Romana Extra Band 56

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RENDEZVOUS AM BLAUEN MEER von LANCASTER, PEGGY
An Liebe auf den ersten Blick glaubt Innenausstatterin Viola nicht. Aber als der attraktive Hoteltycoon Nicolas sie auf der glamourösen Mittelmeer-Hochzeit ihrer Freundin küsst, fühlt sie sofort: Nicolas will mehr von ihr als heiße Küsse! Nur warum serviert er sie dann eiskalt ab?

SÜßES VERLANGEN IN DEINEN ARMEN von FOX, NATALIE
Cocktails unter Palmen? Von wegen! Mit ihrem arroganten Chef Guy Latham nach Marbella zu fliegen ist für Kate eine Strafe. Erstens mag sie den Playboy nicht, zweitens schwärmt sie für seinen Bruder. Doch als Guy ihr plötzlich tief in die Augen sieht, gerät ihr Herz ins Stolpern …

STERN DER LIEBE ÜBER SIZILIEN von MONROE, LUCY
Mit knapper Not entkommt Elisa in Rom einem Überfall - dank Antonio di Vitale! Aber die zärtliche Nacht, die sie darauf mit ihm verbringt, bringt ihr Herz in Gefahr - zum zweiten Mal! Denn schon einmal wurde der Mann aus Sizilien ihr fast zum Verhängnis …

DENN DIR GEHÖRE ICH FÜR IMMER von LANE, SORAYA
Rebecca wiederzusehen weckt in Polo-Star Ben McFarlane sofort tiefes Verlangen. Damals war ihm seine Karriere wichtiger, heute will er ihr endlich seine Liebe zeigen. Als Ben jedoch erfährt, was er nie wissen sollte, schmecken Rebeccas Küsse plötzlich nach Verrat …


  • Erscheinungstag 13.06.2017
  • Bandnummer 0056
  • ISBN / Artikelnummer 9783733743987
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Peggy Lancaster, Natalie Fox, Lucy Monroe, Soraya Lane

ROMANA EXTRA BAND 56

IMPRESSUM

ROMANA EXTRA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe ROMANA EXTRA
Band 56 - 2017 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2016 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg,
für Peggy Lancaster: „Rendezvous am blauen Meer“

© 1996 by Natalie Fox
Originaltitel: „Torn By Desire“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: PRESENTS
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Gisela Blum

© 2015 by Soraya Lane
Originaltitel: „His Unexpected Baby Bombshell“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Johannes Martin

Erste Neuauflage in der Reihe ROMANA EXTRA
Band 56 - 2017 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2004 by Lucy Monroe
Originaltitel: „Pregnancy of Passion“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: MODERN ROMANCE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Marianne Wienert
Deutsche Erstausgabe 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe JULIA EXTRA, Band 291

Abbildungen: pixdeluxe / iStock, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 06/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733743987

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Fasziniert betrachtete Viola die funkelnden, schimmernden samtenen und seidenen Stoffe um sich herum. Dank der neuen Beleuchtung und Einrichtung, die sie in den vergangenen Wochen optimiert hatte, erstrahlte die exklusive Braut- und Abendmodenboutique in ganz neuem Glanz. Sie konnte wirklich stolz auf sich sein.

Gleichzeitig fühlte sie sich wie ein kleines Kind, das sich die Nase am Schaufenster eines Süßwarenladens platt drückte und doch keinen Penny besaß, um sich auch nur einen Lolli kaufen zu können.

Aber egal! Als Innenausstatterin hatte sie richtig gute Arbeit geleistet! Und Mrs. Smith, die Besitzerin der Boutique, die mit ihren kurzen grauen Locken und dem Tweedkostüm ein wenig an die Queen erinnerte, war ebenfalls begeistert.

„Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll!“, erklärte die alte Dame in diesem Moment.

Viola verkniff sich den Kommentar, dass der Scheck Dank genug sei. Mit dem Geld konnte sie die Miete für diesen Monat bestreiten und die Schulden bei ihrem Vermieter begleichen. Viola war normalerweise sehr zuverlässig, aber da ihre Untermieterin Susi ihren Anteil nicht bezahlt hatte, war ihr nichts anderes übrig geblieben, als um Aufschub der Zahlung zu bitten. Susi hatte fest versprochen, diesen Monat alles zurückzuzahlen.

Hoffentlich hält sie ihr Versprechen, dachte Viola, sonst habe ich auch kein Geld, um zu Annas Hochzeit nach Nizza zu fliegen. Und das wäre eine Katastrophe!

„Ich führe meinen Laden seit dreißig Jahren, aber nicht einmal bei der Eröffnung sah er so schön aus!“, riss die Boutiquebesitzerin Viola aus ihren Gedanken.

Viola lächelte dankbar. Sie hatte das Talent, jeden Raum in eine Augenweide zu verwandeln. Selbst wenn sie nur die Möbel neu aufstellte, sah jedes Zimmer nach ihrer Behandlung wohnlicher und geschmackvoller aus.

Der Anblick der elegant gekleideten Schaufensterpuppen in der Boutique erinnerte Viola aber nun an ein weiteres Problem. Ein Luxusproblem – aber dennoch eins, das angesichts ihres Kontostands unüberwindbar schien.

Die Einladung zur Hochzeit von Anna Ashley und Thomas Marchant versprach ein rauschendes Fest, schrieb ab achtzehn Uhr jedoch Abendgarderobe vor. Das erforderte nicht nur eine Unterkunft in der Nähe des Grandhotels – wenn man sich zum Umziehen nicht auf die Toilette zurückziehen wollte, sondern auch den Besitz eines Abendkleids. In Momenten wie diesen wünschte sich Viola, Cinderella zu sein. Sie würde ein Ballkleid von der guten Fee geschenkt bekommen und könnte statt des teuren Flugs die Kürbiskutsche nehmen. Und ihr Singleleben gegen ein Leben an der Seite des Prinzen einzutauschen, dagegen hätte sie auch nichts.

„Mrs. Smith, ich habe eine Idee, wie Sie sich revanchieren können. Ich suche das passende Kleid für eine Hochzeit.“

Viola zog die Einladung aus ihrer petrolblauen Wildlederhandtasche, die sie auf dem Flohmarkt in der Portobello Road ergattert hatte, und zeigte sie der älteren Dame. Diese nahm das feine Papier ehrfürchtig in die Hand und setzte die Brille auf.

„Kennen Sie die Familie des Bräutigams?“, hakte Mrs. Smith nach.

„Nein, die der Braut. Anna ist meine älteste Freundin. Wir haben uns kennengelernt, als Jungs noch kein Thema waren. Seit sie vor ein paar Jahren nach Frankreich gezogen ist, sehen wir uns leider kaum noch.“

„Also, wenn das die Marchants sind, hat Ihre Freundin einen dicken Fisch an der Angel!“

„Das ist Anna egal. Sie stammt selbst aus einer adeligen Familie.“

Violas Blick verfinsterte sich einen Moment. Die hochnäsige Art, mit der Annas Eltern sie immer behandelt hatten, hielt ihre Vorfreude auf die Hochzeit in Grenzen.

„Tja, und ich möchte auf gar keinen Fall deplatziert wirken, wenn ich mit am Brauttisch sitze.“

Eigentlich war es Wahnsinn, überhaupt darüber nachzudenken, ein Kleid zu kaufen, während sie noch nicht einmal wusste, ob sie wirklich nach Nizza würde fliegen können. Andererseits musste sie schon allein Anna zuliebe in angemessener Kleidung erscheinen. So war Viola nun mal, immer darauf bedacht, den Menschen, die ihr nahestanden, alles recht zu machen.

Fünf Minuten später drehte sie sich vor dem Spiegel in einem Kleid, das sie auch ohne Zauberei in eine Prinzessin verwandelte. Sie strich behutsam über die nachtblaue Seide, die sich ab der Taille wie ein Wasserfall ausbreitete und betrachtete ihr Spiegelbild. Der Schnitt des Kleides betonte ihre gute Figur, ohne zu freizügig zu wirken. Es war einfach wundervoll!

Einen Abend lang würde sie sich fühlen wie eine Prinzessin. Sie würde es einfach genießen und all die Blicke ignorieren, die sich fragten, ob sie in diese feine Gesellschaft gehörte.

