zu glauben, das Bild, von dem ihre Mutter ihr als Kind erzählt hatte, würde tatsächlich existieren. Aber Lina glaubte daran. Sie hatte ihr ganzes Erspartes und die kleine Erbschaft ihrer Mutter zusammengekratzt und war an die Côte d’Azur gereist, um endlich den Beweis zu finden, von dem ihre Mutter erzählt hatte. Sie weigerte sich schlicht zu glauben, dass alles eine bloße Lüge war.

Der Wind ließ sie trotz der wärmenden Sonnenstrahlen frösteln, und sie rieb sich über ihre nackten Oberarme. Ihr dünnes Kleid wickelte sich um ihre Beine, und sie hatte Mühe, nicht den Halt zu verlieren, wenn eine Böe sie erfasste. Früher war sie meist im Badeanzug bekleidet hier heruntergekommen, hatte ihr Handtuch achtlos fallen gelassen und war ins Wasser gesprungen.

Nur zu gern würde sie auch jetzt ins Meer steigen, um eine Runde zu schwimmen. In den vergangenen Jahren in England war sie gelegentlich nach Cornwall gereist, nur um jedes Mal aufs Neue festzustellen, dass der raue Atlantik nicht mit der lieblichen azurblauen Küste Frankreichs vergleichbar war.

Vorsichtig kletterte sie die Felsen hinab zum Wasser. Als Kind war sie leichtfüßig über die Steine gesprungen, jetzt musste sie bei jedem Tritt aufpassen, dass sie nicht umknickte oder ausrutschte. Der starke Wind und ihr knöchellanges Kleid erschwerten die Sache zusätzlich. Dennoch wollte sie nur einmal die Zehen ins Wasser halten, ehe sie wieder zu Zoé ging, um ihre Reisetasche auszupacken. Nur einmal schnell das warme Wasser des Mittelmeers als Willkommensgruß spüren.

Der Sommer hatte noch nicht begonnen, obwohl die Maisonne ihre Haut bereits angenehm wärmte, wenn sie zwischen den Wolken hervorbrach. Aber das Cap Ferrat war ohnehin kein Touristenmagnet. Die Besucher zogen die Sandstrände westlich von Nizza dem felsigen Gelände vor. Einzig der breit gepflasterte Weg entlang der Küste lockte Gäste ans Cap Ferrat, aber selbst für einen Spaziergang entlang der Promenade war das Wetter heute nicht einladend genug.

Deshalb fühlte sich Lina völlig unbeobachtet. Sie raffte das Kleid hoch und stieg die letzten großen Steine hinab. Das Wasser war so klar und rein, dass sie bis tief auf den Grund sehen konnte. Noch ein letzter Schritt und sie würde das kühle Nass an ihren Knöcheln spüren.

Doch im selben Augenblick erfasste sie eine weitere Böe und ließ sie schwanken. Sie verlor das Gleichgewicht, rutschte ab und landete unsanft im Wasser.

„Mist“, fluchte sie laut. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie strich sich ihre langen Haare aus dem Gesicht und blickte sich um. Ein brennender Schmerz breitete sich entlang ihres Unterschenkels aus, dennoch strampelte sie kräftig mit beiden Beinen und suchte nach einem Halt, an dem sie sich hochziehen konnte. Zoé würde sie ausschimpfen, wenn sie völlig durchnässt vor ihr stehen würde. Dabei war sie inzwischen sechsundzwanzig und keine zehn mehr.

Wenigstens war ihr Missgeschick unbemerkt geblieben. Es wäre ihr schrecklich peinlich gewesen, hätte jemand ihr unfreiwilliges Bad beobachtet. Sie griff nach einem kleinen Felsvorsprung und zog sich daran hoch. Doch im nächsten Moment erfasste sie von hinten eine kräftige Welle und trieb sie gegen den Felsen. Ein Schrei entwich ihr, und Panik erfasste sie. Die Kraft des Meeres zog sie ungewollt ins Wasser zurück. Verzweifelt kämpfte sie gegen die Strömung an, paddelte kräftig mit den Füßen, aber die Sandalen, die sie noch immer trug, machten es ihr nicht gerade leicht. Und auch das Kleid wurde ihr zum Verhängnis. Sie versuchte, die Schuhe abzustreifen, aber die Riemen saßen zu fest um ihre Knöchel. Bevor sie aufgebrochen war, hatte Lina sie extra eng geschnallt, um einen guten Tritt bei ihrer Wanderung zu haben. Wenn sie wenigstens aus dem Kleid herauskäme! Ansonsten würde es sie noch in die Tiefe ziehen. Sie zerrte eine Hälfte über die Schulter, schaffte es aber nicht, gänzlich herauszuschlüpfen. Währenddessen strampelte sie weiter mit den Beinen, um über Wasser zu bleiben, doch allmählich verließ sie die Kraft.

Eine weitere Welle schwappte über sie. Keuchend und prustend kam sie wieder an die Oberfläche. Sie musste es endlich zurück an Land schaffen, sonst war sie verloren. Die Wellen trugen sie zu den Felsen, aber zogen sie jedes Mal wieder mit sich hinaus. Immer wenn sie versuchte, nach einem Stein zu greifen, rutschte sie ab. Was sollte sie nur tun?

Sie wandte sich zum offenen Meer, um die nächsten Wellen abzuschätzen. Aber kaum hatte sie sich umgedreht, erfasste sie mit voller Wucht das Wasser und schleuderte sie gegen den Felsen. Ein stechender Schmerz breitete sich in ihrem Rücken aus, und sie schrie auf. Dabei atmete sie das salzige Meerwasser ein. Sie wollte husten, aber es geriet nur noch mehr Wasser in ihre Lungen. Ihre Kehle brannte. Sie brauchte Luft! Sie brauchte endlich Luft! Panik breitete sich wieder in ihr aus. Sie musste nach oben. Oder war sie schon oben?

Hilfe!

Plötzlich fasste sie jemand am Arm und zog sie hoch. Eine kühle Brise umfing sie, und endlich konnte sie wieder atmen. Hustend ließ sie sich auf den Felsen sinken und rang nach Luft. Noch nie war sie so froh gewesen, einfach nur zu atmen. Erst nach mehreren kräftigen Atemzügen verlor sich allmählich die Benommenheit, und ihr Blick klarte auf.

Neben sich entdeckte sie zwei muskulöse männliche Beine, an denen sie keuchend hochsah. Der Mann, der vor ihr stand, hatte eine sportliche Figur. Seine Haut war sonnengebräunt, er hatte stechend blaue Augen und schwarzes Haar, dass er in einem modischen Kurzhaarschnitt trug.

Er kniete sich zu ihr und klopfte ihr fest auf den Rücken, damit sie auch noch das restliche Wasser aus ihrer Lunge herausspuckte.

„Ça va?“, fragte er.

Sie nickte zwischen den Hustenattacken. „Ja, es geht“, krächzte sie auf Französisch. Das Reden schmerzte, und noch immer musste sie sich mit den Armen am Felsen abstützen, um zu atmen. Dennoch sagte sie: „Merci.“

„Gern geschehen.“ Inzwischen war das Klopfen auf ihrem Rücken in ein sanftes Streichen übergegangen. „Das war knapp. Wenn ich nicht zufällig vorbeigekommen wäre, hätte das schlimm enden können.“

Wieder nickte sie. Denn diese Tatsache spürte sie in jeder Faser ihres Körpers. Sie hatte wirklich großes Glück gehabt. Sie wollte sich aufrichten, aber der Unbekannte drückte sie an der Schulter wieder sanft zurück.

„Bleiben Sie noch einen Moment sitzen, und ruhen Sie sich aus.“

Nur zu gern kam sie seiner Aufforderung nach. Sie fühlte sich in der Tat noch geschwächt. Für mehrere Minuten konzentrierte sie sich nur darauf, wie die Luft gleichmäßig in ihre Lungen strömte. Allmählich beruhigte sich ihr Atem, und der brennende Schmerz in ihrer Kehle ließ nach.

Vorsichtig musterte sie den Fremden. „Wie heißen Sie?“, wollte sie wissen.

Der Mann lächelte. In seinem sonnengebräunten Gesicht zeigten sich vereinzelte Fältchen, die seine Augen umrandeten, aber er mochte höchstens dreißig Jahre alt sein. Angesichts seiner wohldefinierten Muskeln vermutete sie, dass er regelmäßig trainierte. Zudem hatte er sie scheinbar mühelos aus den Fluten gezogen, ohne selbst völlig nass zu werden. Dennoch erschien ihr irgendetwas merkwürdig an ihm. Er kam ihr seltsam bekannt vor.

„Ich heiße Maxime Rousseau. Aber meine Freunde nennen mich Max.“

Maxime Rousseau?! Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Wie hatte sie ihn nicht sofort erkennen können? Diese Augen! Das Lächeln! Zwölf Jahre waren schließlich keine Ewigkeit.

Maxime Rousseau. Der hatte ihr gerade noch gefehlt!

Die Frau starrte ihn plötzlich an, als hätte sie einen Geist gesehen. Dabei hatte er ihr doch nur seinen Namen genannt. Verwirrt runzelte er die Stirn. „Alles in Ordnung?“ Womöglich hatte sie sich den Kopf härter angestoßen, als er gedacht hatte.

Wortlos versuchte sie, sich aufzurichten.

Er nahm ihren Arm, um ihr zu helfen, aber kaum war sie auf den Beinen, wich sie zurück und ging auf Abstand. Hatte sie plötzlich Angst vor ihm? Zu gern wüsste er, wer diese schöne Fremde war, die er soeben aus dem Meer gefischt hatte.

Zufällig war er im richtigen Moment auf die Terrasse seiner Villa getreten und hatte von dort beobachtet, wie sie sich der Küste näherte. Er hatte den Anblick ihrer zarten Gestalt genossen und gelächelt, als der Wind das Kleid an ihren Körper presste, sodass kaum noch eine Rundung der Fantasie überlassen blieb. Ihre blonden Haare leuchteten in den vereinzelten Sonnenstrahlen, und er hatte davon geträumt, seine Finger darin zu vergraben.

Er mochte Frauen mit langen blonden Haaren.

Als er feststellte, dass sie zum Wasser ging, hatte er bedenkenvoll zugesehen und „Lass das besser“ gemurmelt. Mit den Windböen, die heute vom Meer hereinwehten, war nicht zu spaßen. Als sie dann tatsächlich ins Wasser fiel, hatte er erschrocken den Atem angehalten und war nach unten geeilt, nur um sie noch rechtzeitig aus dem Meer zu fischen, ehe er womöglich nach ihr hätte tauchen müssen.

Warum also sah sie ihn jetzt an, als wäre er der Teufel persönlich?

„Ich bin Lina. Lina Girard“, stellte sie sich vor und reichte ihm die Hand.

Der Name kam ihm bekannt vor. Er brauchte einen Moment, aber dann dämmerte es ihm. Lina, die kleine Lina von nebenan. Die Lina, mit der er als Kind in den Sommerferien immer gespielt hatte. Mit der er im Meer geschwommen war, vom Deck der Jacht seines Großvaters ins Wasser gesprungen war, nur um zu sehen, ob sie es sich ebenfalls trauen würde. Mein Gott, wie hatte sie sich verändert! Sie war eine richtige Schönheit geworden.

„Lina!“, rief er freudig, trat auf sie zu und umarmte sie stürmisch.

Wortlos ließ sie es über sich ergehen, ohne seine Umarmung zu erwidern.

„Seit wann bist du hier? Wie geht es dir? Und was machst du überhaupt hier?“ Er wollte so vieles wissen, aber Lina schien seine Begeisterung nicht zu teilen. „Alles okay?“, fragte er daher.

„Ja, alles bestens“, erwiderte sie. „Ich bin nur klatschnass und friere ein bisschen.“ Sie deutete an sich hinab und dann auf ihn, da sein T-Shirt durch die Umarmung ebenfalls nass geworden war.

„Natürlich. Entschuldige.“ Er sollte sie schleunigst ins Trockene bringen. „Wohnst du bei Zoé?“ Er blickte hoch zum Anwesen der älteren Dame, auch wenn man von hier aus nicht allzu viel davon erkennen konnte.

Lina nickte.

