Romana Extra Band 104

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SINNLICHE STUNDEN AUF SIZILIEN von ALLY EVANS

Das glitzernde Meer, der Duft wilder Kräuter … Auf Sizilien will Journalistin Megan über einen tragischen Verlust hinwegkommen. Sinnliche Stunden mit dem attraktiven Etienne versprechen neues Glück. Bis sie herausfindet, warum er wirklich auf die zauberhafte Insel gekommen ist …

FALSCHE VERLOBUNG - ECHTES VERLANGEN von TRACI DOUGLASS

Sanitäter Zac traut seinen Ohren nicht! Ausgerechnet er soll ein Wochenende lang in einem Luxusresort in Alaska den Verlobten von Hebamme Carmen spielen. Was sie nicht ahnt: Seit ihrem heißen One-Night-Stand nach der Weihnachtsfeier im Krankenhaus denkt er Tag und Nacht nur an Carmen!

HEISSE NÄCHTE, SÜSSE FOLGEN von LUCY MONROE

Fassungslos starrt Piper auf den Test: Sie ist schwanger! Was wird Zephyr dazu sagen? Der griechische Milliardär hat ihr seine Luxuswelt zu Füßen gelegt, ihr nachts den Himmel auf Erden beschert. Aber Hochzeit oder gar Familie? Daran scheint er nicht zu glauben …

WENN DIE SEHNSUCHT NIEMALS ENDET von AMY RUTTAN

Sie war die Liebe seines Lebens - bis sie eines Tages einfach verschwand. Als Jeena plötzlich vor ihm steht, glaubt Prinz Maazin zu träumen. Sofort weiß er: Er will sie noch immer! Doch warum hat sie ihn damals verlassen?


  • Erscheinungstag 16.02.2021
  • Bandnummer 104
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500203
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Ally Evans, Traci Douglass, Lucy Monroe, Amy Ruttan

ROMANA EXTRA BAND 104

ALLY EVANS

Sinnliche Stunden auf Sizilien

Wie eine Meerjungfrau taucht die bezaubernde Megan in der einsamen Bucht vor ihm auf und verdreht Immobilientycoon Etienne den Kopf. Aber sie bringt auch den wichtigsten Deal seines Lebens in Gefahr …

TRACI DOUGLASS

Falsche Verlobung – echtes Verlangen

Für ihren Traumjob gibt Hebamme Carmen den attraktiven Zac als ihren Verlobten aus – und verliebt sich prompt in den sexy Herzensbrecher. Dann findet sie heraus, dass er sie belogen hat …

LUCY MONROE

Heiße Nächte, süße Folgen

Liebe? Daran glaubt der griechische Selfmade-Milliardär Zephyr Nikos nicht. An Sex dagegen schon, vor allem mit der wunderschönen Piper. Leicht, locker, unverbindlich – bis Piper ein Baby erwartet!

AMY RUTTAN

Wenn die Sehnsucht niemals endet

Sie wollte ihn nie wiedersehen! Doch als Ärztin Jeena bei einem Hilfseinsatz in der alten Heimat auf ihre Jugendliebe Prinz Maazin trifft, spürt sie sofort, wie das alte Verlangen aufflammt …

1. KAPITEL

Verdammt, schon wieder hatte sie danebengegriffen! Megan war nicht das erste Mal mit dem Auto auf Sizilien unterwegs, aber an das Fahren auf der rechten Seite musste sie sich erst wieder gewöhnen. Das Fenster war geöffnet, der Fahrtwind trug den Duft von Sonne und Wildkräutern herein.

Megan hob den Kopf und atmete tief ein. Sie konnte es kaum erwarten, endlich in den Zauber der einsamen Traumbucht unweit von Syrakus einzutauchen, an deren Rand die verwunschene Pension stand, in der sie schon einige wunderbare Urlaube verbracht hatte. Wo, wenn nicht dort, konnte sie ihr chaotisches Londoner Leben mal für ein paar Wochen vergessen?

Wieder wollte sie auf der falschen Seite nach der Gangschaltung greifen und war für einen Moment verwirrt, als sie stattdessen die Autotür berührte. Schnell korrigierte sie den Griff, und nach ein paar Kilometern führten ihre Hände die Bewegungen endlich wie von selbst aus. Na also. Es war gar nicht so schwer, sich umzugewöhnen.

Megan hatte in ihrem fünfundzwanzigjährigen Leben schon einige Veränderungen hinnehmen müssen und wusste, dass man umso leichter mit neuen Situationen zurechtkam, je weniger man sich gegen sie sträubte.

Zufrieden schaltete sie das Radio ein. Ein italienischer Schlager ertönte: Volare. Volare hieß fliegen, das passte genau zu ihrer Situation. Sie setzte sich bequemer in den Sitz und sang das Lied mit. Die Sonne schien heiß auf das Autodach, Staub tanzte in kleinen Wirbeln auf den vorüberfliegenden Feldern, der Himmel war azurblau und wolkenlos. Megan fühlte, wie ein unbändiges Glücksgefühl in ihr aufstieg. Urlaub! Endlich! Für ganze drei Wochen konnte sie jetzt erst einmal alles hinter sich lassen.

Sie umfuhr Syrakus großzügig und folgte dann einer schmalen Landstraße. Bald erreichte sie den holprigen Feldweg, der sich zu Odettas Pension hinaufschlängelte. Der Weg war unbefestigt und voller Schlaglöcher. Am Rand wuchs allerlei trockenes Gesträuch, das knisternd am Auto vorbeistrich. Sie musste das Lenkrad mit beiden Händen festhalten.

Als sie oben auf das befestigte Plateau fuhr, federte der Mietwagen heftig. Megan ließ ihn bis an das schmiedeeiserne Geländer heranrollen, das den Platz zum Wasser hin absicherte, stellte den Motor aus und schaute durch die Windschutzscheibe. Vor ihr glitzerte das Meer. Eine schmale Felsentreppe führte hinunter zu einem weißen Strand. Das romantische Plätzchen war von hohen Felswänden umgeben, die die Sicht nach rechts und links abschirmten, sodass die Illusion völliger Abgeschiedenheit entstand.

Megan öffnete die Autotür. Die hereinströmende Seeluft fühlte sich nach der Fahrt über die staubigen Feldwege geradezu paradiesisch an. Ein leichter Wind wehte und trug den Geruch von Meer, Salz und Tang heran. Mit ihm kam das Rauschen der Wellen, die unten auf dem Sand in großen Bögen schäumend ausliefen.

Die Tür der Pension flog auf, und die siebzigjährige Inhaberin kam ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen. „Megan, meine Kleine!“, rief Odetta. „Benvenuto, Benvenuto!“ Als sie Megan erreicht hatte, strich sie ihr über die Wange, nahm ihren Kopf zwischen beide Hände und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Benvenuto, cara mia. Come stai? Tutto bene?“ Sie wollte wissen, ob alles gut war.

Megan nickte stumm und ließ sich von Odetta umarmen. Ein leises Ziehen breitete sich in ihrer Brust aus. Es war schon einige Zeit her, dass sie so warmherzig begrüßt worden war.

Der Anflug von Traurigkeit passte jedoch nicht so richtig zu diesem wunderbaren Ort. Mit etwas Anstrengung schob Megan das Gefühl beiseite und lächelte Odetta an. „Mille grazie, Odetta. Es geht mir gut“, antwortete sie und schaute sich um.

Nichts hatte sich in dem Jahr ihrer Abwesenheit verändert. Immer noch standen auf der Terrasse die erdfarbenen Kübel, in denen Blumen, Büsche und kleine Zitronenbäumchen wuchsen. Üppige Blüten rankten in überwältigender Fülle am kunstvoll geschmiedeten Gitter entlang, das den Platz zur Meerseite hin abgrenzte. Die Pergola vor dem Haus war wildromantisch zugewuchert, das Wohnhaus perfekt in seine steinerne Umgebung eingepasst.

Über der Eingangstür hing ein leicht verwittertes Holzschild, auf dem in großen handgemalten Lettern der Name der Pension stand: La Felicità. Glückseligkeit. Es war genau das Gefühl, das Megan während der ganzen Anfahrt gespürt hatte und das sie sich mit Odettas Hilfe wieder in ihr Leben holen wollte.

„Ist wirklich alles gut?“

Odettas Frage riss sie aus ihren Gedanken. Die Frau schien einen sechsten Sinn zu haben, und sie sah nicht so aus, als würde sie Megans Antwort glauben. Vor einer Woche hatte Megan ziemlich kurzfristig angefragt, ob ein Zimmer frei sei. Odetta kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie bestand jedoch nicht auf weiteren Erklärungen, sondern legte Megan in ihrer gewohnt herzlichen Art einen Arm um die Schultern und führte sie hinüber zum Haus.

Die Tür quietschte, als sie eintraten. Sofort schlug Megan der bekannte Geruch von Stein und Holz entgegen, die hier in der Seeluft stärkerer Verwitterung ausgesetzt waren. Zusammen mit dem Duft von frisch gewaschenem Leinen und den köstlichen sizilianischen Gerichten, die Odetta ihren Gästen jeden Tag servierte, bildete alles ein unvergleichliches Gemisch altvertrauter Behaglichkeit.

Megan atmete den Geruch tief ein, sah Odetta an und nickte glücklich. Sie bekam den Schlüssel zu ihrem Zimmer – es war dasselbe wie immer, mit freiem Blick auf das Meer – und stieg die alte Treppe hinauf. Das morsche Holz knarrte bei jedem Schritt und löste halb vergessene Erinnerungen an lange sternenübersäte Nächte mit Odetta auf der kleinen Terrasse vor dem Haus aus.

Oben im Zimmer waren die Fenster schon geöffnet. Frische Meeresluft wehte herein und ließ die leichten Vorhänge tanzen. Megan packte als Erstes ihre Reisetasche aus. Dann spülte sie sich unter der Dusche den Staub der Reise von der Haut. Das Duschbad duftete nach Honig und Mandel, der Schaum floss weich an ihrem Körper herab. Dem Körper, der Steve einmal heiße Versprechen wert gewesen war – mit einem Herzen, das er beinahe gebrochen hätte.

Aber nur beinahe, dachte Megan entschlossen und nahm sich fest vor, jede einzelne Minute ihres Urlaubs zu genießen. Trotz allem.

Zwanzig Minuten später stieg sie vorsichtig die schmale Felsentreppe zur Bucht hinab. Hier gab es den weißesten Sand, den Megan je gesehen hatte. Eine kleine Grotte, hoch genug gelegen, um bei Flut nicht überspült zu werden, spendete morgens und mittags bei hohem Sonnenstand angenehme Kühle. Jetzt allerdings lag der Strand im hinteren Teil schon wieder im Schatten der Felsen.

Megan legte ihr Handtuch in den Sand und rannte hinab zum Meer. Sie trug ihren neuen türkisfarbenen Bikini, der ihre Kurven durch seinen raffinierten Schnitt vorteilhaft betonte. Sie hatte keine Ahnung, wieso sie den Bikini noch kurz vor ihrer Abreise gekauft hatte. Der geplante Urlaub mit Steve fand nicht statt, der alte Bikini hätte es also auch getan.

Als sie ins Meer stieg, umhüllte sie angenehme Kühle. Der Wellengang war sanft. Megan fühlte sich frei und leicht und schwamm mit kräftigen Zügen drauflos. Das Wasser glitt frisch an ihrer Haut entlang, ringsum plätscherte es leise. Hin und wieder spritzten ihr salzige Tröpfchen ins Gesicht. Das Meer wogte sacht, und sie kam sich geborgen vor. Immer, wenn eine Welle sie hob, machte sie einen Schwimmstoß und ließ sich weitertragen.

So kam sie schnell vorwärts. Sie spürte, wie das Wasser allmählich kühler wurde, wie es sich mehr bewegte. Das Wogen wurde stärker. Die schwingende Bewegung riss sie jedes Mal ein Stück zurück und schob sie dann einige Meter nach vorn, sobald von hinten eine Welle heranrollte. Langsam wurde der Rhythmus des Meeres tiefer und kraftvoller.

Als Megan sich kurz zum Strand umdrehte, bemerkte sie erstaunt, wie weit sie sich bereits entfernt hatte. Der Wind war ablandig, er trug sie hinaus aufs Meer. Noch war sie im Bereich der Bucht, die sich jedoch schon weit öffnete. Megan fühlte Unruhe in sich aufsteigen und begann, in Richtung der Felsformation rechts von ihr zu schwimmen. Aber je näher sie herankam, umso unruhiger wurde das Wasser. Die Wellen waren hier viel stärker und schlugen hart gegen die Felsen.

Megan überlegte einen Moment. Was tun? Es wäre interessant, um die Klippen herum in die nächste Bucht zu schwimmen, doch so weit hatte sie sich noch nie hinausgewagt.

Obwohl sie eine gute Schwimmerin war, beschloss sie, bis zur Spitze zu schwimmen und dort zu versuchen, auf das Gestein zu klettern. Wenn ihr das gelang, hatte sie festen Boden unter den Füßen und konnte sich erst einmal etwas ausruhen. Sie wollte zumindest einen Blick in die angrenzende Bucht werfen, bevor sie sich wieder auf den Rückweg machte.