Ein Glück, dass sie mit ihrer Freundin an einem Tisch sitzen würde! Anna hatte Viola schon vorgewarnt, dass Thomas’ Familie noch konservativer sei als ihre. Nur ihr Schwager Nicolas sei anders. Viola würde ihn ja kennenlernen – schließlich war der der Trauzeuge des Bräutigams.

„Sie sehen hinreißend aus!“

„Danke. Das Kleid ist perfekt!“

Erschrocken hielt sie inne. Das klang so, als hätte sie sich bereits entschieden. Verstohlen suchte sie nach einem Preisschild.

„Vierhundert Pfund. Für Sie dreihundert.“ Mrs. Smith entging einfach nichts.

„Ich würde es gern nehmen.“

Nun gab es kein Zurück mehr. Violas Magen zog sich aufgeregt zusammen. Sie würde nach Nizza fliegen. Sie musste sich einfach darauf verlassen, dass Susi wirklich ihre Schulden beglich. Es fühlte sich fast an, als hätte sie Schmetterlinge im Bauch, wie eine Vorahnung, dass etwas Wunderbares passieren würde.

Wie schön wäre es, zu zweit zu dieser Hochzeit zu fahren, dachte Viola, während sie die Blumen in ihrer Wohnung goss. Die Pflanzen auf dem kleinen Balkon vor der Küche konnte sie getrost dem englischen Regen überlassen, der auch jetzt fast vorwurfsvoll ans Fenster klopfte, als wäre er beleidigt, weil Viola ins warme Nizza flüchtete.

„Das hättest du auch mir überlassen können“, bemerkte Susi, die im Pyjama in die Küche schlurfte.

„Okay, das nächste Mal“, antwortete Viola, die sich schon einmal darauf verlassen hatte und dann die vertrockneten Palmen im Wohnzimmer aufpäppeln musste. Damals, vor zwei Jahren, als sie das letzte Mal im Urlaub gewesen war.

„Hast du schon gepackt?“

Viola zeigte wortlos auf den Koffer aus den Fünfzigern, den ihre geliebte Großmutter ihr hinterlassen hatte. Der passte weniger zu einem Linienflug als zu einer Landpartie in einem alten Citroën DS. Vielleicht sollte sie ja in Nizza per Anhalter fahren. Und natürlich nur einsteigen, wenn ein vertrauenswürdiger, netter, junger Mann in seinem Oldtimer anhielt …

„Alles bereit. In zwei Stunden geht mein Flug. Könntest du mich vielleicht zum Flughafen bringen?“

„Oh, das wird knapp. Ich müsste noch tanken.“

„Das schaffen wir“, entgegnete Viola.

Susi schenkte sich einen Kaffee ein. „Das Problem ist nur, dass nicht nur der Tank, sondern auch mein Portemonnaie leer ist.“ Sie schaute schuldbewusst in ihre Tasse, während sie umrührte.

Ärger kroch in Viola hoch. Wenn sie schon beim Thema Geld waren, dann könnte sie jetzt auch das Thema Miete auf den Tisch bringen. Doch bevor Viola die richtigen Worte gefunden hatte, redete Susi weiter.

„Mensch, Viola, es tut mir leid. Wenn ich das Geld hätte, würde ich dir nicht nur sofort alle Mietschulden bezahlen, sondern auch einen Privatjet ordern, der dich nach Frankreich bringt. Was kann ich denn dafür, dass mir gekündigt wurde? Du weißt selbst, wie hart der Arbeitsmarkt in London ist. Ich bemühe mich doch.“

Das Letzte, worauf Viola Lust hatte, war ein Streit vor ihrer Abreise. Es würde ohnehin nichts an der Situation ändern.

„Vergiss es. Ich nehme die U-Bahn. Ist sowieso besser für die Umwelt.“

Susi nickte erleichtert. Und Viola versuchte wieder einmal, über die Fehler ihrer Mitbewohnerin hinwegzusehen.

Als Tochter einer alleinerziehenden Mutter, die früh gestorben war, war Viola es gewohnt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und mit wenig Geld auszukommen. Ihr guter Geschmack und ihre Vorliebe für Vintagekleidung ließ sie trotzdem besser angezogen sein als viele Frauen, die mit Geld nur so um sich werfen konnten.

Aber mittlerweile reichte es nicht mehr, nur bescheiden zu leben. Wenn kein Wunder geschah, hätte sie durch die Reise nach Nizza und den Mietrückstand so viele Schulden, dass sie nicht wusste, wie sie diese je zurückzahlen sollte.

Auch wenn Viola dank ihrer alabasterfarbenen Haut, auf die sich im Sommer gerne ein paar Sommersprossen verirrten, noch jünger aussah als die sechsundzwanzig Jahre, die sie alt war, fehlte ihrem Gesichtsausdruck die naive Unbekümmertheit, die Susi an den Tag legte. Nur wenn Viola auf Flohmärkten stöberte oder sich mit einem Jane-Austen-Roman und einer Tasse Tee auf das Sofa zurückzog, konnte sie alle Sorgen vergessen.

Viola verbrachte gern Zeit allein, und doch sehnte sie sich in letzter Zeit immer öfter nach einem Partner. Aber es müsste schon der „Richtige“ sein. Jane Austen hätte das verstanden – im Gegensatz zu ihrer Freundin Susi, der Viola nicht klarmachen konnte, warum es nicht reichte, dass ein Typ gut aussah und sie zu einem Drink einlud, um ihn mit nach Hause zu nehmen.

Nicolas saß mit seinem Bruder Thomas und einem Dutzend Freunden auf der Terrasse einer mondänen Strandbar direkt an der Promenade des Anglais, um Thomas’ Junggesellenabschied zu feiern.

„Oh Gott, in einer Woche bin ich ein verheirateter Mann!“, stöhnte Thomas.

„Dann lebe noch eine Woche wie ein freier Mann!“, feixte einer seiner Kumpels und hob sein Cocktailglas, um mit Thomas anzustoßen.

„Auf deinen Junggesellenabschied!“

Auch wenn Thomas Anna aufrichtig liebte, grölte und scherzte er mit seinen Jungs um die Wette. Nicolas saß dabei, sprichwörtlich wie der große Bruder, der aufpasste, dass keiner unter die Räder kam. Langsam strich er sich die vollen dunklen Locken aus dem Gesicht. Er nahm sich vor, nach dem ersten Cocktail keinen Tropfen Alkohol mehr anzurühren, damit wenigstens einer hier am Tisch die Kontrolle behielt.

„Auf Anna!“, sagte Nicolas, als auch er sein Glas hob, „du kannst dich glücklich schätzen, so eine tolle Frau gefunden zu haben.“

Liebespaare und Touristen flanierten sommerlich gekleidet an ihnen vorbei. Die Zeiten, zu denen Nizza als Altersheim reicher Briten galt, waren inzwischen schon rund zweihundert Jahre vorbei. Nur der Name der Promenade erinnerte noch daran, dass das Klima einst vor allem Senioren von der nassen, kalten Insel gelockt hatte, um hier ihren Lebensabend zu verbringen.

Selbst kurz vor Mitternacht hatte es sich kaum abgekühlt. Die Palmen ragten majestätisch beleuchtet in den Nachthimmel, als fühlten sie sich den Cabrios, Sportwagen und Oldtimern überlegen. Sind sie ja auch, dachte Nicolas, der zwar einen selbst restaurierten Citroën DS besaß, sich darin aber nicht allzu wichtig nahm.

Manchmal wünschte er sich die alten Zeiten zurück, nicht nur wegen der schönen Autos. Andererseits wäre er früher noch stärker an das Familienunternehmen gebunden gewesen als ohnehin schon. Seit er die Hotels leitete, die seine Familie im Laufe der letzten hundert Jahre aufgekauft hatte, stiegen die Umsätze – ohne dass er auch nur einen Angestellten entlassen musste. Seiner Mutter war das noch zu wenig. Man müsse mit der Zeit gehen – Gewinnmaximierung sei die Devise.

Und wie hatte sich Therese über ihn lustig gemacht, als seine Beziehung zu Diana gescheitert war! Warum musstest du auch auf so ein armer Leute Kind reinfallen? hörte er die Stimme seiner Mutter im Kopf. Nicolas starrte gedankenverloren auf den Verkehr, der sich über die Promenade des Anglais schob, als Thomas ihn antippte.