„Dann komm.“ Ohne zu fragen, nahm er ihre Hand und führte sie die Stufen hinauf. Wie oft waren sie früher gemeinsam hier entlangmarschiert. Ständig rauf- und runtergelaufen und hatten Zoé und seinen Großvater wahnsinnig gemacht, weil keiner je wusste, wo genau sie sich aufhielten. Aber sie beide hatten den Spaß ihres Lebens. Zumindest galt das für ihn. Leider waren sie irgendwann zu alt für die Kindereien gewesen und hatten sich aus den Augen verloren.

Er half Lina die letzten Stufen hinauf, bis sie auf Zoés Terrasse standen. Hier sah es völlig anders aus als in seinem Garten. Die Steinplatten waren sicher seit fünfzig Jahren nicht mehr ausgetauscht worden. Überall standen Kübel mit wild wuchernden Pflanzen. In der Ecke rundete ein einfacher Metalltisch mit zwei Stühlen die idyllische Gartenromantik ab. Auch wenn Zoés Anwesen allmählich in die Jahre kam, so besaß es unweigerlich noch immer eine Menge Charme.

„Danke“, murmelte Lina und sah ihn dabei kaum an. Offenbar war ihr die Begegnung unangenehm, obwohl er nicht genau wusste warum. „Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte“, sagte sie.

„Schon gut“, erwiderte er. „Ich war nur zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort.“

Der Träger ihres Kleides rutschte ihr über die Schulter und lenkte seine Aufmerksamkeit auf ihre Haut, die zart und weich aussah. Der Duft des Salzwassers in ihren Haaren stieg ihm in die Nase, und sein Blick verfing sich in ihren Augen. Die Erinnerung an die kleine Lina verblasste mehr und mehr. Zurück blieb das Bild dieser wunderschönen, verletzlich wirkenden jungen Frau.

Er musste schlucken, um wieder Herr seiner Sinne zu werden und sich daran zu erinnern, wo und mit wem er hier war. Er sollte sich zusammenreißen und nicht wegen ein paar schönen Augen derart ins Schwärmen geraten. Immerhin kannte er Lina im Grunde sein ganzes Leben.

„Du solltest hineingehen und dich umziehen, ehe du dich noch erkältest.“

Sie nickte, rührte sich aber nicht.

„Lina?“

Eine Frau trat auf die Terrasse. Zoé. Er erkannte sie sofort wieder, auch wenn er sie in den letzten Jahren nur sehr selten gesehen hatte.

Zoé blickte verwundert zwischen ihnen hin und her. Dann registrierte sie Linas nasse Haare und das Kleid. Verwirrt starrte sie ihn an. „Maxime? Was ist passiert?“

„Ich hab nicht aufgepasst und bin ins Wasser gefallen“, erklärte Lina.

„Bist du verletzt?“

„Nein, nein. Mir geht’s gut.“

Mit hochgezogener Augenbraue sah Zoé wieder zu Maxime, als wollte sie eine Erklärung hören, wie er in die Geschichte passte.

„Er hat mir rausgeholfen“, ergänzte Lina, ehe er etwas sagen konnte. „Ohne ihn wäre ich womöglich … also hätte das Ganze …“ Sie seufzte, holte tief Luft und gestand schließlich: „Er hat mich gerettet.“

„Gerettet?“ Zoé riss die Augen auf.

„Das Wasser, die Wellen, also …“

„Sie hatte Schwierigkeiten, allein aus dem Meer zu kommen. Und ich war nur zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort. Ich hab von meiner Terrasse aus das Unglück beobachtet und war schnell zur Stelle.“

Kopfschüttelnd musterte Zoé Lina. „Da lässt man dich für einen Moment allein. Dabei bist du doch erst wenige Stunden hier!“

„Es war ja keine Absicht. Ich wollte nur die Zehen ins Wasser tauchen.“

Maxime musste schmunzeln. Die Szene erinnerte ihn sehr an ihre Kindheit. Damals hatten sie sich auch stets wegen einer Dummheit gegenüber Zoé oder seinem Großvater verteidigen müssen. „Der Wind weht heute ungewöhnlich stark“, half er ihr.

„Der Wind. So, so.“ Zoé beäugte ihn kritisch, ließ seine Erklärung aber unkommentiert. „Ist wirklich alles okay?“, fragte sie Lina schließlich in einem weit sorgenvolleren Tonfall.

„Ja, ich hab mir nur ein bisschen das Bein und den Rücken aufgeschrammt. Sonst ist nichts passiert.“

„Dann geh dich besser schnell umziehen, ehe du dir noch den Tod holst.“

Beide Frauen sahen zu ihm, und plötzlich kam er sich fehl am Platz vor. „Dann werde ich euch jetzt allein lassen. Ihr habt sicher zu tun.“ Mit Sicherheit musste Lina noch ihre Koffer auspacken, wenn sie gerade erst eingetroffen war.

Zoé nickte. „Aber ich bestehe darauf, dass du heute zum Abendessen vorbeikommst. Als kleines Dankeschön dafür, dass du Lina gerettet hast.“

„Oh“, war alles, was ihm im ersten Moment über die Lippen kam. Damit hatte er nicht gerechnet. Zwar weilte er öfter am Cap Ferrat, aber Zoé hatte ihn in den letzten Jahren nie zu sich eingeladen. Gelegentlich waren sie sich bei einem Spaziergang über den Weg gelaufen, hatten nett miteinander geplaudert, aber ansonsten keinen näheren Kontakt zueinander gepflegt. Dass sie ihn jetzt so unverblümt zu sich einlud, überraschte ihn.

„Bist du sicher? Das ist immerhin Linas erster Abend hier.“

„Natürlich bin ich sicher.“

Er blickte zu Lina, um zu sehen, was sie von dieser Idee hielt. Wirklich begeistert schien sie allerdings nicht zu sein.

Dennoch sagte sie tapfer: „Ein gemeinsames Abendessen wäre schön.“

„Also gut“, erwiderte er. „Dann nehme ich die Einladung gerne an.“

„Sehr gut.“ Zoé klatschte in die Hände und strahlte. „Um halb acht. Und sei pünktlich.“ Warnend hob sie den Zeigefinger.

„Oui, Madame.“ Beinahe hätte er salutiert.

2. KAPITEL

Lina strich das Tischtuch glatt und stellte die Teller darauf ab. Da sich die Wolken immer noch nicht verzogen hatten, planten sie, im Esszimmer zu speisen.

Zoé nutzte nur noch wenige Räume der Villa, auch das Esszimmer wirkte verwaist, deshalb hatte Lina vorhin noch mehrere blühende Magnolienäste aus dem Garten geholt und in drei Vasen verteilt im Raum aufgestellt. Der Putz bröckelte an manchen Stellen von den Wänden, und die Möbel knarzten verdächtig. Aber gerade das verlieh der Villa einen gewissen Charme. Zudem wusste Lina, dass Zoé das Geld fehlte, um größere Renovierungsarbeiten durchführen zu lassen. Einzig auf die Hilfe der Putzfrau würde sie wohl nie verzichten.

Gewissenhaft polierte Lina die Weingläser und legte das Besteck neben die Teller. Zoé hatte nicht verraten, was genau sie in der Küche zauberte, aber da die Freundin ihrer Mutter schon früher immer gern gekocht hatte, freute sich Lina auf das Essen. Viel zu lange hatte sie schon keine original mediterrane Mahlzeit mehr genossen.

Kurz darauf kam Zoé herein und stellte einen Krug Wasser auf den Tisch. „Ich hoffe, Maxime stellt keine allzu großen Ansprüche an das Essen. Ich bin sicher, er ist normalerweise eine etwas andere Küche gewohnt.“

„Was hast du denn gekocht?“

„Ach. Nichts Besonderes. Als Vorspeise Pissaladière und danach einen großen Topf Miesmuscheln.“

„Das klingt doch lecker.“ Lina konnte es kaum erwarten, endlich wieder in einen typischen südfranzösischen Zwiebelkuchen zu beißen.

Zoé zuckte ungerührt mit den Schultern, verließ kurz den Raum, um mit einer Flasche Weißwein und einem Weinkühler wiederzukommen. Aus einer Anrichte kramte sie einen Korkenzieher hervor und widmete sich dem Verschluss der Flasche. „Warum wolltest du eigentlich nicht, dass Maxime mit uns zu Abend isst?“

„Aber ich war doch damit einverstanden.“ Lina fühlte sich ertappt. Denn es stimmte, sie war nicht sonderlich begeistert gewesen, als Zoé ihn zum Essen eingeladen hatte. Tatsächlich verursachte der Gedanke an ein Wiedersehen mit Max ein gewisses Unbehagen bei ihr.

Zoé musterte sie aufmerksam. „Ja, aber ein Blinder hätte gesehen, dass du aus reiner Höflichkeit zugestimmt hast.“

„Mir war nur die ganze Situation etwas peinlich.“ Dass es auch ausgerechnet Max sein musste, der sie gerettet hatte! Jeder andere wäre ihr lieber gewesen.

„Warum? Als Kinder wart ihr doch unzertrennlich.“ Zoé stellte die geöffnete Weinflasche in den Kühler und lächelte Lina erwartungsvoll an.

„Ja, aber da waren wir Kinder. Jetzt sind wir erwachsen. Aber unsere Begegnung muss auf ihn gewirkt haben, als hätte sich nichts geändert. Als wäre ich noch immer der gleiche kleine Tollpatsch von früher.“ Schon damals war er immer ihr Beschützer gewesen und hatte aufgepasst, dass sie sich bei ihren Unternehmungen nicht verletzte. Und nun ließ sie sich nach all den Jahren ausgerechnet vor seinen Augen von einer Windböe ins Meer schubsen. Seufzend stellte sie die Wassergläser neben die Weingläser und bewunderte ihr Werk.

„Dramatisierst du das jetzt nicht ein bisschen?“, fragte Zoé lachend.

Lina schüttelte den Kopf. Es war ja nicht nur das. Da gab es auch noch diesen einen Sommer, den letzten, den sie gemeinsam an der Côte d’Azur verbracht hatten, als sie vierzehn und Max siebzehn war. Der letzte Sommer, ehe Max es vorzog, seine Sommerferien woanders zu verbringen. Allein der Gedanke daran ließ ihre Wangen vor Scham glühen.

Sie blieb Zoé eine Antwort schuldig, denn im nächsten Moment läutete es an der Tür, und Zoé rauschte davon. Kurz darauf kam sie mit Max am Arm zurück.

Er sah umwerfend aus, und Lina musste bei seinem Anblick erst einmal schlucken. Bereits als Siebzehnjähriger war er groß gewachsen gewesen, aber offenbar hatte er seitdem noch ein paar Zentimeter zugelegt. Seine trainierte Figur kam in dem dünnen Leinenanzug besonders gut zur Geltung, seine sonnengebräunte Haut bildete einen Kontrast zu dem hellen Cremeton seines Hemds. Und er lächelte dieses umwerfende Lächeln, dem vermutlich keine Frau je widerstehen konnte.

Ehe sie sichs versah, trat er auf sie zu und begrüßte sie mit zwei Wangenküssen. Dabei umhüllte sie der leichte Duft seines Aftershaves, und sie musste kurz die Augen schließen. Das war Max. Ihr Max von früher.

„Ich hoffe, du hast dich von dem Schreck heute Nachmittag erholt.“

Lina nickte. „Ja, danke. War alles halb so schlimm“, erwiderte sie, obwohl ihr die Panik, die sie im Wasser ergriffen hatte, noch gut in Erinnerung war. Wäre Max nicht gewesen, hätte ihr kleiner Ausflug ganz anders enden können. Aber darüber wollte sie lieber nicht nachdenken.

Sie hoffte, ihre Befangenheit würde sich im Laufe des Abends legen. Denn im Moment konnte sie ihm kaum in die Augen sehen. Leider wurde das während des Essens nur zögerlich besser. Erst nachdem sie die warmen Pissaladière – bei denen Max Zoé versicherte, er habe noch nie so leckere gegessen – verspeist hatten, sie vor dem randvoll gefüllten Teller Muscheln saß und an ihrem zweiten Glas Weißwein nippte, entspannte sie sich allmählich und konnte die Gesellschaft, in der sie sich befand, genießen.