Als sie Kurs auf die Felsspitze nahm, entdeckte sie einen anderen Schwimmer. Er musste aus der Nachbarbucht kommend um die Felsspitze herumgeschwommen sein. Durch den starken Wellengang geriet er immer wieder aus ihrem Blickfeld, trotzdem hielt er weiter auf sie zu und winkte dabei heftig. Als er in Hörweite war, rief er Megan zu: „Attentione! Attentione, Signorina! Bleiben Sie von den Felsen weg! Hier gibt es gefährliche Strudel! Schwimmen Sie zurück!“

Er kraulte auf sie zu. War er einer der Fischer aus der Ortschaft, die sie durchfahren hatte? Geschmeidig pflügte er durch die Wellen, die braune Haut seines Rückens glänzte.

Megan trat unschlüssig Wasser, wobei sie mit den Wellen auf und ab wogte. Hier im Bereich der Felsen war der Wellengang tatsächlich ziemlich heftig. Wenn sie nicht aufpasste, konnte sie gegen das raue Gestein gespült werden.

Mit der nächsten Welle passierte es. Anscheinend hatte sie zu sehr auf den Mann und zu wenig auf die Wucht der Wellen geachtet. Eine Woge warf sie hart gegen den Felsen und drückte sie unter Wasser.

Panik stieg in ihr auf. Verzweifelt schlug sie um sich, schnappte nach Luft und fühlte, wie Salzwasser in ihren Mund drang. Gleichzeitig spürte sie, wie sich ein muskulöser Arm um sie legte. Eine kräftige Brust schob sich unter ihren Körper und hob sie hoch. Ihr Gesicht tauchte aus dem Wasser auf. Hastig atmete sie mehrmals tief ein und aus.

Der Fremde zog sie einige Meter von den Felsen weg, eher er sie losließ und in Richtung Ufer deutete. Megan nickte atemlos. Gemeinsam steuerten sie den Strand an. Es dauerte einige Minuten, bis sie flacheres Wasser erreichten und stehen konnten.

Nebeneinander wateten sie an Land. Dort lief Megan zu ihrem Handtuch und hob es auf. „Danke“, sagte sie und hielt es dem Fremden hin. „Das war sehr freundlich.“

Der Mann entgegnete nichts. Mit bloßem Oberkörper, auf dem sich Wassertropfen in glänzenden Perlen sammelten, stand er vor ihr und musterte sie interessiert. Er war einen guten Kopf größer als sie. Seine Augen waren dunkel, fast schwarz, und funkelten in der Sonne. Sein Gesicht war markant mit starken Konturen, die nassen schwarzen Haare kringelten sich hinter seinen Ohren. Megan fühlte, wie sie rot wurde. Ihr Retter sah einfach zu gut aus!

„Das war sträflich leichtsinnig“, sagte er, als sie ihn weiterhin nur anstarrte. „An den Klippen gibt es heftige Strudel. Wieso sind Sie überhaupt so weit rausgeschwommen? Das macht sonst niemand hier.“

Megan biss sich verlegen auf die Unterlippe. Bis zu jenem Moment, als er unversehens hinter der Felsenspitze aufgetaucht war, hatte sie gar nicht das Gefühl gehabt, in Gefahr zu sein. Waren die Strudel dort draußen tatsächlich so stark und sie hatte sich unwissentlich in eine gefährliche Situation gebracht? Das sah ihr eigentlich nicht ähnlich.

„Es tut mir leid“, erklärte sie, ihre Wangen glühten. „Mir war nicht klar, dass es dahinten überhaupt Strudel gibt. Sie kennen diese Gegend natürlich viel besser als ich. Wahrscheinlich sind Sie jeden Tag zum Fischfang draußen, oder?“

Der Fremde sah sie aufmerksam an. Sein Gesicht verriet nicht, was er dachte.

„Sie sind nicht von hier“, stellte er fest.

„Nein.“ Sie deutete auf die Felsentreppe, die zur Pension hinaufführte. „Ich wohne dort oben. Heute ist mein erster Urlaubstag. Ich heiße übrigens Megan.“

Der Mann nickte, während sein Blick völlig ungeniert über ihren Körper glitt. Sie schluckte. Dieser Blick war unverfroren, ja fast unverschämt. Und trotzdem war er auf eine unerklärliche Weise … aufregend.

„Und nun?“, fragte sie und sah ihren Retter herausfordernd an. „Welches Zeichen meiner Dankbarkeit erwarten Sie jetzt?“

Der Fremde lachte. Offensichtlich hatte er keine Ahnung, wie ungeheuer attraktiv ihn dieses Lachen machte. Megan fühlte, wie ihr Herz plötzlich wild zu klopfen begann. Mit einem Mal glaubte sie zu verstehen, was die Leute meinten, wenn sie von „entwaffnend“ sprachen.

Das war jedoch genau die falsche Reaktion. Sie war nicht bis nach Syrakus geflüchtet, um sich hier gleich in neue Schwierigkeiten zu bringen. Am besten, sie ging sofort hinauf zu Odetta. Ihr Herz war in London schon genug aus dem Takt geraten.

2. KAPITEL

Gut, dass ihm die Frage nach einem Glas Wasser eingefallen war! Zufrieden stieg Etienne hinter Megan den steilen Weg zur Pension hinauf. Ihre schwingenden Hüften brachten ihn dabei ziemlich aus der Fassung, zumal das eng geschnittene türkisfarbene Höschen ihres Bikinis das aufregende Schwingen noch betonte. Wassertropfen rollten die glatte Haut ihres Rückens hinunter. Zuvor hatte er sie ausgiebig von vorn anschauen können. Etienne fühlte, wie sein Mund trocken wurde.

Dabei war er eigentlich nicht hier, um sich zu amüsieren. Er war auch kein Fischer aus dem Dorf. Aber mochte sie ruhig denken, dass er aus dieser Gegend kam und, wie alle hier, nur wenig Geld besaß. Obwohl das nicht stimmte. Er war kein ärmlicher Fischersohn und auch kein Spross irgendeines der hiesigen Oliven- oder Zitronenbauern.

Etienne Bertrand war der hoffnungsvolle Erbe eines in Monaco ansässigen Immobilienunternehmens, das sich auf den An- und Verkauf von Grundstücken spezialisiert hatte, der Bertrand Building Ltd. Um Hotels zu errichten, die anschließend durch Pauschaltourismus ihre Kosten fünfzig- und hundertfach wieder einspielten.

Sein Großvater Gauthier hatte das Unternehmen vor fast sechzig Jahren aufgebaut. Etienne kannte niemanden, der sich in der Welt der Immobilienhaie schneller und geschmeidiger bewegte als Gauthier Bertrand. Auch auf Sizilien standen schon einige der typischen Bertrand-Bauten und sorgten dafür, dass die Insel von immer mehr sonnenhungrigen Pauschaltouristen besucht wurde. Leider hatte der inzwischen achtzigjährige Firmenpatriarch den Familiennamen dadurch ziemlich in Verruf gebracht.

Um sich unerkannt auf seiner Lieblingsinsel bewegen zu können, spielte Etienne deshalb manchmal selbst den Pauschaltouristen. Oder wahlweise einen Einheimischen, für den Megan ihn jetzt offensichtlich hielt. Während er hinter ihr die schmale Felsentreppe zur Pension hinaufstieg, die ihm schon einige Tage zuvor beim Vorbeisegeln aufgefallen war, schien ihm die Begegnung mit dieser Frau wie ein Wink des Schicksals. Sie lieferte ihm den perfekten Grund, sich hier oben einmal ganz in Ruhe umzuschauen.

Die kleine Pension war interessant. Versteckt und schwer zugänglich klebte sie in den Felsen und bot wahrscheinlich einen wunderbaren Ausblick. Es lohnte, sich den Platz genauer anzuschauen.

Auch wenn seine Augen im Moment stark abgelenkt waren und er sich kaum auf das Haus und das Grundstück konzentrieren konnte. Inzwischen hatten sie das Plateau erreicht. Megan drehte sich um und lächelte ihn an, sodass Etienne Mühe hatte, den eigentlichen Grund seines Besuches nicht zu vergessen.

Die Hauptsache war, dass hier oben niemand seine Jacht entdeckte, die unten im Schutz der hohen Felsen in der angrenzenden Bucht ankerte. Von hier aus war sie Gott sei Dank nicht zu sehen. Gut, dass er vorwiegend nachts die Küsten absegelte, denn da vergnügten sich die Touristen meist in den vielen Bars der größeren Städte. In Syrakus, Messina und Palermo gab es ein ausgeprägtes Nachtleben. Die Fischer wiederum fuhren erst frühmorgens, kurz vor Sonnenaufgang, aufs Meer hinaus, um die Netze einzuholen. So hatte ihn gestern niemand ankommen sehen.

Seine in der Nachbarbucht ankernde Jacht war der eigentliche Grund, weshalb er Megan vorhin von der Felsspitze abgedrängt hatte. Da draußen gab es keine Strudel, schon gar keine gefährlichen. Ein paar leichte Strömungen war alles, womit ein durchschnittlicher Schwimmer zu rechnen hatte. Wenn er es genau bedachte, hatte er Megan sogar erst in die fatale Situation gebracht. Ohne seine Warnung wäre sie nicht abgelenkt gewesen, und er hätte ihr nicht zu Hilfe zu eilen brauchen.

Zum Glück hatte sie ihm die heldenmütige Rettungsaktion abgenommen. Nicht auszudenken, wenn sie um die Felsformation herumgeschwommen wäre. Normalerweise planschten Touristinnen wie sie doch eher in Strandnähe herum. Anscheinend war Megan ungewöhnlich. Das, man konnte es nicht anders sagen, reizte ihn trotz aller geschäftlichen Interessen, die er auf der Insel hatte.

Außerdem verwirrte ihn ihr Lächeln. Etienne fühlte, wie ihm heiß wurde. Eigentlich brachten ihn hübsche Frauen nicht mehr aus dem Gleichgewicht. Als Millionenerbe brauchte er sich keine Sorgen zu machen, ob er ihnen gefiel. Es war sogar eine der ersten Lektionen, die ihm sein Großvater erteilt hatte, noch bevor Etienne seinen ersten Geschäftsabschluss tätigen durfte: Privater Spaß und Geschäftliches waren absolut zu trennen.

Mittlerweile war er fast dreißig und hatte weiß Gott genug Erfahrung darin, diese beiden Dinge auseinanderzuhalten. Warum, um alles in der Welt, schien ihm das im Moment nicht zu gelingen?

Eine ältere Dame trat aus dem kleinen Steinhaus und kam ihnen langsam entgegen. Etienne versuchte schnell, sie einzuschätzen. Er bemerkte, dass sie einfache Kleidung trug. Demnach war sie nicht sehr vermögend. Die Leute in seinen Kreisen kleideten und bewegten sich jedenfalls anders. Trotzdem vermutete er, dass sie die Besitzerin der Pension war. Sie strahlte natürliche Autorität aus, als sie jetzt auf ihn zukam.

Etienne ergriff ihre ausgestreckte Hand.

„Herzlich willkommen, ich bin Odetta di Mauro.“

Ihr Händedruck war kräftiger, als er erwartet hatte. „Angenehm, Etienne.“

Eigentlich mochte er die Leute hier. Auf Sizilien fühlte er sich sogar immer besonders wohl. Deswegen kreuzte er auch unverhältnismäßig oft vor dieser Küste, obwohl er sich und seiner Familie weiszumachen versuchte, dass er dabei ausschließlich geschäftlich unterwegs war. Vor allem sein Großvater, der Firmenpatriarch, sah es überhaupt nicht gern, wenn er mal wieder in Richtung Sizilien auf dem Weg war. Aber was sollte er machen? Das sizilianische Flair zog ihn einfach an, vor allem Syrakus und Umgebung.

Megan berichtete inzwischen der Pensionswirtin von ihrer Begegnung am Strand, doch aus irgendeinem Grund erwähnte sie die Rettungsaktion nicht. Wollte sie nicht, dass Odetta di Mauro daraus falsche Schlüsse zog? Was verband diese zwei Frauen überhaupt, dass Megan ihr die Begegnung so ausführlich schilderte? Etienne spürte, dass die Beziehung zwischen den beiden irgendwie besonders sein musste. Auch er fühlte sich von Odetta di Mauros herzlicher Ausstrahlung eigenartig berührt. Allerdings war das nicht gut. Derartige Sentimentalitäten verdarben einem später oft das Geschäft.

„Kommen Sie, Signore“, sagte Odetta in diesem Moment. „Lassen Sie uns auf der Terrasse Platz nehmen und etwas trinken.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, führte sie ihn und Megan zum äußersten Tischchen auf der Terrasse und verschwand dann wieder ins Haus. Sie ließen sich unter der blumenumrankten Pergola nieder.

Nun saßen sie einander gegenüber. Etienne runzelte die Stirn. Um das Gebäude in Augenschein zu nehmen, musste er an Megan vorbeisehen, aber ihre Erscheinung machte es ihm schwer, sich auf das Haus zu konzentrieren. Wie eine Meerjungfrau saß sie vor ihm, mit nackten, in der Sonne glänzenden Schultern, auf denen sich ihr feuchtes blondes Haar kringelte. Dazu ein Dekolleté, von dessen Anblick ihm beinahe schwindlig wurde. Zudem hatten ihre großen blauen Augen einen Ausdruck, den er nicht zu entschlüsseln vermochte.