„Hey, großer Bruder, irgendwann werde ich dein Trauzeuge sein. Wer weiß, vielleicht wird unsere Hochzeit auch für dich zum Fest der Liebe? Ich glaube, Anna bringt ein paar heiße Freundinnen mit.“

Nicolas mochte Anna. Seine künftige Schwägerin war ganz anders als der Rest ihrer Familie, mit der die Marchants nun ständig verkehrten. Beim Gedanken an das letzte gemeinsame „schlichte“ Fischessen musste Nicolas schmunzeln. Sie hatten unter den Kronleuchtern im Speisesaal seiner Eltern gesessen und sich von der „Dienerschaft“ die hübsch angerichteten Teller mit Hummerfleisch an Spargelsoufflé servieren lassen. Sein Vater hatte darauf bestanden, dass der Koch das zartrosa Fleisch vorher auslöste, damit er sich vor den künftigen Schwiegereltern seines Sohnes ja keine Blöße gab.

„Du hast ja recht, kleiner Bruder, ich lasse die Hintertür fürs Glück sperrangelweit offen“, sagte Nicolas und riss sich zusammen, um Thomas nicht den Abend zu verderben.

Obwohl sie bis spät in die Nacht gefeiert hatten, war Nicolas schon am frühen Morgen aufgestanden, um seine Tante Celine abzuholen. Er hatte die achtzigjährige, aber sehr rüstige Frau untergehakt und trug mit der freien Hand ihren Koffer. Gemeinsam verließen sie das Flughafengebäude. Der Flughafen von Nizza lag direkt an der Côte d’Azur. Nicolas lebte an einem Ort, an dem alle anderen Urlaub machten, und fühlte sich doch selbst urlaubsreif.

„Mein Schätzchen, du arbeitest aber nicht nur?“, fragte seine Tante, als sie seine angespannte Miene bemerkte.

„Natürlich nicht, Tante Celine. Zwischendrin schlafe oder esse ich. Oder hole meine Lieblingstante ab.“

„Wenn ich nicht wüsste, dass du ein grundehrlicher Mann bist, würde ich mindestens eine Lüge in dem Satz vermuten.“

Nicolas hielt nach seinem Wagen Ausschau. Der Blick auf den Parkplatz nahe der Avenue Jacques Yves Cousteau wurde durch eine Touristengruppe versperrt, die ihre grellbunten Rollkoffer hinter sich herzogen.

„Genau, Tante Celine, ich schlafe nicht. Ich nehme den Laptop mit ins Bett und kalkuliere nachts die Kosten unserer Hotels.“

Tante Celine blieb stehen und blickte ihren hübschen Neffen voller Stolz, aber auch voller Sorge an. Das strahlende Weiß seines schmal geschnittenen Hemdes, an dem genau die richtige Anzahl Knöpfe offen stand, täuschte nicht darüber hinweg, dass seine Augen müde wirkten. Obwohl Nicolas im Gegensatz zu den meisten Leuten um sie herum, die bei der Hitze nur Shorts und T-Shirts trugen, zu dem Hemd noch eine edle, dunkle Stoffhose trug, war seine durchtrainierte, schlanke Figur gut zu erkennen.

„Es wird Zeit, dass du dein Bett mit jemand anderem teilst als mit deiner Arbeit.“

„Das war ein Scherz.“

„Ich sehe dir an, dass das nicht stimmt. Komm schon, Junge, ich kenne dich doch, seit dich meine kleine verwöhnte Schwester auf die Welt gebracht hat.“

Tante Celine war fast zwanzig Jahre älter als Therese und hatte sich zeitlebens darüber aufgeregt, dass ihre jüngste Schwester von allen verhätschelt wurde und sich auch heute noch bedienen ließ wie eine Prinzessin. Sie selbst hingegen gehörte zu den wenigen Mitgliedern der Familie Marchant, die zwar durchaus in der Lage waren, sich formvollendet zu benehmen, aber bisweilen einfach keine Lust hatten, der Etikette zu entsprechen. Schon gar nicht, wenn es um die Gefühle ihres Lieblingsneffen ging, der ihrer Meinung nach sowieso viel zu sehr unter den strengen Regeln im Hause Marchant gelitten hatte.

„Mach bloß nicht den Fehler und stell die Karriere vor die Liebe! Die Frau fürs Leben findet sich nicht zwischen zwei Meetings.“

Die letzten Worte wurden beinahe vom Lärm eines startenden Flugzeugs verschluckt. Nicolas schaute ihm nach, als wäre der Himmel der einzige Ort, aus dem die Frau fürs Leben kommen konnte.

„Wer weiß?“, sprach er seinen Gedanken aus. „Vielleicht schickt mir der Himmel die große Liebe ja doch zwischen zwei Meetings. Dann weiß ich wenigstens, dass sie keine von diesen Societygirls ist, die nur auf der Suche nach einem reichen Kerl sind.“

Als sie den Parkplatz erreicht hatten, stellte Nicolas den Koffer ab und suchte in seiner Hosentasche nach dem Autoschlüssel. Tante Celine klatschte begeistert in die Hände, als sie Nicolas’ Auto sah.

„In so einem Wagen habe ich die allererste Spritztour mit deinem Onkel unternommen! Schade, dass er nicht dabei sein kann.“

Nicolas schmerzte der Gedanke daran, dass seine Tante vor zwei Jahren ihren geliebten Mann verloren hatte. Er bewunderte sie dafür, wie sie die Erinnerung an ihn lebendig hielt und gleichzeitig nach vorn schaute.

In diesem Moment fiel der Schlüsselbund auf den Asphalt. Er bückte sich, um ihn aufzuheben. Dabei blieb sein Blick an einem Koffer hängen, dessen Griff von einer schlanken Hand umfasst wurde. Das edle Grau, die altmodische Form … es war, als wäre das Gepäckstück dem Kofferraum des DS entnommen worden, der gerade seine ersten Besitzer in den Urlaub begleitete. Der Wagen und der Koffer. Als würden sich zwei Puzzlestücke wiederfinden.

„Was für ein hübscher Koffer!“, sagte er, während er sich langsam aufrichtete. Als er schließlich in das Gesicht der Besitzerin sah, war das nostalgische Gepäckstück schnell vergessen. Ihre blauen Augen funkelten ihn belustigt an. Blonde Locken umrahmten ihr Gesicht wie Sonnenstrahlen. Und er hatte etwas von einem hübschen Koffer gefaselt?

„Das finde ich auch.“

Es war nicht ihr herausfordernder Blick, der ihn irritierte. Sie erinnerte ihn an jemanden, und diese Erinnerung ließ ihn Liebe und Hass gleichzeitig empfinden, obwohl es nur bruchstückhafte Bilder waren. Er musste diese Bilder loswerden.

„Könnten Sie bitte Platz machen, ich muss an mein Auto! Sehen Sie nicht, dass meine Begleitung schlecht zu Fuß ist, man versperrt einer älteren Dame nicht den Weg, nur weil man sich als Touristin in der Fremde nicht auskennt!“, blaffte er sie an.

„Lackaffe“, blaffte sie zurück.

Tante Celine konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sie auf dem beigefarbenen Ledersitz des Oldtimers Platz nahm. „Von wegen ältere Dame und schlecht zu Fuß! Dir sollte mal jemand die Ohren lang ziehen.“

Diesen eingebildeten Schönling würde sie zum Glück nie wiedersehen! Es war also genau richtig gewesen, dass sie gekontert hatte. Das sollte sie viel öfter machen.

Immer noch wütend, schaute Viola dem DS hinterher, über den sie vor ihrem Abflug aus dem verregneten London noch Witze gemacht hatte. Es war genau der Wagen, der zu ihrem Koffer passte. Aber leider war der Besitzer ein Idiot, der sie weder durch sein stylishes Outfit noch durch die perfekt aufgemotzte Edelkarosse blenden konnte! Ihre Wut auf diesen neureichen Schnösel verlieh ihr immerhin genug Energie, um ihren Entschluss zu stärken, den Weg zu ihrer Unterkunft zu Fuß zurückzulegen, um die Kosten für ein Taxi zu sparen. Von wegen unbedarfte Touristin!

