Romana Extra Band 111

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GEWAGTE ENTSCHEIDUNG IN LIGURIEN von PENNY ROBERTS
Für das hoch verschuldete Weingut ihres Vaters in Ligurien braucht Aliena dringend einen Käufer. Aber es an Vittorio Conti abgeben? Niemals! Schließlich sind ihre Familien seit Langem verfeindet. Doch ungewollt fühlt sie sich immer mehr zu dem attraktiven Winzer hingezogen …

IST DIESES GLÜCK NUR GESPIELT? von KANDY SHEPHERD
Sydneys bekannteste Brautmoden-Designerin Eloise Evans hat der Liebe abgeschworen. Wenn das nur nicht so schlecht fürs Geschäft wäre! Da schlägt Milliardär Josh Taylor vor, ihren Verlobten zu spielen. Die perfekte Lösung! Bis er sie zum Schein küsst – und es erregend echt prickelt …

TROPENWIND AUF ZARTER HAUT von ELIZABETH POWER
Weißer Sand, türkisblaues Meer und ein Gastgeber, der ihre erotischen Fantasien beflügelt: Diese Insel könnte das Paradies sein. Doch Lauren ist überzeugt, dass der mächtige Reeder Emiliano Cannavaro sie nur aus einem Grund in die Karibik gelockt hat: um ihr das Liebste zu nehmen!

ROT IST DIE FARBE DER LIEBE von JACQUELIN THOMAS
Mit einem Strauß roter Rosen steht Landon plötzlich vor ihr und behauptet, Jadin sei seine Frau. Hat er ihre Las-Vegas-Ehe etwa nie annullieren lassen? Gegen jede Vernunft schlägt Jadins Herz höher. Dabei hat sie gerade den Antrag eines anderen angenommen …


  • Erscheinungstag 31.08.2021
  • Bandnummer 111
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500272
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Penny Roberts, Kandy Shepherd, Elizabeth Power, Jacquelin Thomas

ROMANA EXTRA BAND 111

PENNY ROBERTS

Gewagte Entscheidung in Ligurien

Die Feindschaft zwischen ihren Familien will Vittorio nur aus einem Grund beenden: damit Aliena ihm ihr Weingut verkauft! Nicht etwa, weil er sie vom ersten Augenblick an heimlich begehrt …

KANDY SHEPHERD

Ist dieses Glück nur gespielt?

Milliardär Josh bietet Brautmoden-Designerin Eloise eine Scheinverlobung an, denn ihr Singleleben soll nicht länger ihrem Geschäft schaden. Bloß warum knistert es plötzlich so heiß in ihrer Nähe?

ELIZABETH POWER

Tropenwind auf zarter Haut

Laurens Kurven im Bikini wecken verbotene Erinnerungen in Emiliano. Ging es ihr damals wirklich nur um sein Geld? Der milliardenschwere Reeder will es herausfinden: durch erotische Erpressung!

JACQUELIN THOMAS

Rot ist die Farbe der Liebe

Wie kann Ex-Geheimagent Landon Trent seine geliebte Noch-Ehefrau Jadin zu einem Neuanfang bewegen? Auch wenn erneut das Feuer der Leidenschaft zwischen ihnen brennt, scheint ihr Herz nicht mehr frei …

1. KAPITEL

Ärgerlich lief Vittorio Conti den langen Korridor zum Arbeitszimmer seines Großvaters hinunter. Der dicke burgunderrote Teppich schluckte seine Schritte, was er als eigentümlich unbefriedigend empfand.

Frustrierend.

Aber diese Beschreibung traf im Grunde auf alles zu, was mit seinem Großvater zu tun hatte.

Vittorio war noch ein kleiner Junge gewesen, als seine Eltern bei einem tragischen Autounfall ums Leben kamen. Salvatore Conti hatte sich, wenn auch widerstrebend, bereit erklärt, seine Enkel bei sich aufzunehmen. An dem Tag, an dem die Frau von der Fürsorge sie im Castello ablieferte, war ihr Großvater nicht mal zu Hause. Eine Großmutter gab es nicht, denn die war ein paar Jahre zuvor gestorben. Und so war es dem Butler überlassen geblieben, die drei völlig verunsicherten Jungen zu empfangen.

Sie hatten gerade erst ihren Vater und ihre Mutter verloren und kannten den Mann, bei dem sie in Zukunft leben würden, noch nicht mal. Der Kontakt zwischen ihrem Vater und dessen Vater war schon vor ihrer Geburt abgerissen, und sie hatten ihren Großvater nur auf der Beerdigung einmal kurz zu Gesicht bekommen.

Nein, er war wahrlich nicht die ideale Person gewesen, um sich um drei heranwachsende Jungen zu kümmern, die gerade einen schweren Verlust erlitten hatten.

In gewisser Weise war es ihm, als dem Nesthäkchen, am besten ergangen. Vittorio war noch zu jung gewesen, um das alles wirklich zu begreifen, ganz im Gegensatz zu seinen Brüdern Armando und Lorenzo.

Mit ihm war ihr Großvater Salvatore wesentlich milder ins Gericht gegangen als mit Armando und Lorenzo. Er hatte sich Dinge erlauben können, für die seine beiden älteren Brüder hart bestraft worden wären. Wahrscheinlich, weil er als dritter Enkel nicht so wichtig war.

Da Armando der älteste war, hatte auf seinen Schultern die Erwartung gelastet, eines Tages das Conti-Weinimperium zu übernehmen. Während es für ihn schwer gewesen war, es Salvatore recht zu machen, hatte ihr Großvater Lorenzo nur gelegentlich zu Pflichten herangezogen, wohingegen er, Vittorio, ziemlich unbehelligt aufwuchs.

Vittorio wusste, dass seine Brüder fanden, er hätte es wesentlich leichter gehabt als sie. Und das stimmte sicherlich auch in gewisser Weise. Aber seitdem war viel geschehen.

Armando hatte die Verantwortung, die Salvatore ihm aufgezwungen hatte, abgeschüttelt. Er führte inzwischen einen Nachtclub in Rom und hatte mit dem Weingut und allem, was dazugehörte, nichts mehr zu tun. Es war ein Kampf für ihn gewesen, sich von alldem zu befreien, aber Armando hatte es geschafft.

Lorenzo hingegen war eines Tages einfach spurlos verschwunden und erst vor ein paar Monaten wieder aus der Versenkung aufgetaucht. Auch er war inzwischen ein gemachter Mann und besaß eine Kette luxuriöser Hotels an der Côte d’Azur.

Es blieb also nur noch er selbst, um in die Fußstapfen seines Großvaters zu treten.

Dummerweise schien der alte Mann keineswegs bereit, das einzusehen.

Als Vittorio die schwere, zweiflüglige Eichentür am Ende des Korridors erreichte, verharrte er kurz und holte tief Luft. Dann trat er ein, ohne vorher anzuklopfen.

„Vito“, sagte Salvatore, der hinter seinem wuchtigen Schreibtisch saß und ein Dokument studierte. Sein Blick blieb auch darauf fixiert, als er auf den Besucherstuhl deutete. Falls der alte Mann sich darüber ärgerte, dass sein Enkel einfach so in sein Büro geplatzt war, ließ er es sich nicht anmerken. „Du bist zu früh. Ich habe dich erst in zwanzig Minuten erwartet – jetzt wirst du dich wohl oder übel gedulden müssen, bis ich hier fertig bin.“

Vittorio ignorierte den ihm angebotenen Stuhl und trat stattdessen ans Fenster. Umrahmt von schweren tiefroten Samtvorhängen bot es einen fantastischen Blick hinaus auf die Weinberge. Das alles, so weit das Auge reichte, war Conti-Land und schon seit Generationen im Besitz der Familie. Doch inzwischen hatte Salvatore auch Weingüter in anderen Regionen Italiens erworben und die Conti Winery von einem bekannten Provinzweingut zu einer der größten Kellereien Italiens gemacht. Sein Einfluss erstreckte sich über ganz Europa. Bei Weinkennern überall auf der Welt standen Conti-Weine hoch im Kurs.

Es bestand kein Zweifel daran, dass Salvatore das Firmenunternehmen zu ungeahnten Höhen geführt hatte. Er war durch und durch Geschäftsmann und gab sich niemals mit halben Sachen zufrieden. Umso weniger verstand Vittorio, wieso er überhaupt in Erwägung zog, irgendjemand anderem als ihm die Nachfolge der Kellerei zukommen lassen zu wollen.

Wer war denn dafür verantwortlich, dass alles reibungslos ablief? Wer sorgte für eine zügige Reparatur, wenn wieder mal eine der Pumpen den Geist aufgab? Wer beruhigte die Arbeiter, wenn von Einsparungen die Rede war? Und wer kümmerte sich um all die kleinen und größeren Katastrophen, die jeden Tag stattfanden?

Die Antwort auf diese Frage war schnell gefunden: er, Vittorio.

Salvatore mochte der bekannte Name hinter der Conti Winery sein, doch er war derjenige, der alles am Laufen hielt. Ohne ihn – das konnte Vittorio ohne jede Arroganz behaupten – wäre schon längst das pure Chaos ausgebrochen.

Dennoch zog Salvatore in Betracht, Armando oder Lorenzo zu seinem Nachfolger zu machen. Vittorio wusste nicht, ob er enttäuscht, eifersüchtig oder einfach nur wütend war.

Hatte er nicht alles getan, um seinem Großvater zu beweisen, dass er der richtige Mann für diese Aufgabe war? Er – und nicht seine Brüder, die der Familie und dem Unternehmen schon vor Jahren den Rücken zugewandt hatten. Aus gutem Grund, sicher, aber das änderte nichts an den Tatsachen.

Er war geblieben. Er hatte mit angepackt, wo er gebraucht wurde, und getan, was getan werden musste. Und es war nicht so, dass er dafür Lob oder gar Dankbarkeit erwartete, nein. Wohl aber ein wenig Respekt – und die Rolle, auf die er sein ganzes Erwachsenenleben lang hingearbeitet hatte.

Als Salvatore auch nach ein paar Minuten keine Anstalten machte, seine Arbeit zu unterbrechen, reichte es Vittorio. Er war kein dummer kleiner Junge mehr, den man einfach so zu sich zitieren und dann ignorieren konnte.

„Du wolltest mich sprechen, nonno“, durchbrach er die Stille, die bislang nur vom Rascheln der Papiere beim Umblättern erfüllt gewesen war. „Um was geht es?“

Salvatore reagierte nicht sofort. Mit einem unwilligen Stirnrunzeln und einem Seufzen schloss er jedoch schließlich den Aktendeckel und blickte auf.

„Setz dich.“ Es war kein höfliches Angebot, sondern eine Anweisung.

Vittorio zog es vor, sie zu ignorieren. „Was willst du, nonno, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Gleich mehrere Vorarbeiter sind ausgefallen, und die Erntehelfer sind unbeaufsichtigt in den Weinbergen. Ich war gerade dabei, mich um Ersatz zu kümmern, als dein Bote mich erreichte und mir unmissverständlich zu verstehen gab, dass ich sofort bei dir zu erscheinen habe. Nun, hier bin ich. Was gibt es also?“

Abfällig schnalzte sein Großvater mit der Zunge. „Um solche Dinge kann sich jemand anders kümmern. Ich brauche dich für eine dringende Angelegenheit.“

Vittorio runzelte die Stirn. „Eine dringende Angelegenheit? Und dürfte ich wohl auch erfahren, um was es sich handelt?“

„Ein Weingut in Ligurien. Ich versuche seit ein paar Monaten, den Besitzer davon zu überzeugen, an uns zu verkaufen. Doch bisher hat er sich stur gestellt. Allerdings ist mir heute zugetragen worden, dass ihm finanziell das Wasser bis zum Hals steht. Es gibt also keinen besseren Zeitpunkt, um den Kauf unter Dach und Fach zu bringen.“

Es war typisch für seinen Großvater, so zu denken. Vom kaufmännischen Standpunkt aus betrachtet, hatte er sicher recht damit, aber er vergaß wie immer, die menschliche Seite der Dinge in Betracht zu ziehen.

„Nur, weil ihm das Geld ausgeht, heißt das noch lange nicht, dass er auch verkaufen wird“, gab Vittorio zu bedenken.

„Oh, ich weiß zufällig, dass er seine Fühler bereits nach einem alternativen Käufer ausgestreckt hat“, entgegnete Salvatore.

„Dann will er also verkaufen, nur nicht an dich?“ Warum nur überraschte ihn das nicht?