Auf jeden Fall versuchte sie nicht abzuschätzen, wie sie ihm am besten den Kopf verdrehte. Megan hatte wahrscheinlich noch nie von ihm oder den Bertrands gehört, das war klar, und sie hatte wohl bisher auch kein Bild seiner Familie gesehen. Ihr Verhalten war und blieb völlig unbefangen. Eher schaute sie ihn sogar ein bisschen herausfordernd an.

„Hier verbringen Sie also Ihren Urlaub“, sagte er. „Aber Italienerin sind Sie nicht, oder? Woher kommen Sie? Ihr Name klingt …“

„Ja?“, fragte Megan neugierig. „Wie klingt er?“

„Nun, lassen Sie mich sehen, Megan …“ Etienne ließ den Klang ihres Namens auf seiner Zunge zergehen, als verkoste er einen teuren Wein. „Hm, interessant! Fast ein bisschen prickelnd …“

Überrascht sah sie ihn an. „Prickelnd?“

„Ja.“

„Verstehe“, erwiderte Megan und schaute aufs Meer hinaus. „Und wie würden Sie Ihren Namen beschreiben?“

Etienne zuckte mit den Schultern und lachte. „Sagen Sie es mir!“

Megan sah ihn mit einem Augenaufschlag an, der ihm fast den Atem verschlug.

„Ehrlich gesagt, er klingt ein bisschen vollmundig. Aber durchaus entwicklungsfähig.“

Entwicklungsfähig? Wie meinte sie das jetzt? Genau wie er hatte Megan gerade Wörter benutzt, mit denen man einen guten Wein beschrieb. Hielt sie ihre Bekanntschaft für entwicklungsfähig?

Normalerweise mochte er es, wenn Frauen schlagfertig waren. Das betraf jedoch eher Situationen, in denen schon klar war, wie das Gespräch enden würde. Es kam auch nicht allzu oft vor, dass eine Frau ihm so herausfordernd antwortete. Viele redeten ihm nach dem Mund, weil sie sich von seiner Bekanntschaft Vorteile erhofften. Megan hingegen hatte ihn mit ihrer Antwort gerade gekonnt in eine Zwickmühle gebracht. Und er durfte sich nicht mal beschweren, denn er hatte es provoziert. Dabei war er eigentlich nur hier, um sich die Pension genauer anzusehen.

In diesem Moment kam Odetta mit einem Tablett, auf dem eine Karaffe und drei Gläser standen, an den Tisch zurück. Sie goss ihnen von ihrer selbst gemachten Zitronenlimonade ein. Von ihrem Gespräch hatte sie zum Glück nichts mitbekommen. Trotzdem war es besser, wenn er hier so bald wie möglich verschwand. Sonst fragte ihn die alte Sizilianerin womöglich noch nach seiner Herkunft. Und was sollte er dann antworten?

Als Tourist unterwegs zu sein schied definitiv aus, dafür musste er irgendwie in diese Bucht gekommen sein. Die Pensionswirtin kannte die Umgebung sicher bestens und wusste daher, dass sich im nahen Umkreis keine weitere Unterkunft befand, von der er, nur mit Shorts bekleidet, hierher gewandert oder geschwommen sein könnte. Und die Söhne der ansässigen Fischer und Olivenbauern kannte sie mit Sicherheit auch. Außerdem klang sein Italienisch, das er musterhaft sprach, trotzdem fremd, denn es hatte einen leicht französischen Akzent.

Etienne entschloss sich schweren Herzens aufzubrechen, obwohl ihm das angesichts Megans aufregender Gegenwart schwerfiel. Heftigen Durst vortäuschend, stürzte er zwei Gläser von Odettas köstlich erfrischender Zitronenlimonade hinunter und stand auf, um sein Glas zurück ins Haus zu bringen.

„Bitte lassen Sie das, das kann ich doch machen.“

Megan war ebenfalls aufgestanden und griff nach seinem Glas. Dabei berührten sich ihre Hände. Ihre Blicke trafen sich, ein Funke sprang über. Etienne kniff überrascht die Augen zusammen. Die kleine Berührung hatte beinahe mehr Intimität als die gesamte Rettungsaktion zuvor. Megan zögerte einen kurzen Augenblick, bevor sie ihm das Glas überließ.

Etienne nahm es, ging nach vorn und stellte es auf dem Fenstersims neben dem Eingang ab. Dabei warf er einen Blick durch die offen stehende Tür. Sicher, im Haus war eine Menge zu modernisieren und zu renovieren, das erkannte er gleich. Aber das alte Gemäuer hatte eindeutig Potenzial, das war ebenfalls sofort zu sehen. Das Grundstück war sowieso Gold wert. Wenn man hier noch ein bisschen investierte, konnte die Bucht ein Geheimtipp für gut betuchte Geschäftskunden werden, die Ruhe suchten.

Gleich morgen würde er einen Strohmann auf die Pension ansetzen. Und damit war die Sache auch schon für ihn erledigt, denn Lucio Camerone – ein alter Geschäftspartner der Bertrands, der in Syrakus sein Immobilienbüro hatte – würde sich um alles Weitere kümmern.

Allerdings, Megan würde er mit Sicherheit nicht so schnell wieder aus dem Kopf bekommen. Ohne Schwierigkeiten hatte sie ihm Paroli geboten und damit gezeigt, dass sie, was Andeutungen betraf, durchaus in derselben Liga spielte wie er.

So etwas kannte Etienne Bertrand von Frauen bisher nicht.

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen wurde Megan von frischem Kaffeeduft geweckt, der durch das geöffnete Fenster in ihr Zimmer zog.

Der kleine Raum war von Licht erfüllt. Sie hatte die Fensterläden gestern nicht geschlossen, um in der Nacht das beruhigende Rauschen des Meeres hören zu können. Nun leuchtete die Sonne direkt in die Bucht und damit auch in alle Räume auf der Ostseite. Den Sonnenaufgang hatte Megan zwar verpasst, aber der Urlaub hatte ja gerade erst angefangen. Drei ganze Wochen hatte sie Zeit, sich von der Faszination der Insel verzaubern zu lassen.

Sie brauchte unbedingt Abstand von London. Zu viel war dort passiert. Odettas liebevolle Fürsorge und die Schönheit der Bucht würden ihr helfen, zur Ruhe zu kommen.

Allerdings musste sie sich der schwierigen Frage stellen, wie ihr Leben in London weitergehen sollte. Heute würde sie sich aber noch nicht darum kümmern. Den ersten vollen Urlaubstag wollte sie einfach nur genießen.

Energisch schlug sie die Bettdecke zurück und stand auf. Sie ging ins Bad, duschte, putzte sich die Zähne und schlüpfte in ein leichtes Sommerkleid. Um ihre schlanke Figur wirkungsvoll zur Geltung zu bringen, knüpfte sie ein weinrotes Tuch um ihre Hüfte. Anschließend verwendete sie ein Band in der gleichen Farbe, um ihr Haar zurückzubinden. Prüfend betrachtete sie sich im Spiegel. Ja, das war die richtige Aufmachung für ihren ersten Urlaubstag.

Nach dem Frühstück wollte sie hinunter ins Dorf gehen. Dort wohnte der alte Peppone, dem mehrere Olivenhaine gehörten. Megan hatte den urigen Bauern vor drei Jahren kennengelernt, als sie einmal direkt zwischen den Bäumen über seine Felder gelaufen war.

Seither hielt sie jedes Mal, wenn sie zu Odetta kam, auf ihrem ersten Spaziergang ein längeres Schwätzchen mit Peppone. Der alte Bauer kannte in der Gegend alles und jeden. Vielleicht wusste er ja, wer dieser Etienne war.

Als Megan hinaus auf die Terrasse trat, ließ gerade eine Böe die Blüten der üppigen Bougainvillea neben dem Eingang tanzen. Auch die Blätter der kleinen Zitronenbäumchen in den Kübeln raschelten. Sie verströmten einen betörenden Duft, genau wie der Kaffee, der in einer großen Tasse aus Steingut dampfte. Odetta hatte ihn schon für sie eingegossen.

Megan setzte sich und hielt ihr Gesicht in die Morgensonne. Odetta kam mit einem Korb, in dem sich zwei Cornetti, gefüllte Hörnchen, und ein weiteres süßes Gebäckstück befanden, aus der Küche, stellte ihn vor sie auf den Tisch und setzte sich zu ihr. Megan langte beherzt nach einem Cornetto, brach es auf und naschte die Füllung heraus. Odetta lachte. Sie kannte ihre Angewohnheit, den Tag auf diese Weise zu beginnen.

Die alte Frau griff nach ihrer Hand und drückte sie. „Bene?“

„Molto bene!“, bestätigte Megan genüsslich. Besser konnte ein erster Urlaubstag gar nicht beginnen. Es war schön, wieder hier zu sein, viel schöner, als in einem grauen Redaktionsbüro in London zu sitzen und sich mit regionalen Belanglosigkeiten herumzuplagen.

Eigentlich liebte sie ihren Beruf, aber sie hatte ihn sich ganz anders vorgestellt. Als Journalistin hatte sie investigativ arbeiten wollen, Skandale aufdecken, geheime Machenschaften durchschauen und Licht in dunkle Angelegenheiten bringen wollen. Das war ihr ursprüngliches Anliegen gewesen. Stattdessen musste sie seit drei Jahren über langweilige Rassehundeausstellungen berichten.

„Und jetzt mal raus mit der Sprache. Ich merke doch, dass mit dir was nicht stimmt!“, sagte Odetta plötzlich.

Megan hatte es schon geahnt. Sie konnte der alten Sizilianerin nichts vormachen. Trotzdem fuhr sie überrascht zusammen. „Ach, es ist nichts“, versuchte sie auszuweichen. Hatte sie nicht gerade erst beschlossen, sich einige Tage Zeit zu geben, bevor sie sich an die Lösung ihrer Probleme machte?

Odetta schüttelte den Kopf. „Cara mia, gestern habe ich dir das durchgehen lassen, und wenn du möchtest, tue ich das auch weiterhin. Nur glaube nicht, dass ich es nicht merke, dass du etwas auf dem Herzen hast.“

Megan wandte sich ab und schaute hinaus aufs Meer, das in der Sonne verführerisch glitzerte. Ganz unten lag der Strand einsam in der Bucht. Es war ein Anblick, der einem das Herz weit machte.

„Du hast recht, Odetta“, erwiderte sie leise. „Es ist viel passiert in London. Eigentlich ist mein Leben komplett durcheinandergeschüttelt worden. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“

Odetta rückte nahe an sie heran und nahm ihre Hand. „Erzähl mir einfach so viel, wie du möchtest“, sagte sie mit warmer Stimme. „Ich kann warten. Es hat keine Eile, du bist ja noch ein paar Tage hier.“

Megan erwiderte dankbar den Händedruck. „Zum Glück, Odetta. Ich bin so froh, dass ich dich und deine Pension damals gefunden habe.“

„Und ich freue mich, dass du seitdem jedes Jahr wiedergekommen bist“, antwortete Odetta.

Sie saßen eine Weile schweigend da, dann räusperte sich Megan.

„Also, es ist so: Vor einiger Zeit habe ich jemanden näher kennengelernt, einen Kollegen. Anfangs sah es so aus, als könnte es was mit uns werden. Aber jetzt habe ich ihn mit einer anderen Frau erwischt. In seiner Wohnung. Ich kam früher als erwartet von einer Dienstreise zurück, und er wollte mich nicht hineinlassen. Tja …“

Odetta sah sie von der Seite an. „Und dann?“

Megan zuckte mit den Schultern. „Na ja, ich habe ihm gesagt, dass ich ihn nicht mehr sehen will. Aber das geht schlecht, denn wir arbeiten beide in derselben Redaktion.“

„Verstehe“, murmelte Odetta. „Deshalb also deine überhastete Anreise. Ich hatte mich schon gewundert. Vielleicht kommst du hier ja wieder ein bisschen auf andere Gedanken.“

Megan nickte und biss sich auf die Lippen. Leider war das noch nicht alles. Den Hauptgrund für ihre Abreise hatte sie Odetta gar nicht verraten.

Etienne saß in der Sonne vor einem kleinen Café und ließ sich einen Cappuccino schmecken. Kaffee hätte er zwar auf seiner Jacht auch haben können, die er gestern im Schutz der Dunkelheit in den Hafen von Syrakus gesteuert hatte, aber er liebte es, die Touristen zu beobachten, die in Scharen über die Piazza flanierten. Aus dem mehrsprachigen Stimmengewirr war der eigentümliche Dialekt der Einheimischen kaum herauszuhören.

Seine Familie besaß für ihre Boote einen Dauerliegeplatz im Jachthafen, allerdings unter fremdem Namen. Die geschäftstüchtige Stadtverwaltung vermietete zwar noch an sie, aber es gab bereits Geschäftsleute – vor allem ehemalige Grundstückseigentümer –, die auf den Namen Bertrand allergisch reagierten und daher nicht wissen sollten, dass die kleine bescheidene Privatjacht, die hin und wieder hier anlegte, dem verhassten Immobilienunternehmen gehörte.