Max erzählte lebhaft, was er in den letzten Jahren getrieben hatte. Wie er nach seinem Wirtschaftsstudium das Familienunternehmen, das bekannt für seine hochwertig produzierten Jachten war, übernommen und erfolgreich weitergeführt hatte. Und dass ihn seine Arbeit in alle möglichen Länder verschlug, weshalb er sich umso mehr freue, endlich mal wieder an der Côte d’Azur zu sein.

„Den Tod deines Großvaters habe ich sehr bedauert“, sagte Zoé. „Ich hatte nicht gewusst, dass er krank war.“

Lina lauschte aufmerksam dem Gespräch. Sie konnte sich noch gut an Monsieur Rousseau erinnern, der stets mit einem Gehstock spazieren gegangen war. Er hatte diese strenge, aber liebevolle Art an sich gehabt, die einem Respekt einflößte, ohne dass man sich jedoch vor ihm fürchten musste. Max hatte ihn immer vergöttert. Sein Tod musste schlimm für ihn gewesen sein.

„Er hat nicht viel über seine Krebserkrankung gesprochen. Er hatte auch nichts dafür übrig, krank zu sein.“ Max lächelte wehmütig. „Aber sein Tod war am Ende wohl doch eine Erlösung für ihn.“

„Das tut mir aufrichtig leid“, erklärte Lina leise.

„Danke.“

Schweigend aßen sie weiter ihre Muscheln, bis Max sie plötzlich fragte: „Warum bist du eigentlich nach all den Jahren ans Cap Ferrat zurückgekehrt? Um Urlaub zu machen?“

Augenblicklich flutschte Lina die Muschel aus der Hand, deren Fleisch sie gerade versuchte, mit einer anderen Muschel herauszuschälen. Sie landete prompt neben Linas Teller und hinterließ einen öligen Fleck auf der Tischdecke. War ja klar, dass ihr das vor aller Augen passieren musste.

„Lina ist hier, weil sie sich für ein Gemälde interessiert“, erklärte Zoé dankenswerterweise.

„Ein Gemälde?“ Max riss verwundert die Augen auf.

Lina nickte. „Mein Vater hat es gemalt.“ Sie nahm die Muschel hoch und tat so, als wäre nichts passiert. Dennoch spürte sie die Blicke der beiden auf sich.

„Ich wusste gar nicht, dass dein Vater so bekannt war, dass Bilder von ihm versteigert werden.“

Irritiert blinzelte Lina. Natürlich hatte Max gewusst, dass ihr Vater Künstler gewesen war, immerhin hatte sie schon als Kind immer von der großen, wahren Liebe ihrer Eltern geschwärmt und ihm alles erzählt, was sie über ihren Vater wusste. Dass er die Arbeit ihres Vaters anscheinend nie als ernsthafte Kunst betrachtet hatte, ärgerte sie.

Sie mühte sich mit der Muschel ab, doch dann entglitt sie ihr erneut und landete dieses Mal auf dem Boden. Genervt warf sie ihre Serviette neben den Teller und sagte: „Ich glaube, ich bin satt.“

Max und Zoé mussten sichtlich ein Lachen unterdrücken, was Lina nur noch mehr ärgerte. Max schien es zu bemerken und kehrte zum ursprünglichen Thema zurück. „Grand-papa war Kunstexperte. In den letzten Jahren seines Lebens wurde es eine regelrechte Besessenheit. Er kannte vermutlich alle Künstler, die je gelebt haben“, erklärte er lächelnd.

„Vielleicht kannst du ihr ja behilflich sein!“ Zoé strahlte sie beide an.

„Inwiefern?“, wollte Max wissen.

„Lina hat sich in den Kopf gesetzt, dieses Gemälde zu ersteigern. Dabei hat sie keine Ahnung, wie so etwas abläuft.“

Lina warf Zoé einen warnenden Blick zu. Musste sie denn alles ausplaudern?

„Was denn? Er ist Geschäftsmann und kennt sich in der Kunstbranche sicher besser aus als du“, verteidigte sich Zoé.

„Das heißt noch lange nicht, dass du ihn über alles in Kenntnis setzen musst.“

„Er kann dir vielleicht helfen.“

„Ich will seine Hilfe aber nicht.“

„Jetzt sei doch nicht so stur. Du bist immerhin vor, dein ganzes Geld für dieses Bild auszugeben. Dabei weißt du noch nicht einmal, ob das Bild das enthält, wonach du immer gesucht hast.“

„Trotzdem muss ich es versuchen.“

„Dann lass dir zumindest von ihm helfen!“ Mit ausgestreckter Hand deutete Zoé auf Max.

„Er hat doch aber gar nicht gesagt, dass er mir helfen will.“

„Also ich bin gern behilflich“, sagte Max in völlig neutralem Tonfall.

„Siehst du!“, rief Zoé triumphierend.

Das konnte doch nicht ihr Ernst sein! Lina hatte ja gewusst, dass sie nichts von ihrem Vorhaben hielt. Aber dass sie ihr so in den Rücken fallen und ihr einen Babysitter an die Seite stellen würde, hatte sie auch nicht erwartet. Wütend sprang sie auf und verließ den Raum.

Die Angelegenheit mit dem Gemälde bedeutete ihr viel. Ihr ganzes Leben hatte sie davon geträumt, endlich dieses Bild in den Händen zu halten. Sie hatte nie erfahren, was es hieß, Eltern zu haben, die sich gemeinsam liebevoll um einen kümmerten, denn ihre Eltern hatten sich schon getrennt, als sie noch ein Baby war. Zudem war ihr Vater wenige Jahre später gestorben.

Ihre Mutter hatte ihr dennoch versichert, dass sie ein Kind wahrer Liebe sei. Immer wenn sie ihr ein Märchen vorlas, erzählte sie zugleich auch von ihrer romantischen Liebe zu Linas Vater. Die Niedertracht ihrer Großeltern väterlicherseits hatte angeblich zur Trennung geführt, aber ihr Vater sollte einen Beweis für die innige, immerwährende Liebe zu ihrer Mutter hinterlassen haben. Auf der Rückseite eines Gemäldes.

Und nach diesem Beweis strebte Lina schon ihr ganzes Leben. Immer, wenn sie die Eltern anderer gesehen hatte, wie sie Händchen haltend die Straße mit ihren Kindergartenfreunden entlangspaziert waren, dieselben, die dann voller Stolz bei den Schulaufführungen ihren Klassenkameraden zujubelten, rief sie sich in Erinnerung, dass auch sie ein geliebtes Wunschkind war. Dass es da draußen einen Beweis dafür gab und dass sie ihn eines Tages finden würde.

Und jetzt war es so weit.

Dafür würde sie keine Hilfe brauchen. Schon gar nicht von Max.

Nein, sie würde das allein schaffen.

Max lächelte Zoé zaghaft zu, die Lina seufzend hinterherstarrte.

„Jetzt bin ich wohl zu weit gegangen“, sagte sie und erhob sich. „Ich sollte nach ihr sehen.“

Max stand ebenfalls auf. „Nein, lass nur. Ich gehe.“ Warum genau es ihm ein Bedürfnis war, sich um Lina zu kümmern, hätte er nicht genau sagen können. Aber er wollte wissen, dass es ihr gut ging, und noch einmal mit ihr über diese Versteigerung sprechen. Vielleicht konnte er ja doch helfen.

„Bist du sicher?“

„Ja, bin ich“, antwortete er und eilte hinter Lina her, ehe Zoé ihn hätte aufhalten können. Er sah sich rasch in den angrenzenden Räumen um und entdeckte Lina schließlich auf der Terrasse. Dort stand sie vom Haus abgewandt und blickte auf das Meer hinaus.

Ihre blonden Haare flatterten im Wind, und sie schlüpfte in ihre dünne Strickjacke, um der abendlichen Frische zu trotzen. Der Anblick rührte ihn. Sie hatte etwas Verletzliches, Unschuldiges, das bei ihm unweigerlich den Beschützerinstinkt wachrief.

Dabei hatte er nie viel von dem Gedanken gehalten, für eine Frau sorgen zu müssen. In der Regel verabredete er sich mit starken Frauen, die nie seiner Hilfe bedurften. Lina wirkte hingegen, als hätte sie Hilfe dringend nötig. Er täte also gut daran, sich von ihr fernzuhalten. Sich nicht derart von ihr angezogen zu fühlen, dass er den unbändigen Wunsch verspürte, zu ihr hinzugehen und sie in den Arm zu nehmen.

Dennoch trat er näher. Er räusperte sich, damit sie sich seiner Anwesenheit bewusst wurde.

Erschrocken wandte sie sich um. Die Verärgerung war ihr anzusehen. „Was willst du?“

„Nichts“, erwiderte er und machte noch einen Schritt auf sie zu. „Ich wollte nur sichergehen, dass es dir gut geht.“

„Mir geht es gut. Dann kannst du mich ja jetzt wieder allein lassen.“ Mit störrischer Miene drehte sie sich wieder um und schaute auf das Wasser.

Er stellte sich neben sie, achtete aber auf genügend Abstand, um sie nicht zu verschrecken. „Vielleicht willst du über das Gemälde reden?“

„Wozu? Damit du mir auch noch sagst, wie bescheuert mein Vorhaben ist?“

„Nein, damit ich dir helfen kann.“

„Ich brauche deine Hilfe nicht.“

Er lächelte. Irgendwie fand er ihren Starrsinn süß. Er trat an das Geländer der Terrasse und lehnte sich mit der Hüfte dagegen. Bei dem knarzigen Geräusch, das der Balken von sich gab, konnte er nur hoffen, dass es nicht nachgab und er in die Tiefe stürzte. „Mein Großvater hat eine eigene Kunstsammlung in seiner Villa, die nach seinen Angaben aber noch nicht vollständig ist. Und da mir Grand-papa sehr wichtig war, habe ich in den vergangenen Jahren an einigen Versteigerungen teilgenommen, um sein Lebenswerk zu vollenden. Wenn du also Hilfe bei einer Bildersteigerung brauchst, bin ich dein Mann.“ Grinsend klopfte er sich mit der Faust auf die Brust. Warum war es ihm so wichtig, dass Lina seine Hilfe annahm? Er war am Cap Ferrat, um Urlaub zu machen, nicht um den Beschützer und Lehrmeister für eine Kindheitsfreundin zu spielen.

Dennoch war ihm klar, dass er sich mit einem Nein nicht zufriedengegeben hätte. Er wollte, dass sich Lina von ihm helfen ließ. Denn er wollte mehr Zeit mit ihr verbringen. Bei dieser Erkenntnis musste er erst mal schlucken. Er war es nicht gewohnt, um die Gunst einer Frau kämpfen zu müssen. Aber vielleicht machte gerade das den Reiz aus.

Stirnrunzelnd musterte Lina ihn. „Warum ist dir das so wichtig?“

Er zuckte möglichst ungerührt mit den Schultern. „Ich habe mir zwei Wochen Auszeit genehmigt, und ich weiß, dass mir spätestens nach zwei Tagen am Pool todlangweilig sein wird. Sei also gnädig, und lass mich dir helfen.“

Ein Lächeln schlich sich in ihr Gesicht. Ein Lächeln, das sie umwerfend aussehen ließ.

Wie hatte er nur früher tagtäglich mit ihr im Meer baden können, ohne dieses Lächeln zu bemerken? Er holte tief Luft und flüsterte: „Bitte.“

Sie schürzte die Lippen und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Aber nur, wenn du mir versprichst, dass du mir die ganze Sache nicht ausreden willst.“

Er hob die Finger zum Schwur und erklärte feierlich: „Ich verspreche es.“

„Also gut“, sagte sie und strich sich die Haare hinter das Ohr. „Dann will ich dich mal in die ganze Angelegenheit einweihen.“ Ohne auf ihn zu achten, schlenderte sie über die Terrasse zu der Steintreppe, die zum Meer hinabführte. Stufe für Stufe ging sie hinunter.

Er folgte ihr, und als sie den gepflasterten Wanderweg erreichten, hakte sie sich bei ihm unter, und sie spazierten langsam die Küste entlang.

Er genoss ihre Nähe, während er darauf wartete, dass sie ihm von ihrem Plan berichtete. Die Wellen schlugen kraftvoll gegen die rauen Felsen neben dem befestigten Weg, und der Wind trieb die feinen Tropfen zu ihnen herauf. Er liebte dieses Schauspiel, und dass er es gerade mit Lina zusammen erlebte, erfüllte ihn mit einer bemerkenswerten Zufriedenheit.