Nur knapp zwei Stunden später stand sie frisch geduscht und umgezogen vor dem Grandhotel, in dem das Brautpaar und die übrigen Gäste logierten. Was für ein Kontrast zu der heruntergekommenen Pension Eglantine, in der sie untergekommen war! An die englische Weinrose, von der der Name abgeleitet war, erinnerte nichts mehr, eher an einen verwelkten Strauß. Viola wurde von einem Portier zu Annas Suite geführt. Der junge Mann in Livree klopfte.

„Herein.“

Er öffnete Viola einladend die Flügeltür und empfahl sich. Viola sah ihre Freundin vor einem großen Spiegel stehen, während vier geschickte Hände sie für ihren großen Auftritt vorbereiteten. Die Schneiderin steckte die Schleppe ab, während die Stylistin Annas Haare zu einem kunstvollen Knoten frisierte. Über einem Stuhl lag bereits der bodenlange Schleier bereit, der den Traum aus champagnerfarbener Spitze vervollständigen würde.

„Viola!“ Sofort ließen die beiden Frauen von Anna ab und beobachteten, wie sie ihrer Freundin in die Arme fiel. Die Schneiderin konnte ein besorgtes Stirnrunzeln nicht unterdrücken, als sie sah, dass Anna auf den Saum trat.

„Ich freue mich so sehr, dich zu sehen! Ohne dich könnte ich nicht heiraten.“

„Natürlich könntest du das! Aber ich bin gern an deiner Seite!“

Viola war erleichtert, dass sie den Weg auf sich genommen hatte. Geldmangel und schlechte Erinnerungen an Annas Eltern hin oder her: Wie hatte sie auch nur einen Moment zögern können, mit Anna den wichtigsten Tag ihres Lebens zu teilen?

„Anna, du bist die schönste Braut, die ich mir vorstellen kann! Thomas muss der glücklichste Mann auf der Welt sein!“

„Das will ich ihm raten!“, lachte Anna, selbstsicher wie immer.

Wie aus dem Nichts erschien eine junge Frau mit weißer Rüschenschürze, die Viola eine Erfrischung reichte. Dankbar nippte Viola an der Himbeerlimonade mit Lavendel und Melisse.

„Soll beruhigen“, erklärte Anna das exquisite Getränk.

„Das kann ich brauchen, selbst wenn ich nur in der zweiten Reihe stehe.“ Viola ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Die bestimmt vier Meter hohen Wände waren mit goldenem Stuck verziert und mit barocken Szenen bemalt. Es war faszinierend, aber auch etwas übertrieben, wie Viola in Gedanken feststellte. Geradezu dekadent.

Ihre Pension sah eher aus wie eine Unterkunft für verarmte Künstler des neunzehnten Jahrhunderts, die ihr Geld lieber in Absinth als in eine protzige Inneneinrichtung investierten. Damals wäre jemand wie Viola nie mit jemandem wie Anna befreundet gewesen. Viola musste an den knurrigen Portier in ihrer Pension denken, der ihr – Zigarette im Mundwinkel und Zeitung vor sich auf der Tischplatte – wortkarg die Schlüssel gereicht hatte.

„Du musst dich fühlen wie in einem Märchen, Anna“, sagte Viola ohne jede Spur von Neid. Sie selbst trug ein schlichtes Etuikleid, das ihr zwar fantastisch stand, sie neben der betörenden Braut aber unscheinbar wirken ließ. Nun, es war schließlich auch nicht ihr Plan, ihrer Freundin die Schau zu stehlen.

„In diesem Hotel wurde mal eine Hollywoodversion von Cinderella gedreht. Seitdem gilt es als Geheimtipp.“

„Wir sollten mit dem Ankleiden fortfahren, damit der Bräutigam in der Kirche nicht ins Schwitzen gerät“, mahnte die Schneiderin und strich sich den akkurat geschnittenen Bob hinters Ohr.

„Wenn er fünf Minuten wartet, erhöht das nur seine Vorfreude“, meinte Anna, während die Stylistin ihre Wangen nachpuderte.

„Tun Sie einfach so, als wären wir unsichtbar. Wie eine gute Fee, die Aschenputtel in eine Märchenprinzessin verwandelt“, ergänzte sie, während sie einen Schritt zurücktrat, um das Ergebnis zu begutachten.

„Kann ich irgendwas falsch machen? Was muss ich beachten, wenn uns zweihundert Gäste anschauen?“, fragte Viola.

Sie ahnte, dass sie sich so unbeholfen fühlen würde wie mit zwölf, sobald Annas Eltern sie herablassend musterten.

„Ihr müsst nur links und rechts neben uns am Altar stehen. Sollte ich aussehen, als falle ich in Ohnmacht, dann fang mich bitte auf.“

„Habt ihr Riechsalz?“

Sie kicherten wie früher, wenn es um die Jungs auf dem Schulhof ging.

„Es wird schon alles gut werden. Ich habe Thomas’ Bruder gebeten, uns gleich im Hotelfoyer abzuholen. Die Vorstellung, mit seinen oder meinen Eltern zu fahren, würde mich in den Wahnsinn treiben.“

Die beiden guten Feen traten zurück und schauten zu, wie Anna sich vor dem Spiegel drehte.

„Ich würde sagen, es kann losgehen“, sagte Anna strahlend.

Zu viert schritten sie über den Flur zum Aufzug, um hinunter ins Foyer zu fahren. Anna hakte sich bei Viola ein und gemeinsam gingen sie in die Kabine des Lifts, die allein fast so groß war wie das Zimmer in Violas Pension.

Kurze Zeit später lächelten sich die beiden Freundinnen einander ein letztes Mal aufmunternd zu, bevor sich die Tür mit einem leisen Pling öffnete. Anna stürmte trotz des langen Kleides heraus und fiel ihrem Schwager in spe in die Arme, während Viola wie angewurzelt stehen blieb. Das konnte doch nicht wahr sein! Der tolle Schwager war niemand anders als der blöde Typ vom Flughafen!

„Nicolas! Schön, dass du da bist! Ich muss dir unbedingt meine beste Freundin und Trauzeugin vorstellen. Nicolas, das ist Viola.“

Nicolas reichte Viola mit unbewegter Miene die Hand. „Schön, Sie kennenzulernen, Viola.“

Ah, er ist nicht nur ein blasierter Lackaffe, sondern auch noch verlogen, dachte Viola, während sie seinen festen Händedruck erwiderte. Hinter Höflichkeitsfloskeln verstecken konnte sie sich auch.

„Danke, ebenso. Wie war Ihr Name noch mal?“

„Nicolas. Nicolas Marchant.“

Als sie bemerkte, dass er ihre Hand immer noch hielt, zog sie diese schnell zurück. Nicolas’ eben noch verschmitzt blickende Augen wurden schmaler. Sie hatte ihn doch wohl nicht damit verärgert, dass seine bloße Anwesenheit sie nicht zum Dahinschmelzen brachte? Viola konnte gar nicht verstehen, warum Anna ihr so von ihrem Schwager vorgeschwärmt hatte. Was nützten ihm diese dunklen Augen mit den langen, dichten Wimpern und der schön geschnittene Mund, wenn er alles mit seiner Arroganz zunichte machte? Er war wie alle diese Hochwohlgeborenen: die Etikette wurde eingehalten, solange es Zeugen aus den eigenen Kreisen gab.

„Wir müssen los. Um diese Zeit ist der Verkehr in der Altstadt unberechenbar“, sagte er schroff und ging Richtung Ausgang. Die Tür brauchte er den Damen nicht aufzuhalten, das würde ein Portier übernehmen.

Vor dem Hotel stand sein Wagen, der mit einem Bouquet cremefarbener Rosen auf der Motorhaube geschmückt war.

Nicolas öffnete die Autotür, half Anna und Viola beim Einsteigen und ließ Annas aufgeregtes Geplauder über sich ergehen. Viola hatte wenig Lust zu reden, also schloss sie die Augen und versuchte, etwas von dem Schlaf nachzuholen, den die Reise ihr geraubt hatte.