„Graziano Agostini ist ein sturer Hund.“ Salvatore zuckte die Achseln. „Es gab da vor Jahren mal einen Zwischenfall, an dem er mir die Schuld gibt.“

Vittorio horchte auf. „Einen Zwischenfall?“

Sein Großvater winkte ab. „Nichts von dem du wissen müsstest. Aber wegen dieser dummen Geschichte ist es sinnvoller, wenn ich nicht persönlich die Verhandlungen führe.“

„Du willst also, dass ich das für dich übernehme.“

„Ganz genau. Du liegst mir doch ständig in den Ohren, dass du besser als deine beiden Brüder dazu geeignet bist, meine Nachfolge anzutreten.“ Salvatore bedachte ihn mit einem herausfordernden Blick. „Nun, wenn das wahr ist, dann beweise es mir. Dies ist deine Chance, Vito. Nutze Sie. Mein Sekretär wird dir alle notwendigen Informationen zukommen lassen.“

Mit diesen Worten schlug er das Dokument, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag, wieder auf und schenkte seinem Enkel keine Beachtung mehr. Er hatte gesagt, was er sagen wollte, und damit war das Gespräch für ihn beendet.

Kopfschüttelnd verließ Vittorio das Arbeitszimmer und machte sich auf den Weg zu seiner eigenen Suite im Südflügel des Hauses. Er würde tun, was sein Großvater ihm aufgetragen hatte, auch wenn es ihm nicht passte, derart manipuliert zu werden. Doch was blieb ihm anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen?

Wenn er die Conti Winery übernehmen wollte, führte kein Weg an Salvatore vorbei. Das Wort seines Großvaters war in diesem Tal Gesetz, aber er war inzwischen ein alter Mann, der sich nicht ewig an das Ruder klammern konnte, das er in der Hand hielt.

Und Vittorio würde diese Chance nutzen, Salvatore zu beweisen, dass er der einzig Richtige war, wenn es um die Wahl seines Nachfolgers ging.

Aliena zog sich den alten Schlapphut, den sie in einem der Schuppen gefunden hatte, vom Kopf und wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn. In den frühen Morgenstunden war es noch recht angenehm hier draußen gewesen, doch jetzt, wo die Mittagssonne auf den Weinberg niederbrannte, war es kaum auszuhalten.

Sie setzte den Hut aus geflochtenem Stroh wieder auf, um sich vor einem Sonnenstich zu schützen, zog das karierte Hemd aus und knotete es sich um die Taille. Das weiße Unterhemd mit den Spaghettiträgern hob sich von ihrer tief bronzefarbenen Haut ab. Es war erstaunlich, wie viel Farbe sie bekommen hatte, seit sie vor zwei Wochen aus Rom hierher zurückgekehrt war.

Nein, korrigierte sie sich sogleich in Gedanken. Sie war nicht zurückgekehrt, ihr Aufenthalt war lediglich vorübergehender Natur. Rom war nun ihr Zuhause, nicht mehr Monte Allegio.

Sie holte tief Luft und verscheuchte mit der Hand eine Biene, die um sie herumsummte. Dann nahm sie einen Nagel aus der alten Emailletasse zu ihren Füßen und klemmte ihn zwischen ihre Lippen, ehe sie den Hammer aufnahm. Der Maschendrahtzaun, der dazu diente, Tiere von den Reben fernzuhalten, war an mehreren Stellen reparaturbedürftig, doch einen Handwerker konnte ihr Vater sich nicht leisten. Jeden Cent, der in seine leeren Kassen gespült wurde, investierte er sofort in billigen Fusel.

Aliena hasste es, wenn er trank. Er war schon immer ein verbitterter alter Mann gewesen. Der frühe Tod seiner Frau hatte ihn schwer getroffen, und die Verantwortung für die Kellerei und seine kleine Tochter waren einfach zu viel für ihn gewesen.

Vermutlich wäre Aliena ihm früher oder später weggenommen worden, hätte es da nicht Leo gegeben, ihren großen Bruder.

Wie immer, wenn sie an ihn dachte, verspürte sie einen heftigen Stich mitten ins Herz. Als Leo zur Welt gekommen war, waren ihre Eltern noch Teenager gewesen. Sie hatten sie erst achtzehn Jahre später bekommen. Der Altersunterschied zwischen den beiden Geschwistern war damit entsprechend groß, und dennoch hatten sie sich sehr nahegestanden.

Es war Leo gewesen, der sich um all die Dinge gekümmert hatte, mit denen ihr Vater hoffnungslos überfordert gewesen war. Auf den Fotos von ihrer Einschulung war es Leo, der stolz neben ihr stand, eine Hand auf ihrer Schulter. Er hatte ihr das Fahrradfahren und das Schwimmen beigebracht. Und als sie an der Schule später einmal Ärger mit einem der älteren Jungen gehabt hatte, war Leo ihr zu Hilfe gekommen.

Sie hatte sich immer auf ihn verlassen können. Er war ihr Fels in der Brandung gewesen – bis zu jenem Tag vor acht Jahren, als …

Gequält schloss Aliena die Augen. Leo war tot, und alle Welt wusste, wer für diese Tragödie verantwortlich war. Alle Welt wusste es, ja – und doch war die betreffende Person nie dafür zur Rechenschaft gezogen worden.

Wut kochte in ihr hoch, und sie war froh darüber. Wut war einfacher zu ertragen als diese unglaubliche Traurigkeit und das Gefühl von Leere, das Leo in ihrem Leben hinterlassen hatte.

Sie drückte den Maschendraht an den Holzpfahl, setzte den Nagel an und hämmerte ihn ein. Dass sie dabei fester zuschlug als unbedingt notwendig, konnte ihr wohl kaum jemand verübeln.

Zwar war sie, als Leo starb, bereits erwachsen und nicht mehr auf seine Fürsorge angewiesen gewesen, doch deswegen vermisste sie ihn nicht weniger. Das Auskommen mit ihrem Vater war seither noch schwieriger geworden, weshalb sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit die Flucht ergriffen hatte. Es war der einzig richtige Schritt für sie gewesen, auch wenn ihr Vater ihr deshalb immer noch bitterböse war.

Sie hatten in den vergangenen Jahren kaum mehr als ein paar Worte miteinander gewechselt, obwohl sie sich bemühte, den Kontakt nicht völlig abreißen zu lassen.

Dass Graziano Agostini das Weingut praktisch in den Ruin getrieben hatte, erfuhr sie nur, weil sie in Rom zufällig einer früheren Nachbarin aus Monte Allegio begegnete.

Sie wusste nicht, wieso es sie überraschte zu hören, dass er den Familienbesitz verwahrlosen ließ. Ohne Leo und sie hatte es niemanden mehr gegeben, der ihm sagte, was zu tun war. Verwunderlicher war eigentlich, dass es ihm gelungen war, der Bank noch eine Hypothek für den Hof abzuschwatzen.

Das war der einzige Grund, wieso sie jetzt hier war. Nicht um das Casa Agostini finanziell wieder auf Kurs zu bringen und als Unternehmen zu sanieren, nein. Sie war nicht so naiv zu glauben, dass ihr das gelingen würde. Schon gar nicht, so lange ihr Vater es nicht schaffte, vom Alkohol loszukommen.

Ihr Ziel war es nur, einen möglichst zahlungskräftigen Käufer zu finden, damit die Angestellten und Arbeiter, von denen einige bereits seit ihrer Kindheit für ihre Familie arbeiteten, nicht vor dem Nichts standen.

Sie sollten nicht darunter leiden müssen, dass ihr Vater sich so unverantwortlich verhielt.

Aliena hämmerte einen weiteren Nagel in das morsche Holz des Pfahls und trat zurück, um ihr Werk zu betrachten. Es war mit Sicherheit keine perfekte Arbeit, aber es würde zumindest notdürftig halten, und das reichte.

Solange wenigstens auf den ersten Blick alles einigermaßen in Ordnung aussah, würde es ihr vielleicht gelingen, einen vernünftigen Kaufpreis auszuhandeln. Die Betonung lag auf vielleicht. Bei dem Zustand, in dem sich hier alles befand, konnte sie sich da alles andere als sicher sein.

Sie wischte sich erneut den Schweiß aus den Augen, nahm den Hammer und die Tasse mit den Nägeln auf und machte sich auf den Rückweg zum Haus, wo ihr Vater zweifelsohne längst bei der zweiten Flasche des Tages angelangt sein würde.

Aliena unterdrückte ein Seufzen. Graziano Agostini war grundsätzlich kein besonders umgänglicher Mann, und mit steigendem Promillepegel bei ihm fiel es ihr zunehmend schwerer, seine Gegenwart zu ertragen.

Sie hasste ihren Vater nicht, nein, aber sie stand ihm auch nicht nahe. Er war nicht für sie da gewesen, als sie ihn gebraucht hätte. Und obwohl sie seine Trauer und seinen Schmerz nachvollziehen konnte, so konnte sie ihm doch nicht gänzlich verzeihen.

Ihre Wut richtete sich in eine vollkommen andere Richtung. Und zwar in die jener Familie, die ihr den einzigen Menschen genommen hatte, der ihr wirklich etwas bedeutet hatte. Den Menschen, auf den sie sich immer hatte verlassen können.

Ihren Bruder.

Die verfluchte Conti-Sippschaft.

Ihr Vater hatte nie irgendwelche Details verlauten lassen, ganz gleich wie inständig sie ihn auch darum bat, aber in einem Punkt war er immer absolut klar: Die Contis trugen die Schuld an Leos Tod. Und was hätte er für einen Grund zu lügen?

Als sie das Haus erreichte, lief ihr der Schweiß den Rücken hinunter und tränkte ihr einfaches weißes Baumwollunterhemd. Ihre Jeans klebte ihr an den Schenkeln, und die dicken Arbeitsschuhe waren alles andere als angenehm zu tragen bei dem heißen Wetter. Doch sie wusste es besser, als in einem zarten Sommerkleid zum Arbeiten hinaus auf den Weinberg zu gehen. Die Hitze mochte darin zwar erträglicher sein, aber man konnte sich zu leicht Verletzungen zuziehen.

Sie bemerkte den fremden Wagen, der vor der Haustür stand, schon von Weitem. Im ersten Moment glaubte sie an eine Fata Morgana, denn ein so teures Fahrzeug hatte sich ihres Wissens noch nie hier hinaus verirrt. Doch der dunkelblaue Lamborghini verwandelte sich auch aus der Nähe betrachtet nicht in einen staubigen Geländewagen.

Sofort war Aliena alarmiert.

Hatte sie einen Termin mit einem Kaufinteressenten vergessen? Bis jetzt zeigte nur eine Immobilienagentur einen Funken Interesse daran, sie bei der Suche nach einem potenziellen Käufer – selbstverständlich gegen eine horrende Gebühr – zu unterstützen. Und bei dem bisher einzigen Interessenten handelte es sich um einen Hotelier, der hier alles in ein Urlaubsresort umwandeln wollte. Natürlich konnte sie es sich nicht leisten, wählerisch zu sein, doch falls es irgend möglich war, würde sie ein Angebot bevorzugen, bei dem die Jobs der Angestellten erhalten blieben.

Wenn der Besucher also kein Kaufinteressent war, dann konnte es sich eigentlich nur um einen Gläubiger handeln. Sie holte tief Luft und straffte die Schultern. In den vergangenen Tagen hatte sie bereits reichlich Übung im Umgang mit diesen Leuten erworben. Diejenigen, die persönlich herkamen, um ihr Geld einzutreiben, waren entweder verzweifelt, wütend oder schlicht und einfach unverschämt.

Aliena hatte vollstes Verständnis dafür, dass sie ihr Geld wollten. Wirklich. Immerhin war sie selbst Unternehmerin – sie führte einen erfolgreichen Weinhandel in Florenz, um den sich zurzeit ihre Freundin und Geschäftspartnerin Loredana kümmerte – und wusste, dass säumige Kunden zu einem echten Problem werden konnten.

Trotzdem.

Einer war sogar mit einem laut kläffenden Hund auf dem Gut aufgetaucht, wohl in der Hoffnung, sie auf diese Weise einzuschüchtern.

Nun, damit hatte er bei ihr nichts ausrichten können. Sie hatte ihm klipp und klar erklärt, was sie von seinen Methoden hielt, und ihn samt Hund des Hofes verwiesen.

Wenn der heutige Besucher etwas Ähnliches vorhatte, konnte er sich schon mal warm anziehen.

Sie war fast beim Wagen angelangt, als sie sah, dass jemand hinter dem Steuer saß. Ein Mann, der auf sein Handy starrte und sie bisher noch gar nicht bemerkt zu haben schien.

Sie klopfte ans Fahrerfenster, das kurz darauf mit leisem Surren herunterglitt.

„Ja?“

Einen Moment lang konnte Aliena den Fremden nur anstarren. Vorhin, durch die Fensterscheibe, hatte sich sein Gesicht nicht richtig ausmachen lassen. Aber jetzt …

Es war nicht so, als würde sie zum ersten Mal einem attraktiven Mann begegnen. Sie belieferte immerhin die besten Restaurants und Hotels von ganz Florenz und Umgebung mit ihren Weinen.