„In erster Linie bin ich an einer Widmung interessiert, die sich auf der Rückseite des Bildes befindet.“

„Okay. Und wo ist das Problem?“

„Ich komme erst an die Widmung heran, wenn das Gemälde mir gehört.“

„Warum? In aller Regel kann man die Kunstgegenstände im Vorfeld einer Versteigerung begutachten. Da solltest du dir auch diese Widmung ansehen können.“

Sie schüttelte den Kopf. „So einfach ist es nicht. Diese Widmung war nur für meine Mutter bestimmt. Mein Vater hat das Bild für sie gemalt und wollte es ihr als Abschiedsgeschenk überreichen. Aber meine Großeltern sind dahintergekommen und haben das Gemälde abgefangen. Da mein Vater so etwas befürchtet hatte, hat er die Widmung versteckt. Sie wird erst sichtbar, wenn man Wasser über das Bild gießt.“

„Du willst mir damit sagen, dass du erst an diese Widmung kommst, wenn du das Gemälde zerstörst?“ Die ganze Geschichte kam ihm reichlich absurd vor, und allmählich begriff er, warum Zoé so wenig von Linas Vorhaben hielt.

„Ja, genau. Aber zuerst muss ich es kaufen.“

„Und wie viel soll das Bild wert sein?“

„Das weiß ich noch nicht. Aber ich habe all mein Erspartes und die kleine Erbschaft meiner Mutter zusammengekratzt, in der Hoffnung, dass es reichen wird.“

„Moment.“ Er blieb stehen und wartete, bis sie sich ihm zuwandte. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein. „Du willst dein ganzes Geld in ein Bild investieren, das du am Ende zerstörst, um an eine Widmung zu kommen, die womöglich gar nicht existiert?“

„Ja“, antwortete sie, ohne mit der Wimper zu zucken.

In seinen Augen war das Ganze kompletter Unsinn, und am liebsten hätte er ihr das auch gesagt. Einzig sein Versprechen von vorhin, dass er nicht versuchen würde, es ihr auszureden, hielt ihn davon ab. „Ich verstehe, warum Zoé ihre Probleme mit diesem Plan hat.“

„Es ist mein Geld und mein Leben.“ Mürrisch wandte sie sich um und setzte den Spaziergang fort.

Fasziniert starrte er ihr hinterher. Es war ein Bild für die Götter, wie sie an der felsigen Küste entlangging, die grauen Wolken am Himmel und das aufgewühlte Wasser neben sich. Das wäre ein Gemälde wert gewesen!

Mit schnellen Schritten holte er sie wieder ein und lief an ihrer Seite. „Aber warum ist dir das so wichtig? Warum dieser Aufwand?“

„Weil diese Widmung der Beweis ist“, antwortete sie, als würde dies alles erklären.

„Der Beweis wofür?“

„Dass sich meine Eltern geliebt haben.“

3. KAPITEL

Lina streifte sich ihr lavendelfarbenes Sommerkleid glatt und hüpfte fröhlich über die Stufen hinunter in den Wohnbereich zu Zoé. Sie hatte sich für heute mit Max verabredet, um gemeinsam nach Monte Carlo zu fahren und einen Blick auf das Gemälde zu werfen, das in der Außenstelle des Auktionshauses Artcurial zur Besichtigung ausgestellt war.

„Du siehst umwerfend aus!“ Zoé fasste sie an der Hand und ließ sie eine Drehung machen. „Max wird hingerissen sein.“

Lina strafte sie mit einem strengen Blick. „Deshalb trage ich das Kleid nicht.“

„Natürlich nicht.“ Zoé grinste breit. „Wie lange wirst du weg sein?“

Lina zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vermutlich den ganzen Tag.“ Sie hatte die Planung des Ausfluges Max überlassen, zumal sie tatsächlich kaum etwas über Versteigerungen und die Gepflogenheiten in Auktionshäusern wusste.

„Dann genießt es, und ruf einfach an, wenn du wieder auf dem Rückweg bist.“ Zoé drückte ihr einen Kuss auf die Wange und verließ den Raum.

Lina sah ihr lächelnd hinterher. Seit Zoé wusste, dass sie Max’ Hilfe angenommen hatte, nahm sie die ganze Angelegenheit um vieles gelassener. Jetzt schien sie das Unterfangen sogar gutzuheißen, wobei Lina vermutete, dass Zoé in erster Linie gefiel, dass sie Zeit mit Max verbrachte.

Sie schnappte sich den Sonnenhut von der Garderobe und trat ins Freie. Die kurze Schlechtwetterfront von gestern war inzwischen vorbeigezogen und hatte der mediterranen Sonne Platz gemacht. Diese schien mit voller Kraft und wärmte Lina augenblicklich das Gesicht. Gut gelaunt schlenderte sie die schmale asphaltierte Straße hinüber zu Max’ Anwesen.

Früher war sie über die Gartenhecke gesprungen, wenn sie Max besucht hatte. Inzwischen umrundete aber eine hohe Betonmauer das Grundstück, sodass sie den offiziellen Weg wählen und sogar den Klingelknopf am Eingangstor betätigen musste. Das eiserne Tor öffnete sich, und sie sah, dass ein Angestellter ihr bereits die Eingangstür der Villa offenhielt.

Der Weg zum Haus war säuberlich gepflastert, die angrenzenden Hecken ordentlich gestutzt, und die Fassade des Gebäudes wies keinerlei Verwitterungsspuren auf. Das ganze Erscheinungsbild unterschied sich sehr von Zoés Villa und wirkte auf Lina beinahe etwas furchteinflößend.

Sie grüßte den Angestellten, der hinter ihr die Tür schloss und ihr erklärte, dass Max sie auf der Terrasse erwarte. Er bedeutete ihr den Weg durch die Eingangshalle und ließ ihr den Vortritt. Obwohl sie flache Schuhe trug, verursachten diese bei jedem Schritt ein klackerndes Geräusch auf dem harten Marmorboden. Die Einrichtung wirkte kühl. So gänzlich anders als bei Zoé, wo alles ein bisschen unordentlich herumstand und hinter den Kommoden eine gewisse Staubschicht zu erwarten war. Hier hätte man vom Fußboden essen können.

Am Ende des Ganges trat sie ins Freie und entdeckte sofort Max, der mit einer Zeitung und einer Tasse Kaffee an einem kleinen Tisch saß. Als er sie sah, lächelte er, legte die Zeitung beiseite und erhob sich. „Guten Morgen, Lina.“

„Guten Morgen“, erwiderte sie zaghaft. Obwohl er eine legere Leinenhose und ein hochgekrempeltes weißes Hemd trug, wirkte seine Erscheinung in diesem Umfeld einschüchternd auf sie. Nun konnte sie ihn sich viel eher als einen harten Geschäftsmann vorstellen. Er passte perfekt in die sterile, luxuriöse Umgebung, während sie sich völlig fehl am Platz fühlte.

Das Restaurant, in dem sie in London als Kellnerin gearbeitet hatte, war zwar kein Schnellimbiss, aber es war auch kein Lokal, in dem die oberen Zehntausend verkehrten. Daher wusste sie nicht genau, wie sie sich verhalten sollte.

„Setz dich doch“, bot ihr Max an und lächelte dabei so freundlich, dass ihr etwas leichter ums Herz wurde. „Willst du auch einen Kaffee?“

„Ein Wasser reicht völlig.“ Kurz darauf brachte ihr der Angestellte auch schon ein gekühltes Glas. „Du hast es schön hier.“ Lina deutete über die Terrasse. Dann verharrte ihr Blick auf dem Mittelmeer, das in seiner vollen Pracht vor ihnen lag. In der Ferne zog ein Schiff vorbei, ansonsten blieb das azurfarbene Wasser ruhig. Würde sie in dieser Villa wohnen, würde sie den ganzen Tag diesen Anblick genießen.

„Ich komme auch immer wieder gern hierher.“ Mit einem kräftigen Schluck leerte er seine Kaffeetasse und schob sie beiseite. „Manches hat sich seit früher verändert. Es ist nicht mehr alles so offen, viele Grundstücke sind nun eingezäunt. Das schränkt auch ein.“

Lina nickte. Sie verstand, was er sagen wollte. Als Kinder waren sie ungehindert in der Gegend herumgeirrt. „Um die Sommer, die ich hier verbracht habe, haben mich immer alle Schulfreunde in England beneidet.“

„Ich habe jeden Sommer darauf gewartet, dass du kommst.“

Zaghaft lächelte sie. Denn sie erinnerte sich auch an jenen Sommer, an dem sie darauf gewartet hatte, dass er auftauchte. Aber er kam nicht mehr. Kein Wort des Abschieds, kein Wort der Erklärung. Sie holte tief Luft und fragte dann: „Wie lange werden wir bis nach Monaco brauchen?“

„Wenn wir schnell sind, etwa dreißig Minuten.“

„Dann sollten wir los.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, erhob sie sich. Plötzlich hatte sie es eilig, von hier fortzukommen. Sie wollte nicht länger in Kindheitserinnerungen schwelgen. Nein, sie wollte lieber in die Zukunft blicken und sich darauf konzentrieren, warum sie hier war. Wegen ihres Vaters. Und nicht wegen Max.

Max geleitete sie durch das Haus zur angrenzenden Garage. Früher war es ein einfaches Gebäude gewesen, in dem höchstens ein Auto Platz gehabt hatte. Heute war es eine kleine Halle, in der problemlos drei Autos nebeneinanderstanden. Max ignorierte die zwei SUVs und marschierte zielgenau auf ein kleines rotes Cabrio zu. Mit dem Funkschlüssel entriegelte er den Wagen, dann öffnete er galant die Beifahrertür und hielt sie für Lina auf.

Obwohl sie es nicht gern zugab, musste sie eingestehen, dass das Cabrio zu Max passte. Es war genauso schnittig und makellos wie er. Grinsend ließ sie sich auf den Beifahrersitz gleiten.

Wenige Minuten später manövrierte Max sie durch die schmalen Gassen des Cap Ferrats, bis sie auf die viel befahrene Küstenstraße abbogen, die sie nach Monaco führen würde. Der Fahrtwind zerzauste Linas Haare, und sie musste ihren Sonnenhut mit beiden Händen festhalten, um ihn nicht zu verlieren. Schweigend genoss sie die Fahrt, während sie die überwältigende Kulisse der Côte d’Azur bewunderte.

„Hast du dir eigentlich überlegt, was du machst, wenn dein Geld nicht ausreicht?“, fragte Max in die Stille.

Sie wandte den Kopf und sah ihn an. Eigentlich widerstrebte es ihr, ihn über ihre genaue finanzielle Lage aufzuklären, aber da er ihr seine Freizeit opferte und sie zum Auktionshaus begleitete, hatte sie wohl kein Recht, daraus ein Geheimnis zu machen. „Ich habe noch fünfzigtausend Pfund aus der Erbschaft meiner Mutter und etwa sechstausend, die ich selbst gespart habe. Das sollte doch reichen, oder?“

Max zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich. So bekannt war dein Vater schließlich nicht.“

Beruhigt lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück. Seit sie Max erlaubt hatte, ihr bei der Angelegenheit beizustehen, dachte sie sehr viel gelassener und optimistischer an die Versteigerung. Verstohlen betrachtete sie ihn von der Seite.

Er hatte ein markantes Profil, wache Augen, denen nichts zu entgehen schien. Obwohl der Gedanke, dass er ab sofort wieder ständig in ihrer Nähe sein würde, sie zunächst beunruhigt hatte, musste sie jetzt zugeben, dass es auch durchaus Vorzüge hatte. Max war ein gut aussehender Mann, zudem schien er zu wissen, was er wollte. Und im Moment wollte er ihr helfen, was ihn unweigerlich sympathisch machte.

Ihr Blick fiel auf seine Hände. Mit seinen schlanken Fingern hielt er das Lenkrad fest umklammert. Sie mochte Männer mit gepflegten Händen, das war schon immer so gewesen. Dabei war ihr nicht ganz klar, ob dieser Umstand schlicht daher rührte, dass sie schon damals seine Hände bewundert hatte. Vielleicht suchte sie dieses Merkmal bei jedem neuen Mann in ihrem Leben, weil Max ihre erste große Liebe gewesen war.