2. KAPITEL

Nicolas senkte den Blick, als sein Bruder seine Braut vor dem Hauptaltar der Kathedrale Sainte-Réparate küsste. Trotz des strengen Blicks des Pfarrers klatschte die Festgemeinde, ein Blitzlichtgewitter ließ das barocke Kirchenschiff noch festlicher erstrahlen, und die Orgel begleitete den Kuss mit einer ergreifenden Melodie.

Hoffentlich bleiben Thomas und Anna ihr Leben lang glücklich, dachte Nicolas. Aber gibt es die ewige Liebe überhaupt? fragte er sich. Unwillkürlich musste er an seine Eltern denken. Selbst wenn sie aus Liebe geheiratet hatten, war da jetzt etwas Dunkles zwischen ihnen, das er nicht benennen konnte. Tante Celine dagegen hatte es geschafft, eine glückliche Ehe zu führen. Es war also möglich, beruhigte er sich, während sein Blick auf Violas Hände fiel.

Nur das Brautpaar stand zwischen ihnen und wartete darauf, dass die Musik den Auszug aus der Kirche einläutete. Ihre Fingernägel sahen nach Arbeit aus. Sie waren gepflegt und in einem hübschen Rosé lackiert, aber sie waren kurz – ganz anders als die Nägel der meisten Frauen, die er kannte.

Diese langen, angeklebten Kunstnägel taugten nicht einmal dazu, sich ein Butterbrot zu schmieren. Viola sah aus, als müsste sie sich ihr Brot nicht nur selbst schmieren, sondern auch selbst verdienen. Und sie schien sich in der High Society nicht wirklich auszukennen. Sie war die einzige Dame, die keinen Hut trug.

Oder war das ihre Art zu zeigen, dass ihr gesellschaftliche Konventionen gleichgültig waren? Dass sie diese sogar verachtete? Nicht umsonst hatte sie ihn Lackaffe genannt. Na, das würde ein Spaß werden, wenn sie gleich gemeinsam am Brauttisch saßen! Er ließ seine Augen zu ihrem Gesicht wandern.

Das dunkelblaue Etuikleid ließ ihre blonden Locken und die blauen Augen noch stärker leuchten. Und dennoch lag etwas Trauriges in ihrem Blick. Aber das war es nicht, was ihn so irritierte. Je länger er sie betrachtete, desto sicherer war er sich, ihr nicht erst am Flughafen das erste Mal begegnet zu sein. Als sie seinen Blick bemerkte, funkelte sie ihn fast böse an. Wenn ich sie schon einmal gesehen habe, dann muss irgendwas Unangenehmes vorgefallen sein.

Nicolas überlegte, ob er sich vielleicht mal im Rausch unangemessen verhalten hatte? Unwahrscheinlich – schließlich trank er nur in Maßen.

„Sie müssen sich dem Brautpaar anschließen“, raunte der Pfarrer unter einem Räuspern. Nicolas hatte nicht bemerkt, dass Anna und Thomas bereits Hand in Hand auf den Mittelgang der Kirche zuschritten. Er nickte Viola zu, die neben ihn trat und dabei penibel darauf achtete, angemessenen Abstand zu ihm zu halten.

Links und rechts hüpften die Blumenmädchen aus den Bänken vor das frisch vermählte Paar und warfen Rosenblätter.

Nicolas schaute in so viele glückliche Gesichter wie schon lange nicht mehr. Der Platz vor der Kirche in der Altstadt von Nizza war voller Menschen, die stundenlang gewartet hatten, um einen Blick auf das Brautpaar zu werfen. Der geschmückte Citroen DS vor der Tür und das fröhliche Glockenläuten hatten Junge und Alte, Touristen und Einheimische angelockt. Sie alle schauten nun gebannt zur Kirche.

Schließlich brachte es Glück, sich einen Moment im Anblick der Jungvermählten zu sonnen. Selbst die Sonne beschien das muntere Treiben, als gäbe sie ihren Segen. Nur seine Eltern schauten so missmutig drein, als wäre die Vermählung ihres jüngsten Sohnes kein Grund zur Freude. Hatte Nicolas irgendetwas nicht mitbekommen?

Ein Mann in einem Anzug, der an einen Harlekin erinnerte, hielt einen goldenen Käfig hoch, in dem zwei weiße Tauben gurrten. Als er den Käfig öffnete, flogen die beiden Vögel heraus und kreisten über dem Brautpaar, bevor sie in den Himmel flogen. Die niedlichen Blumenmädchen brachen in Jubel aus.

„Seid ihr auch verheiratet?“, fragte Clara, eines der Mädchen mit Zahnlücke und Blumen im Haar, als Nicolas und Viola hinter dem Brautpaar stehen blieben.

Nicolas und beugte sich lächelnd zu der Tochter einer seiner Cousinen herunter. „Nein, aber was nicht ist, kann ja noch werden …“

Clara ließ ihr Blumenkörbchen am Arm baumeln, während sie abwechselnd Nicolas und Viola musterte. Wenn Nicolas Clara ansah, konnte er sich selbst vorstellen, einmal Vater zu werden. Er schenkte Viola ein Lächeln, das sie nicht erwiderte.

„Das glaube ich kaum. Wir kennen uns nämlich gar nicht“, antwortete sie stattdessen. Clara schaute Nicolas fragend an, worauf er nur mit den Schultern zuckte und ihr zuzwinkerte. Er verstand Violas abweisende Art genauso wenig. Sie hätte doch einfach mitspielen können. Was Nicolas aber noch weniger verstand, war, warum diese Frau ihn so durcheinanderbrachte! Waren sie sich vielleicht in einem früheren Leben begegnet?

Mist, nun komme ich zu spät, dachte Viola und traute sich kaum, die Flügeltür in den Festsaal zu durchschreiten. Sie bemühte sich immer um Pünktlichkeit, aber der Empfang nach der kirchlichen Trauung hatte sich so lange hingezogen, dass sie kaum die Zeit gefunden hatte, sich in ihrer Pension umzuziehen.

Alle Gäste in dem prunkvollen Saal hatten bereits Platz genommen an den festlich gedeckten Tischen. Der betörende Duft, den die üppigen Bouquets aus Rosen und Lavendel verströmten, beruhigte Viola etwas. Sie versuchte das Raunen zu ignorieren, das durch die Festgemeinde ging. War es Bewunderung ob ihres Anblicks in der wunderschönen Abendrobe, der schon dem Portier in ihrer Pension die Sprache verschlagen hatte, oder Missbilligung wegen ihres verspäteten Auftritts?

Der Brautvater stand als Einziger und hielt eine Champagnerflöte und einen Silberlöffel in der Hand. Als er Viola erkannte, rettete er die Situation.

„Ohne die beste Freundin meiner Tochter fange ich natürlich nicht mit meiner Rede an! Vielleicht hat sie wieder den Bus verpasst, so wie früher, wenn die beiden Mädchen sich treffen wollten.“

Ein Lachen ging durch den Raum, und Viola hoffte, dass niemand bemerkte, wie rot sie wurde, als sie sich auf den freien Platz neben Anna setzte. Thomas’ Mutter räusperte sich mit strengem Blick, und sein Bruder grinste sie fast spöttisch an. So interpretierte sie jedenfalls den Ausdruck in seinen dunkelbraunen Augen, um die sich winzige Fältchen bildeten. Wenn er nicht so ein eingebildeter Schnösel wäre, könnte sie ihn glatt attraktiv finden.

Kling. Annas Vater legte Löffel und Glas beiseite und hob zu seiner Rede an. Während Viola zuhörte, ließ sie ihren Blick über ihre Tischnachbarn wandern. Das Brautpaar, das verständlicherweise nur Augen füreinander hatte, Annas Eltern, mit denen Viola sich schon beim Empfang nach der Kirche unterhalten hatte, Nicolas und seine Eltern, die gar nicht zueinander zu passen schienen.

Therese Marchant trug eine kurze graue Dauerwelle, die ins Violette changierte, teuren Schmuck am faltigen, aber schlanken Hals und einen Blick, der eher zu einer Gouvernante als zu einer Frau ihren Standes passte. Ihr Mann Albert erinnerte Viola an Prinz Charles. Gutmütig, aber irgendwie leicht abwesend. Wahrscheinlich würde er gerade lieber mit einem Hund durch die Felder spazieren, als in einem Grandhotel fein zu speisen. Die ältere Dame daneben war doch die Frau, die Nicolas am Flughafen begleitet hatte? Als sie Violas Blick bemerkte, lächelte sie ihr herzlich zu.