Dieser Mann jedoch …

Was ihr als Erstes auffiel, waren seine Augen, die von einem so hellen Grün waren, dass es im Kontrast zu seiner tiefgebräunten Haut umso auffälliger wirkte. Seine Züge waren scharf geschnitten, die Nase war gerade, sein dunkles Haar leicht gewellt und an den Seiten kurz gehalten. Das mochte für sich genommen nicht sehr aufregend klingen, aber sein Anblick raubte ihr für einen Moment tatsächlich den Atem.

„Ich …“ Sie brach ab und wartete darauf, dass ihr Verstand endlich wieder zu arbeiten begann. Erst allmählich wurde ihr bewusst, dass sie den gut aussehenden Fremden die ganze Zeit über anstarrte, und sie blinzelte. „Das hier ist ein Privatgrundstück“, erklärte sie ein wenig schroffer als beabsichtigt. „Würden Sie mir wohl freundlicherweise erklären, was Sie hier zu suchen haben?“

Er musterte sie von oben bis unten, und sie wurde sich schlagartig bewusst, was für ein Bild sie abgeben musste mit ihrem Strohhut, dem durchgeschwitzten Unterhemd und der schmutzigen Jeans. Dennoch straffte sie die Schultern, entschlossen, sich so leicht nicht einschüchtern zu lassen.

„Ich bin auf der Suche nach jemandem, der hier etwas zu sagen hat“, entgegnete er schließlich kühl. „Ich habe geklopft, aber es macht niemand auf.“

„Nun, wenn niemand öffnet, dann wird wohl niemand zu Hause sein.“

Herablassend hob er eine Braue. „Man kann die Musik vermutlich noch in der nächsten Ortschaft hören.“

Sein Tonfall ging ihr gegen den Strich. Sie runzelte die Stirn. „Nun, vielleicht hätten Sie vorher einen Termin ausmachen sollen.“

„Woher wollen Sie wissen, dass ich das nicht habe?“

„Ganz einfach – weil Sie in dem Fall mit mir gesprochen hätten.“

Er wirkte so verblüfft, dass es schon fast beleidigend war.

„Mein Name ist Aliena Agostini – und mit wem habe ich bitte das zweifelhafte Vergnügen?“

Er öffnete die Fahrertür und stieg aus.

Sie musste zu ihm aufblicken, so groß war er. Unwillkürlich spürte sie, wie ihr Herz zu flattern begann, doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Er sollte nicht merken, wie vollkommen absurd sie auf ihn reagierte.

„Sie haben recht“, sagte er. „Ich hätte mich vorher ankündigen sollen. Aber ich bin direkt von der Autovermietung am Flughafen aus hergefahren.“

Also kein gewöhnlicher Gläubiger, dachte Aliena. Sie hatte sich einen Überblick über die finanzielle Situation ihres Vaters verschafft und keine einzelne Forderung war so groß, dass sich ein solcher Aufwand lohnen würde.

„Und was hat Sie so eilig hierher verschlagen?“, fragte sie misstrauisch.

„Ich bin hier, um dem Besitzer des Weinguts ein Kaufangebot zu unterbreiten.“ Er hielt kurz inne, ehe er sagte: „Ein äußerst großzügiges Angebot, wie ich hinzufügen möchte.“ Er beugte sich ins Innere des Lamborghinis und holte eine dunkelrote Aktenmappe daraus hervor, die er ihr zeigte. „Könnten Sie wohl irgendwie dafür sorgen, dass ich es Ihrem Chef überreichen kann?“

„Das wird nicht notwendig sein“, entgegnete sie. „Ich nehme das gern entgegen und melde mich bei Ihnen, nachdem ich es geprüft habe.“

„Sie?“ Wieder wirkte er vollkommen verblüfft. „Aber … Wie, sagten Sie noch gleich, war Ihr Name? Agostini?“

Sie nickte. „, Aliena Agostini.“ Sie nahm ihm die Mappe ab. „Ihren Namen habe ich allerdings nicht verstehen können.“

„Oh.“

Das sagte er im selben Moment, in dem ihr Blick auf das goldene Wappen fiel, das auf den Deckel der Aktenmappe gedruckt war, und ihr Blut zu Eis gefror.

Nein …

Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Wie unhöflich von mir.“ Er streckte ihr die Hand entgegen. „Vittorio Conti. Freut mich, Sie kennenzulernen.“

Aliena konnte ihn nur anstarren.

Im nächsten Moment wirbelte sie herum und lief davon.

2. KAPITEL

Vittorio schaute Aliena Agostini verblüfft nach, als die mit ausgreifenden Schritten davonstürmte.

Was hatte diese Frau eigentlich für ein Problem?

„Hey!“ Er eilte ihr hinterher. „Bleiben Sie doch stehen, verflixt noch mal. Was ist denn los mit Ihnen?“

Sie rannte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her. Er musste sich richtiggehend beeilen, um mit ihr Schritt zu halten.

Als sie plötzlich stehen blieb, war er davon so überrumpelt, dass er beinahe in sie hineingerannt wäre. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig, ebenfalls zu stoppen.

Sie stand da, die Fäuste in die Seiten gestemmt, und funkelte ihn an.

„Hören Sie auf, mir nachzulaufen. Oder nein, besser noch, verschwinden Sie von diesem Grundstück!“

„Zum Teufel, was ist mit Ihnen los?“ Vittorio trat einen Schritt auf sie zu, doch sie ging sofort auf Abstand. „Ich habe mich hier ein bisschen umgesehen, und …“ Er machte eine alles umfassende Geste. „Das ganze Gut befindet sich in einem absolut desolaten Zustand. Sie bräuchten ein kleines Vermögen, um alles wieder in Schuss zu bringen, und ich weiß aus sicherer Quelle, dass Sie sich so etwas gar nicht leisten können.“

„Aus sicherer Quelle, ja? Und wer soll das sein, wenn ich fragen darf?“

Ihre Stimme klang so scharf, dass er regelrecht zurückprallte. Er hatte keine Ahnung, womit er sich ihren Zorn zugezogen hatte, aber es war offensichtlich, dass sie wütend war.

Stinkwütend sogar.

Beschwichtigend hob er die Hände. „Hören Sie, warum unterhalten wir uns nicht wie zwei vernünftige Leute? Sie suchen nach einem Käufer für dieses Weingut. Leugnen ist zwecklos, ich habe gesehen, dass Sie eine Agentur eingeschaltet haben. Die Annonce war im Internet nicht schwer zu finden.“

„Ich wüsste nicht, was Sie das anginge, Signore Conti.“

Da war er wieder, dieser Tonfall. Die Art und Weise, wie sie seinen Namen aussprach. So, als wäre er etwas Verabscheuungswürdiges. Er wurde einfach nicht schlau daraus.

Vittorio schüttelte den Kopf. „Man muss kein Genie sein, um zu bemerken, dass es finanziell nicht besonders gut um Sie steht. Und ich bin hier, um Ihnen einen Ausweg anzubieten.“ Er machte eine kurze, dramaturgische Pause. „Sie wären dumm, nicht mit beiden Händen zuzugreifen.“

„Tja, dass Sie das so sehen, wundert mich irgendwie nicht.“

Ihre Miene wirkte eisig, doch er sah es unter der unterkühlten Fassade brodeln.

„Immerhin sind Sie ein Conti. Es gibt jedoch wichtigere Dinge im Leben als Geld, auch wenn Sie sich das vermutlich nur schwer vorstellen können. Loyalität zum Beispiel. Das ist allerdings ein Begriff, mit dem sie kaum vertraut sein dürften.“

Es war etwas Persönliches, davon war Vittorio überzeugt. Aber er hatte absolut keine Vorstellung, wieso sie so wütend auf ihn war.

Wobei – es schien vor allem sein Familienname zu sein, der ihren Zorn heraufbeschwor. Er unterdrückte ein Seufzen und strich sich durchs Haar.

Sein Großvater.

Warum wunderte er sich eigentlich? Vermutlich hatte Salvatore irgendwas getan und diese Familie damit gegen sich aufgebracht. Sicher weigerte sie sich deswegen so hartnäckig, einem Verkauf zuzustimmen. Immerhin hatte Salvatore ja sogar eingeräumt, dass er schon seit Monaten versuchte, den Inhaber vom Verkauf zu überzeugen.

Er holte tief Luft. „Also schön, Sie mögen mich nicht. Damit kann ich leben.“ Er sah ihr direkt in die Augen. „Aber glauben Sie nicht, dass es falsch ist, nur an sich selbst zu denken?“

Einen Moment lang funkelte sie ihn einfach nur an, dann nahmen ihre Augen einen anderen Ausdruck an. Sie wirkte ratlos. Und verletzlich. Das versetzte ihm einen heftigen Stich, den er sich nicht erklären konnte.

Irritiert schob er das beiseite. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich darüber Gedanken zu machen. Er durfte sein Ziel nicht aus den Augen verlieren.

„Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?“, fragte sie so leise, dass er sich vorbeugen musste, um es zu verstehen. „Woher nehmen Sie sich das Recht heraus, so mit mir zu reden? Sie versuchen, mir Schuldgefühle einzureden? Ausgerechnet Sie?“

„Hören Sie, ich weiß wirklich nicht, was Ihr Problem mit mir ist.“

„Nein, das wissen Sie nicht. Sie wissen überhaupt nichts über mich. Rein gar nichts. Und genau so wird es auch bleiben.“ Sie schüttelte den Kopf, als er das Wort ergreifen wollte. „Gehen Sie. Verschwinden Sie von unserem Grund und Boden und lassen Sie sich nie wieder hier blicken!“

„Signorina Agostini, ich …“ Ein Blick von ihr ließ ihn verstummen.

Dann wandte sie sich ohne ein weiteres Wort in Richtung Haus um und war keine Minute später darin verschwunden.

„Was daran, dass Graziano Agostini ein sturer Hund ist, hast du nicht verstanden?“

Vittorio brauchte seinen Großvater nicht vor sich zu haben, um sich dessen herablassenden Blick vorzustellen. Es war typisch für Salvatore, sich gleich am Tag nach seiner Ankunft in Monte Allegio bei ihm zu melden und Ergebnisse zu fordern.

„Lass es gut sein, nonno“, sagte er. „Sag mir lieber, was genau zwischen dir und Agostini vorgefallen ist.“

„Überhaupt nichts ist zwischen uns vorgefallen. Er will einfach nur nicht verkaufen, das ist alles.“

„Da hatte ich aber einen vollkommen anderen Eindruck“, entgegnete Vittorio barsch. „Und ich kann nur Ergebnisse liefern, wenn ich über alle wichtigen Dinge informiert bin. Also?“

„Mir gefällt dein Ton nicht, mein Lieber. Ich sagte dir bereits, dass du dich irrst. Agostini und ich sind einfach seit jeher Konkurrenten. Ich nehme an, sein Stolz verbietet es ihm, sein Weingut an mich zu verkaufen.“

Vittorio runzelte die Stirn. Das war wohl kaum eine Erklärung für das feindselige Verhalten seiner Tochter, oder? Aber er wusste, dass es keinen Sinn hatte, seinen Großvater weiterhin zu bedrängen. Wenn der entschlossen war, über etwas Stillschweigen zu wahren, dann würde er sich nicht einfach so davon abbringen lassen.

Es blieb ihm also wohl nichts anderes übrig, als selbst herauszufinden, was geschehen war, oder er musste Aliena Agostini ein Angebot unterbreiten, das sie unmöglich ausschlagen konnte.

Die Frage war nur, wie das aussehen sollte.

„Hör zu, nonno, ich werde mich wieder bei dir melden, sobald ich etwas Neues habe. Du brauchst dir also gar nicht die Mühe zu machen, mich dauernd anzurufen. Nicht, dass du es nicht ohnehin tun wirst, denn du hörst ja nie auf irgendwas, das ich dir sage. Ich …“ Vittorio runzelte die Stirn, und als ihm klar wurde, dass sein Großvater inzwischen aufgelegt hatte, warf er sein Handy ärgerlich schnaubend aufs Bett.

Das war wieder mal typisch. Salvatore rief an, kritisierte herum, und wenn man es wagte, ihm die Stirn zu bieten, hörte er einfach nicht zu. Das wäre alles längst nicht so frustrierend, wenn es nicht um die Zukunft der Conti Winery gehen würde.

Der Betrieb bedeutete Vittorio alles. Er hatte sein Herzblut hineingesteckt, und er wusste, dass er ihn noch erfolgreicher machen konnte, wenn er erst einmal das Ruder in der Hand hielt.

Er war kein Narr. Ihm war durchaus klar, dass Salvatore sich dann auch weiter einmischen würde. Aber endlich wäre er es, der am Ende das letzte Wort hätte und die Entscheidungen traf.