Im Grunde tat es Etienne leid, dass seine Familie überall am Mittelmeer einen so schlechten Ruf hatte. Und gerade auf Sizilien schmerzte es ihn besonders. Schon von Kindheit an hatte es ihn immer hierher gezogen, er wusste selbst nicht, warum. Die Sprache hatte so einen wehmütigen Klang. Irgendwie berührte sie etwas tief in seinem Herzen.

Tatsächlich war es ihm ungewöhnlich leichtgefallen, Italienisch zu lernen. Seine Familie in Monaco sprach natürlich Französisch, und seine Schwestern sowie seine Mutter bewegten sich bei gesellschaftlichen Anlässen immer noch so steif und vornehm, wie es am Hof des Sonnenkönigs wohl mal in Mode gewesen war. Er dagegen mochte gerade das leidenschaftliche Gestikulieren, das die Italiener so meisterhaft beherrschten. Diese Sprache hatte Feuer. Und Stolz.

So wie die Sizilianer selbst. Es war nicht einfach, mit ihnen zu verhandeln. Sein Großvater, der alte Bertrand, schaffte das zwar ohne größere Probleme, und noch immer gelang es ihm, den hiesigen Einwohnern das eine oder andere Grundstück abzuluchsen. Ihm allerdings bereiteten die Geschäftspraktiken seines Großvaters seit längerer Zeit Bauchschmerzen. Im Moment hatte der Seniorchef jedoch noch alles in der Hand.

Etienne nahm einen Schluck Cappuccino und schaute über die Piazza. Die Touristen hatten es gut, sie hatten keine Sorgen. Er hingegen musste eine Entscheidung treffen. Es ging um die Frage, ob er die harten Geschäftspraktiken seines Großvaters erneut anwandte und dem Firmenoberhaupt so zeigte, dass er in der Lage war, das Imperium zu übernehmen. Oder ließ er es sein – und folgte damit dem Vorbild seines Vaters Antoine, der von Gauthier Bertrand als Schwächling angesehen wurde?

Nachdenklich stützte Etienne seinen Kopf in die Hand. Die Entscheidung fiel ihm schwer. Irgendein Familiengeheimnis umgab seinen Vater. Daran durfte jedoch niemand rühren. Er war als Teenager mit seinen Fragen nur auf taube Ohren gestoßen. Etwas musste passiert sein, das Gauthier Bertrand so verärgert hatte, dass er seinen Sohn Antoine in der Erbfolge überging und ihn aus allen wichtigen Firmenentscheidungen heraushielt.

Sein Vater war ein stiller Mann, der sich in alles fügte, was Gauthier anordnete. Auch seiner Frau Claire, Etiennes Mutter, ordnete er sich widerspruchslos unter. Claire Bertrand war eine energische Frau, die ihrem Mann nicht viel Achtung entgegenbrachte. Ihre Liebe zu ihm schien völlig versiegt zu sein.

Irgendwie tat er Etienne leid, aber so werden wie sein Vater wollte er trotzdem nicht. Im Gegenteil, es drängte ihn, endlich die Firma zu übernehmen.

Jetzt musste er nur noch seinen Großvater überzeugen, dass er die harten Geschäftspraktiken der Bertrands wirklich beherrschte. Wenn er dem achtzigjährigen Gauthier die Pension von Odetta di Mauro als Schmuckstückchen präsentierte, würde ihm sein Großvater den Vorsitz bestimmt endlich überlassen. Danach konnte er das Unternehmen nach seinen Ideen umstrukturieren und fragwürdige Geschäftspraktiken, wie sie jetzt teilweise üblich waren, einstellen.

Unvermittelt musste er wieder an die junge Engländerin denken, die ihn gestern so vertrauensvoll mit in die Pension hinaufgenommen hatte. Dieses Vertrauen hatte er längst verloren. Zu Recht, wie er fand. Die Frauen, die versucht hatten, ihn näher kennenzulernen, waren hauptsächlich darauf aus gewesen, an sein Vermögen zu gelangen. Megan dagegen schien einfach nett, sie hatte weder etwas über ihn noch über seine Familie wissen wollen.

Verblüfft schüttelte Etienne den Kopf. Woher kamen nur diese Gedanken? Im Moment galt es, sich wegen der Unterredung mit Lucio Camerone, dem korrupten sizilianischen Makler, nicht ablenken zu lassen.

Langsam stand er auf und klemmte einen Geldschein unter die Kaffeetasse. Er hatte seine Entscheidung getroffen.

4. KAPITEL

Beschwingt lief Megan den staubigen Pfad hinab. Es gab zwar einen kürzeren Weg direkt durch die Felsen, aber der war schwer zugänglich, da musste man fast ein bisschen klettern. Dafür trug sie nicht die richtigen Schuhe. Dieser Weg hingegen, den sie gestern auch für die Anfahrt genutzt hatte, führte sie bequem durch Peppones Olivenhaine.

Die Sonne stand hoch am azurblauen Himmel und verstärkte ihr Urlaubsgefühl. Wie leicht das Leben sein konnte. Wenn nicht … Sie zog die Augenbrauen zusammen. Nein, sie würde sich die Stimmung jetzt nicht verderben lassen. Das Leben war nicht immer fair, das wusste sie seit Langem.

Auch ihre Kindheit war alles andere als einfach gewesen, und trotzdem hatte sie sich zu einem warmherzigen Menschen entwickelt. Gut, manchmal war sie vielleicht zu empfindsam, alles ging ihr nahe. Vor allem, wenn sie sich mit ganzem Herzen für etwas engagierte. Dann nahm sie automatisch an, dass die anderen genauso fühlten, natürlich zuallererst in ihren Beziehungen.

Leider hatte Steve das nicht so gesehen. Aber an ihn brauchte sie ohnehin keinen Gedanken mehr zu verschwenden. Es galt, nach vorn zu sehen.

Wie jeden Tag arbeitete der alte Bauer auch heute zwischen seinen Olivenbäumen. Er war selbst schon fast so knorrig wie die Baumstämme. Als Megan ihm ein „Ciao, Peppone, come stai?“, zurief, richtete er sich umständlich auf, winkte und hielt den rechten Daumen hoch.

Von seinem Sohn Matteo war nichts zu sehen. Megan wusste, dass die beiden seit einigen Jahren im Streit lagen. Matteo war nach Peppones Ansicht zu sehr von den Verlockungen der Stadt beeinflusst, er schaute nur aufs Geld und schätzte ehrliche Arbeit nicht mehr. Das Geld, das in den Städten leichter verdient werden konnte, lockte.

Womit Etienne wohl seinen Lebensunterhalt verdiente?

Megan fühlte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. Ob sie ihn jemals wiedersehen würde?

Etienne stand vor einem sandsteinfarbenen Gebäude in der Nähe der Piazza del Duomo. Der Eingang war links und rechts von je einer Säule flankiert, die sich nach oben verjüngte und dann in einem Kapitell auslief, über dem sich eine zierliche Jungfrauenstatue erhob. Auch die schlanken Fenster des Hauses zeigten auffällige Verzierungen, die an klassizistische Dreiecke erinnerten, nur dass sie filigraner gearbeitet und von maurischen Blütenmustern umrankt waren.

Die Gebäude in Syrakus, vor allem die auf der Insel Ortigia, dem historischen Zentrum der Altstadt, beeindruckten ihn jedes Mal. Hier war uralte sizilianische Geschichte lebendig.

In der zweiten Etage des Gebäudes hatte Lucio Camerone sein Büro. Lucio war ein alter Freund der Familie – ein Geschäftsfreund, genauer gesagt. Die meisten Freundschaften der Bertrands waren geschäftlicher Natur. Lucio Camerone spielte dabei eine besondere Rolle, denn der sizilianische Immobilienmakler kannte die Gegebenheiten vor Ort wie kein Zweiter, war aber für die Familie noch nicht allzu oft in Erscheinung getreten.

Stets zwei Stufen auf einmal nehmend, lief Etienne die Treppe hinauf. Er hoffte, er hatte sich gestern bei Odetta nicht doch irgendwie verraten. Megans Anwesenheit hatte ihn stärker verwirrt als gedacht. Selbst jetzt bekam er die junge Engländerin nicht aus dem Kopf.

Immer wieder schoben sich Bilder von ihr vor sein inneres Auge: Megan, wie sie vor ihm die Felsentreppe hinaufstieg, sodass er die ganze Zeit ihren wohlgerundeten Po vor Augen hatte. Megan, die sich umdrehte und ihn anlächelte, wobei er einen Blick auf ihr ebenso aufregendes Dekolleté erhaschte. Megan, die ihm gegenübersaß und ihn mit ihren großen blauen Augen ansah, sodass er beinahe den eigentlichen Grund seines Besuches vergessen hätte.

Etienne seufzte tief auf. Professionalität war wahrlich etwas anderes.

Erneut ging er alle Optionen durch. Der Plan war ausgereift. Odetta di Mauros kleine Pension war mittlerweile auf jeden Fall sehr viel mehr wert als das, was sie damals dafür bezahlt haben musste. Wichtig war, dass man sie erst einmal dazu brachte, überhaupt verkaufen zu wollen.

Hätte sein Großvater Kaufinteresse, würde er die alte Frau vermutlich einfach rücksichtslos erpressen. Irgendetwas fand der alte Fuchs in solchen Fällen immer.

Odetta hatte auf ihn nicht gewirkt, als verfüge sie über Geld – im Gegenteil, sicher hatte sie um ihre Existenz zu kämpfen. Die Konkurrenz in der sizilianischen Tourismusbranche war hart, die Unternehmen auf der Insel unterboten sich reihenweise.

Viel konnte Odetta mit ihrer kleinen Pension im Moment nicht verdienen, dafür war das Haus nicht modern genug. Eine großzügige Abfindung würde die Wirtin also bestimmt gern annehmen. In ihren Augen würde so eine Abfindung ohnehin größer aussehen, als sie war. Und wenn das Geld nicht direkt über die Bertrands kam, sondern über einen Mittelsmann …

Etienne hatte sich entschieden. Er würde dieses hässliche Spiel noch ein einziges Mal mitspielen. Aber völlig über den Tisch ziehen wollte er die alte Frau dabei nicht. Wenigstens ihren Lebensabend sollte sie ohne Sorgen genießen können. Natürlich würde es schwer werden, gegenüber seinem Großvater diesen Entschluss zu verteidigen, denn normalerweise holte die Firma Bertrand beim Ankauf eines Grundstückes alles heraus, was möglich war.

Er atmete noch einmal tief durch. Das feinziselierte Metallgeländer des vornehmen Treppenhauses lag glatt in seiner Hand, das Gebäude spendete angenehme Kühle. Das Familienanwesen der Bertrands in Monaco war natürlich um einiges präsentabler, trotzdem zollte Etienne dem guten Geschmack des Immobilienmaklers bei der Wahl seiner Geschäftsadresse Respekt. Mit forschem Schwung nahm er die letzten Stufen.

Oben wurde er bereits erwartet. Bei solch hochgestelltem Besuch öffnete Lucio Camerone seinen Kunden höchstpersönlich die Tür. Der Makler schüttelte ihm breit grinsend die Hand und wies mit einer einladenden Geste in sein Büro, einen fast vierzig Quadratmeter großen Raum mit hellen Wänden, hohen stuckverzierten Decken und glänzendem Marmorboden. Ganz offensichtlich freute Lucio sich auf ein lukratives Geschäft.

„Wie angenehm, Etienne, dass Sie mich mit Ihrem Besuch beehren. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Einen Whisky vielleicht?“, fragte der Mann.

Seine Sekretärin, die im Nachbarzimmer vor ihrem Computer saß, bemühte er erst gar nicht. Er sollte sich absolut zuvorkommend behandelt fühlen. Aber Etienne war nicht umsonst bei seinem Großvater durch eine gute Schule gegangen. Daher wusste er, dass Lucio gerade bei Geschäftsanbahnungen gern auf die entspannende Wirkung von Whisky setzte, vor allem bei seinen Klienten.

Er schüttelte den Kopf. „Danke, Lucio, im Moment nicht. Aber gegen ein Glas Wasser hätte ich nichts einzuwenden.“ Er wartete geduldig ab, bis der Makler ihm von seinem besten Mineralwasser eingeschenkt hatte. Lucio reichte ihm das Glas und setzte sich dann in seinen breiten Ledersessel, wo er die Beine übereinanderschlug.

„Mit der Familie ist alles in Ordnung?“, fragte der Makler und nahm den ersten Schluck seines Whiskys. „Alle wohlauf? Großvater, Mutter, die Schwestern?“

„Danke der Nachfrage“, antwortete Etienne ebenso höflich wie unpersönlich. „Es gibt keinen Anlass für Klagen. Und bei Ihnen?“

„Man tut, was man kann.“

Lucio Camerone nahm den nächsten Schluck. Falls er gespannt war zu erfahren, was der Firmenerbe der Bertrands von ihm wollte, ließ er es sich nicht anmerken. Etienne fiel auf, dass Lucio seinen Vater Antoine bei der Nachfrage nicht erwähnt hatte. Der Makler wusste also, dass die Bertrands in ihrer Erbfolge eine Generation übergingen, und hielt sich stillschweigend an das Arrangement. Der Sizilianer war ein Fuchs. Nicht ohne Grund hielt Gauthier Bertrand sich den Mann für besondere Gelegenheiten warm.