Am Ende der Rede verbeugte sich Annas Vater, und die Gäste applaudierten. Dutzende Kellner füllten die Gläser mit Wein oder Wasser, die Vorspeise wurde aufgetragen.

Nachdem Viola sich wochenlang nur von Porridge, Salat und Gurkensandwiches ernährt hatte, um Geld für die Reise nach Nizza zu sparen, war sie schon von der Vorspeise überwältigt. Die Taubenbrust an Steinpilzrisotto mit Lavendelschaum schmeckte köstlich.

„Jetzt weiß ich, an wen Sie mich erinnern!“, sprach die alte Dame Viola plötzlich unverblümt an. Therese Marchant wich der Rest Farbe aus dem ohnehin schon blassen Gesicht, noch bevor Celine ihre Erkenntnis aussprach.

„Celine. Lass doch die junge Frau in Ruhe“, insistierte Therese, die bisher nicht den Eindruck gemacht hatte, als ob ihr etwas an Violas Wohlergehen liegen würde.

„Wieso? Ist doch ein netter Vergleich!“

Die rüstige Frau richtete sich wieder an Viola: „Sie erinnern mich an Lilly, das ganz bezaubernde Kindermädchen von Nicolas. In ihren Händen war der junge Mann Wachs!“

„Tante Celine, da war ich ein Kind!“, entgegnete Nicolas. Viola wunderte sich darüber, dass seine feste Stimme einen Moment einknickte.

„Na und? Sie war deine Lieblingskinderfrau. Sie kam doch auch aus London. Habt ihr eigentlich noch Kontakt zu ihr?“

Albert Marchant ließ die Gabel mit der Taubenbrust sinken und öffnete den Mund. Ein Blick seiner Frau reichte, und er hielt den Mund.

„Du weißt doch wie diese Ausländerinnen aus einfachen Verhältnissen sind. Hat wohl damals nicht geklappt mit dem Männerfang, da hat sie sich wieder davongemacht.“ Therese Marchant warf Viola einen feindseligen Blick zu.

Am liebsten wäre Viola aufgesprungen und hätte dieser hochnäsigen Person die Meinung gesagt! Genau so hatte die Chefin ihrer Mutter auch immer gesprochen. Als wenn sie etwas Besseres wäre! Doch ihrer Freundin zuliebe riss Viola sich zusammen, konnte sich aber eine feine Spitze nicht verkneifen. „Vielleicht hat sie ja auch festgestellt, dass die französischen Männer doch nicht mit den Männern ihrer Heimat mithalten können?“

Sie suchte Nicolas Blick. Bestimmt würde er ihr wieder ein spöttisches, überlegenes Grinsen schenken? Typisch für einen Mann, der wusste, wie er auf Frauen wirkte! Sie würde sich von so einem Gehabe nicht beeindrucken lassen, das sollten ruhig alle am Tisch sehen.

Doch als sie in Nicolas Gesicht sah, erschrak sie. In seinen Augen lag ein tiefer Schmerz. Es war, als stände er einen ganz kurzen Moment seelisch nackt vor ihr, verwirrt, verwundet. Doch noch bevor sie ihren Blick senken konnte, hatte er wieder zur alten Facon zurückgefunden. „Ach, und in England warten so viele tolle Männer auf Sie, dass Sie sich gar nicht entscheiden konnten, wen Sie mitnehmen?“

Viola sah ihm in die Augen – versucht, besonders gemein zu kontern. Was ging ihn ihr Liebesleben an? Sich als Single zu outen, würde sie nur noch verletzlicher machen. Und wie konnte sie sich nur von der Verletzlichkeit in seinen Augen so blenden lassen? Er wollte sie provozieren – warum auch immer. Sie atmete tief durch, bevor sie antwortete.

„Genau. Und ich freue mich schon auf die Gesellschaft all dieser wunderbaren Männer, von denen einer besser ist als der andere.“

Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, wann sie das letzte Mal überhaupt so etwas wie ein Date gehabt hatte, aber das brauchte sie dem Schnösel ja nicht auf die Nase zu binden.

„Der – sagen wir – leichtfertige Umgang mit dem anderen Geschlecht scheint in Ihren Kreisen wohl üblich zu sein. Wenn Sie den Rest von sich genauso lose einsetzen, wie Ihr Mundwerk, dann …“ Therese lächelte ihr süffisant zu und sah zu ihrem Sohn, als erwarte sie Beifall.

Doch Nicolas tat seiner Mutter diesen Gefallen nicht. „In unseren Kreisen ist ein höflicher Umgang mit Gästen normalerweise selbstverständlich. Darf ich Sie daher zum ersten Tanz auffordern?“

Therese schnappte nach Luft, hielt aber nach einem Blick, den Viola ihrem Mann gar nicht zugetraut hätte, den Mund.

Viola sah hinüber zur Bühne auf der Empore. Der Pianist im Frack klappte gerade den Flügel auf, ein anderer Musiker positionierte sein Cello, ein weiterer nahm eine Violine in den Arm. Ein vierter Mann räusperte sich, zog seine Fliege zurecht und sprach ins Mikrofon. Viola war dankbar, dass sie Nicolas nicht sofort antworten musste.

„Liebe Anna, lieber Thomas, darf ich euch für den Eröffnungswalzer auf die Tanzfläche bitten?“

Unter Applaus schritt das frisch vermählte Brautpaar Hand in Hand durch den Saal. Zu den Klängen eines klassischen Hochzeitswalzers schwebten sie über das Parkett.

Wie hatte Anna es nur geschafft, diesen Drachen von Schwiegermutter zu zähmen? dachte Viola bitter. Nicolas sah sie immer noch abwartend an. Aber selbst wenn er der beste Mann der Welt gewesen wäre, die Aussicht, eine Frau wie Therese zur Schwiegermutter zu bekommen, wäre ein Ausschlusskriterium.

„Na, kommen Sie“, mischte sich Celine mit verschmitztem Lächeln ein, „wenn Sie Nicolas nicht erhören, dann muss er noch mit mir tanzen! Und ich sage Ihnen, mit einem steifen Knie ist das kein Vergnügen für mich.“

Viola lächelte der alten Dame dankbar zu. Eigentlich hatte sie keine Lust, mehr Zeit als nötig mit Nicolas zu verbringen. Aber alles war besser, als hier gleich allein am Tisch zu sitzen, also stand Viola auf und ergriff die Hand, die Nicolas ihr reichte.

3. KAPITEL

„Ich möchte mich bei Ihnen für das Verhalten meiner Mutter entschuldigen.“ Nicolas hielt ihre rechte Hand, die andere lag auf seiner Schulter, während sie sich im Walzerschritt wiegten. Der Tanz erlaubte eine Nähe, die Viola einem quasi Fremden sonst nie zugestanden hätte.

„Ach, nur für das Verhalten ihrer Mutter?“

Er führte sie sanft, aber bestimmt. „Ich würde sagen, wir beide sind quitt. Sie stehen mir in nichts nach“, erklärte er verschmitzt. Trotzdem behielten seine Augen ihre Traurigkeit. War es etwa Mitleid, das Viola dazu brachte, ihn nicht einfach zum Teufel zu jagen?

„Tja, außer in der Hochwohlgeborenheit.“

„Das ist die Einstellung meiner Mutter. Nicht meine.“

Es war lange her, dass Viola einem Mann so nahe gekommen war. Sie konnte sogar sehen, dass sich eine Wimper aus dem dichten Wimpernkranz um seine Augen gelöst hatte.