Und genau deshalb musste es ihm gelingen, Aliena Agostini und ihren Vater davon zu überzeugen, ihr Weingut an ihn zu verkaufen.

Die Frage aller Fragen lautete: wie?

Er ließ sich aufs Bett sinken und legte einen Arm über die Augen. Diese Frau gab ihm Rätsel auf. Nur zu gern hätte er gewusst, warum sie so voller Zorn war. Und das nicht nur, weil es ihm dabei helfen würde, sein Ziel zu erreichen. Er war auch neugierig, was Salvatore dieser Familie angetan hatte, das solch heftige Gefühle rechtfertigte.

Vielleicht sollte er gleich noch einmal zu den Agostinis hinüberfahren. Immerhin grenzte das Anwesen direkt an den ligurischen Besitz der Contis, wo er für die Dauer seines Aufenthalts untergekommen war. Die Tatsache, dass die Grundstücke aneinandergrenzten, war auch der Grund, weshalb Salvatore das Agostini-Anwesen unbedingt kaufen wollte. Der Wein aus dem hiesigen Anbaugebiet verkaufte sich gut, die Nachfrage war groß. Entsprechend war es sinnvoll, sich zu vergrößern.

Vittorio hatte nur dummerweise keinerlei Plan, was er sagen oder tun sollte, um Aliena Agostini umzustimmen.

Sollte er es vielleicht lieber bei ihrem Vater versuchen? Möglich, dass der weniger gegen ihn eingenommen war als seine Tochter. Möglich, aber nicht besonders wahrscheinlich, wie er sich eingestehen musste.

Trotzdem saß Vittorio keine zwanzig Minuten später wieder in seinem Wagen und folgte der gewundenen Straße, die zwischen den Weinbergen zum Hof der Agostinis führte. Als er näher kam, unterzog er das Gebäude einer gründlichen Musterung. Es wirkte auf den zweiten Blick sogar noch schlechter in Schuss, als er bei seinem ersten Besuch angenommen hatte. Fast so, als hätte jemand hastig einige Schönheitsreparaturen vorgenommen, die jedoch nicht über den wahren Zustand des Hauses hinwegzutäuschen vermochten.

Stellen, an denen sich praktisch kein Putz mehr auf der Wand befand, waren mit weißer Farbe übertüncht worden, und das Dach war ein Flickwerk aus Planen und Holzlatten, dort, wo ein schwerer Sturm es vermutlich abgedeckt hatte. Den schief in den Angeln hängenden Fensterläden war ebenfalls ein neuer Anstrich verpasst worden, und Kübel mit üppig blühendem Oleander hatte man strategisch so platziert, dass sich die Löcher im Mauerwerk nur bei genauerem Hinsehen erkennen ließen.

Keine Frage, es würde eine Menge Geld nötig sein, um hier alles instand zu setzen. Geld, über das die Agostinis nicht verfügten.

Sein Großvater, so vermutete Vittorio, würde das Haus und die halb verfallenen Wirtschaftsgebäude einfach abreißen. Salvatore war am Land zur Erweiterung seiner eigenen Weinberge interessiert. Der Rest war für ihn, wenn überhaupt, nur von untergeordneter Bedeutung. Er bezweifelte allerdings, dass er mit diesem Detail bei Aliena Agostini oder ihrem Vater punkten konnte, daher entschied er, es erst einmal für sich zu behalten.

Er stellte seinen Lamborghini vor dem Haus ab und stieg aus. Dieses Mal drang keine Musik nach draußen. Abgesehen vom Rascheln der Blätter und Pflanzen, durch die der Wind strich, war es still.

„Hallo?“, rief er. „Jemand zu Hause?“

Als er keine Antwort erhielt, klopfte er an die Haustür und wartete.

Nichts.

Er zückte eine Visitenkarte und schrieb mit Kugelschreiber seine Handynummer und die Worte: Rufen Sie mich an. V. Conti, darauf. Dann steckte er sie zwischen Tür und Türrahmen, sodass sie für denjenigen, der zuerst nach Hause kam, gut sichtbar sein würde.

Frustriert kehrte er zu seinem Wagen zurück und setzte sich hinters Steuer. Er glaubte nicht wirklich daran, dass Aliena sich bei ihm melden würde, doch einen Versuch war es in jedem Fall wert. Außerdem sollte sie ruhig wissen, dass er keineswegs aufgegeben hatte.

Und das auch nicht beabsichtigte.

Er wollte gerade anfahren, als einige Arbeiter vom Weinberg zurückkehrten. Sie musterten seinen schnittigen Sportwagen mit einer Mischung aus Misstrauen und Ehrfurcht.

„Hallo“, sagte Vittorio, stieg wieder aus und trat auf den Ältesten der Männer zu, dessen Haut von Wind und Wetter gegerbt war. „Sie sind hier angestellt?“

Der Mann nickte knapp.

„Ich würde gern mit Signore Agostini sprechen. Können Sie mir sagen, wann er am besten zu Hause anzutreffen ist?“

„Der alte Säufer ist immer zu Hause“, hörte er einen der anderen Arbeiter leise knurren, wofür der einen Ellbogenstüber von dem Mann neben ihm erhielt.

„Sie sollten mit seiner Tochter sprechen“, entgegnete der ältere Mann stirnrunzelnd. „Wollen Sie das Weingut kaufen?“

„Ich spiele mit dem Gedanken, ja. Aber es scheint sich ja in keinem besonders guten Zustand zu befinden.“

Ein heiseres Lachen erklang, doch ein scharfer Blick von Vittorios Gesprächspartner brachte es zum Verstummen.

„In den letzten Jahren lief es für Graziano Agostini nicht besonders. Er hat in Gelddingen nicht unbedingt ein glückliches Händchen.“ Der Mann zuckte mit den Schultern. „Es stimmt schon, dass hier vieles dringend repariert werden müsste, doch der Boden ist gut und fruchtbar. Unter der richtigen Führung könnte das alles hier bald wieder in neuem Glanz erstrahlen. Aber leider will die Tochter vom Chef davon nichts wissen. Und ehrlich gesagt, kann ich sie gut verstehen, nach allem, was vorgefallen ist …“

Vittorio horchte auf. „Vorgefallen? Das klingt geheimnisvoll.“

„Weniger geheimnisvoll als tragisch“, entgegnete sein Gegenüber. „Zuerst starb die Mutter, dann kam der Sohn unter seltsamen Umständen ums Leben. Aliena hing sehr an ihrem Bruder, daher hat sein Tod sie schwer getroffen. Ich glaube, sie konnte einfach nicht mehr hier sein und immerzu an ihn erinnert zu werden.“

„Aber jetzt ist sie zurück?“

„Nur vorübergehend, soweit ich gehört habe, um ihren Vater beim Verkauf des Weinguts zu unterstützen.“ Er runzelte die Stirn. „Sie hat uns versprochen zu tun, was in ihrer Macht steht, um unsere Arbeitsplätze zu bewahren, doch ehrlich gesagt mache ich mir diesbezüglich keine großen Hoffnungen. Für mich persönlich ist das nicht so tragisch. Ich bin ein alter Mann und würde in ein paar Jahren ohnehin in den Ruhestand treten. Einige der Männer haben allerdings Hypotheken zu zahlen und Familien, für die sie sorgen müssen. Es ist nicht so leicht, hier in der Gegend eine anständig bezahlte Anstellung zu finden.“

„Aber es gibt in der Region doch mehrere Weingüter.“

„Das mag sein, das meiste Land gehört jedoch Salvatore Conti, und der ist nicht gerade für faire Löhne und ein gutes Arbeitsklima bekannt, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Vittorio verstand durchaus. Und er konnte dem Mann nicht verdenken, dass er so über seinen Großvater redete. Es war ihm schon lange ein Dorn im Auge, dass die Conti Winery ihren Angestellten nur das Allernötigste zahlte. Wie oft hatte er versucht, Salvatore davon zu überzeugen, dass man sich mit besseren Gehältern und freiwilligen zusätzlichen Leistungen die Loyalität seiner Arbeitnehmer sicherte. Doch der wollte zu diesem Thema nichts hören. Noch ein Punkt, den Vittorio zu ändern gedachte, sobald er das Ruder in der Hand hielt.

„Und wenn die Agostinis an die Conti Winery verkaufen?“

Zu seiner Überraschung fingen die Männer alle an zu lachen. Sogar der Alte, der bisher immer ernst geblieben war, schmunzelte.

„Ehe das passiert, friert vermutlich die Hölle zu“, erklärte er. „Soweit ich weiß, versucht der alte Conti schon länger, das Land hier in die Finger zu bekommen. Doch Agostini weigert sich beharrlich – und seine Tochter wird wohl kaum versöhnlicher gestimmt sein.“

„Wieso?“ Vittorio runzelte die Stirn. „Gibt es da so eine Art … Familienfehde oder so?“

„So könnte man sagen. Es gab schon immer eine gewisse Konkurrenz. Die Contis haben ja ursprünglich hier in Ligurien angefangen, bevor sie ihren Hauptsitz in die Toskana verlagerten, wussten Sie das? Nun, jedenfalls waren die Familien seit jeher verfeindet.“ Der Alte runzelte wieder die Stirn. „Aber warum erzähle ich Ihnen das alles? Wenn Sie mit einem Verantwortlichen hier sprechen wollen, schlage ich vor, dass Sie morgen Vormittag wiederkommen. Signorina Agostini ist dann normalerweise irgendwo hier auf dem Gut mit Reparaturen beschäftigt.“

Vittorio blinzelte überrascht. „Sie führt die Reparaturen selbst durch? Kann sie das denn?“

Der alte Mann hob die Augenbrauen. „Warum nicht? Weil sie eine Frau ist? So etwas sollten Sie lieber nicht verlauten lassen, wenn sie in der Nähe ist. Ihre Reaktion würde Ihnen nicht gefallen, so viel kann ich Ihnen versichern.“ Er tippte sich an den Hut. „Und jetzt würden meine Jungs und ich gern Feierabend machen, wenn’s recht ist. Noch einen schönen Abend.“

„Ihnen auch“, murmelte Vittorio und sah den Männern hinterher, während er zu seinem Wagen ging. Nun, immerhin hatte er eins herausgefunden: Es war ganz offensichtlich etwas vorgefallen zwischen seinem Großvater und den Agostinis. Etwas, das schlimm genug gewesen war, um einen solchen Hass hervorzurufen.

Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss und fuhr los. Irgendwie musste er herausfinden, was damals passiert war. Und seiner Erfahrung nach ging das am besten, wenn man direkt vorging.

Deshalb würde er gleich morgen Vormittag noch einmal herkommen – und Aliena Agostini danach fragen.

3. KAPITEL

„Wäre es wirklich zu viel verlangt, dich zu bitten, dass du dich morgens nach dem Aufstehen wäschst und anziehst wie ein normaler Mensch? Was, wenn ein Kaufinteressent kommt und dich in diesem Zustand sieht?“ Missbilligend blickte Aliena ihren Vater an. Sein Haar war völlig zerzaust, er war unrasiert und trug noch seine Schlafsachen.

„Sag bloß, du hast jemanden gefunden, der diesen verfallenen Kasten kaufen will“, grollte er. „Das wäre ja echt ein Ding.“

„Nein, ich habe niemanden gefunden“, erklärte sie frustriert. „Und wenn du so weitermachst, werde ich auch nie einen Käufer finden. Ehrlich, papà, du könntest dich wenigstens bemühen, einen vernünftigen Eindruck zu machen. Wenn die Bank uns den Geldhahn zudreht und hier alles zwangsversteigert wird, kommt nie im Leben genug zusammen, um den Schuldenberg zu begleichen, den du im Laufe der Jahre angehäuft hast. Unsere Leute verlieren ihren Job, und du landest unter einer Brücke. Willst du das?“

„Ist mir alles egal“, knurrte ihr Vater.

Seufzend strich sie sich durch das lange braune Haar. Genau das war das Problem. Ihrem Vater war alles egal. Seit dem Tod ihrer Mutter vor so vielen Jahren interessierte ihn überhaupt nichts mehr. Sie hatte sich nie auf ihn verlassen können, wenn sie ihn brauchte. Nicht damals, und ebenso wenig heute.

Sie wusste nicht, warum sie immer noch versuchte, ihm ins Gewissen zu reden. Es war sinnlos.

Aliena nahm ein paar Flaschen vom Wohnzimmertisch und trug sie in die Küche, wo sie die Reste in die Spüle kippte. Nicht, dass das einen Unterschied machte. Ihr Vater hatte einen schier unerschöpflichen Nachschub. Sie leerte eine Flasche aus, und im Nu waren zwei neue da.

Ihr Handy in ihrer Hosentasche fing an zu vibrieren, und sie zog es hervor. Dabei fiel ein rechteckiges Stück Papier heraus, das zu Boden flatterte.