„Ich habe neulich, etwa zwanzig Kilometer vor Syrakus, eine kleine Pension entdeckt.“ Etienne stieg nach dem kurzen Höflichkeitsaustausch direkt ins Thema ein. „An sich keine große Sache“, fuhr er fort. „Aber die Lage ist spektakulär. Eine romantische Bucht, völlig abgeschieden. Die beiden Nachbarbuchten scheinen vom Land aus gar nicht erreichbar zu sein.“

Lucio saß mit gefalteten Händen entspannt in seinem Sessel. Sein Gesicht verriet nicht, was er dachte.

„Klingt interessant. Wo, sagten Sie, befindet sich diese Pension?“

Etienne beschrieb die Lage der Ortschaft.

Der Makler nickte. „Ja, ich erinnere mich. Das ganze Gelände dort gehört dem Dorf. Das sind vorwiegend Olivenbauern, ein sturer Menschenschlag. Denen luchsen Sie so schnell nichts ab.“

Was sollte diese Bemerkung? Versuchte Lucio etwa hier schon, seine Provision in die Höhe zu treiben, indem er ihn indirekt darauf aufmerksam machte, dass der unerfahrene Firmenerbe ohne die Hilfe eines gerissenen Maklers Schiffbruch erleiden würde? Etienne atmete tief durch, er kannte dieses Geschäftsgebaren zur Genüge.

„Die Pension scheint einer gewissen Odetta zu gehören“, informierte er Lucio weiter. „Oder halten Sie es für möglich, dass die Bauern der alten Frau das Haus und das Land nur verpachtet haben?“

Der Makler schüttelte den Kopf. „Nein, soweit ich weiß, gab es da mal irgendeinen Vorfall. Ist aber lange her. Danach ist die Frau nach oben in die Felsen gezogen und hat das alte Haus umgebaut. Irgendwie war sie wohl zu ein bisschen Geld gekommen und hat den Bauern das Grundstück samt der Hütte abgekauft, viel mehr war es damals nicht. Und Sie sagen, dass es mittlerweile eine florierende Pension ist? Dann muss sie da eine Menge Arbeit reingesteckt haben.“

Etienne zuckte mit den Schultern. „Ob die Pension floriert, weiß ich nicht.“

„Hm.“ Lucio Camerone stützte sich auf die Ellenbogen und beugte sich vor. „Und wie komme ich da nun ins Spiel?“, fragte er lauernd.

Etienne verzog den Mund. „Ich möchte, dass Sie sich das Grundstück und die Pension mal etwas genauer für mich ansehen. Leider konnte ich mir kein ausreichendes Bild vom Zustand des Objekts machen. Gehen Sie also hin und ermitteln Sie, was das Ganze wert ist. Dann machen wir der Frau ein entsprechendes Angebot.“

Er sah, dass Lucio erstaunt die Augenbrauen hob. Der Makler griff nach seinem Glas, betrachtete es, leerte es mit einem Zug und stellte es auf den Tisch zurück.

„Was meinen Sie mit ‚entsprechend‘?“, fragte er und sah ihn an. „Ich bin bis jetzt davon ausgegangen, dass Sie meine Arbeitsweise kennen. Es gibt da gewisse Absprachen mit Ihrem Großvater, von denen Sie … eventuell … noch nichts wissen.“

Etienne verzog keine Miene. „Sie können sich darauf verlassen, Lucio, dass mir die Gepflogenheiten meines Großvaters bekannt sind. Mit ‚entsprechend‘ meinte ich ‚ausreichend‘. Allzu viel wird die Pension in den letzten Jahren nicht abgeworfen haben, so viel habe ich mitbekommen. Geben wir der alten Frau also ein bisschen Geld für ihren Lebensabend. Leben und leben lassen, heißt es nicht so?“

„Wie Sie meinen.“ Lucio zuckte mit den Schultern, dachte einen Moment nach und griff dann erneut nach der Whiskyflasche. „Wollen Sie nicht vielleicht doch einen Schluck?“

Etienne hielt seinem Blick stand. „Vor Geschäftsabschlüssen trinke ich grundsätzlich nichts.“

Lucio grinste selbstgefällig. „Ganz nach Ihren Wünschen, Etienne. Ich denke, Sie werden mit mir zufrieden sein.“

5. KAPITEL

Als Megan am nächsten Tag von ihrem morgendlichen Spaziergang zurückkam, hörte sie Odetta in der Küche lautstark mit jemandem diskutieren. An der Tonlage erkannte sie, dass die Wirtin außer sich war.

Obwohl es eigentlich nicht ihre Art war, blieb sie auf der Treppe stehen. Ein richtiges Lauschen war es nicht, beruhigte sie sich, denn Odettas Stimme drang ohnehin durch die Tür.

Da schnappte sie ein Wort auf, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Verkaufen? War es um Odettas Finanzen so schlecht bestellt, dass die Wirtin erwog, ihr Lebenswerk aufzugeben? Odetta hatte die Pension mit großer Liebe aufgebaut, all ihre Kräfte und vermutlich ihr ganzes Geld steckten in diesem Haus. Hier war ihr Zuhause.

Der Streit in der Küche eskalierte. Megan hörte, wie die männliche Stimme eine Summe nannte, die nun auch bei ihr Empörung hochkochen ließ. Dieser Preis war lächerlich niedrig. Er entsprach vielleicht dem renovierungsbedürftigen Haus, dessen Substanz tatsächlich nicht mehr die beste war. Aber nie und nimmer wurde er dem Grundstück gerecht. Das war viel mehr wert, als der Mann da gerade angeboten hatte. Was hatte dieser Typ vor?

Die kleine Bucht war ein Geheimtipp für alle, die für eine Weile aus dem hektischen Alltag aussteigen wollten. Natürlich wäre sie nach einer Umbauphase höchst interessant für gestresste Geschäftsleute, die das Besondere suchten. Aber Odetta würde dieser Klientel doch auf keinen Fall den idyllischen Ort überlassen?

Für die Wirtin war es stets wichtig gewesen, dass ihre Gäste die Einfachheit und Warmherzigkeit ihrer persönlichen Betreuung genossen. Auch sie, Megan, kam ja genau aus diesem Grund immer wieder hierher. Sie mochte den Charme des alten Hauses, die Romantik der stillen Bucht, aber vor allem die liebevolle Atmosphäre, die Odetta hier verbreitete.

In den kommenden Tagen wirkte Odetta sehr besorgt. Megan versuchte, die Wirtin ein bisschen aufzumuntern, und unterstützte sie, wo es ging. Sie räumte ungefragt das Geschirr der anderen Gäste ab und fegte spätabends noch die Terrasse. Es tat ihr weh, Odetta dermaßen in sich gekehrt zu sehen, denn so kannte sie die alte Sizilianerin nicht. Normalerweise sprühte Odetta vor Energie.

Eines Abends, nachdem die anderen Gäste in ihre Zimmer verschwunden waren, setzte Megan sich zu Odetta auf die Bank vor dem Haus.

Es war noch angenehm warm. Unter ihnen rauschte das Meer und schlug mit großer Kraft gegen die Felsen. Die üppige Bougainvillea neben ihr bewegte sich im Wind. Früher hatten sie öfter bei einem guten Rotwein hier gesessen und die Sterne am nachtklaren Himmel betrachtet. Nicht immer hatten sie dabei gesprochen, trotzdem war nach und nach tiefe Nähe zwischen ihnen entstanden.

„Vor drei Tagen war ein Mann hier …“, beendete Odetta nach einiger Zeit die Stille.

„Ich weiß“, gestand Megan. „Sei mir nicht böse, ich habe einen Teil eures Gesprächs mitbekommen, als ich von meinem Spaziergang zurückgekommen bin. Du willst die Pension verkaufen?“

„Ach, wo denkst du hin!“, erwiderte Odetta heftig. „Dieser Mafioso will mir das Haus wegnehmen. Er hat mir zwar einen Preis genannt, doch der ist absolut inakzeptabel.“

Megan atmete erleichtert auf. „Du willst also nicht verkaufen. Und ich dachte schon, du wärst in finanziellen Schwierigkeiten.“

„Das bin ich auch“, erwiderte Odetta mit düsterer Stimme. „Aber niemals würde es mir einfallen, deshalb die Pension wegzugeben. Der Ort hat für mich eine ganz besondere Bedeutung. Hast du dich nie gefragt, wieso ich hier oben so allein leben kann?“ Odetta nahm einen Schluck Wein und schaute auf das Meer hinaus, auf dem der Mond eine glitzernde Spur bis zum Horizont zog. „Du hast angenommen, ich hätte schon immer hier oben gewohnt, nicht wahr?“

Megan nickte überrascht. „Ja, davon bin ich bis jetzt ausgegangen. Du wirkst völlig mit der Umgebung verwachsen.“

Odetta lachte gequält auf. „Ja, das denken alle meine Gäste. Eine verschrobene alte Frau, die schon hier oben geboren wurde.“

„Ist es denn nicht so?“

„Selbstverständlich nicht. Ich bin wie alle anderen unten im Dorf aufgewachsen. Vor dreißig Jahren habe ich meinen Mann verlassen und bin hier heraufgezogen.“

„Das ist schon recht lange her …“

„Das stimmt natürlich.“ Odetta lachte leise. „Deshalb gelte ich im Dorf auch mittlerweile als etwas wunderlich.“

„Aber das bist du nicht, Odetta“, antwortete Megan schnell. „Im Gegenteil, du bist eine der warmherzigsten Personen, die ich kenne. Du bist fast wie eine Großmutter für mich. Kaum zu glauben, dass du keine Kinder hast.“

„Wie kommst du darauf?“, fragte Odetta.

Megan schrak zusammen. „Das dachte ich einfach, weil du …“

„Weil ich nie von Kindern gesprochen habe? Aber ich hatte eine Tochter. Ihr Name war Fiona.“ Wieder schweifte Odettas Blick kurz über die Bucht bis zur Felsspitze, bevor sie weitersprach. „Fiona war ein wunderbares Mädchen, klug und schön. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schön sie war. Alle Jungs im Dorf haben sich um sie gerissen. Doch dann hat uns ein Unglück ereilt.“

Odetta seufzte tief.

„Fiona ist ertrunken. Am selben Tag habe ich meinen Mann verlassen und bin hier heraufgezogen. Von hier oben kann ich jederzeit das Meer sehen, das mir meine Tochter genommen hat. Jeder Blick am Morgen aus dem Fenster ist wie ein Gruß an sie.“

Megan schwieg erschüttert. Da machte sie sich Gedanken über Steves Untreue und über ihre langweilige Arbeit in London, und neben ihr saß eine Frau, die den größten Verlust erlitten hatte, den man im Leben überhaupt erleiden konnte: den des eigenen Kindes. Das ließ natürlich alles in einem neuen Licht erscheinen. Nie und nimmer würde Odetta die Pension unter diesen Umständen verkaufen.

Aber hatte sie nicht eben auch gesagt, dass sie in finanziellen Schwierigkeiten steckte?

Etienne war zurück in Monaco. Die Entfernung von Sizilien nach Monaco betrug dreihundertfünfzig Seemeilen; wenn er die Strecke gemütlich segelte, war die Fahrt in zwei bis drei Tagen gut zu schaffen. Diesmal hatte er sich sogar beeilt.

Zu Hause angekommen, suchte er als Erstes seinen Großvater auf.

Der achtzigjährige Gauthier Bertrand beanspruchte eine ganze Etage des Familienwohnsitzes als Büro. Die Möbel, die hier standen, waren altehrwürdig und schwer, das Holz dunkel, das Leder hochwertig und vom vielen Gebrauch glatt gewetzt.

Durch den Trakt schwebte der Geruch teurer kubanischer Zigarren, die sein Großvater mit Vorliebe rauchte. Zwar rieten ihm seine Ärzte inzwischen zur Mäßigung, aber bei Geschäftsabschlüssen waren Zigarren sowie ein Glas vom edelsten Whisky für ihn immer noch ein Muss. Gauthier Bertrand zelebrierte sein luxuriöses Leben, denn nach seiner Meinung hatte er es sich wohlverdient.

Wenn auch auf dem Rücken anderer, dachte Etienne nicht zum ersten Mal, als er jetzt die Etage betrat. Sein Großvater hielt sich tatsächlich noch in seinem Büro auf, obwohl der Abend schon weit fortgeschritten war.

„Etienne! Da bist du ja wieder. Komm her und setz dich zu mir“, sagte Gauthier Bertrand, als er seinen Enkel bemerkte.

Etienne setzte sich in einen der breiten Ledersessel, in dem er beinahe versank. Diese Möbel würden als Erstes verschwinden, sobald er hier das Sagen hatte.

„Whisky?“, fragte Gauthier und griff nach der Flasche, die auf dem Tisch stand.

Etienne lehnte ab. „Heute nicht. Und du, Großvater, solltest auch nicht immer trinken“, bemerkte er und nahm dem alten Mann sanft die Flasche aus der Hand. „Ich lasse uns ein Wasser kommen.“

„Wasser!“ Gauthier Bertrand schnaubte und schüttelte unwillig den Kopf. „Was ist nur aus der Jugend von heute geworden.“

„Ich achte lediglich auf deine Gesundheit, wenn du es schon nicht machst“, erwiderte Etienne einen Ton schärfer. „Ansonsten kannst du dich wohl nicht über mich beklagen.“

„Nein, das kann ich tatsächlich nicht“, stimmte sein Großvater zu und sank ächzend in seinen Sessel zurück. „Zum Glück bist du nicht so ein Schwächling wie dein Vater.“

Etienne schluckte. War es nicht endlich an der Zeit, dass er erfuhr, was damals vorgefallen war? Was hatte sein Vater sich zuschulden kommen lassen, dass Gauthier Bertrand seinen eigenen Sohn dermaßen verachtete?