„Und was ist Ihre?“

„Dass ich einen Menschen erst einmal kennenlernen muss, um ihn einzuschätzen.“

„Ach ja? Ich hatte das Gefühl, dass Sie mich von der ersten Sekunde an nicht leiden konnten, Nicolas.“

Nicolas achtete darauf, dass seine Hand auf Violas Rücken nur den blauen Seidenstoff und nicht ihre Haut berührte. Was gar nicht so einfach war. „Vielleicht habe ich mich ja getäuscht?“

„Sie geben es also zu?“

„Was ist mit Ihnen? Warum können Sie mich nicht leiden?“

Viola löste ihre Hand aus seiner, nahm ihren Zeigefinger und berührte die lose Wimper auf seinem Jochbein sanft, sodass sie auf ihrer Fingerkuppe liegen blieb. Genau das hatte ihre Mutter immer gemacht. Lose Wimpern musste man in die Luft pusten, und dann hatte man einen Wunsch frei. Ach, wenn dieser Aberglaube wirklich wahr wäre! Sie hielt ihm den Finger hin.

„Hier, pusten sie, dann haben Sie einen Wunsch frei.“

„Englischer Hexenzauber? Sie wollen nur meiner Frage ausweichen!“

„Selbst wenn. Nutzen Sie doch einfach den freien Wunsch! Wenn Sie keinen haben, dann wünschen Sie etwas für mich, ich habe gerade genug Probleme.“

Erschrocken hielt Viola inne. Warum vertraute sie sich ausgerechnet diesem Mann an? Damit er ihr wehtun konnte? Dabei sah er selbst wieder ganz verletzlich aus. Sein Blick verlor sich im Raum. Wie die Welt in seinem Inneren wohl aussah? Sie spürte seinen warmen Atem auf ihrer Hand. Die Wimper flog davon und landete auf ihrem Dekolleté, was er jedoch ignorierte.

„So selbstlos, dass ich Ihnen meinen freien Wunsch schenke, bin ich dann doch nicht.“

„Davon bin ich auch nicht ausgegangen. Ich frage mich eher, was sich ein Mann wünscht, der schon alles besitzt?“

Längst war der erste Tanz vorüber, doch sie drehten sich weiter gemeinsam auf dem Parkett, obwohl die meisten schon den Tanzpartner gewechselt hatten. Als Anna in Thomas’ Armen an ihr vorbeirauschte, zwinkerte sie Viola verschwörerisch zu. Sie machte doch wohl nicht den Eindruck, als ob sie mit Nicolas flirtete? Viola bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck.

„Viola, so langsam kann ich verstehen, warum Ihr männliches Gefolge lieber in England geblieben ist. Sie fühlen mir auf den Zahn, als wären Sie meine Psychologin!“

„Brauchen Sie etwa einen Seelenklempner?“, erwiderte sie keck.

„Wer von uns hat denn keine dunklen Geheimnisse?“

Es war, als hätten sie unausgesprochen ein Duell vereinbart. Viola wollte sich kaum eingestehen, dass sie den Schlagabtausch mit Nicolas genoss. Auch wenn sie ihn nicht mochte, sie mochte Männer mit Humor. Und Männer, die sie nicht wie ein kleines Mädchen behandelten.

Bei der nächsten Drehung rutschte seine Hand zur Seite, sodass seine Finger ihre nackte Haut im Rückenausschnitt berührten. Ein Schauer durchfuhr ihren ganzen Körper. Ihr Herz klopfte. Wie konnte diese kleine Berührung sie so aus der Fassung bringen? Warum stellte sie sich vor, wie sie sich küssten? Wie sie in seinen starken Armen lag?

„Alles in Ordnung?“, fragte er ohne Spott in der Stimme.

„Alles in Ordnung“, antwortete sie und senkte den Blick.

Hoffentlich hatte er nicht bemerkt, dass ihr Körper – nur ihr Körper – sich nach seinen Berührungen sehnte. Sie rief sich seine Unhöflichkeit, das unverschämte Verhalten seiner Mutter und ihre finanziellen Probleme ins Gedächtnis, um dieses alberne Gefühl der Erregung gegenüber diesem eingebildeten Typen loszuwerden. Fast war sie wütend auf ihren Körper, der auf die Berührungen eines Mannes dermaßen reagierte, der zwar zugegebenermaßen sehr gut aussah, an dem sie aber kein bisschen interessiert war.

Vielleicht sollte sie nachsichtig mit sich selbst sein. Sie war eben schon zu lange Single. Und da One-Night-Stands nicht ihr Ding waren, war sie eben ziemlich ausgehungert, was Sex anging. Selbst ein Kuss war ewig her!

„Viola, Sie tanzen ganz wunderbar! Als hätten Sie Ihr halbes Leben auf dem Parkett verbracht.“

Wieder fehlte der ironische Ton in Nicolas’ Stimme. Viola dagegen fand schnell zur gewohnten Haltung ihm gegenüber zurück.

„Kaum zu glauben für eine Frau aus meinen Kreisen, oder?“

„Viola, mit was könnte ich Sie zu einem Waffenstillstand überreden?“

„Mit großer Freude kündige ich euch den Überraschungsgast des Abends an: der neue Shootingstar an Frankreichs Sängerhimmel: Eva Gabler!“

Die Ankündigung der atemberaubenden Sängerin bewahrte Viola vor einer Antwort. Die Frau mit den langen schwarzen Haaren und den knallroten Lippen zog alle Blicke auf sich, als sie zum Mikrofon schritt. Auch den von Nicolas, der nun neben ihr stand.

Das enge bodenlange Glitzerkleid hätte bei anderen Frauen peinlich wirken können, bei Eva Gabler wirkte es einfach nur glamourös. Selbst Viola konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Der Anblick der Diva katapultierte sie in einen Hollywoodstreifen, allerdings in einen, in dem sie nur eine Nebenrolle spielte …

Die Stimme der Sängerin übertrumpfte ihr Aussehen noch. Alle hörten gebannt zu, als sie Edith Piafs Hymne à l’amour darbot. Am Ende des Liedes ging sie auf die begeisterten Gäste zu.

„Und nun brauche ich selbst einen Tanzpartner.“

Die Gäste johlten und verlangten nach einer Zugabe.

„Die bekommt ihr, aber erst möchte ich eine Runde tanzen. Mit einem Mann, der sich wahrscheinlich nicht an mich erinnern kann. Wir waren auf derselben Schule. Ich habe ihn angehimmelt, aber da ich zu der Zeit noch eine Zahnspange trug und noch ein halbes Kind war, hat er mich nicht beachtet.“

Viola stimmte in das Lachen der Gäste ein. Die Frau war auch noch sympathisch! Eva Gabler ließ ihren Blick durch die Menge schweifen und blieb an Nicolas hängen. Sie schritt auf ihn zu und reichte ihm die Hand.

„Nicolas Marchant. Weißt du eigentlich, wie viele Liebesbriefe an dich ich niemals abgeschickt habe?“ Es stimmte wahrscheinlich, und dennoch klang es wie ein sorgsam geplanter Teil der Bühnenshow. Und Nicolas strahlte.

„Ich fürchte, damals hatte ich noch weniger Ahnung von Frauen als heute!“

Wieder lachten und klatschten alle.

„Sucht euch einen Tanzpartner und legt los“, kommandierte Eva Gabler durchaus charmant, während sie Nicolas mit sich zog.

Viola wollte gerade an die frische Luft flüchten, doch da verbeugte sich Albert Marchant vor ihr. „Darf ich bitten?“

Wollte er sich etwa auch für das Verhalten seiner Frau entschuldigen? Viola hatte keine Lust mit ihm zu tanzen, riss sich aber aus Höflichkeit zusammen.

Da Monsieur Marchant, ein routinierter Tänzer, ihr während des Tanzes nicht in die Augen schaute und ihr auch keine Gespräche aufdrängte, hatte Viola genug Gelegenheit, Nicolas und Eva zu beobachten.

Die beiden passten zusammen! Sie waren sich eindeutig ebenbürtig: gleich schön, gleich selbstbewusst, gleich erfolgreich – und was das Wichtigste war, sie stammten aus den gleichen Kreisen. Kein Wunder, dass Nicolas’ Mutter die beiden entzückt anstarrte. Als sich ihr und Violas Blick trafen, verengte Therese die Augen zu schmalen Schlitzen.

Der Anblick ihres Gatten an Violas Seite schien ihre Eifersucht zu entfachen. Selbst schuld, dachte Viola. Diese Frau hat den ganzen Abend keine liebevolle Geste an ihren Mann verschwendet. Sie scheint seinen traurigen Blick nicht einmal zu bemerken.