„Ja? Aliena Agostini hier“, meldete sie sich rasch, als sie die Nummer der Immobilienmaklerin erkannte. „Haben Sie jemanden gefunden, der sich für unser Weingut interessiert?“

, Signorina Agostini, das habe ich tatsächlich. Ein Winzer aus der Toskana hat sich mit uns in Verbindung gesetzt und …“

„Nein!“, fiel Aliena ihr ins Wort. „Wenn der Name des Interessenten Conti ist, dann muss ich Ihnen leider sagen, dass er nicht infrage kommt.“

„Aber, Signorina Agostini, das Angebot ist äußerst großz…“

„Ich bedaure, doch wir verkaufen nicht an die Contis. Auf gar keinen Fall. Wir wissen Ihre Bemühungen wirklich zu schätzen, Signora, aber weder ich noch mein Vater werden in einen solchen Deal einwilligen. Für kein Geld der Welt.“

Sie verabschiedete sich und beendete das Gespräch. Dann bückte sie sich, um das Papierstück vom Boden aufzuheben.

Es war die Visitenkarte, die Vittorio Conti gestern Abend für sie an der Tür zurückgelassen hatte.

Rufen Sie mich an.

Als ob sie das je tun würde! Hatte sie ihm denn nicht klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass sie weder an ihn noch an seinen Großvater verkauften? Niemals würde das Haus, in dem ihr Bruder und sie geboren worden waren, in die Hände der Contis fallen.

Niemals.

Zumindest in diesem einen Punkt waren ihr Vater und sie sich ausnahmsweise einmal einig.

„Dieser sture Hund gibt einfach nicht auf, was?“, rief Graziano vom Wohnzimmer herüber. „Dass er wirklich glaubt, wir würden einen Verkauf an ihn auch nur in Betracht ziehen …“

Aliena presste die Lippen zusammen und schluckte den Kommentar über seine eigene Sturheit, der ihr auf der Zunge lag, hinunter. Sie wollte nicht streiten. Nicht schon wieder. Und vor allem nicht über dieses Thema.

„Ich fahre in die Stadt. Du kommst hier alleine klar?“

„Ich komme seit Jahren allein klar“, entgegnete er beißend. „Was bleibt mir auch anderes übrig? Du hast dich ja schließlich einfach aus dem Staub gemacht und mich mit allem hier sitzen lassen.“

Wieder hielt Aliena sich zurück, obwohl sie zu diesem Thema eine Menge zu sagen hätte. Es brachte jedoch nichts, mit ihrem Vater zu diskutieren. Er glaubte ohnehin nur das, was er glauben wollte. Und er nahm es ihr übel, dass sie sich entschieden hatte, in Florenz ein neues Leben anzufangen.

Dass er einer der Hauptgründe für diese Entscheidung gewesen war, kümmerte ihn nicht.

„Ich bin vermutlich vor dem Mittag wieder zurück, aber du kannst mich anrufen, solltest du mich für irgendwas brauchen.“

Keine Antwort.

Leise nahm Aliena ihren Autoschlüssel von der Kommode in der Diele und warf noch einen letzten Blick in den Spiegel. Sie hatte ihre Arbeitskleidung heute gegen ein cremefarbenes Etuikleid getauscht, das einen hübschen Kontrast zu ihrer tiefgebräunten Haut bildete. Das dunkle Haar fiel ihr in sanften Wellen über die Schultern, und sie trug die goldene Kette, die sie als kleines Mädchen von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte. Der Anhänger war ein Medaillon, in dem sich Fotos von ihrer Mutter und ihrem Bruder befanden.

Auf Make-up hatte sie, abgesehen von einem Hauch Lipgloss, verzichtet. Der Bankberater, der für die Konten des Weinguts zuständig war, gehörte zur eher konservativen Sorte, und sie wollte einen möglichst bodenständigen und respektablen Eindruck auf ihn machen.

Nicht, dass das viel helfen würde. Jeder im Ort kannte ihren Vater und wusste, dass er seine Tage damit verbrachte, seine Erinnerungen in Alkohol zu ertränken. Dass man ihm überhaupt immer wieder eine Hypothek gegeben hatte, lag einzig und allein daran, dass das Land selbst im Falle einer Zwangsversteigerung trotz allem genug einbringen würde, um einen Großteil der Schulden zu decken. Für die Bank war es also in jedem Fall ein gutes Geschäft. Erst verdiente sie an den Zinsen, dann konnten sie noch aus einem Verkauf Profit schlagen. So etwas nannte man Win-win-Situation, dachte Aliena bitter.

Sie verließ das Haus und stieg in ihren Wagen, einen kleinen weißen Fiat Uno, den sie sich erst gegönnt hatte, als ihr Weinhandel in Florenz regelmäßig gute Umsätze machte. Inzwischen gab es auch einen Firmenwagen, der von ihr und ihren Angestellten je nach Bedarf genutzt wurde und der ein wenig eindrucksvoller war. Sie selbst legte keinen großen Wert auf Statussymbole, und sie liebte ihr kleines Auto, das sie bisher noch nie im Stich gelassen hatte.

Der Ort Borgomaro, in dem sich die Bankfiliale befand, lag etwa eine halbe Stunde vom Gut entfernt im Flusstal des Impero. Die Weinberge wurden allmählich von weiten Lavendelfeldern abgelöst, und schließlich tauchten die ersten vertrauten Wohnhäuser auf. Ein Bach, der von einer steinernen Brücke überspannt wurde, zog sich quer durch das Ortszentrum, wo sich rund um den Marktplatz die kleine Kirche, das Gemeindezentrum und einige Geschäfte zusammendrängten, ebenso wie die Bank.

Aliena stellte ihren Fiat am Straßenrand ab und stieg aus. Zu dieser Zeit des Tages war es ruhig im Ort, denn die meisten Menschen arbeiteten auf den Weingütern in der Umgebung. Zwei alte Männer saßen im Schatten eines Olivenbaums auf dem Marktplatz und spielten Dame, und auf der Terrasse eines kleinen Cafés saß ein Pärchen zusammen, das nur Augen füreinander hatte.

Ein Lächeln ließ ihre Mundwinkel zucken, verblasste aber, als sie die Eingangstür der Bank erreichte. Sie ahnte bereits, dass man ihrem Anliegen nicht gerade aufgeschlossen gegenüberstehen würde. Wieso auch? Immerhin wollte sie darum bitten, dass man ihrem Vater die monatlichen Kreditraten für einen kurzen Zeitraum stundete. Weil sie auf diese Weise etwas Zeit gewänne. Die drohende Zwangsversteigerung machte die Suche nach einem Käufer nicht unbedingt leichter. Wer wollte schon ein Gebot auf ein Weingut abgeben, das demnächst in den Besitz der Bank übergehen würde?

Trotzdem war es zumindest einen Versuch wert.

Sie straffte die Schultern, zwang ein Lächeln auf ihre Lippen und trat durch die Glastür in das klimatisierte Innere der Bank.

Der Termin dauerte länger, als Aliena erwartet hatte, und danach hatte sie noch ein Gespräch mit einem der größeren Gläubiger ihres Vaters, sodass es schon später Nachmittag war, als sie das Weingut erreichte.

Sofort fiel ihr der Kipplaster auf, der vor dem Haus stand. Dem Firmennamen auf der Seite nach zu urteilen, handelte es sich um einen weiteren Gläubiger. Einen, mit dem sie bereits mehrfach unerfreuliche Telefonate geführt hatte.

Stirnrunzelnd parkte sie ein Stück von dem Wagen entfernt und stieg aus. Als ihr der Geruch von vergammelten Trauben in die Nase zog, kam ihr eine böse Vorahnung.

„Signore Coletti?“, rief sie und lief auf den Laster zu, dessen Ladefläche zu kippen begann. „Hören Sie doch bitte auf mit dem Unsinn. Solche Methoden sind nicht nur absolut kindisch, sondern auch vollkommen unnötig. Wir sind ja willig, Ihre Rechnungen zu zahlen, aber …“

Die Ladefläche wurde unbarmherzig weiter gekippt, bis sich eine stinkende Masse aus vergorenem Most über den Hof ergoss. Der Geruch war so furchtbar, dass ihr regelrecht übel wurde. Sie hielt sich eine Hand vor Mund und Nase und würgte trocken.

„Das haben Sie nun davon, dass Sie mich immer länger hinhalten!“ Coletti beugte sich zum Seitenfenster des Führerhauses heraus und bedachte sie mit einem selbstzufriedenen Blick. „Wenn ich nicht bald mein Geld sehe, komme ich wieder. Und dann werden Sie nicht so glimpflich davonkommen wie heute …“

Er brachte die Ladefläche seines Kippers in eine waagerechte Position und rumpelte in einer Staubwolke vom Hof.

Hilflos stand Aliena da und kämpfte gegen Tränen an. Was für ein furchtbarer Tag! Sie hatte das Gefühl, immer wieder in einer Sackgasse zu landen, ganz gleich, in welche Richtung sie sich wandte. Der Bankberater hatte ihr am Ende natürlich nicht geholfen. Warum auch? Von seiner Seite gab es dafür gar keine Veranlassung.

Und bei den Gläubigern konnte sie mit ihrer Bitte um Aufschub auch nicht mehr landen. Die warteten nun schon so lange auf ihr Geld, dass sie endgültig alle Geduld verloren hatten. Was sie durchaus nachvollziehen konnte. Immerhin war sie selbst Geschäftsfrau und ebenfalls auf die fristgerechte Zahlung von Rechnungen angewiesen.

Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wieso sie sich das eigentlich antat. Die Antwort war nicht weiter schwer zu finden: Es ging ihr vor allem um die Arbeiter und deren Familien. Aber ganz gleich, ob er ihr nun ein guter Vater gewesen war oder nicht, sie brachte es auch nicht über sich, Graziano einfach so im Stich zu lassen. Sie war sicher, dass ihr Bruder das nicht gewollt hätte.

Leo war ein echter Familienmensch gewesen. Er hatte nicht gezögert, nach dem Tod ihrer Mutter zurückzukehren. Er war immer für sie da, wenn sie ihn brauchte. Hatte sie da nicht zumindest eine gewisse Verpflichtung ihrem Vater gegenüber? Ganz gleich wie der sich auch aufführen mochte?

Egal – jetzt musste sie sich erst mal um diese Sache hier kümmern.

Seufzend ging sie ins Haus, um sich umzuziehen.

Ihr Vater schlief laut schnarchend auf der Wohnzimmercouch, und in der Zeit, die sie brauchte, um ihre Arbeitskleidung anzuziehen und ihr Haar zu einem Zopf zu flechten, rührte er sich nicht. Von ihm hatte sie definitiv keine Hilfe zu erwarten.

Die Arbeiter hatten sicher auch alle längst Feierabend gemacht, und wenn sie ehrlich sein wollte, hätte sie sich schlecht dabei gefühlt, sie mit einer solchen Aufgabe zu betrauen. Vor allem, da sie bislang noch keine Ahnung hatte, wie sie das Geld für die Löhne des laufenden Monats zusammenbekommen sollte.

Sie holte gerade eine Schaufel und eine Schubkarre aus dem Schuppen, als sie das Geräusch eines Wagens hörte, der auf den Hof fuhr.

Hoffentlich nicht Coletti, der zurückgekommen war, um eine weitere Ladung stinkenden Most auszukippen.

Mit erhobener Schaufel eilte sie aus dem Schuppen, ließ sie aber sogleich sinken, als sie den Neuankömmling erkannte.

Es handelte sich eindeutig nicht um Coletti, was jedoch nicht bedeutete, dass sie sich über seinen Besuch freute.

„Signore Conti“, begrüßte sie ihn kalt. „Was wollen Sie schon wieder hier? Habe ich mich nicht klar und deutlich ausgedrückt?“

„Was, um Himmels willen, ist denn hier passiert?“, fragte er und verzog angewidert das Gesicht. „Dio mio, wie das stinkt!“

„Tut mir leid, dass der Geruch Ihre empfindliche Nase beleidigt, aber Sie müssen ja nicht bleiben. Nein, ich würde es sogar sehr begrüßen, wenn Sie direkt wieder gehen. Und Sie können sich auch jeden weiteren Besuch sparen, denn wir verkaufen nicht an Sie. Unter gar keinen Umständen.“

„Lassen Sie es gut sein“, entgegnete er und fing an, seine Ärmel hochzukrempeln.

Stirnrunzelnd sah sie ihn an. „Was tun Sie da?“, fragte sie schließlich verblüfft.

„Wonach sieht es denn aus?“

Er öffnete den Knoten seiner Krawatte und zog sie unter seinem Kragen hervor. Aliena stockte der Atem, als sie das leise Zischen des Seidenstoffs hörte, doch sie hatte sich sofort wieder im Griff, ehe er ihr etwas anmerken konnte.