„Großvater“, begann er vorsichtig, aber Gauthier hob abwehrend die Hand.

„Rühr nicht dran, Junge“, sagte er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. „Du weißt am besten, dass unsere Branche nicht für Schwächlinge gemacht ist. Schau dich doch um!“ Er deutete mit einer weit ausholenden Bewegung in den Raum. „Glaubst du, das alles ist mir zugefallen? Nein, dafür brauchte es einen glasklaren Verstand und stahlharte Nerven. Sentimentalität ist hier völlig fehl am Platz.“

Sentimentalität? Etienne stutzte. Das war genau das Wort, das ihm in der Pension bei Odetta di Mauro in den Sinn gekommen war. War es richtig, was er tun wollte? Es war wahrscheinlich das letzte Mal, dass er die Geschäftspraktiken der Bertrands tolerierte, und immerhin hatte er Lucio Camerone instruiert, der alten Frau zumindest ein ordentliches Auskommen zu sichern.

Trotzdem hatte er kein gutes Gefühl, als er jetzt an den windigen Makler zurückdachte. Dieses selbstzufriedene Grinsen bei der Verabschiedung …

„Wo bist du mit deinen Gedanken?“, wollte Gauthier wissen.

Etienne schreckte hoch. „Nirgends, Großvater. Ich habe da nur neulich auf Sizilien eine interessante Entdeckung gemacht.“ Nun war es heraus.

Gauthier wurde hellhörig. „Eine Entdeckung?“

Etienne zögerte. „Nichts Großes“, sagte er dann. „Eine kleine Pension, aber an einem sehr vielversprechenden Ort. Wenn wir den richtig ausbauen und später gut bewerben …“

In diesem Moment klopfte ein Bediensteter an den Türrahmen und trat nach einem kurzen Nicken von Gauthier zu ihnen an den Tisch. Er stellte ein Tablett mit zwei Gläsern und einer Flasche Wasser ab, goss ein und verschwand eilig.

Sein Großvater wartete noch ein paar Sekunden, bis die Schritte des Bediensteten verklungen waren. Dann wandte er sich wieder ihm zu: „Inwiefern vielversprechend?“, erkundigte er sich.

„Ruhig und abgeschieden, aber nicht zu weit von Syrakus entfernt. Und vor allem: sehr romantisch.“

Wie kam ihm dieses Wort jetzt in den Sinn? Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, schob sich erneut Megans Bild vor sein inneres Auge, ihr Lächeln, ihre perfekte Figur, das in der Sonne glitzernde nasse Haar … War es ihretwegen, dass er beim Gedanken an den geplanten Kauf noch größere Gewissensbisse hatte als sonst? Was war nur los mit seinen Gedanken und Gefühlen?

Sein Großvater hatte inzwischen einen Schluck Wasser genommen und verzog angewidert das Gesicht. „Das ist ja nicht zum Aushalten“, bemerkte er mit einem Blick zu ihm. „Hast du denn hinsichtlich dieses Grundstücks schon etwas unternommen?“, erkundigte er sich. „Du weißt, in so einem Fall muss man schnell sein.“

„Das habe ich, Großvater. Ich habe Lucio Camerone darauf angesetzt.“

Gauthier Bertrand grinste, beugte sich vor und schlug ihm auf die Schulter. „Gut gemacht, Etienne! Lucio ist ein Fuchs, der wird sich angemessen darum kümmern.“ Er rieb sich die Hände und sah seinen Enkel wohlwollend an. „Du mauserst dich, Junge. Auch wenn du nicht ständig nach Sizilien hinüberfahren sollst, das sage ich dir nicht zum ersten Mal. Was willst du eigentlich dort? In der Hinsicht bist du genau wie dein Vater, der konnte von dieser verdammten Insel auch nicht genug bekommen. Zum Glück trittst du ansonsten nicht in seine Fußstapfen, sondern eher in meine. So weiß ich wenigstens, dass ich ruhig schlafen kann, wenn ich die Firma mal in deine Hände übergebe.“

Etienne hob den Kopf und sah seinem Großvater direkt in die Augen. „Ich bin bereit.“

6. KAPITEL

Am nächsten Morgen erwachte Megan bereits vor Sonnenaufgang. Die Morgendämmerung setzte gerade ein. Am Horizont über dem Meer zeigte sich ein erster rosa Streifen, der sich auf der Wasseroberfläche spiegelte. Kein Windhauch war zu spüren.

Leise stand sie auf, ging ins Bad und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Sie putzte sich die Zähne und schlüpfte in ihren türkisblauen Bikini. Sonnencreme brauchte sie zu dieser frühen Stunde nicht. Sie schnappte sich ein großes Badehandtuch und schlich die Treppe hinab.

Die anderen Gäste schliefen offenbar noch. Nur aus einem Zimmer war leises Rumoren zu hören. Es hörte sich an, als packe dort jemand seine Sachen. Auch Fetzen eines Streites drangen an ihr Ohr. Megan ging schnell weiter. Sie wollte nicht wieder Zeugin von Dingen werden, die sie nichts angingen.

Unter der Küchentür leuchtete ein heller Schimmer hervor. Odetta war also ebenfalls schon auf und bereitete das Frühstück für die Gäste zu.

Megan trat auf die Terrasse hinaus. Die Luft war frisch. Als sie am Küchenfenster vorbeikam, sah Odetta kurz von der Arbeitsplatte hoch. Auch von hier aus hat sie also jeden Morgen einen freien Blick auf das Meer, das ihr vor dreißig Jahren die Tochter genommen hat, dachte Megan beklommen.

Sie winkte Odetta zu und stieg die steilen Stufen zum Strand hinunter. Der Sand unter ihren Füßen war noch kühl von der Nacht. Die Wassertemperatur war aber warm genug für ein morgendliches Bad, denn die Sonne hatte gestern wieder den gesamten Tag kräftig vom Himmel geschienen.

Als Megan die ersten Schritte ins Meer wagte, bekam sie trotzdem eine Gänsehaut. Sobald ihr das Wasser bis zur Hüfte reichte, ließ sie sich hineingleiten und schwamm mit ruhigen, weiten Stößen los.

Es war wunderbar still, nur ein paar Möwen krächzten hoch oben auf den Felsen. Das Wasser hatte fast keinen Wellengang, es wogte sacht und beruhigend. Trotzdem wollte sich keine Entspannung bei ihr einstellen. Zu viele Gedanken gingen ihr im Kopf herum. Odettas herzzerreißende Geschichte vermischte sich mit ihrer eigenen Traurigkeit, und dazwischen blitzten Bilder auf, die sich auf rätselhafte Weise mit dem geheimnisvollen Fremden verbanden.

Als Megan eine halbe Stunde später in die Pension zurückkehrte, kam ihr die Wirtin mit besorgtem Gesichtsausdruck entgegen.

„Odetta, was ist denn passiert?“, fragte Megan erschrocken.

Odetta winkte verzweifelt ab. „Zwei Gäste sind vorzeitig abgereist. Das Paar aus dem Zimmer ganz vorn.“

Das war das Zimmer, in dem vorhin schon Licht brannte, als sie die Treppe heruntergekommen war. Also hatte sie richtig gehört, die Gäste hatten miteinander gestritten und offensichtlich beschlossen, den Urlaub abzubrechen.

„Aber bezahlt haben sie doch ihren ganzen Aufenthalt, oder?“

„Nein“, entgegnete Odetta. „Ich musste ihnen einen Teil des Geldes zurückerstatten.“

„Wieso das denn?“

„Der Anfahrtsweg ist gesperrt worden. Ich hatte die beiden deshalb gebeten, ihr Auto heute stehen zu lassen. Ich wusste, dass sie eigentlich einen Ausflug nach Palermo geplant hatten. Das hat wohl den Ausschlag gegeben.“

„Der Anfahrtsweg ist gesperrt? Wieso das denn? Wer kann denn deinen Weg einfach sperren?“, fragte Megan entgeistert.

„Es ist nicht mein Weg“, erklärte Odetta düster. „Gleich unten beginnen die Olivenhaine von Peppo Campisi.“

„Peppo Campisi? Peppone verwehrt deinen Gästen die Durchfahrt?“ Megan war baff. „Wie kommt er denn dazu?“

„Wahrscheinlich ist er dafür bezahlt worden. Ich wusste gar nicht, dass ich kein Durchfahrtsrecht habe, denn bisher hat er mir nie irgendwelche Schwierigkeiten gemacht. All die Jahre gab es keine Probleme. Aber ab jetzt muss ich hohe Strafgebühren zahlen, wenn meine Gäste den Weg trotzdem benutzen – was sie ja tun müssen, um zur Pension zu kommen.“

Odetta schnaufte wütend und stemmte die Hände in die Hüften.

„Wenn er glaubt, dass er mich damit kleinkriegt, dann hat er sich geirrt“, erklärte sie entschlossen.

„Aber warum sollte Peppone dir plötzlich schaden wollen?“

„Das kommt nicht von Peppone, da hat sicher Matteo seine Finger im Spiel. Oder dieser Makler, der neulich hier war, da bin ich mir ziemlich sicher. Erinnerst du dich? Dieser Mafioso hat Matteo bestochen, jede Wette. Für Geld macht Matteo alles. Ich wusste gar nicht, dass Peppone mir seit dreißig Jahren aus reiner Freundlichkeit den Weg durch seine Haine gestattet hat.“

Odetta seufzte.

„Sicher glaubt der Kerl, wenn er meinen Gästen den Urlaub hier erschwert, bleiben sie weg. Und wahrscheinlich hat er damit sogar recht. Wenn sich das rumspricht, stornieren bestimmt noch weitere Urlauber die Zimmer.“

„Aber“, überlegte Megan laut, „kann dir dieser Makler denn wirklich einfach die Zufahrt sperren? Dann wärst du hier oben ja von der Versorgung abgeschnitten. Da muss es doch irgendein Gesetz geben, das das verbietet.“

Die alte Sizilianerin schüttelte den Kopf. „Cara, es gibt ja noch den schmalen Weg durch die Felsen. Den könnten meine Gäste nehmen. Dazu müssten sie ihr Auto aber vorn an der Straße stehen lassen und ihr ganzes Gepäck zu Fuß hochschleppen.“ Sie zuckte resigniert mit den Schultern. „Von den Bauern unten kann ich jedenfalls kein Entgegenkommen erwarten, so viel steht fest.“

Megan hob kämpferisch den Kopf. „Das wollen wir doch erst mal sehen!“

Am Montagmorgen machte Megan sich auf den Weg zu Lucio Camerone, dem Makler, der Odetta seine Visitenkarte hinterlassen hatte – wahrscheinlich, damit sie ihn jederzeit anrufen konnte, falls sie sein lächerliches Angebot annehmen wollte.

Lucio wie Luzifer, dachte sie böse. Der Name passte. Wer mit solchen Mitteln arbeitete, hatte keinen besseren verdient.

Odetta hatte bereits einen ersten Strafzoll für die beiden Gäste bezahlen müssen, die natürlich trotzdem den Weg durch Peppones Haine benutzt hatten. Matteo hatte noch am selben Tag eine Rechnung in den Briefkasten unten geworfen. Er verlor wirklich keine Zeit.

Der Weg durch die Felsen war relativ schnell geschafft, denn er führte steil hinab. Megan lief diesmal auf einem Umweg zur Hauptstraße. Sie wollte vermeiden, von Peppone aufgehalten zu werden, wenn sie seine Haine durchquerte. Sie würde den Bus nach Syrakus verpassen, falls sie mit dem alten Bauern zu diskutieren begänne. Der Bus fuhr nur alle drei Stunden.

An der Hauptstraße musste sie sich kurz orientieren. Sie hatte bisher auf Sizilien nie öffentliche Verkehrsmittel benutzt. Normalerweise war sie immer mit einem Mietwagen unterwegs.

Zum Glück brauchte sie nicht lange zu warten, der Bus kam pünktlich. Megan stieg ein, bezahlte und ging nach hinten durch, um dort möglichst unauffällig ihre Schuhe zu wechseln. Für den steilen Weg zwischen den Klippen hatte sie flache Ballerinas gewählt, um aber auf den Makler einen souveränen Eindruck zu machen, hatte sie außerdem Pumps dabei, die sie jetzt anzog. Danach schaute sie aus dem Fenster. Endlose Oliven- und Zitronenhaine zogen draußen vorbei. Die erdigen Farben passten gut zum strahlenden Azurblau des wolkenlosen Himmels.

In Syrakus angekommen, machte sie sich sofort auf den Weg zum Büro des Maklers. Sie musste ein ganzes Stück laufen, denn die Altstadt war für den normalen Verkehr gesperrt, außerdem war sie zwei Stationen zu früh ausgestiegen. Ein Auto mit Navi war definitiv bequemer, um sich in einer fremden Stadt zu orientieren.