Max spürte Linas Blick auf sich und lächelte in sich hinein. Er freute sich über ihr offensichtliches Interesse, denn ihm erging es nicht anders. Am liebsten hätte er sie die ganze Zeit angestarrt und jede Kleinigkeit an ihrer Erscheinung in sich aufgesogen. Es hatte ihn schon lange keine Frau so sehr fasziniert. Ob es nur daran lag, dass er sie von früher kannte, oder an ihrer angenehmen Art, war ihm letztlich egal. Er genoss die gemeinsame Zeit mit ihr.

Die Besichtigung des Gemäldes sollte nicht allzu lange dauern. Sie würden die Informationen, die sie benötigten, rasch erhalten, und dann hätten sie noch den gesamten Nachmittag zur Verfügung. Er hatte keinesfalls vor, sie unmittelbar danach zurück zu Zoé zu bringen.

Die wärmende Sonne auf der Haut und den Fahrtwind in den Haaren fuhren sie den Rest der Strecke schweigend die Küste entlang. Obwohl er den Blick auf das azurblaue Meer schon so oft genossen hatte und selbst eine Jacht besaß, verspürte er bei der Aussicht eine tiefe innere Zufriedenheit, die ihm jedes Mal aufs Neue einen Seufzer entlockte.

Der Verkehr blieb an diesem Tag überschaubar, sodass sie zügig vorankamen und wie geplant gegen elf Uhr in Monaco eintrafen. Max hatte schon öfter im Artcurial zu tun gehabt. Für die Sammlung seines Großvaters hatte er dort bereits das eine oder andere Gemälde ersteigert. Daher manövrierte er sein Cabrio zielstrebig durch Monaco zu dem Auktionshaus, das sich nahe dem Casino befand. Er parkte das Auto in der nächstgelegenen Tiefgarage und machte sich mit Lina zu Fuß auf den Weg zum Laden.

Die Besichtigung des Nachlasses, für den sich Lina interessierte, sollte ab zehn Uhr möglich sein, sodass Max keinerlei Verzögerungen erwartete. Er führte Lina ins Gebäude, meldete sie beide an, und wenig später betraten sie die hohen Räume, in denen die Auktionsstücke ausgestellt waren.

Ihre Schritte hallten von den Wänden wider. Außer ihnen war nur ein älterer Herr anwesend, der sich für eine fast lebensgroße Skulptur interessierte. Lina blätterte hastig durch den Katalog, den ihnen die Dame an der Anmeldung gegen eine geringe Gebühr überreicht hatte. Rasch wurde sie fündig und hielt ihm aufgeregt ein Foto des Gemäldes unter die Nase.

„Das ist es!“, rief sie und sah ihn erwartungsvoll an.

Er nahm ihr den Katalog aus den Händen, um das Bild besser begutachten zu können. Schnell überflog er den Text, registrierte die Auktionsnummer und blieb schließlich beim Startpreis für die Versteigerung hängen. Zehntausend Euro. Mehr, als er erwartet hatte.

„Demnach müssten wir es wohl dort drüben finden.“ Er deutete ans Ende des Raumes und ging voraus.

Lina folgte ihm. Schließlich standen sie vor dem Gemälde, das sie im Katalog wiedererkannt hatte.

„Ist es das?“, wollte er wissen.

Sie nickte stumm. Ehrfurchtsvoll betrachtete sie das Bild. Er konnte sehen, dass dies ein besonderer Moment für sie war, also stand er die nächsten Minuten schweigend neben ihr.

Das Bild zeigte eine Stadt an der Côte d’Azur im abendlichen Licht des Sonnenuntergangs. Er hätte auf Saint-Tropez getippt, aber aufgrund der modernen Pinselführung und der leicht ab­strakten Form war er sich nicht ganz sicher. Nichtsdestotrotz faszinierte ihn das Gemälde, und er verstand, warum Linas Vater einen gewissen Ruhm als Künstler erlangt hatte. Jeder, der an der Côte d’Azur lebte, musste sofort die Stimmung und das Gefühl, die dieses Bild eingefangen hatte, erkennen.

„Glaubst du, wir dürfen die Rückseite ansehen?“, fragte sie schließlich.

„Natürlich.“ Er deutete einem der Angestellten, der sich sofort zu ihnen auf den Weg machte, und erklärte ihm ihr Anliegen, woraufhin dieser das Bild von der Wand nahm, um Lina die Rückseite zu zeigen.

Sofort streckte sie die Hand aus, um über das Papier zu streichen. Aber der Angestellte zog augenblicklich das Gemälde außer Reichweite und erklärte verärgert, dass keinerlei Berührungen erlaubt seien. Enttäuscht nickte Lina.

Die Rückseite bot nichts außer einem handgeschriebenen, kaum noch lesbaren Datum, das alles Mögliche bedeuten konnte. Max gab dem Angestellten wortlos zu verstehen, dass er es wieder zurückhängen könne, und bedankte sich.

„Glaubst du dennoch, dass dort eine Botschaft versteckt ist?“

„Auf jeden Fall!“

Max seufzte. „Das Anfangsgebot liegt bei zehntausend Euro. Selbst wenn dein Vater kein weltbekannter Künstler war, so scheint er dennoch einen gewissen Status zu genießen. Und da sonst keines seiner Bilder auf dem Markt ist, könnte es durchaus passieren, dass ein paar Interessenten zur Versteigerung kommen und den Preis ordentlich nach oben treiben.“

Unsicher blickte sie zu ihm auf. „Du meinst, ich habe womöglich zu wenig Geld?“

Er runzelte die Stirn. „Ich will nur sagen, dass bei solchen Versteigerungen alles möglich ist.“

Lina trat einen Schritt näher an das Gemälde. In der rechten unteren Ecke befand sich die Signatur ihres Vaters, die sie nun eingehend studierte. „Vielleicht kann mir Zoé notfalls etwas Geld leihen.“

Max bezweifelte dies. Zoé war offenbar kaum in der Lage, ihre Villa am Cap Ferrat instand zu halten. Wie sollte sie Lina da Geld leihen? „Vielleicht“, sagte er, weil er es nicht fertigbrachte, ihre Hoffnungen zu zerstören. Aus demselben Grund erwähnte er auch nichts von all den anderen Gebühren, die bei einer solchen Versteigerung auf einen zukamen. Auktionsgebühr, Käufergebühr und die Steuern waren nur der Anfang. Die Chancen standen gut, dass Lina mit leeren Händen die Versteigerung verließ.

„Ich werde mich noch ein bisschen umsehen“, erklärte er schließlich. „Vielleicht finde ich ja noch etwas für Grand-papas Sammlung.“

Lina nickte und ließ ihn ziehen. Er schlenderte durch den Raum, ignorierte sämtlich Skulpturen und Möbelstücke und konzentrierte sich auf die anderen Gemälde, die ausgestellt waren. Er versuchte sich daran zu erinnern, welche Künstler auf der Liste seines Großvaters noch standen, aber da er sich immer nur auf die auf dem Markt verfügbaren Bilder konzentriert hatte, konnte er sich an keinen der sonstigen Namen erinnern.

Als er die Runde beendet hatte und wieder neben Lina stand, die noch immer auf das Gemälde ihres Vaters starrte, musste er lächeln.

Erneut betrachtete auch er die gemalte Landschaft. Ihm fiel ihm auf, dass das Bild gut in die Sammlung seines Großvaters passen würde. Viele französische Künstler hatten zu jener Zeit ähnlich gemalt, deshalb war ihm der Stil sofort bekannt vorgekommen. Eigentlich merkwürdig, dass sein Großvater die Werke von Linas Vater nie auf seine Liste gesetzt hatte. Aber womöglich war er dafür doch zu unwichtig gewesen.

„Hast du etwas für die Sammlung deines Großvaters gefunden?“, fragte Lina und lächelte zu ihm auf.

Doch Max hielt den Blick weiter auf das Gemälde gerichtet. Wenn er recht überlegte, waren die wenigsten Künstler auf der Liste seines Großvaters weltbekannt. Im Gegenteil. Die meisten Bilder in seiner Sammlung waren keine zehntausend Euro wert. Was also, wenn Linas Vater doch auf dieser Liste stand und er sich nur nicht daran erinnerte? Wenn dieses Gemälde, das er betrachtete, eines derer war, die sein Großvater so verzweifelt versucht hatte, in seinen Besitz zu bringen?

„Alles in Ordnung, Max?“ Lina runzelte besorgt die Stirn. „Max?“, wiederholte sie, als er nicht reagierte.

Wie in Trance nickte er schließlich. „Ja, alles bestens.“

„Und? Hast du nun etwas gefunden?“

Unfähig, den Blick vom Bild abzuwenden, schüttelte er langsam den Kopf. „Nein, ich glaube nicht.“

„Schade“, erwiderte Lina. „Es hätte mich wirklich gefreut, wenn für dich auch noch etwas dabei rausgesprungen wäre.“

„Ja, wirklich schade.“

4. KAPITEL

„Ich hoffe, es ist für dich okay, wenn wir noch einen kleinen Ausflug machen.“ Max schaltete einen Gang höher und warf Lina ein Lächeln zu.

Sie verließen gerade Monaco, nachdem Max sie noch zum Mittagessen eingeladen hatte. Mehr als einmal hatte sie betont, dass das nicht nötig sei, aber er ließ keine Widerrede zu und bestand auf das gemeinsame Essen. Und auch wenn sie es nicht gern zugab, die Speisen waren köstlich. Als Vorspeise hatten sie sich Barbajuan geteilt, die typisch monegassischen frittierten Teigtaschen mit Spinatfüllung. Anschließend hatte Lina die beste fangfrische Dorade gegessen, die sie wohl jemals kosten würde.

„Wo soll der Ausflug denn hingehen?“, fragte sie, während sie im Ledersitz seines Cabrios tiefer rutschte, um so die Sonne besser genießen zu können.

„Ich würde gern einen Freund besuchen.“

Einen Freund? Wie geheimnisvoll. Da er sie wohl kaum mit zu einem Geschäftspartner nehmen würde, war ihr Interesse geweckt. „Und wo wohnt dieser Freund?“

Max lenkte den Wagen sicher über die kurvige Straße und sah dabei dennoch immer wieder kurz zu ihr herüber. „In Saint-Paul-de-Vence.“

Damit mussten sie einen Umweg fahren, um wieder zurück zum Cap Ferrat zu finden. Vor dem Abend würde sie kaum wieder bei Zoé sein. „Weiß dein Freund denn, dass wir kommen?“

„Ich bin sicher, er hat nichts gegen einen Überraschungsbesuch, wenn ich in so schöner Begleitung aufkreuze.“

Lina lachte, dann schloss sie die Augen, um die Fahrt zu genießen.

Ihr Leben in London fühlte sich so fern und fremd an. Die letzten Jahre waren geprägt von harter Arbeit und Rückschlägen gewesen. Ihr Job im Restaurant sollte nur eine Übergangslösung sein, bis sie genug Geld zusammen hatte, um eine Ausbildung zur Dolmetscherin zu machen. Aber dann war ihre Mutter gestorben, und plötzlich war der Wunsch, das Gemälde ihres Vaters zu erwerben, unbändig stark gewesen. Sie hatte viel Zeit und Geld investiert, um es ausfindig zu machen, und seit es durch den Tod des Besitzers in greifbare Nähe gerückt war, hatte sie sämtliche Pläne für ihre Ausbildung auf Eis gelegt. Zuerst musste sie wissen, dass ihre Kindheitsträume keine reinen Illusionen waren. Dass sie nicht nur das Produkt einer kurzen, bedeutungslosen Liebelei war.

Als Lina die Augen wieder öffnete, erstreckte sich vor ihr das kleine Städtchen Saint-Paul-de-Vence. Die mittelalterlichen Häuser drängten sich dicht auf dem Hügel, umgeben von der hohen Stadtmauer. In der Mitte des Ortes ragte der Kirchturm empor, und unter ihm glänzten die rot-braunen Dächer in der Sonne.

Der Anblick ließ sie seufzen, woraufhin Max sie mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. „Was ist los?“, wollte er wissen.