Trotzdem wurde sie nicht schlau aus seinem Verhalten. „Ernsthaft, was soll das werden? Können Sie nicht einfach in Ihr Auto steigen und verschwinden?“

„Und Sie mit der Beseitigung dieses Unrats allein lassen?“ Er trat an ihr vorbei in den Schuppen und nahm sich ebenfalls eine Schaufel.

„Ich habe Sie nicht um Ihre Hilfe gebeten“, entgegnete Aliena scharf und versuchte, ihm die Schaufel wieder abzunehmen. Er hielt den Griff jedoch so fest umklammert, dass sie ebenso gut versuchen könnte, mit bloßen Händen einen Baum zu entwurzeln.

„Das brauchen Sie auch gar nicht. Meine Mutter starb zwar, als ich noch ein kleiner Junge war, aber mir wurden trotzdem Manieren beigebracht.“

„Was ich angesichts Ihrer Abstammung zu bezweifeln wage“, zischte Aliena.

Er runzelte die Stirn. „Hören Sie, ich habe inzwischen begriffen, dass zwischen unseren Familien irgendetwas vorgefallen ist. Mein Großvater leugnet das zwar beharrlich, ich bin jedoch kein Narr. Doch weder bin ich in diese Sache involviert noch billige ich alle Entscheidungen, die Salvatore Conti im Namen der Conti Winery trifft. Und ob es Ihnen nun gefällt oder nicht, ich werde Ihnen helfen, diese Schweinerei hier zu beseitigen.“

„Schön!“ Sie funkelte ihn zornig an. „Ich kann Sie wohl kaum davon abhalten, auch wenn Sie sich Ihre lächerlichen Unschuldsbeteuerungen schenken können.“

Er begegnete ihrem Blick fest. „Wie Sie wollen“, sagte er. „Fangen wir an? Ich würde nämlich gern vor Sonnenuntergang fertig werden, wenn Sie nichts dagegen haben.“

Vittorio häufte eine weitere Ladung vergorener Trauben auf das Schaufelblatt und ließ sie in die Schubkarre fallen. Dabei beobachtete er Aliena Agostini aus dem Augenwinkel.

Als er sie am Vortag zum ersten Mal sah, hielt er sie für einen heranwachsenden Jungen, in ihrer staubigen Jeans und dem Schlapphut, unter dem ihr Gesicht halb verborgen gewesen war. Erst auf den zweiten Blick hatte er die leichte Rundung ihrer Brüste bemerkt, und als sie zu sprechen begann, hatte kein Zweifel mehr bestanden.

Heute trug sie zwar wieder Arbeitskleidung, nicht aber den Hut, und er sah, dass ihr Haar, das sie im Nacken zusammengefasst hatte, das warme Braun von Kastanien hatte.

Sie arbeitete hart und beklagte sich nicht, doch ihre Hände waren weich und perfekt manikürt, daher nahm er an, dass sie ihr tägliches Brot auf andere Weise verdiente.

Er runzelte die Stirn über sich selbst. Irgendetwas an dieser Frau weckte seine Neugier. Er wollte mehr über sie erfahren. Er wollte, verdammt noch mal, endlich wissen, was sie gegen ihn hatte.

Was sein Großvater verbrochen hatte, das sie so gegen Salvatore – und damit auch gegen ihn – aufbrachte.

„Sie reden nicht viel, was?“

Sie hielt inne. „Das hängt ganz von meinem Gesprächspartner ab.“

„Autsch.“ Er griff sich theatralisch an die Brust. „Das tat weh.“

Aliena grinste, ehe sie die Griffe der Schubkarre umfasste und sie zum Komposthaufen am anderen Ende des Hofes schob. Vittorio blickte ihr nach. Dann schüttelte er den Kopf und widmete sich ebenfalls wieder seiner Arbeit.

Spaß machte es nicht, obwohl er sich an den beißenden Gestank mittlerweile gewöhnt hatte. Auf diese Weise konnte er Aliena Agostini zumindest studieren – wie auch immer ihm das weiterhelfen sollte.

„Den Rest schaffe ich allein“, sagte sie, als sie mit der leeren Schubkarre zurückkehrte.

Es war vielleicht nicht so formuliert, doch es war klar, dass sie ihn loswerden wollte. Nun, den Gefallen würde er ihr nicht tun.

„Ich helfe gern“, entgegnete er und lud eine weitere Schaufel voll. „Und außerdem wollte ich ohnehin noch mal mit Ihnen sprechen.“

„Aber ich nicht mit Ihnen.“ Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich hoffe, Sie erwarten nicht, dass ich vor Dankbarkeit vor Ihnen auf die Knie sinke. Das wird nämlich nicht geschehen.“

„Keine Sorge“, entgegnete er. „Sie haben mir bereits mehr als einmal klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass ich von Ihnen nichts zu erwarten habe. Ich will einfach nur helfen.“ Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Vielleicht erfreut Sie ja die Vorstellung, dass mein Großvater sicherlich alles andere als begeistert wäre, wenn er von dem hier wüsste.“

Sie lachte bitter auf. „Wenn Sie glauben, das würde mir irgendwie Genugtuung verschaffen, sind Sie wirklich naiv. Nichts, was Sie sagen, könnte wiedergutmachen, was Ihre Familie meiner Familie angetan hat.“

Er stützte sich auf die Schaufel und betrachtete sie durchdringend. „Und das wäre?“

Fassungslos starrte sie ihn an. „Ist das Ihr Ernst?“

Er spürte, wie langsam Ärger in ihm aufstieg. Er konnte eine Menge einstecken, aber diese Frau stellte seine Geduld auf eine harte Probe. „Ich würde nicht fragen, wenn ich es wüsste, Aliena.“

„Ich erinnere mich nicht, Ihnen erlaubt zu haben, mich mit dem Vornamen anzusprechen“, fauchte sie.

Er ging nicht darauf ein. „Sagen Sie mir, was vorgefallen ist. Vielleicht kann ich ja irgendetwas tun …“

„Sie können überhaupt nichts tun!“, fiel sie ihm zornig ins Wort. „Nichts, hören Sie? Es gibt Dinge, die lassen sich nicht wieder in Ordnung bringen.“

Die Art und Weise, wie sie ihn ansah – das Kinn störrisch gereckt, die Schultern gestrafft – weckte eine seltsame Mischung von Gefühlen bei ihm. Trotzdem ärgerte er sich darüber, dass sie ihn einfach so mit Salvatore in einen Topf warf. Er war nicht wie sein Großvater, den er zwar respektierte, aber gewiss nicht verherrlichte. Doch er bewunderte auch ihre Courage. Nicht viele wagten es, ihm derart die Stirn zu bieten, denn er mochte nicht rücksichtslos und berechnend wie sein Großvater sein, er war und blieb jedoch Geschäftsmann – und zwar ein ziemlich erfolgreicher.

Und jetzt, wo er Gelegenheit hatte, sie genauer anzusehen …

Sicher, ihre Kleidung war alles andere als vorteilhaft, aber sie hatte etwas an sich, das ihn faszinierte. Dabei wirkte sie auf den ersten Blick eher unscheinbar.

Langes dunkles Haar, das sie zu einem unordentlichen Knoten am Hinterkopf zusammengefasst hatte, olivgetönte Haut und große braune Augen. Schlank, fast ein wenig burschikos. Solche Frauen gab es wie Sand am Meer. Und eigentlich entsprach sie nicht wirklich seinem Typ.

Er mochte sinnliche, üppige Frauen. Es war eine Vorliebe, für die sein Großvater ihn nicht selten verspottete. Salvatore war der Ansicht, dass erfolgreiche Geschäftsmänner sich nur mit einem bestimmten Typ Frau in der Öffentlichkeit zeigten: gertenschlank, elegant und zurückhaltend.

Nun, eins war Aliena Agostini gewiss nicht: zurückhaltend.

Sie sagte, was ihr durch den Kopf ging, ohne sich um die Konsequenzen zu kümmern.

Er bewunderte das.

Leider musste er selbst bei Salvatore viel zu oft seine eigene Meinung hinunterschlucken, auch wenn es schwerfiel. Doch er rechtfertigte es vor sich, indem er sich sagte, dass es nur vorübergehend war. Er musste nur noch so lange durchhalten, bis sein Großvater ihm endlich die Leitung der Conti Winery übertrug.

Und genau das würde er tun.

Er musste einfach.

Als jetzt Ärger in ihm aufstieg, war nicht Aliena der Grund – doch sie war es, gegen die sein Groll sich richtete. Ganz einfach, weil sie da war.

Vittorio runzelte die Stirn. „Wissen Sie was? Ich bin Ihre Feindseligkeit mir gegenüber wirklich langsam leid. Es mag sein, dass mein Großvater Ihrer Familie ein Unrecht zugefügt hat. Ich will gar nicht leugnen, dass er ein harter und unnachgiebiger Mann ist. Aber ich sehe nicht, was das mit mir zu tun hat!“

„Ein Unrecht angetan?“ Sie sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Ihr Großvater ist für den Tod meines Bruders verantwortlich!“

4. KAPITEL

Ungläubig starrte Vittorio sie an. „Er ist – bitte was?“

„Sie haben schon richtig gehört.“

Aliena schlang die Arme um ihren Körper, als würde sie plötzlich frieren. Ihre Miene hatte einen schmerzerfüllten Ausdruck angenommen.

„Ihr Großvater hat meinen älteren Bruder in den Tod getrieben. Ich …“ Sie schüttelte den Kopf. „Warum erzähle ich Ihnen das überhaupt? Sie kennen die Geschichte doch sicher längst.“

„Nein.“ Er legte die Schaufel beiseite und trat auf sie zu. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie sprechen. Mein Großvater mag in vielerlei Hinsicht unerbittlich sein, aber er würde niemals irgendjemandem ein Leid zufügen.“

„Da täuschen Sie sich“, entgegnete sie, und ihre Augen blitzten herausfordernd. „Er hat meinen Bruder auf dem Gewissen, ganz gleich, was Sie auch behaupten mögen.“

„Wenn ich Ihnen das glauben soll, müssen Sie mir schon ein bisschen mehr erzählen.“

Sie stemmte die Fäuste in die Seiten. „Ich denke nicht, dass ich Ihnen überhaupt irgendetwas erzählen muss.“

„Sie sind wirklich ungeheuerlich.“ Er breitete die Arme aus. „Sie werfen hier mit schwerwiegenden Anschuldigungen um sich, aber wenn es darum geht, sich zu erklären, kneifen Sie.“

„Ich … was?“

„Sie kneifen!“ Er schüttelte den Kopf. „Was erwarten Sie eigentlich von mir? Sie sprechen hier von meinem Großvater. Sicher, er mag nicht unbedingt ein Vorzeigebild an Anstand und Moral sein, aber …“

„Kein Aber. Ich weiß, was ich weiß, Signore Conti“, fauchte sie.

„Und wieso wurde Salvatore dann nie zur Rechenschaft gezogen, wenn es tatsächlich stimmt, was Sie sagen?“

Sie lachte bitter auf. „Als ob Sie die Antwort auf diese Frage nicht genau kennen. Wer würde den unantastbaren Salvatore Conti schon mit einem solchen Vorwurf konfrontieren? Ich sage es Ihnen: niemand.“ Ihre Stirn legte sich in Falten. „Nicht ohne stichhaltige Beweise.“

Vittorio zog die Brauen zusammen. So ganz unrecht hatte sie nicht, wenn er ehrlich war. Es war nicht leicht, an seinen Großvater heranzukommen. Niemand würde riskieren, sich mit ihm anzulegen. Nicht ohne einen wirklich guten Grund.

Und dennoch.

Solange sie ihm nicht mehr lieferte als ein paar windige Vorwürfe …

„Und das ist auch richtig so“, sagte er schließlich. „Sonst könnte ja jeder irgendwelche Behauptungen in die Welt setzen.“

Sie richtete sich zu voller – nicht sonderlich imposanter – Größe auf. „Es sind aber nicht nur irgendwelche Behauptungen. Mein Bruder ist tot.“

„Und das tut mir sehr leid“, erwiderte er. „Wirklich, aber …“

„Ach, sparen Sie sich doch Ihr geheucheltes Mitgefühl.“

„Wie kommen Sie darauf, dass ich …“

„Sie sind ein Conti, das reicht mir als Begründung!“

„Dio!“

Er wusste selbst nicht, was in ihn gefahren war, aber plötzlich war er ihr so nah, dass ihr Duft in seine Nase stieg. Er schlang einen Arm um ihre Taille und zog sie noch dichter an sich.

Sie versteifte sich, doch als sie zu ihm aufsah, waren ihre Pupillen geweitet, und es lag etwas in ihrem Blick, das er nicht recht deuten konnte.

Zumindest so lange nicht, bis sie sich plötzlich auf die Zehenspitzen stellte und ihn küsste.