Andererseits war das hier Urlaub. Also durfte sie sich unterwegs ruhig an den Geschäften, den Bars und Trattorien sowie dem bunten Treiben auf den Straßen erfreuen. Nach dem Gespräch mit Lucio Camerone würde sie sich einen Cappuccino in einem der vielen kleinen Cafés gönnen.

Schließlich stand sie vor dem imposanten sandsteinfarbenen Gebäude, in dem der Makler sein Büro hatte. Mit den beiden Jungfrauenstatuen neben dem Eingang und den hohen Fenstern vermittelte es einen einschüchternden Eindruck. Megan schluckte. Die nächsten Minuten würden nicht leicht werden.

Kurze Zeit später stand sie wieder auf der Straße.

Dieser ungehobelte Kerl hatte sie tatsächlich hinausgeworfen! Erst hatte seine Sekretärin versucht, sie abzuwimmeln, aber als Megan an der Frau vorbei einfach in sein Büro gestürmt war, hatte Lucio Camerone persönlich damit gedroht, sie durch die pubblica sicurezza, die Polizei, abführen zu lassen.

Megan ärgerte sich über sich selbst. Diese ganze Aktion hatte Odetta wahrscheinlich mehr geschadet als genutzt. Eventuell würde sich der Makler nun sogar noch weitere Gemeinheiten einfallen lassen, dabei litt Odetta schon genug. Megan fühlt eine Welle schlechten Gewissens in sich aufsteigen. Hatte sie der Wirtin mit ihrem gut gemeinten Versuch, die Angelegenheit zu schlichten, am Ende einen Bärendienst erwiesen?

„Megan? Hallo? Megan, sind Sie das?“

Eine laute Stimme riss sie aus ihren grüblerischen Gedanken. Es war eine wohlklingende Stimme, die ihr durch Mark und Bein ging. Überrascht fuhr sie herum. „Etienne?“

Er war es tatsächlich. Schlank und hochgewachsen stand er vor ihr, in einem modischen Poloshirt, unter dem sich die Muskeln seiner breiten Brust abzeichneten. In seinen dunklen Augen lag ein Lächeln.

Was für ein Zufall! Da hatte er sich noch zwei Tage zuvor stundenlang den Kopf zerbrochen, wie er es möglichst unauffällig anstellte, Megan zu treffen – und nun stand sie direkt vor ihm und schien sich genau wie er über das unverhoffte Wiedersehen zu freuen.

„Ich habe geschäftlich hier zu tun“, erklärte Etienne schnell. Er konnte es kaum glauben, dass sie sich ausgerechnet vor Lucio Camerones Büro wiederbegegneten – dem einzigen Platz, den Megan aus guten Gründen nicht mit ihm in Verbindung bringen sollte. „Und was machen Sie hier?“

„Ach, nichts Besonderes“, entgegnete sie. „Ich wollte etwas erledigen, genauer gesagt, eine Angelegenheit klären. Aber es hat leider nicht funktioniert.“ Neugierig sah sie ihn an. „Und Sie?“

Eine heikle Frage. Etienne kniff die Augen zusammen und schaute kurz über die Piazza. Eigentlich war er heute nach Syrakus zurückgekommen, um Lucio Camerone erneut ins Gewissen zu reden. Mit dem Makler würde er ab jetzt öfter zu tun haben, da war es sicher nicht falsch, dem Mann den eigenen Standpunkt noch einmal ganz genau klarzumachen. Aber davon sollte Megan nach Möglichkeit nichts erfahren.

„Ach, meine Arbeit ist ebenfalls nichts Besonderes“, sagte er ausweichend.

Megan sah ihn an. „Sie wollen mir nichts über Ihre Geschäfte verraten, habe ich recht? Das verstehe ich natürlich, wir kennen uns ja gar nicht.“

„Das könnten wir allerdings ändern“, antwortete Etienne schnell. „Zufällig gibt es ganz in der Nähe ein nettes kleines Café. Haben Sie Lust, einen Kaffee mit mir zu trinken?“

Fünf Minuten später saßen sie an einem runden Tischchen unter einem riesigen Schirm, der die Sonne, die heiß in die schattenlose Gasse strahlte, zuverlässig abhielt.

„Ach, wie angenehm.“ Megan seufzte. „Ich bin zwar schon ein paar Tage hier, aber so richtig habe ich mich noch nicht an die südliche Sonne gewöhnt. Vor allem mittags ist es ziemlich heiß in der Stadt. In Odettas kleiner Pension am Meer merkt man es nicht so, da geht ständig ein leichter Wind.“

Der Kellner kam, um ihre Bestellungen aufzunehmen. Megan entschied sich für einen Saft aus frisch gepressten Orangen, die hier fast das ganze Jahr in der Sonne reiften. Etienne orderte einen Kaffee. Dann lehnte er sich zurück.

„Erzählen Sie mir doch noch ein bisschen von sich.“

Megan errötete. „Was möchten Sie denn hören?“

Etienne zuckte mit den Schultern. „Was Sie wollen. Mich interessiert alles.“

Alles? Megan spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. Das hier ist nur ein unverbindliches Gespräch, rief sie sich zur Ordnung, auch wenn der Mann, der dir gegenübersitzt, aussieht, als wäre er einem orientalischen Märchen entstiegen.

Etiennes markantes Kinn, der dunkle Bartschatten auf seiner braunen Gesichtshaut, die schwarzen Haare und seine glänzenden schwarzen Augen ließen ihn unwiderstehlich aussehen. Megan hatte plötzlich das Gefühl, den Blick nicht mehr von ihm abwenden zu können.

„Ich habe kein übermäßig interessantes Leben“, sagte sie verlegen.

„Das glaube ich Ihnen nicht“, konterte Etienne sofort. „Jeder Mensch hat irgendetwas Interessantes. Oft ist es einfach nur gut verborgen.“

Der Kellner kam und brachte die Getränke. Froh über die kurze Pause nahm Megan ein paar Schlucke von ihrem Saft und setzte das Glas wieder ab.

„Ich bin Journalistin“, begann sie zu erklären.

„Journalistin? Das stelle ich mir sehr interessant vor.“

„Ja, wenn alles so gelaufen wäre, wie ich es geplant hatte. Eigentlich wollte ich investigativ arbeiten, irgendwelchen Schurken auf die Spur kommen und mir mit brandheißen Storys einen Namen machen.“ Megan zuckte mit den Schultern. „Stattdessen werde ich nun immer nur zu langweiligen Versammlungen in der Region geschickt. Ich kann froh sein, wenn mal eine Museumseröffnung dabei ist. Nichts Aufregendes.“

Etienne zuckte beim Wort ‚investigativ‘ kurz zusammen. Würde sie ihm auf die Schliche kommen? Aber so, wie sie ihre derzeitige Arbeit beschrieb, klang die wirklich nicht spannend. Dabei war er sich sicher, dass Megan eine aufgeschlossene, neugierige und aufmerksame Beobachterin war. Bestimmt war sie eine gute Journalistin.

Und eine sehr hübsche noch dazu. Ihre sanft geschwungenen Lippen schimmerten im Sonnenlicht, und einige der blonden Haarsträhnen, die ihr Gesicht umrahmten, ringelten sich bis auf ihr umwerfendes Dekolleté hinab. Unversehens erwachte pure Lust bei ihm. Er spürte, wie ihm heiß wurde – und das hatte definitiv nichts mit der Mittagssonne zu tun. Es musste doch irgendeine Möglichkeit geben, dieses unverhoffte Wiedersehen ein wenig auszudehnen.

Dann kam ihm die Idee. Megan war, bedingt durch ihren Beruf, sicher sehr an außergewöhnlichen Orten interessiert. Hatte sie ihm nicht gerade durch die Blume gestanden, dass sie ein bisschen Abenteuer in ihrem Leben durchaus vermisste? Wie wäre es, wenn er ihr ein wirklich ausgefallenes Ausflugsziel zeigte? Dazu konnte sie als Journalistin bestimmt nicht Nein sagen.

„Haben Sie eigentlich schon mal vom Ohr des Dionysios gehört?“, fragte er und freute sich, dass ihm die kuriose Touristenattraktion noch rechtzeitig eingefallen war.

Megan sah ihn erstaunt an. „Ja. Das ist ein Ausflugsort ganz hier in der Nähe, nicht wahr?“

„Stimmt. Es ist wirklich nicht weit, nur etwa einen Kilometer. Wir könnten zu Fuß hinwandern, wenn Sie möchten. Allerdings wäre das bei diesen Temperaturen nicht gerade angenehm.“

Megan stutzte. „Sie wollen jetzt dorthin? Mit mir?“

„Ja, warum nicht? Es ist sehr schön da. Haben Sie denn Zeit und Lust, mich zu begleiten?“

Megan zögerte kurz und nickte dann entschlossen. „In Ordnung“, sagte sie. „Ich bin tatsächlich noch nie da gewesen, obwohl ich schon zum dritten Mal auf Sizilien bin.“

„Zum dritten Mal? Dann wird es ja Zeit“, erwiderte Etienne. „Der archäologische Garten ist wirklich sehr schön. Ich bin gern und oft dort.“

„Dann wohnen Sie also in Syrakus? Ich habe mich schon gefragt, woher Sie kommen. Ihr Name klingt Französisch.“

Verdammt, die letzte Bemerkung hätte ihm nicht herausrutschen dürfen. Megan kombinierte rasch. Auf keinen Fall durfte sie seinen Familiennamen erfahren. Am Ende glaubte sie noch, er würde sich nur wegen der Pension für sie interessieren.

„Ja, mein Name ist französisch“, antwortete er einsilbig und gab dem Kellner ein Zeichen. Er bezahlte seinen Kaffee und den Obstsaft, obwohl Megan protestierte.

Sie standen auf und liefen ein kleines Stück bis zu dem Bereich, der nicht mehr autofrei war. Dort winkte Etienne einem Taxi. „Damit sind wir schneller da“, erklärte er auf Megans erstaunten Blick. Seinen teuren Sportwagen, der am Jachthafen parkte, wollte er nicht benutzen, das hätte nur Fragen aufgeworfen.

„Gut“, entschied Megan. „Aber das Taxi zahle ich. Sie haben schon im Café bezahlt.“

Da sie sich nicht umstimmen ließ, gab Etienne schließlich nach. „Okay. Dann bin ich nachher beim Eintritt wieder dran“, sagte er lachend.

Er sieht wirklich verdammt gut aus, dachte Megan. Was war das hier eigentlich? Ein harmloser Ausflug? Oder schon ein kleiner Flirt?

Das Taxi fuhr los. Etienne war hinten mit ihr eingestiegen. Nun saßen sie nebeneinander auf der Rückbank. Bei jeder Kurve berührten sich ihre Arme. Zudem stieg ihr sein Aftershave in die Nase. Es duftete angenehm herb nach Zedernholz. Plötzlich wünschte sie sich, dass die Strecke länger als ein Kilometer wäre.

Viel zu schnell hielt das Taxi wieder. Sie stiegen aus und schlenderten einen gewundenen Weg entlang, der zum Eingang des archäologischen Gartens führte. Etienne zahlte den Eintritt, dann betraten sie das Gelände.

„Das hier sind die berühmten ‚Latomien‘ von Syrakus“, erklärte er ihr. „Es sind alte Steinbrüche, aus denen man früher das Material für die Häuser hier geholt hat. Die Steine wurden direkt aus dem Inneren der Berge herausgebrochen, weil die Qualität dort besser ist. Dadurch sind diese riesigen Höhlen entstanden, von denen allerdings einige eingestürzt sind.“

Megan sah sich erstaunt um. Der Boden des gesamten Geländes war wie von einem grünen Teppich überzogen. Viele einheimische, aber auch exotische Pflanzen hatten sich hier angesiedelt. Zwischendrin lagen überall meterhohe Felsbrocken.

Zusammen wanderten sie zwischen den Felsen umher. An manchen Stellen liefen sie dabei fast wie in einer Schlucht. Hin und wieder waren mannshohe Löcher in die gewaltigen Blöcke geschlagen, durch die man hindurchgehen konnte. Das Gestein war mit vielerlei Ranken und Gebüsch bewachsen, ganz oben sah man die Wurzeln einiger kleiner Palmen, die an diesen unsicheren Stellen Halt gefunden hatten und nun dem Wind trotzten.

„Und, gefällt es Ihnen hier?“, fragte Etienne nach einer Weile.

„Es ist wunderschön“, erwiderte Megan. „Seltsam, dass ich nicht schon mal selbst hierher gefahren bin. Bisher war ich immer nur in Syrakus. Wahrscheinlich liegt es daran, dass es in Odettas Pension so romantisch ist.“

Kam es ihr nur so vor oder war Etienne bei der Erwähnung der Pension zusammengezuckt?

„Kommen Sie, ich zeige Ihnen einen mindestens genauso romantischen Ausblick“, sagte er und nahm sie bei der Schulter.

Plötzlich roch Megan wieder den herben Duft seines Aftershaves, und durch den leichten Stoff ihres Kleides hindurch spürte sie Etiennes Körperwärme.

Egal, was er mir zeigen will, dachte sie, hoffentlich haben wir ein längeres Stück bis dorthin zu laufen.