„Ach, mir wird nur bewusst, wie sehr ich den Charme der Côte d’Azur vermissen werde, wenn ich wieder zurück in London bin.“

„Wartet in London denn jemand auf dich?“

Grinsend sah sie zu ihm hinüber. „Du meinst außer meiner besten Freundin und meiner Katze?“

Jetzt lachte er ebenfalls. „Ja, außer deiner Freundin und deiner Katze.“

„Nein, da gibt es niemanden. Zumindest niemand Speziellen.“ Ihre langjährige On-off-Beziehung mit Thomas war vor drei Monaten endgültig in die Brüche gegangen, nachdem dieser es geschafft hatte, seine Sekretärin zu schwängern. Seither war ihr Interesse an Männern praktisch nicht vorhanden. Dass Max eine gewisse Anziehung auf sie ausübte, konnte sie allerdings nicht abstreiten. Zumindest freute sie sich über seine Frage nach ihrem Beziehungsstatus.

„Und wie sieht es bei dir aus?“, hakte sie nach. „Gibt es in deinem Leben jemand Besonderen?“

„Ich habe nicht genügend Zeit für eine Beziehung.“ Wieder grinste er. „Oder die Frauen waren es mir bisher nicht wert.“

Der Blick, mit dem er sie dabei bedachte, ließ sie erschaudern. Oh ja, Max übte ganz eindeutig eine Anziehung auf sie aus. Sie schluckte und sah zur Seite. Eine derartige Verwicklung konnte sie sich momentan nicht leisten. Zuerst musste sie das Gemälde in ihren Besitz bringen. Außerdem hatte Max sie in der Vergangenheit schon einmal fallen lassen. Sie war sich nicht sicher, ob sie dieses Risiko ein weiteres Mal eingehen wollte.

Dankbar atmete sie auf, als er das Cabrio auf einem Parkplatz nahe der Stadtmauer von Saint-Paul-de-Vence abstellte und sie wieder über Nichtigkeiten plauderten. Offenbar lebte hier ein alter Studienfreund von Max, den er besuchte, wenn er etwas Zeit an der Côte d’Azur verbrachte.

So liebreizend das mittelalterliche Städtchen aus der Ferne auch aussah, so wenig konnte sie sich vorstellen, dass hier einer von Max’ Millionärsfreunden wohnte. Hinter den alten Stadtmauern erwartete man weder Luxus noch Komfort.

Dennoch war Lina sofort von dem mittelalterlichen Flair hingerissen, kaum dass sie das holprige Pflaster der steilen Straße betrat, die durch die Stadtmauer ins Zentrum führte. Auf einer Wandtafel war der Grundriss des Ortes abgebildet, und sie erkannte, dass man sich kaum verlaufen konnte, da alle Wege wieder zusammenführten.

Gemächlich schlenderte sie neben Max durch die schmalen Gassen. Zahlreiche kleine Läden, in denen es pittoreske Souvenirs oder Kunstgegenstände zu kaufen gab, säumten die Straßen. Immer wieder blieb sie stehen, um in einem der Läden zu stöbern, und am Ende trug sie eine Tüte mit verschiedenen Lavendelölen und Ansichtskarten von Saint-Paul-de-Vence mit sich. Max hatte sich während ihrer Einkaufstour als erstaunlich geduldig erwiesen und schien sich über ihre kindliche Freude zu amüsieren.

„Warum kaufst du denn nichts?“, fragte sie ihn.

„Ich traue mich nicht. Wenn ich mein eigenes Lavendelöl kaufe, muss ich Madame Perrin, meiner Haushälterin, Rede und Antwort stehen. Und glaube mir, das würde keiner wollen.“

Lina lachte. „Dann lass uns wenigstens endlich deinen Freund besuchen.“

„Gute Idee.“

Er führte sie ein kleines Stück die Gasse entlang, bis sie vor einer kleinen Galerie stehen blieben, vor der zwei kleine Bistrotische standen. An einem saß ein hagerer Mann, der mit einem Kohlestift auf einem Blatt Papier zeichnete. Erst als Max’ Schatten auf ihn fiel, sah er hoch. Zunächst verärgert, aber als er seinen Freund erkannte, sprang er auf und umarmte Max.

„Das ist ja eine Freude!“ Er sah zwischen Max und ihr hin und her. „Warum hast du denn nicht gesagt, dass du kommst?“

„Weil es in aller Regel unmöglich ist, dich zu erreichen.“ Beide lachten. „Lina, darf ich dir vorstellen: Das ist mein alter Studienfreund Sebastian.“

Sie schüttelten einander die Hände und begrüßten sich.

„Und das ist Lina. Eine alte Sandkastenliebe.“

Bei den Worten stieg ihr Hitze in die Wagen.

Sebastian riss die Augen auf und pfiff durch die Zähne. „So eine Sandkastenfreundin hätte ich auch gern gehabt.“

„Ich war acht, als Max und ich uns kennenlernten. Im Sandkasten haben wir also nicht mehr viel gespielt.“

Sebastian lachte und bedeutete ihnen, auf den Stühlen an seinem Tisch Platz zu nehmen. Er eilte ins Haus und kam kurz darauf mit einer Karaffe und drei Gläsern zurück. Nachdem er allen etwas von der Zitronenlimonade eingeschenkt hatte, machte er es sich ebenfalls gemütlich.

„Erzähl“, forderte er Max auf. „Was verschlägt dich hierher?“

„Ich wollte nur nach dir sehen. Lina und ich waren in Monaco und hatten den restlichen Tag Zeit. Da habe ich vorgeschlagen, dass wir dich besuchen.“

„Und Sie haben zugestimmt?“

„Tja.“ Lina zuckte mit den Schultern. „Alte Gewohnheit. Max hat schon, als wir noch Kinder waren, unsere Abenteuer geplant.“

„Es freut mich jedenfalls, dass ihr hier seid.“

Wenig später wusste Lina, dass Sebastian und Max an der École des hautes études commerciales in Paris zusammen ihren MBA-Abschluss gemacht hatten. Auf ihre Verwunderung, dass jemand wie Sebastian ein derartiges Studium absolvierte, folgte sofort eine Erklärung.

„Mein Vater wollte das unbedingt. Dass ich die Prüfungen überhaupt bestanden habe, verdanke ich einzig Max. Ohne ihn wäre das Ganze ziemlich peinlich geworden.“

Lina lächelte. Sebastian wirkte auf sie wie der geborene Künstler. Seine schmächtige, beinahe klapprige Gestalt mit den schmutzigen Fingerkuppen passte perfekt in die malerische Szenerie der historischen Altstadt von Saint-Paul-de-Vence. Wie jemals jemand von ihm erwarten konnte, die trockene Materie der Wirtschaftswissenschaften zu studieren, war ihr ein Rätsel.

„Jetzt zieht Sebastian es allerdings vor, sich der Kunst zu widmen und Bilder zu verkaufen, anstatt in die Firma seines Vaters einzusteigen.“ Max lachte und bedachte seinen Freund mit einem liebevollen Blick. Sie schienen sich wirklich nahezustehen, was Lina überraschte. Bei Max’ extravagantem Lebensstil hätte sie dies nicht erwartet.

Die beiden unterhielten sie mit ein paar Anekdoten aus ihrer Studienzeit und schlugen dann vor, zu einem kleinen Spaziergang aufzubrechen, damit Lina den Rest des Städtchens besichtigen konnte. Sie schlenderten gemeinsam durch die schmalen Gassen, machten Fotos von ihr vor dem Brunnen und zeigten ihr die Chapelle des Pénitents Blancs. Schon lange hatte sie nicht mehr so viel Spaß gehabt.

Am anderen Ende der Stadt gelangten sie zum Friedhof, und Lina machte sich alleine auf, um zwischen den alten Gräbern zu spazieren.

Max sah Lina hinterher, die schwungvoll die Stufen zum Friedhof hinunterstieg. Ihre Haare wippten über ihren Schultern, und er hörte noch, wie sie leise vor sich hin summte, als wäre sie gerade mit sich und der Welt vollends zufrieden.

Von hier hatte man einen perfekten Ausblick auf die umliegende Gegend. Das satte Grün durchzog die hügelige Landschaft, und dazwischen lagen immer wieder vereinzelte Dörfer. Das Wetter war so klar, dass Max in der Ferne sogar noch die Küste des Mittelmeers erkennen konnte. Aber sämtliche Reize der Côte d’Azur waren nichts gegen Lina, die Max immer mehr ans Herz wuchs.

„Du grinst wie ein verliebter Teenager.“

„Was?“ Max wandte notgedrungen den Blick von ihr ab und sah Sebastian an.

„Die Frau hat dir offensichtlich ganz schön den Kopf verdreht.“

Max schob die Hände in seine Hosentaschen. „Ich habe Lina seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gesehen und erst gestern wiedergetroffen. Deine Kommentare sind also mehr als überflüssig.“

„Wenn du meinst.“ Ungerührt zuckte Sebastian mit den Schultern. „Du hast aber noch nie eine Frau mitgenommen, wenn du mich besucht hast.“

Max betrachtete erst seinen Freund, dann Lina, die gemächlich zwischen den alten Grabsteinen entlangschlenderte und die Inschriften las. Sebastian hatte recht, bisher hatte ihn tatsächlich noch nie eine Frau hierher begleitet. „Das hat nichts zu bedeuten“, erklärte er. „Es hat sich heute zufällig so ergeben.“ Das war allerdings nur die halbe Wahrheit. Er hatte Lina ohne Bedenken mitgenommen, da er gewusst hatte, dass sie den Charme des alten Städtchens zu schätzen wissen würde. Dass sie die handgefertigten Kunstgegenstände bewundern und es genießen würde, durch die alten Gassen zu schlendern. Keiner seiner früheren Bekanntschaften hätte er dies zugetraut.

Überhaupt musste er sich eingestehen, dass Lina ihn mehr und mehr faszinierte. Die vielen Jahre, in denen sie einander nicht gesehen hatten, hatten sie verändert. Sie war nicht mehr das unschuldige Mädchen von nebenan. Sie war eine erwachsene Frau mit einem bezaubernden Lächeln, die eindeutig sein männliches Interesse geweckt hatte. Mehr als einmal hatte er sich heute schon dabei erwischt, wie er auf ihren Mund gestarrt und davon geträumt hatte, ihre vollen Lippen zu küssen. Er wollte mit seinen Fingern durch ihre langen blonden Haare fahren, ihre schmale Taille umfassen und Lina an sich drücken. Ihren Körper unter seinem spüren. Dabei war er in diesen Dingen normalerweise vorsichtig. Kaum eine Frau in seiner Vergangenheit hatte während der Affäre nicht auf einen Ring am Finger gehofft, weswegen er bei neuen Bekanntschaften für gewöhnlich schnell die Fronten klärte. Er machte nie einen Hehl daraus, dass er keine Zeit hatte für eine ernsthafte Beziehung und nur ein bisschen Abwechslung wollte. Genügend Frauen gaben sich damit zufrieden. Er fürchtete nur, dass Lina nicht dazuzählte.

„Was habt ihr in Monaco überhaupt getrieben?“, wollte Sebastian wissen und riss ihn damit aus seinen Gedanken. Er setzte sich auf die alte, kniehohe Steinmauer, von der man den Friedhof und die umliegende Landschaft überblicken konnte.

„Lina will ein Bild ersteigern, das ihr Vater gemalt hat.“

„Okay. Und wo ist das Problem?“

Max blinzelte irritiert. „Wer sagt, dass es ein Problem gibt?“

Sein Freund lachte. „Du vergisst, dass ich dich kenne. Diese Sorgenfalte auf deiner Stirn sehe ich heute nicht zum ersten Mal.“

Er hätte wissen müssen, dass Sebastian ihn durchschaute. Nur wollte er nicht mit Sebastian über Lina reden. Schließlich wusste er selbst noch nicht, wohin das Ganze führen würde. Aber vielleicht konnte sein Freund ihm dennoch helfen. Immerhin war Sebastian ein Künstler und kannte sich in der Künstlerszene aus. „Lina hofft auf der Rückseite des Gemäldes eine Widmung zu finden. Diese soll aber erst sichtbar werden, wenn Wasser darüber geschüttet wird. Hast du davon schon mal gehört?“

„Du meinst so etwas wie eine Geheimtinte?“

„Schätze ja.“

Sebastian kratzte sich nachdenklich das Kinn. „Aus welcher Zeit stammt das Bild?“

„Anfang der Neunziger, vermute ich.“

„Wie alt war der Maler da? Fünf?“

„Er war eben ein verliebter Künstler“, erwiderte Max und grinste. Auch Sebastian hatte in der Vergangenheit schon seltsame Anwandlungen bewiesen, wenn es darum ging, einer Frau seine Liebe zu gestehen. Er erinnerte sich da unter anderem an ein selbst gedichtetes Lied, das sein Freund einer Auserkorenen unter dem offenen Fenster vorgetragen hatte. „Die Liebeserklärung sollte wohl für die Ewigkeit sein.“

„Aha.“ Sebastian schien nicht überzeugt.