Alienas Herz hämmerte so heftig, dass sie sicher war, es müsste noch in Aurigo, der nächstgelegenen Ortschaft, zu hören sein. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Ihr war heiß und kalt zugleich, und in ihrem Kopf drehte sich alles.

Es war, als hätte sie vollkommen die Kontrolle über sich verloren. Sie war so wütend auf diesen Mann. Er kam daher und behauptete dreist, dass sein Großvater nichts mit dem Tod ihres Bruders zu tun hatte. Als wüsste sie es nicht besser!

Natürlich hatte sich Salvatore Conti nicht selbst die Hände schmutzig gemacht. Dafür war er viel zu gerissen. Aber das machte ihn in ihren Augen nicht weniger verantwortlich.

Und was tat sie? Sie küsste den Enkel dieses Mannes!

Hatte sie vollkommen den Verstand verloren?

„Nein!“ Hastig taumelte sie zurück und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. Doch sosehr sie sich auch dagegen wehrte – sie konnte nicht leugnen, dass sie es genossen hatte. „Was, zum Teufel, sollte das?“, fauchte sie. „Wie kommen Sie dazu, mich einfach so zu küssen?“

„Ich …“ Vittorio schüttelte den Kopf. „Sie haben mich geküsst“, stellte er klar. „Aber das scheinen Sie ja gern zu tun, nicht wahr?“

„Wovon bitte sprechen Sie?“

„Na davon, dass Sie mit Vorliebe haltlose Lügen in die Welt setzen.“

Wieder spürte sie, wie Wut in ihr hochkochte. „Wie können Sie es wagen?“

Großer Gott, hatte wirklich sie ihn geküsst? Ja, das hatte sie wohl. Daher musste sie ernsthaft an ihrem Verstand zweifeln. Er mochte ja recht gut aussehen, aber charakterlich … Nein, er war und blieb ein Conti, und genau deshalb war es ein Fehler gewesen, ihn zu küssen.

Deswegen, und weil sie absolut nicht das geringste Interesse daran hatte, sich auf irgendeine schmutzige Affäre einzulassen.

Schon gar nicht mit dem Enkel von Salvatore Conti.

Sie barg das Gesicht in den Händen. „Dio …“

Als sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter spürte, zuckte sie zusammen. Sie blickte auf und sah geradewegs in seine Augen.

„Hören Sie …“ Er schüttelte den Kopf. „Hör zu, es tut mir leid. Wir hatten wirklich einen mehr als schlechten Start. Was hältst du davon, wenn wir noch einmal ganz von vorn beginnen?“

Sie sah ihn misstrauisch an. Dass er sie plötzlich duzte, gefiel ihr, wenn auch widerstrebend. „Was soll das bringen?“

„Du kannst doch nicht wirklich glauben, dass mein Großvater deinem Bruder irgendetwas angetan hat.“

„Ach nein?“ Sie funkelte ihn wütend an. „Nun, wenn du davon so fest überzeugt bist, kannst du ja gern das Gegenteil beweisen. Und wenn du das schaffst, dann kannst du von mir aus das verdammte Weingut haben.“

Er hob erstaunt die Augenbrauen. „Ist das dein Ernst?“

„Mein absoluter Ernst“, entgegnete sie fest, auch wenn ihr in Wahrheit nicht wohl bei der Geschichte war.

Ihr Vater würde sich niemals einverstanden erklären, an die Contis zu verkaufen, ganz gleich, was passierte. Auf der anderen Seite bestand wohl kaum Gefahr, dass Vittorio seinen Großvater entlastete. Immerhin wusste sie, dass der schuldig war – oder?

Nein, es gab keinen Zweifel daran. Sie durfte sich nicht durcheinanderbringen lassen, nur weil er zugegebenermaßen ziemlich sexy war.

Normalerweise interessierte sie sich nicht besonders für solche Äußerlichkeiten. Und sie war viel zu beschäftigt damit, sich um ihren Weinhandel zu kümmern, als dass sie häufig Gelegenheit hatte, auszugehen.

Das letzte Mal lag sicher schon ein Jahr zurück. Ein Banker namens Rico oder Ricardo, sie erinnerte sich nicht mehr so genau, mit dem Loredana sie hatte verkuppeln wollen. Ein gemeinsames Dinner hatte genügt, um mit Sicherheit sagen zu können, dass sie nicht zusammenpassten. Er hatte die ganze Zeit über nur von Geldanlagen und Investitionen erzählt, und sie hatte sich furchtbar gelangweilt.

Seitdem war sie allen Bemühungen ihrer Freundin und Geschäftspartnerin, ein neues Date für sie zu arrangieren, ausgewichen. Sie brauchte keinen Mann in ihrem Leben. Sie war auch so glücklich.

„Also schön“, sagte er. „Dann haben wir einen Deal. Wir werden gemeinsam herausfinden, was genau mit deinem Bruder geschehen ist. Aber dazu brauche ich sämtliche Fakten.“ Eindringlich sah er sie an. „Und wenn ich sämtliche sage, meine ich wirklich alle. Wenn du mir irgendetwas verschweigst, kann ich dir nicht helfen.“

„Ich habe dich nicht um Hilfe gebeten“, zischte sie.

Beschwichtigend hob er die Arme. „Nein, hast du nicht, stimmt. Aber das ändert nichts an den Tatsachen. Wenn du Informationen vor mir zurückhältst, finden wir vielleicht nie heraus, wer deinen Bruder auf dem Gewissen hat.“

„Ich weiß bereits, wer ihn auf dem Gewissen hat“, erinnerte sie ihn kühl.

„Du glaubst, es zu wissen. Das ist ein himmelweiter Unterschied.“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Was hatte sie schon zu verlieren? Und hatte sie nicht sowieso die genauen Umstände von Leos Tod herausfinden wollen?

„Gut.“ Sie nickte. „Wir treffen uns morgen und reden dann weiter.“

„Hier?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“ Es war besser, wenn ihr Vater ihn nicht zu Gesicht bekam. „Ich wollte ohnehin nach Genua, um persönlich bei einem großen Kunden vorzusprechen, der dem Weingut noch Geld schuldig ist.“ Sie zuckte die Achseln. „Natürlich ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein angesichts des Schuldenbergs, über den du sicher bestens informiert bist.“ Sie hörte selbst, wie bitter ihre Stimme klang. „Aber für uns ist im Moment jeder Cent wichtig.“

„Das ist verständlich. Doch wo komme ich dabei ins Spiel?“

„Ganz einfach. Du darfst mich fahren.“

Ein Schmunzeln umspielte seine Mundwinkel. „Na, vielen Dank. Aber schön, einverstanden. Ich hole dich morgen früh um zehn ab.“ Er nahm seine Schaufel wieder auf. „Und jetzt sollten wir hier weitermachen, wenn wir fertig werden wollen, bevor es dunkel ist.“

„Wie war das? Leo Agostini? Nein, den Namen habe ich noch nie gehört.“

Vittorio schüttelte den Kopf und wechselte das Handy von einem Ohr ans andere. „Ach, komm schon, nonno, das kannst du mir nicht erzählen. Seid ihr beide, Agostini und du, nicht seit einer Ewigkeit Konkurrenten?“

„Das heißt ja wohl kaum, dass ich alles über diesen Mann wissen muss, oder?“

Stirnrunzelnd strich Vittorio sich durchs Haar. Das passte alles nicht zusammen. Sein Großvater war der pedantischste Mensch, den er kannte. Es erschien ihm kaum glaubhaft, dass Salvatore nicht bis ins kleinste Detail über die Familie eines Konkurrenten informiert war.

Er trat ans Fenster seines Schlafzimmers, das hinaus auf die nächtlichen Weinberge zeigte. Der volle Mond stand am Himmel und tauchte alles in einen silbrigen Schein.

Warum sollte Salvatore lügen? War es möglich, dass …?

Nein, ganz sicher nicht. Sein Großvater war kein einfacher Mann, aber dass er den Tod von Alienas Bruder verschuldet hatte, konnte Vittorio sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Würde Lorenzo wohl dasselbe sagen? Oder Armando?

Er schob die Gedanken an seine älteren Brüder beiseite. Die beiden waren gegen Salvatore eingenommen. Aus gutem Grund, sicher, aber das machte sie trotzdem nicht objektiv.

Nonno, ich will doch nur wissen, was geschehen ist. Mir ist klar, dass das alles schon viele Jahre zurückliegt, aber versuch bitte, dich zu erinnern. Es ist wirklich wichtig.“

„Ich mag alt sein, Vito, jedoch nicht senil. Also behandle mich nicht, als wäre ich ein vergesslicher Tattergreis. Wenn ich diesem Leo Agostini begegnet wäre, würde ich mich daran erinnern, das kann ich dir versichern. Und damit ist dieses Gespräch beendet. Melde dich wieder bei mir, wenn du Neuigkeiten hast. Echte Neuigkeiten, und nicht irgendwelche absurden Theorien.“

Ehe Vittorio sich noch einmal zu Wort melden konnte, wurde die Leitung unterbrochen.

Fluchend wandte er sich vom Fenster ab und legte sein Smartphone auf den Nachttisch. Sein Großvater wich ihm aus. Es war offensichtlich, dass er etwas vor ihm verschwieg.

Nur was?

Er ging zurück ins Wohnzimmer, trat an den kleinen Barwagen und goss sich einen Scotch ein, den er mit einem Zug hinunterstürzte. Eins stand fest, Aliena konnte er davon nichts sagen. Sie würde es sofort als einen Beweis dafür werten, dass sie mit ihrer Anschuldigung richtiglag. Dabei musste es eine andere Erklärung für Salvatores merkwürdiges Verhalten geben.

Es musste einfach.

Mit einem Ächzen streckte er sich auf dem Bett aus. Morgen würde er alles erfahren, was Aliena wusste. Vielleicht konnte er sich dann endlich einen Reim darauf machen, was zwischen seinem Großvater und Leo Agostini vorgefallen war.

Er konnte es wirklich nur hoffen.

5. KAPITEL

Ihr Vater lag schnarchend auf der Couch im Wohnzimmer und schlief seinen Rausch vom Vortag aus, als Aliena nach unten kam. Hinter ihr lag eine unruhige Nacht. Sie hatte immer wieder an Leo denken müssen und daran, wie die Polizei eines Tages vor ihrer Tür gestanden und ihnen mitgeteilt hatte, dass er ums Leben gekommen war.

Und, ja, sie hatte auch an Vittorio Conti denken müssen.

Daran, wie es sich angefühlt hatte, von ihm geküsst zu werden.

Wie es sich angefühlt hatte, ihn zu küssen. Denn – wem wollte sie eigentlich etwas vormachen? – genau das hatte sie getan. Sie hatte den Enkel des Mannes geküsst, den sie auf der Welt am allermeisten verachtete.

Den Enkel des Mannes, der ihr den einzigen Menschen genommen hatte, der ihr wirklich etwas bedeutet hatte.

Und dem sie etwas bedeutet hatte.

Warum nur flatterten beim Gedanken an Vittorio sofort Schmetterlinge in ihrem Bauch? Sie wollte das nicht. Mit keinem Mann und ganz sicher nicht mit ihm.

Sie war gerade in der Küche und goss sich eine Tasse Kaffee ein, als sie hörte, wie draußen ein Auto vor dem Haus vorfuhr. Sie sah zum Fenster hinaus, und da waren sie wieder, diese verflixten Schmetterlinge.

Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, schnappte sich ihre Handtasche vom Garderobenhaken und ging nach draußen, ohne sich von ihrem Vater zu verabschieden. Er würde sich ohnehin nicht wundern, wo sie war. Das hatte er nie getan – nicht einmal, als sie ein Teenager gewesen war.

Vittorio stand neben seinem Wagen, als sie ins Freie trat. Er trug Jeans, ein weißes Hemd und schwarze Lederschuhe, die ebenso teuer und schnittig aussahen wie sein Lamborghini. Nein, korrigierte sie sich, wie alles, was er besaß. Denn er war ein Conti, und daher konnte er sich jeden nur erdenklichen Luxus erlauben.

Sie war sich bewusst, wie bitter das klang, aber sie hatte lange und hart dafür gearbeitet, ihr Geschäft zum Erfolg zu führen. Ihr war nicht alles auf dem Silbertablett serviert worden wie so manchem anderen.

„Können wir los?“, fragte Vittorio.

Der tiefe Klang seiner Stimme ließ etwas in ihrem Inneren erbeben. Sie hasste sich für diese verräterische Reaktion ihres Körpers, doch es gab nichts, was sie dagegen tun konnte, außer es zu ignorieren.

„Ja“, entgegnete sie knapp und ging, ohne ihn noch einmal anzusehen, um den Wagen herum. Er machte Anstalten, ihr zu folgen, um ihr – ganz Gentleman alter Schule – die Tür zu öffnen, doch sie beeilte sich, ihm zuvorzukommen.