Allzu schnell waren sie die wenigen Felsenstufen hinaufgestiegen, zu denen er sie führen wollte. Unvermittelt tat sich vor ihnen ein weiter Blick über das Meer auf. Die Aussicht war überwältigend. Sie standen oben am Rand eines alten Amphitheaters.

„Na, habe ich Ihnen zu viel versprochen?“, fragte Etienne leise. „Stellen Sie sich die Situation der Leute von früher einmal vor: über sich den Himmel, vor sich das Meer und unten die Theateraufführungen. Dazu ein sommerlich warmer Abend mit leichtem Wind, dem Duft von Blüten und Gräsern und dem entfernten Rauschen des Meeres.“

Megan hatte die Augen geschlossen und lauschte Etiennes Beschreibung. Dauerhaft hier zu leben, in dieser Landschaft, wo die Sonne immer schien, das Meer immer azurblau glitzerte und selbst der Regen warm war, das musste paradiesisch sein. Vielleicht sogar mit einem Mann, den man liebte …

„Und nun“, hörte sie Etienne nah neben sich sagen, „zeige ich Ihnen noch etwas ganz Besonderes: das Ohr des Dionysios. Kommen Sie.“

Er nahm seinen Arm von ihren Schultern – Megan fühlte plötzlich Kühle an dieser Stelle – und reichte ihr die Hand, um sie beim Hinuntersteigen der ungleichen Stufen zu unterstützen. Zurück auf dem Weg ließ er sie los, und Megan wurde sich der Umgebung wieder bewusst.

Hatte sie sich mit Steve eigentlich jemals so leicht gefühlt, so unbeschwert, so beschwingt? Ihre Zeit mit dem Sensationsjournalisten war eher belastend gewesen, denn die gemeinsamen Stunden hatte er oft durch irgendwelche Aktivitäten für seinen Job gestört. Und immerzu war es ihm nur um sein berufliches Fortkommen gegangen.

Jetzt hingegen fühlte sie sich wunderbar frei. Auch Etienne machte einen gelösten Eindruck. Seine Augen glänzten.

Zusammen gingen sie den Weg zurück bis zu einem schwindelerregend hohen, schmalen Höhleneingang. Er war tatsächlich wie ein Ohr geformt und eröffnete den Weg in einen riesigen dunklen Raum, der sich wie eine Kathedrale über ihnen erhob. Beeindruckt legte Megan den Kopf in den Nacken und schaute hinauf an die Decke. „Es ist überwältigend“, flüsterte sie.

„Nicht wahr?“ Auch Etiennes Stimme war jetzt ganz leise. „Bleiben Sie mal hier stehen und schließen Sie die Augen“, ordnete er an.

Sie gehorchte und fühlte, dass er einige Schritte von ihr zurücktrat und tiefer in die Höhle hineinging. Ein paar Sekunden vergingen.

„Megan, tu es magnifique“, wisperte seine Stimme plötzlich ganz nah an ihrem Ohr.

Erstaunt öffnete Megan die Augen, aber da war niemand neben ihr. Überrascht schaute sie sich um. Etienne winkte ihr aus etwa zehn Metern Entfernung zu.

„Na, was sagen Sie dazu?“, flüsterten die Felswände neben ihr.

Verblüfft sah Megan erneut zu Etienne hinüber, dann verstand sie. Es musste hier, bedingt durch die seltsame Form der Höhlenwände, eine besondere Art von Akustik geben, die den Schall der Geräusche viel weiter transportierte als üblich.

Etienne hielt in der Ferne seine Eintrittskarte hoch, damit sie sie sehen konnte, und zerriss sie dann langsam in kleine Stücke. Tatsächlich. Die Felswände neben ihr raschelten geheimnisvoll und übertrugen das Geräusch glasklar.

„Das ist ja der Wahnsinn“, sagte sie leise mehr zu sich und trat einen Schritt näher an die Felswand heran.

Neben ihr erklang leises Lachen.

„Passen Sie auf, was Sie sagen“, flüsterten die Wände. „Ich kann jedes Wort hören.“

„Ach wirklich?“, fragte sie herausfordernd, trat einige Schritte von der Felswand weg, bewegte lautlos die Lippen und sah zu Etienne hinüber. Er bemühte sich, etwas zu verstehen, hob dann lachend die Hände und kam zu ihr zurück.

„Ein interessantes Phänomen, nicht wahr?“, fragte er. „Früher haben die Touristenführer den Besuchern immer gezeigt, wo die Stelle mit der allerbesten Akustik ist. Heute muss man sie selber finden. Wollen wir?“

Megan nickte, also gingen sie in entgegengesetzte Richtungen los. Sie strich im Gehen mit der Hand an der Felswand entlang. Sie fühlte sich kühl und angenehm glatt an und erinnerte tatsächlich an die Häuser, die sie in Syrakus gesehen hatte. Lucio Camerones prächtige Villa fiel ihr ein.

„Megan … Megan … Megan …“, flüsterte es plötzlich neben ihr.

Überrascht schaute sie sich nach Etienne um. Er war mindestens dreißig Meter von ihr entfernt.

„Von hier aus könnte ich Ihnen meine intimsten Geheimnisse verraten, Megan, und niemand außer Ihnen würde es hören“, wisperten ihr die Wände zu.

Megan fühlte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. „Dann tun Sie es doch einfach“, flüsterte sie zurück.

„Haben Sie selbst denn welche?“, fragte Etiennes Stimme neben ihr.

Megan überlegte und wandte sich der Wand zu. „Das kommt darauf an, was Sie unter einem Geheimnis verstehen“, wisperte sie. „Zum Beispiel kann ich ein bisschen Französisch und konnte deshalb verstehen, was Sie geflüstert haben.“ Sie lachte leise und stellte sich Etiennes überraschtes Gesicht vor. „Und was ist Ihr Geheimnis?“, fragte sie flüsternd.

Die Antwort brauchte einige Sekunden: „Ich würde Sie gern wiedersehen.“

7. KAPITEL

Megan saß im Bus und schaute aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen. Sie war auf dem Weg zurück zur Pension. Draußen flog die sizilianische Landschaft vorbei, die in der Abendsonne einen goldenen Farbton angenommen hatte. Die Olivenbäume bewegten sich im Wind, ihre Blätter flimmerten silbrig. Es war ein wunderbarer Kontrast zum Himmel, der sich ins Violette zu verfärben begann.

Sie fühlte sich seltsam. Der Tag war – abgesehen von ihrem enttäuschenden Auftritt bei Lucio Camerone – fantastisch verlaufen. Hatte sie nicht heimlich davon geträumt, Etienne wiederzusehen? Nun war genau das passiert, und das ausgerechnet vor dem Büro des Maklers. Und sie hatten nicht nur einen Kaffee getrunken, sondern waren anschließend noch stundenlang durch den archäologischen Garten gebummelt.

Ganz abgesehen von den aufregenden Erlebnissen in der Flüsterhöhle. Magnifique hatte Etienne sie dort genannt, das hieß so viel wie ‚umwerfend schön‘. Normalerweise ließ sie sich nicht sofort auf Abenteuer wie dieses ein, schon gar nicht mit einem Mann, den sie so gut wie gar nicht kannte. Aber irgendwie hatte Etienne es geschafft, mit seinem Vorschlag ihre journalistische Neugier zu wecken. Und er hatte recht, die Höhle war wirklich faszinierend.

Eventuell könnte sie darüber sogar mal einen Artikel schreiben. Plötzlich kam ihr eine Idee. Vielleicht war die Arbeit für ein Reisemagazin überhaupt eine Alternative zu ihrem derzeitigen langweiligen Job in London.

In die Erinnerung an den Ausflug versunken, wechselte Megan für ihren bevorstehenden Weg durch die Felsen die Schuhe. Sie war beinahe der einzige Fahrgast im Bus. Etienne hatte ihr zwar vorgeschlagen, für die Rückfahrt von Syrakus auch ein Taxi zu nehmen, er hatte ihr sogar angeboten, das Taxi zu bezahlen, aber sie hatte abgelehnt. Die Strecke war mit dem Bus gut zu bewältigen, außerdem wollte sie nicht, dass er schon wieder irgendwelche Kosten für sie übernahm.

Der Satz, den er ihr als allerletzten in der Höhle zugeflüstert hatte, hallte immer noch in ihr nach. Er hatte sie für den nächsten Abend zum Dinner eingeladen.

Die Dämmerung setzte ein. Langsam kam die Natur zur Ruhe. Tiefer Frieden legte sich über die Landschaft, das Licht wechselte unmerklich ins Bläuliche.

Megan stieg aus dem Bus und nahm den Weg durch Peppones Haine. Sie wollte mit ihm reden, bevor sie sich später mit Odetta auf die Terrasse setzte. Den ganzen Tag hatte sie nicht mehr an ihre Wirtin gedacht. Nun regte sich das schlechte Gewissen.

Peppone arbeitete tatsächlich noch zwischen den Bäumen. Als er sie bemerkte, winkte er ihr zu. Das nahm Megan als Zeichen, dass er ihr nicht böse war, obwohl sie quer durch seine Felder lief. Sie steuerte direkt auf ihn zu.

Ciao, Peppone.“

Ciao, Megan.“ Peppone wischte sich über die Stirn und sah sie an. „Come stai?“

Das Arbeiten auf dem Feld fiel ihm offenbar zunehmend schwerer.

Sto bene. Danke, Peppone, es geht mir gut. Und dir? Arbeitest du noch?“

Peppone nickte, während er damit fortfuhr, einen Ast hochzubinden, der durch sein eigenes Gewicht abzubrechen drohte. „Warst du in Syrakus?“, fragte er nebenbei.

„Ja“, bestätigte Megan, trat an den Baum heran und hielt den Ast hoch, sodass Peppone die Hände frei hatte. „Ich war in Ortigia und bei den alten Steinbrüchen im archäologischen Garten. Kennst du die? Sie sind wunderschön.“

„Natürlich.“ Peppone nickte. „Hier, halt das mal.“ Er drückte ihr eine Rolle mit reißfestem Band in die Hand. „Die Steinbrüche haben in der Geschichte von Syrakus immer eine wichtige Rolle gespielt, wusstest du das? Einerseits wegen des Baumaterials, aber auch als Gefangenenlager. Dort sind zu Zeiten der alten Griechen mal Tausende Soldaten festgehalten worden.“

Megan schluckte. Das war ihr Stichwort.

„Du, Peppone, ich wollte dich noch was fragen. Wieso macht ihr eigentlich Odetta plötzlich das Leben so schwer? Sie hat mir erzählt, dass es bisher nie Schwierigkeiten mit dem Wegerecht gab, warum denn dann jetzt auf einmal?“

Peppone sah sie von der Seite an. „Das ist Matteos Angelegenheit“, brummte er ungehalten.

„Das stimmt. Aber du bist doch sein Vater. Könntest du nicht …“

Peppone schnaubte. „Nein, das kann ich nicht. Es tut mir leid, Megan, das alles geht dich nichts an.“

Megan nickte und schaute auf den Boden, wo sich die Wurzeln einiger Bäume aus der Erde gedrückt hatten. Sie waren uralt und knorrig und über Generationen gewachsen, genau wie die sozialen Strukturen hier im Dorf. Es stimmte, es ging sie nichts an, was Matteo tat oder ließ, aber Odetta tat ihr leid. Warum sollte die Wirtin leiden, nur weil ein unverschämter Makler es auf ihre Pension abgesehen hatte und ein geldgieriger Olivenbauernsohn ihm dabei behilflich war?

„Könntest du nicht noch einmal in Ruhe mit Matteo sprechen, Peppone?“, fragte sie leise. „Schau mal, Odetta kann doch nichts dafür. Was sagen denn überhaupt die anderen Bauern dazu? So ein Verhalten fällt auf das ganze Dorf zurück.“

Peppone hatte den Ast fertig hochgebunden. Er hob den Kopf und sah sie an. „Die anderen Bauern werden dazu gar nichts sagen. Odetta gehört nicht mehr zur Dorfgemeinschaft. Sie hat damals ihren Mann verlassen.“

„Aber das hat sie doch nur getan, weil sie dem Meer näher sein wollte, in dem ihre Tochter ertrunken ist.“

„Ach, hat sie dir das so erzählt?“ Peppone schob sich den Hut in die Stirn und schaute kurz zu den Felsen hinüber, hinter denen die Pension lag, und dann mit einem sonderbaren Blick in Richtung Horizont. „Das ist leider nicht die ganze Wahrheit“, sagte er.

„Wie meinst du das?“, fragte Megan alarmiert.

Peppone brummelte etwas Unverständliches, nahm den Eimer, in dem das Werkzeug lag, vom Boden auf und wandte sich zum Gehen.

„Peppone! Bitte sprich mit mir! Was ist damals passiert?“

Der alte Bauer stoppte und drehte sich noch einmal zu ihr um.

Autor

Lucy Monroe
<p>Die preisgekrönte Bestsellerautorin Lucy Monroe lebt mit unzähligen Haustieren und Kindern (ihren eigenen, denen der Nachbarn und denen ihrer Schwester) an der wundervollen Pazifikküste Nordamerikas. Inspiration für ihre Geschichten bekommt sie von überall, da sie gerne Menschen beobachtet. Das führte sogar so weit, dass sie ihren späteren Ehemann bei ihrem...
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