„Gerade du solltest dafür doch Verständnis aufbringen.“

Sein Freund winkte ab. „Alte Kamellen.“

Max biss sich auf die Lippe, um nicht zu lachen. „Also, weißt du nun was?“

„Geheimtinten gibt’s wie Sand am Meer. Manche werden durch Farben sichtbar, manche durch Hitze, andere eben durch Wasser.“

„Gibt es denn irgendeine Möglichkeit, die Schrift sichtbar zu machen, ohne das Bild dabei zu zerstören?“

„Was für ein Bild ist es? Ein Aquarell?“

Max nickte.

„Dann eher nicht. Egal, was du verwendest, das Papier wird immer darunter leiden und damit das Bild. Am Ende wird es wertlos sein.“

„Verdammt“, murmelte Max. Das war nicht das, was er hören wollte. Denn wenn das Gemälde wirklich auf der Liste seines Großvaters stand, konnte er nicht zulassen, dass Lina es ruinierte. Doch wie sollte er Lina davon abhalten, ohne dass er sie zugleich gegen sich aufbrachte?

Sebastian verschränkte die Arme und musterte Max mit zusammengekniffenen Augen. „Irgendetwas entgeht mir hier doch. Was hat es mit diesem Bild genau auf sich?“

Obwohl Sebastian Zeit seines Lebens ein verträumter Künstler war, hatte Max ganz vergessen, dass er dennoch ein gutes Gespür für zwischenmenschliche Probleme besaß. Er hätte damit rechnen müssen, dass er nachhaken würde. Max griff nach einem abgebrochenen Ast, der auf der Steinmauer lag und begann, die bereits welken Blätter abzuzupfen. „Lina will das Gemälde nur wegen dieser Widmung ersteigern. Ich hege aber den Verdacht, dass Grand-papa das Bild für seine Sammlung haben wollte.“

„Und du fühlst dich deinem Großvater verpflichtet.“

„Genau.“ Sebastian wusste, wie viel ihm sein Großvater bedeutet hatte. Dass er bereit wäre, alles dafür zu geben, auch nach seinem Tod seine Wünsche zu erfüllen. Keine Frau dieser Welt könnte daran etwas ändern.

Sein Freund schwieg betreten. „Dann hast du womöglich ein Problem“, sagte er schließlich.

Im selben Moment lief Lina die wenigen Stufen wieder hoch und fragte fasziniert: „Habt ihr gewusst, dass Marc Chagall hier begraben liegt?“

Sebastian stupste sie von der Seite an. „Jetzt schrei das nicht so laut herum. Am Ende hört das noch jemand und dann steht das bald in jedem Reiseführer.“

Im ersten Moment starrte Lina ihn erschrocken an, dann lachte sie lauthals los, und Max konnte nicht anders, als sich von ihrem Lachen anstecken zu lassen. Gemeinsam schlenderten sie zurück zu Sebastians Atelier, um dort den restlichen Nachmittag zu verbringen.

Doch Max konnte einen Gedanken nicht mehr aus seinem Kopf verbannen. Sebastian hatte völlig recht.

Er hatte ein Problem.

5. KAPITEL

Zurück am Cap Ferrat stieg Lina aus dem Cabrio und folgte Max aus der Garage in seine Villa. Eigentlich gab es keinen Grund, sich für heute nicht einfach zu verabschieden, aber er hatte sie noch auf einen Drink bei sich eingeladen, und aus irgendeinem Grund hatte sie zugesagt. War es sein warmes Lächeln? War es, weil sie ihm für seine Hilfe dankbar war? Oder einfach nur, weil sie es wollte?

Lina hätte es nicht genau sagen können.

Auf der Fahrt hatte sie bei Zoé angerufen, um sie wissen zu lassen, dass sie noch ein bisschen länger bei Max blieb. Zoé schien das eher zu belustigen als zu verärgern, und sie hatte ihr eine schöne Zeit gewünscht.

Max geleitete sie auf die Terrasse, wo sie es sich auf einer der breiten Liegen gemütlich machte. Wenig später kehrte er zurück und reichte ihr ein Glas Rotwein. Er setzte sich auf die Liege neben ihr und prostete ihr zu.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass er sich umgezogen hatte. Das weiße Hemd hatte er gegen ein einfaches T-Shirt getauscht, das sich über seinen Brustmuskeln spannte. Zu gern hätte sie ihn berührt, um zu fühlen, ob seine Brust tatsächlich so stahlhart war, wie sie wirkte.

Hastig räusperte sie sich, um den Gedanken zu vertreiben. Sie musste sich dringend ablenken. „Wie kannst du nicht jede freie Minute hier sein?“, fragte sie daher, während sie auf das Wasser deutete, auf dem sich das Mondlicht brach.

„Das Unternehmen leitet sich leider nicht von allein. Und die Konkurrenz schläft nicht. Da ist eine zweiwöchige Auszeit wie diese gerade wirklich die Ausnahme.“

„Hast du nie mit dem Gedanken gespielt, sesshaft zu werden?“ Sobald sie die Frage ausgesprochen hatte, bereute sie sie bereits. Womöglich würde er sie noch missverstehen.

Max zog eine Augenbraue in die Höhe. „Nein, eigentlich nicht. Ich bin gern unterwegs. Und komme dann umso lieber wieder hierher.“

Lina nickte und nippte an ihrem Glas, ehe sie eine weitere verfängliche Frage stellen konnte.

„Und was ist mit dir? Hast du jemals mit dem Gedanken gespielt, sesshaft zu werden?“

Das Grinsen, mit dem er sie das fragte, empfand sie als Unverschämtheit, aber trotzdem konnte sie sich dem Charme, den er zugleich versprühte, nicht entziehen und musste lachen. „Definiere sesshaft“, verlangte sie.

„Na, du weißt schon“, begann er, „sich mit jemandem zusammenzutun, Wurzeln zu schlagen, ein Eigenheim und Kinder.“

„Ich schätze, dafür bin ich noch zu jung.“ Mit einem kräftigen Zug leerte sie ihr Weinglas. Langsam beschlich sie das Gefühl, dass jedes ihrer Gesprächsthemen an diesem Abend verfänglich sein würde.

Ihre Wangen glühten unter seinem intensiven Blick. Es war ihr unangenehm, und zugleich genoss sie es. Im Stillen hoffte sie sogar, er würde sich herüberbeugen, um sie zu küssen.

„Zu jung? Wie alt bist du jetzt? Vierundzwanzig?“

„Sechsundzwanzig.“

„Ist doch ein gutes Alter.“

„Wofür?“

„Für alles.“

Als er sein Weinglas beiseitestellte, musste sie schlucken. Was hatte er vor? Ihre Hand zitterte, und sie hätte sämtlichen Wein verschüttet, hätte sie ihn nicht schon ausgetrunken.

Langsam griff er nach ihrem Glas, nahm es ihr aus der Hand und stellte es neben seines. Dann umfasste er ihre Hände.

Sie konnte nicht anders, als auf ihre Finger zu starren. Zuzusehen, wie er mit seinem Daumen über ihre Haut strich, wodurch ihr Puls raste. Hätte ihr vor wenigen Tagen jemand gesagt, dass sie an der Côte d’Azur ihren Jugendschwarm wiedertreffen und mit ihm Händchen halten würde, hätte sie ihn ausgelacht. Hätte derjenige dann auch noch behauptet, dass es ihr gefallen würde, hätte sie ihn endgültig für verrückt erklärt.

Immerhin war das hier Max. Der Max, der ihr vor so vielen Jahren das Herz gebrochen hatte. Der es vorgezogen hatte, den Sommer mit einer vollbusigen russischen Milliardärserbin zu verbringen, und sie keines Blickes gewürdigt hatte. Wie konnte sie das so einfach vergessen? Nur weil er ihr bei dieser Versteigerung half?

Ruckartig erhob sie sich und entzog ihm ihre Hände. Sie brauchte Abstand. Und zwar dringend.

„Alles in Ordnung?“, wollte er wissen und stand ebenfalls auf.

„Ja. Alles bestens. Es ist nur …“ Kopfschüttelnd wandte sie sich um und ging ein paar Schritte in Richtung des Terrassengeländers.

Wie hätte sie ihm das erklären können? Du hast mir das Herz gebrochen, als ich vierzehn war. Also rühr mich jetzt nicht an. Sie wusste selbst, dass sie überreagierte.

„Lina, was ist?“, hakte er nach und stellte sich hinter sie. „Magst du mich nicht?“

Trocken lachte sie auf. Wenn es so einfach wäre!

„Hey.“ Er ergriff ihren Arm und drehte sie zu sich herum. „Wir sind zwei erwachsene Menschen, die sich zueinander hingezogen fühlen. Daran ist nichts Falsches.“

„Wer sagt, dass ich mich zu dir hingezogen fühle?“, erwiderte sie trotzig. Genau diese Arroganz hatte sie früher schon geärgert. Er hatte geglaubt, die Welt läge ihm zu Füßen. Inklusive dieser russischen Erbin.

Max grinste. „Tust du nicht?“

„Natürlich fühle ich mich zu dir hingezogen!“ Der Kerl war einfach unglaublich. „Aber darum geht’s nicht.“

„Und worum geht es dann?“

„Um Darja.“

„Um wen?“ Völlig verwirrt sah er sie an. Er hatte offenbar keinen blassen Schimmer, von wem sie sprach.

„Darja. Ihr Vater nannte sie immer Dascha. Die Tochter dieses russischen Milliardärs, der damals zu Gast bei deinem Großvater war.“ Das konnte er doch nicht vergessen haben!

„Ach, Daschenka! Die Brünette mit dem süßen Akzent.“

„Ja, genau die mit dem süßen Akzent“, höhnte sie und trat ein paar Schritte zur Seite.

„Ich versteh nicht, was Dascha mit uns zu tun hat.“

„Uns? Es gibt kein Uns! Damals hätte es ein Uns gegeben, aber du hattest ja nur Augen für deine Dascha. Ich war Luft für dich. Dabei hatte ich mich das ganze Jahr auf dich gefreut. Ich hatte mir extra von meinem spärlichen Taschengeld einen sündhaft teuren Lippenstift für dich gekauft. Aber du hast mich nicht einmal angesehen und stattdessen den ganzen Sommer mit Darja verbracht.“ Oh, Gott! Sie klang wie eine eifersüchtige Ehefrau. Dabei war die ganze Sache zwölf Jahre her. Wenn er jemals etwas für sie empfunden haben sollte, dann hatte sie es jetzt gründlich vermasselt.

Er starrte sie mit offenem Mund an. „Ich bin gerade etwas verwirrt“, sagte er schließlich. „Du willst mir also sagen, dass du damals gern mit mir zusammen gewesen wärst?“

„Ja“, erwiderte sie und verschränkte die Arme.

„Aber du warst damals höchstens zwölf.“

„Ich war vierzehn, verdammt! Vierzehn!“ Was war nur los mit dem Kerl, dass er ihr Alter nie auf die Reihe bekam?

„Und Dascha war mindestens achtzehn, und ich war …“

„Siebzehn. Du warst siebzehn“, half sie ihm.

„Genau. Ich war siebzehn.“ Er sah sie an, als wäre damit alles gesagt.

Seufzend hob sie die Hände und wandte sich um. Es war sinnlos. Er würde es nicht verstehen. Dabei hatte er sie damals wirklich gekränkt. Weil sie ihn gemocht hatte, und ihre Enttäuschung war unendlich groß gewesen.

„Warte!“, rief er ihr hinterher.

„Was?“ Sie drehte sich noch einmal um und starrte ihn genervt an. Sie wollte einfach nur noch fort.

Mit wenigen Schritten war er bei ihr. Er sah sie an und lächelte. „Du hast etwas vergessen.“

„Und was?“

„Das.“ Er legte seine Arme um ihre Taille, zog Lina an sich und küsste sie.