Sie hörte ihn leise seufzen, als sie sich auf das weiche Leder des Beifahrersitzes sinken ließ.

Als drittkleinste italienische Region waren in Ligurien keine zwei Orte mehr als vier Stunden mit dem Auto voneinander entfernt. Genua, das genau in der Mitte lag, war also von überall in der Region aus in zwei Stunden erreichbar. Normalerweise ein mehr als überschaubarer Zeitraum, doch zusammen mit Vittorio Conti in seinem schnittigen Zweisitzer kam es ihr wie eine kleine Ewigkeit vor. Die Minuten zogen sich, und als sie endlich aus einem der zahlreichen Tunnel kamen und sich der Blick auf die Stadt und das dahinterliegende Mittelmeer auftat, atmete Aliena erleichtert auf.

„Wohin genau?“, fragte Vittorio und unterbrach zum ersten Mal seit ihrer Abfahrt das Schweigen.

„In die Altstadt“, entgegnete sie. „Die Firma hat dort ihren Hauptsitz.“ Sie verzog das Gesicht. „Warum sind es eigentlich immer die mit den teuersten Firmensitzen, die sich am längsten Zeit mit dem Zahlen von Rechnungen lassen?“

Er hob eine Braue. „Wieso siehst du mich so an? Ich zahle meine Rechnungen immer pünktlich. Aber das glaubst du mir vermutlich ohnehin nicht, oder täusche ich mich etwa? Für dich bin ich doch der Teufel in Person.“

Sie starrte zum Beifahrerfenster hinaus, fest entschlossen, ihn nicht anzusehen, denn sie konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen.

„Läge ich damit denn so falsch?“

Er zuckte die Achseln. „Als ich das letzte Mal in den Spiegel geschaut hab, habe ich jedenfalls keine Hörner gesehen“, entgegnete er nüchtern.

Nun konnte sie ein Lachen nicht mehr zurückhalten. „Schade eigentlich. Ich bin sicher, dass sie dir ausnehmend gut stehen würden“, neckte sie ihn. „Vielleicht gebogen, wie die von Ziegen?“

Sie sahen einander an, und einen Moment lang fürchtete sie, zu weit gegangen zu sein – doch dann fing er an, laut zu lachen.

Es war befreiend, so ausgelassen zu lachen. Aliena konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal so unbeschwert gewesen war. Sie hatte den Gedanken jedoch kaum zu Ende gedacht, da überfiel sie auch schon ein Gefühl von Scham.

Wie konnte sie nur? Er war ein Conti, und sie hasste diese Familie.

Aber was, wenn sich am Ende herausstellte, dass die Contis gar nicht für Leos Tod verantwortlich waren?

Nein, unmöglich. Das konnte gar nicht sein. Sie konnte nicht all die Jahre so vollkommen falschgelegen haben. Womöglich war Vittorio persönlich nicht in die Intrigen seines Onkels involviert gewesen, aber er war trotzdem ein Teil dieser Familie, mit der sie nichts zu tun haben wollte.

Hastig wandte sie sich ab und blickte zum Seitenfenster hinaus, an dem die Straßen der Stadt vorbeiflogen. Als sie die Piazza de Ferrari erreichten, den Platz, der mitten im Herzen Genuas lag, bat sie Vittorio knapp, in der Nähe einen Parkplatz zu suchen.

„Du brauchst mich nicht zu begleiten“, sagte sie, als sie aus dem Wagen stieg. „Wir können uns in zwei Stunden am Springbrunnen auf der Piazza treffen.“

Vittorio schüttelte den Kopf. „Unsinn, ich komme mit dir. Vielleicht kann ich dir ja bei deinem Schuldner helfen. Damit, säumige Kunden zum Zahlen zu bewegen, habe ich einige Erfahrung.“

Ihr Herz klopfte heftiger. „Das ist wirklich nicht nötig“, protestierte sie, doch er winkte ab.

„Es macht mir nichts aus. Ganz im Gegenteil, du würdest mir sogar einen Gefallen tun. Ich würde mich sonst vermutlich zu Tode langweilen.“

Aliena runzelte die Stirn. „Genua ist eine der schönsten Städte, die ich kenne. Mir ist vollkommen schleierhaft, wie du es fertigbringen willst, dich hier zu langweilen. Aber bitte, wenn du unbedingt möchtest …“

„Allerdings“, entgegnete er und reichte ihr seinen Arm. „Wollen wir?“

Sie sah ihn an und ignorierte den angebotenen Arm. Er zuckte mit den Schultern.

„Schön, ganz wie du möchtest. Aber Signore Gianotti ist kein besonders angenehmer Zeitgenosse. Er …“

„Gianotti?“, fiel Vittorio ihr ins Wort. „Pietro Gianotti von Sempre Vino?“

Stirnrunzelnd nickte Aliena. „Du kennst ihn?“

„Sein Vater war ein enger Freund meines Großvaters. Sie haben viele Jahre miteinander Geschäfte gemacht, und Pietro scheint diese Tradition fortzusetzen.“ Er verzog das Gesicht. „Aber du hast recht, er ist ein eher unangenehmer Bursche. Die Art und Weise, wie er seine weiblichen Mitarbeiter anstarrt …“

„Ich weiß, was du meinst“, entgegnete Aliena düster. „Er hat einmal versucht, mir zu nahe zu treten, doch diesen Fehler wird er kein zweites Mal begehen. Dummerweise ist er seitdem nicht besonders gut auf mich zu sprechen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich nehme an, dass er den Ausgleich unserer Rechnungen auch deshalb so lange hinauszögert.“

Vittorios Miene verfinsterte sich. „Das sind Geschäftsgebaren, die ich ganz und gar nicht schätze. Man sollte Geschäftliches und Privates stets strikt voneinander trennen.“

Hast du mich deswegen geküsst, lag es ihr auf der Zunge zu fragen, doch sie hielt sich zurück. Zum einen, weil sie es gewesen war, die ihn geküsst hatte. Aber auch, weil sie eigentlich nach denselben Richtlinien lebte und sich diese Frage selbst nicht beantworten konnte.

„Das stimmt, aber mit solchen Leuten muss man professionell umgehen – wozu ich problemlos in der Lage bin. Ich wollte dich lediglich vorwarnen, da du ja unbedingt darauf bestehst, mich zu begleiten.“

Der Sitz von Sempre Vino befand sich abseits der Piazza in einer schmalen Gasse. Das Gebäude unterschied sich von außen nicht besonders von den Nachbarhäusern. Die Fassade war ockerfarben mit blauen Fensterläden und Pflanzenkübeln vor der Eingangstür. Doch wenn man eintrat, wurde man von kühler, klimatisierter Luft empfangen.

In der großen, hellen Lobby saß eine Frau hinter dem Empfangstresen, die aufblickte, als Aliena und Vittorio auf sie zugingen. Sie erkannte Vittorio offenbar sofort, denn sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, wohingegen die Frau sie komplett ignorierte.

„Signore Conti“, sagte sie. „Mir war gar nicht bekannt, dass Sie einen Termin mit Signore Gianotti haben.“

„Das habe ich auch nicht, Emilia“, entgegnete er. „Ich bin nur als moralische Unterstützung dabei. Signorina Agostini spielt heute die Hauptrolle hier.“

Der Blick der Empfangsdame glitt zu ihr herüber und wurde gleich um ein paar Grad kühler.

„Oh, Signorina Agostini.“ Sie kniff die Augen zusammen. „Ich sagte Ihnen doch bereits am Telefon, dass Signore Gianotti bedauerlicherweise nicht zu sprechen ist.“

„Nicht für mich zu sprechen, meinen Sie wohl.“ Aliena zwang ein schwaches Lächeln auf Ihre Lippen.

„Aber für mich werden Sie doch sicher eine Ausnahme machen können, oder etwa nicht, Emilia?“ Vittorio schenkte der Frau ein strahlendes Lächeln. „Sie würden mir wirklich einen Riesengefallen tun.“

Aliena schluckte hart. Sie starrte Vittorio an. Musste er so unverschämt mit dieser Person flirten?

Und warum stört dich das? Es hilft dir doch, oder etwa nicht?

Das tat es – aber deswegen musste es ihr ja nicht unbedingt gefallen. Sie konnte Menschen, die ihren Einfluss und ihr Charisma benutzten, um andere zu manipulieren, nicht ausstehen.

Ja, das war es.

Genau deshalb war sie so ärgerlich. Es hatte nichts damit zu tun, dass sie sich in irgendeiner Weise zu Vittorio hingezogen fühlte.

Nein, selbstverständlich nicht. Und sie war auch ganz gewiss nicht eifersüchtig. Das konnte man schließlich nur sein, wenn man etwas für jemanden empfand.

Sie und etwas für Vittorio Conti empfinden? Was für ein vollkommen absurder Gedanke. Dazu würde es niemals kommen.

Nein, wirklich niemals.

„Ich weiß nicht, Signore Conti.“

Die Stimme der Empfangsdame holte sie zurück in die Realität.

„Der Chef war, was unangekündigte Besuche anbetrifft, mehr als deutlich. Ich könnte meinen Job verlieren …“

Da war es schon wieder, dieses Lächeln von ihm.

„Ich rede mit Pietro, seien Sie unbesorgt. Wenn ich ihm erkläre, dass ich Ihnen praktisch keine andere Wahl gelassen habe, wird er es schon verstehen.“

„Wenn Sie meinen …“

Wirklich überzeugt wirkte sie noch immer nicht, Aliena konnte förmlich sehen, wie die Empfangsdame mit sich kämpfte.

Sie wollte Vittorio den Gefallen tun. Nein, sie wollte ihm gefallen.

Schließlich seufzte sie und strich sich mit einer unbewusst wirkenden Handbewegung übers Haar. „Also schön, auf Ihre Verantwortung“, sagte sie und schenkte ihm dann ein fast schon schüchternes Lächeln. „Wenn ich Ärger bekomme, sind Sie mir etwas schuldig.“

Er nickte. „Selbstverständlich, Emilia. Und nun seien Sie ein Schatz und kündigen Sie uns bei Pietro an.“ Er ergriff Alienas Hand. „Wir finden den Weg zu seinem Büro schon allein.“

Aliena konnte ihm nur hinterherstolpern, als er sie mit sich zu den Aufzügen zog.

„Beeil dich“, raunte er ihr zu. „Bevor sie es sich am Ende noch anders überlegt.“

Aliena beschleunigte ihre Schritte und atmete erst auf, als sich die Lifttüren hinter ihnen schlossen. Der Lift setzte sich in Bewegung und erst auf halbem Wege bemerkte sie, dass sie noch immer seine Hand hielt. Sie entzog sie ihm so hastig, als hätte sie sich daran verbrannt.

„Danke“, sagte sie knapp und blickte starr geradeaus, wobei sie verzweifelt versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Das Gespräch mit Pietro Gianotti war wichtig. Wenn sie ihn dazu bewegen konnte, die offenen Rechnungsbeträge sofort zu begleichen, würde es das Weingut sicherlich nicht retten, aber es würde ihnen ein wenig Luft zum Atmen verschaffen. Etwas, das sie in ihrer derzeitigen Situation dringend brauchten.

Sie musste sich konzentrieren und einen kühlen Kopf bewahren.

Ein kurzer Blick in Vittorios Richtung machte ihr klar, dass sie das vergessen konnte. In ihrem Bauch flatterten Schmetterlinge, und das Herz klopfte ihr mit großer Heftigkeit gegen die Rippen.

Was war bloß los mit ihr? Sie war doch sonst nicht so leicht zu beeindrucken, und Vittorio kannte sie gerade erst einmal seit zwei Tagen – wenn man wirklich von „kennen“ reden wollte. Und außerdem war er ein Conti. Sie durfte keine Gefühle für ihn entwickeln.

Sie wollte es nicht.

Aliena ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass ihr die Fingernägel ins Fleisch schnitten. Zum Glück öffnete sich die Lifttür in diesem Moment mit einem leisen Pling, sodass sie etwas anderes anzusehen hatte als Vittorio oder die cremefarbenen Wände des Aufzugs.

Das Vorstandsbüro befand sich im obersten Stockwerk des Gebäudes. Es war still im Korridor. Der Teppich war so dick, dass er die Geräusche ihrer Schritte verschluckte.

Aliena folgte Vittorio. Er schien sich hier auszukennen, was sie von sich nicht zu behaupten vermochte. Vielleicht konnte er ihr ja wirklich helfen.

Autor

Jacquelin Thomas

Jacquelin Thomas ist eine preisgekrönte Bestsellerautorin und hat bereits mehr als fünfundfünfzig Bücher veröffentlicht. Wenn sie nicht schreibt, liest sie viel, nimmt an Sportevents teil und verwöhnt ihre Enkelkinder. Jacquelin lebt mit ihrer Familie in North Carolina.

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