Sie war erst viel zu überrascht, um zu reagieren. Doch schon bald merkte sie, wie gut sich der Kuss anfühlte, und jeder Gedanke daran, sich Max zu entziehen, war verstummt.

Als Max spürte, wie sich Lina mehr und mehr dem Kuss hingab, durchflutete ihn eine große Erleichterung, und er küsste sie noch leidenschaftlicher. Obwohl er es einerseits selbst absurd fand, wie sehr er sich zu ihr hingezogen fühlte und wie schnell er ihr verfallen war, wollte er sich andererseits gar nicht dagegen wehren. Viel zu lange hatte er sich nicht mehr so lebendig gefühlt.

Seine üblichen Beziehungen zu Frauen hatten stets etwas Geschäftsmäßiges. Von Anfang an steckte er die Grenzen ab und programmierte so das Ende vor. Aber mit Lina war das anders. Er wollte mit ihr nicht über die Bedingungen ihres Beisammenseins diskutieren, ihr nicht erklären, was nie sein könnte. Er wollte sie nur in den Armen halten und davon träumen, was möglich war.

Und als er sich von ihr löste, ihr tief in die Augen sah, hatte er das Gefühl, es wäre alles möglich.

„Du bist unglaublich“, flüsterte er.

„Und du bist ungeheuerlich“, erwiderte sie lächelnd. Dann lehnte sie sich an ihn und umarmte ihn.

Er sog ihren Duft ein, während sie eine gefühlte Ewigkeit eng umschlungen auf der Terrasse standen und der Mond sein Licht auf sie warf. Diesen stillen Moment wollte Max auskosten. Alles erschien ihm perfekt. Es gab nichts, was er hätte ändern wollen.

Erst als Lina in der frischen Nachtluft fröstelte, nahm er sie an der Hand, und sie gingen gemeinsam in seine Villa. Sie setzten sich im Wohnbereich zusammen auf das Sofa im Erker und erzählten. Über ihre Erlebnisse in der Kindheit, über Darja, über den Tod von Linas Mutter und den Tod seines Großvaters.

Dabei sprach er normalerweise nie darüber. Der Verlust war noch so frisch, dass es ihm in der Seele wehtat. Auch konnte kaum jemand die innige Beziehung nachvollziehen, die er zu seinem Großvater gehabt hatte. Sein Grand-papa hatte ihn als Neunjährigen bei sich aufgenommen, nachdem seine Eltern bei dem Autounfall ums Leben gekommen waren. Aber sein Großvater hatte ihn nicht nur bei sich wohnen lassen, ihn versorgt und sich um die alltäglichen Sachen gekümmert, er hatte ihm wieder ein echtes Zuhause gegeben. Er hatte nie versucht, seine Eltern zu ersetzen, und hatte es gerade dadurch geschafft, Max’ Herz zu gewinnen.

„Du vermisst ihn sehr, oder?“

Max nickte.

Doch „vermissen“ war nicht das richtige Wort. Er spürte die Lücke, die der Tod seines Großvaters hinterlassen hatte, jeden Tag nur zu deutlich. Als er Lina wiedergetroffen hatte, wollte er instinktiv als Erstes seinem Grand-papa davon erzählen. Mit ihm darüber diskutieren, welche Wirkung Lina auf ihn hatte. Ihm von ihr vorschwärmen und sich in Träumereien verlieren. Denn sein Großvater hätte es verstanden. Er hätte gelächelt und ihn reden lassen, zu allem nur genickt, und am Ende wären seine Gefühle sortiert gewesen, und er hätte von ganz allein die richtigen Entscheidungen getroffen.

Wie zum Henker kam er nur ohne ihn zurecht?

„Er hat mir immer Halt gegeben, ohne dass ich das Gefühl gehabt hätte, er würde mir mein Leben vorschreiben.“

„Ich hatte immer großen Respekt vor ihm. Für mich war er die moralische Instanz. Wenn er etwas nicht gutgeheißen hat, dann wusste ich, dass wir mal wieder so richtig Mist gebaut hatten.“

Max grinste. „Dabei kam das so selten vor.“

„Ja, genau. Nur ungefähr ein- bis zweimal am Tag.“

Max fiel in ihr Lachen mit ein. Alles war so leicht mit ihr. Vor Lina musste er nicht ständig den harten Geschäftsmann mimen, sondern konnte auch seine verletzliche Seite zeigen. Etwas, das er bei seinen sonstigen Bekanntschaften nie wagte. Aber Lina hatte ihn schon gekannt, als er noch der verbitterte kleine Waisenjunge war, der mit sich und der Welt haderte. Sie kannte seine Geschichte besser als jeder andere.

„Willst du mir mal seine Sammlung zeigen?“

Im ersten Moment zögerte er. Die Sammlung erinnerte ihn daran, was sie beide wieder zusammengeführt hatte. Das Gemälde ihres Vaters. Das Bild, das womöglich in der Sammlung noch fehlte. Aber vielleicht irrte er sich ja. Vielleicht stand der Name des Bildes gar nicht auf der Liste seines Großvaters. Vielleicht sah er nur Gespenster.

„Natürlich“, antwortete er daher und erhob sich.

Er führte sie durch die Villa, die ihm heute ungewöhnlich leer erschien. Normalerweise mochte er das Gebäude mit seinem extravaganten Stil. Er fühlte sich hier zu Hause, und der Luxus erinnerte ihn daran, was er schon alles erreicht hatte. Aber jetzt konnte er nicht leugnen, dass etwas fehlte. Etwas, das die großen Hallen mit Leben füllte.

Der hintere Teil des Untergeschosses glich einem Museum. Hier hing die Sammlung seines Großvaters. Säuberlich aufgehängt hinter Sicherheitsglas und versehen mit einem hochtechnologischen Sicherheitssystem. Und wie in einem Museum führte er Lina herum und stellte ihr jedes der Ausstellungsstücke vor. Inzwischen kannte er die meisten Namen der Bilder und die dazugehörigen Künstler, bei manchen musste er aber noch immer die darunter angebrachte Inschrift lesen.

Sein Großvater hatte sich Zeit seines Lebens für Kunst interessiert. Aber erst in den letzten zehn Jahren war es zu einer regelrechten Besessenheit geworden. Manchmal fragte sich Max, ob er ihn zu sehr vernachlässigt hatte und er sich deshalb in diese Sammelei gestürzt hatte. Ob sein Großvater dadurch versucht hatte, etwas zu kompensieren. Aber immer, wenn er ihn zu seinen Lebzeiten darauf angesprochen hatte, hatte er es verneint. Er hatte es immer als Marotte eines alten Mannes abgetan, und Max hatte es so hingenommen.

Wenn Max heute durch die sterilen Räume spazierte, kam er nicht umhin, sich zu fragen, ob er es sich nicht zu einfach gemacht hatte, denn schließlich war das eine bequeme Antwort für ihn gewesen war. Vielleicht war das auch ein Grund, warum ihm so viel daran lag, die Sammlung für seinen Großvater zu vervollständigen – weil er das Gefühl hatte, ihm etwas schuldig zu sein. Nicht nur, weil sein Grand-papa ihn großgezogen und immer für ihn dagewesen war. Sondern eben auch, weil Max es womöglich in den letzten Jahren für ihn nicht mehr gewesen war.

„Das hier ist wohl eins der wertvollsten in der Sammlung“, erklärte Max und blieb vor einem Bild von Henri Matisse stehen. „Es heißt der Der Traum.“

Lina trat einen Schritt auf das Gemälde zu. „Das ist unglaublich. Wie kannst du nachts ruhig schlafen, wenn du weißt, dass hier ein Vermögen hängt?“

Max lachte. „Die Sammlung meines Großvaters ist in der Kunstszene im Vergleich zu anderen recht unbedeutend.“

„Aber das hier ist ein echter Matisse!“

„Von dem praktisch niemand weiß, dass ich ihn besitze.“

„Trotzdem …“, sinnierte Lina und setzte den Rundgang fort.

Lina hatte nicht unrecht. Die Sicherheit der Sammlung machte ihm manchmal ebenfalls zu schaffen. Deswegen hatte er letztes Jahr auch eine Firma beauftragt, die die gesamte Villa auf den neuesten Sicherheitsstand brachte. So leicht konnte niemand das Grundstück betreten, geschweige denn bis in diese Räume vordringen. Lina war sich bisher nur nicht bewusst, wie viele Überwachungsgeräte es in dieser Villa gab. Ihren Kuss hatten mindestens fünf Kameras mitverfolgt.

Während sie weiter die Gemälde bewunderte, bewunderte Max seinen Gast. Ihr Wiedersehen war für ihn eine Überraschung gewesen, und er freute sich wie ein kleines Kind darüber. Vor allem wollte er nicht, dass sich ihre Beziehung einzig um das Bild ihres Vaters drehte, schließlich war er sich immer noch nicht sicher, wie die Sache enden würde. Deshalb hielt er inne, lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand und verschränkte die Arme. „Hast du Lust, morgen einen Ausflug mit mir zu machen?“

„Einen Ausflug? Wohin?“

„Bekannte wollen mit ihrer Jacht von Nizza nach Saint-Tropez fahren und etwas feiern.“

„Ich weiß nicht …“ Ihre Unsicherheit war ihr anzusehen.

„Du brauchst nur einen Badeanzug.“

„Das macht es nicht besser.“

Max lachte. Dann stieß er sich von der Wand ab und kam auf sie zu. Als er direkt vor ihr stand, legte er seine Hand in ihren Nacken und zog sie an sich. „Mir zuliebe“, flüsterte er und besiegelte das Ganze mit einem innigen Kuss.

6. KAPITEL

Lina schlenderte in Zoés Küche und setzte sich an den runden Tisch, an dem Zoé bereits Platz genommen hatte. Der einfache Holztisch existierte seit Linas Kindheit, und auf der matten Oberfläche entdeckte sie mehr als einen Kratzer, den sie selbst verursacht hatte. Auch das sonstige Mobiliar hatte sich in all den Jahren kaum verändert. Lediglich die Geräte schienen neuwertiger zu sein.

In ihren roséfarbenen Morgenmantel gehüllt, saß Zoé mit einer Kaffeeschale in den Händen da und grinste Lina an. „Gut geschlafen?“

„Bestens“, erwiderte sie und zupfte ihre dünne Sommerbluse zurecht.

Zoé zog eine Augenbraue hoch und hörte nicht auf zu grinsen. „Willst du mir verraten, wo du geschlafen hast, oder muss ich erst fragen?“

Lina stöhnte auf, griff nach einem Croissant, das in dem geflochtenen Korb in der Tischmitte lag, und platzierte es auf ihrem Teller. „Nicht, dass es dich etwas angeht – immerhin bin ich erwachsen –, aber ich habe in deinem Gästezimmer übernachtet.“ Obwohl sie gestern Abend kurz davor gewesen war, die Nacht mit Max zu verbringen. Seinen Küssen hatte sie nicht widerstehen können, geschweige denn all seinen anderen Liebkosungen. Weswegen sie irgendwann auch einen Schlussstrich unter den Abend setzen musste, sich von ihm gelöst und ihm eine gute Nacht gewünscht hatte.

„Schade“, murmelte Zoé und zuckte mit den Schultern.

„Ich habe ihn erst vor zwei Tagen getroffen!“

„Na und? Ihr seid erwachsen, und das Leben ist kurz.“

Lina schüttelte den Kopf und bestrich ihr Croissant wortlos mit Marmelade. Zoé erhob sich, bereitete für sie ebenfalls einen Café au Lait zu und stellte die Schale vor ihr ab. „Danke“, sagte Lina und nahm gierig den ersten Schluck. Viel zu lange hatte sie auf einen echten französischen Milchkaffee verzichten müssen.

„Aber du magst ihn“, setzte Zoé ihr Gespräch fort.

Autor

Kate Hewitt
<p>Aufgewachsen in Pennsylvania, ging Kate nach ihrem Abschluss nach New York, um ihre bereits im College angefangene Karriere als Schauspielerin weiter zu verfolgen. Doch ihre Pläne änderten sich, als sie ihrer großen Liebe über den Weg lief. Bereits zehn Tage nach ihrer Hochzeit zog das verheiratete Paar nach England, wo...
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