Trotz seines feinen Fracks und der gesellschaftlichen Stellung wirkte er wie ein gebrochener Mann. Ob ein Fluch auf dieser Familie lag? Nur Thomas sah völlig unbeschwert aus. Kein Wunder, schließlich hatte er gerade die Liebe seines Lebens geheiratet.

Als die letzten Takte des Liedes verklungen waren, verbeugte sich Monsieur Marchant erneut. „Ich danke Ihnen für diesen Tanz, Madame. Es war mir ein großes Vergnügen.“

Viola konnte nicht erklären, warum sich ihr Magen bei dem Anblick von Nicolas und Eva zusammenzog. Vielleicht weil dieser den Kontrast zu ihrem Leben umso klarer werden ließ? Es war so ungerecht, dass Menschen wie sie ums nackte Überleben kämpfen mussten, während Leuten wie Nicolas und Eva der Reichtum und die Sorglosigkeit schon in die Wiege gelegt wurden. Aber war das wirklich so? Nein, das dunkle Geheimnis, das auf den Marchants lastete, war geradezu greifbar.

„Sie sehen blass aus. Vielleicht tut ihnen etwas frische Luft gut.“

Erschrocken drehte Viola sich um. Nicolas stand vor ihr, während Eva wieder vor dem Mikrofon posierte.

„Sie haben recht, frische Luft ist jetzt genau das Richtige. Aber lauschen Sie hier drin ruhig dem Gesang, um Eva Gabler nicht vor den Kopf zu stoßen.“

„Ach, etwas geteilte Aufmerksamkeit erhöht die Konkurrenz …“ Er bot ihr galant den Arm. „Kommen Sie. Ich weiß ja jetzt, dass Eva damals ein Auge auf mich geworfen hat, da wird sie mir schon nicht davonrennen, wenn ich eine andere Frau vor der Ohnmacht rette.“

Spätestens jetzt hätte Viola ihn stehen lassen müssen. Warum sie es nicht tat, verstand sie selbst nicht. Genauso wenig wie die Tatsache, dass der begehrteste Junggeselle des Festes ihre Nähe suchte, obwohl er mit dem Star des Abends zusammen sein konnte. Es konnte nur einen Grund geben – er wollte seine Mutter ärgern!

Es war offensichtlich, dass Therese Marchant Viola nicht ausstehen konnte. Wahrscheinlich war es ein Akt der Rebellion, dass ihr Sohn ihr Gesellschaft leistete. Und obwohl Viola normalerweise völlig frei von Rachegedanken war, erschien es ihr fast reizvoll, Nicolas in diesem Anliegen zu unterstützen.

„Na, gut, gehen wir einen Moment nach draußen.“

Auf der Terrasse lehnten sie sich an das Geländer und schauten auf das Meer. Die Gischt glitzerte im Mondlicht. Der Strand war so weit entfernt, dass man die Musik und den Lärm der Bars und Cafés nicht hören konnte. Nur die Lichter zeugten davon, dass in ganz Nizza getanzt, gesungen und gefeiert wurde. Wie es wohl war, auf einem der Segelboote zu sein? Allein? Ganz in Stille? Oder mit einem Partner, der alles für einen bedeutete? Ob sie je so eine große Liebe erleben würde?

„Wie es jetzt wohl auf einem der Boote wäre?“, sprach Nicolas einen Teil ihrer Gedanken aus und zog eine einzelne Gauloise aus seiner Brusttasche, die er sich gerade von seinem Bruder samt Feuerzeug hatte geben lassen. Thomas hatte ihn verwundert angesehen, weil Nicolas außer gelegentlich als Teenager nie geraucht hatte. Das Licht der Feuerzeugflamme erhellte sein Gesicht. Wieder war da dieser tieftraurige Ausdruck, den Viola bei einem Mann mit seinen Möglichkeiten immer noch verwunderte. Aber Geld und Ansehen waren eben nicht alles.

„Sie rauchen?“

„Nur wenn ich nervös bin.“

Dieser Satz machte Viola wiederum nervös.

„Gibt es einen Grund?“

Er wandte ihr das Gesicht zu und sah ihr fest in die Augen.

„Sie machen mich …“

„Ahhh, da bist du ja, du alter Schwerenöter!“

Stefan, der Freund seines Bruders, der schon beim Junggesellenabschied zu viel Pastis getrunken hatte, kam auf Viola und Nicolas zugewankt.

„Da lässt man dich fünf Minuten allein, schon hast du wieder eine Frau an deiner Seite. Nach der Nummer gerade dachte ich, da läuft was mit Eva!“

Der junge Franzose zwinkerte ihm anzüglich zu. „Du willst die Diva wohl zappeln lassen.“

Stefan winkte die Kellnerin herbei, die gerade mit einem Tablett Cocktails auf die Terrasse gekommen war.

„Hübsche Frau, geben Sie diesem jungen Herrn und seiner Begleitung mal was mit ordentlich Umdrehungen. Die stehen hier mit todernsten Gesichtern auf dem Fest der Liebe!“

„Ein Wasser, bitte“, orderte Nicolas bei der Kellnerin und wandte sich dann an Stefan. „Ich behalte lieber die Kontrolle über das, was ich sage.“

Leider, dachte Viola. Wenn sein Herz überfließen würde von dem, was wirklich darin vorgeht, wüsste ich, woran ich bei ihm bin. Erschrocken hielt sie inne. Es interessierte sie doch nicht wirklich, was er fühlte? Sie sah, wie der glückliche Bräutigam und zwei weitere junge Männer auf sie zukamen.

„Entschuldigen Sie bitte, ich muss …“ Was sagte man bloß in solchen Kreisen? Die Nase pudern? Auf die Toilette? Sie musste einfach mal drei Minuten allein sein, kaltes Wasser über ihre Arme laufen lassen … irgendetwas tun, was sie wieder beruhigte.

Sie trank so selten Alkohol, dass ihr zwei Gläser Wein und das Glas Champagner zur Begrüßung zwar nicht die Kontrolle über ihre Worte, aber anscheinend über ihren Körper genommen hatten. Ihr Magen zog sich zusammen.

„Ich bin gleich wieder da“, sagte sie einfach und ließ Nicolas mit seinen Kumpels stehen, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen.

Der Toilettenraum des Grandhotels war fast so groß wie ihre Wohnung in London. Leise Musik rieselte aus einem unsichtbaren Lautsprecher. Die weißen Lilien auf dem Waschtisch verbreiteten einen süßlichen Duft, der sie an die Beerdigung ihrer Mutter erinnerte. Bloß nicht weinen, beschwor sie sich und schaute in den Spiegel. Obwohl Mum viel zu früh gestorben ist, lebt sie in mir weiter, dachte Viola. Sie war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, sodass sie sich oft fragte, was sie überhaupt von ihrem Vater hatte. Dem Mann, den sie nicht einmal kannte, weil ihre Mutter sich geweigert hatte, über ihn zu sprechen.

Viola sehnte sich so sehr nach der großen Liebe, aber gab es die überhaupt? Männer wie Nicolas konnten einen um den Verstand bringen, aber waren sie fähig zu lieben? Treu zu sein? Und wie lange war sie bereit, auf die große Liebe zu warten?

Wenn Viola ehrlich war, spürte sie in Nicolas’ Gegenwart ein undefinierbares Kribbeln. Wenn er sie nicht gerade provozierte, war er ein wunderbarer Gesprächspartner. Und sie hatten denselben Geschmack. Während des Tanzens hatten sie sich über ihren Job unterhalten, und er schien ehrlich interessiert zu sein an ihrer Meinung zu den Deckenfresken und der Möblierung des Saals.

Sie wüsste nicht, was sie getan hätte, wenn Nicolas sie eingeladen hätte, mit auf sein Zimmer zu kommen.

Doch, sie wusste es genau! Wie konnte ihr Körper ihre Prinzipien nur so ignorieren? Viola drehte den Wasserhahn auf und ließ kaltes Wasser über ihre Unterarme laufen.

In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und Therese betrat den Raum, in Begleitung einer rundlichen Dame, die ein rosafarbenes Abendkleid trug. Der Anblick der beiden Frauen ernüchterte Viola schlagartig. Sie hielt die Luft an und hätte sich am liebsten unsichtbar gemacht.

Therese positionierte sich so vor der Tür, dass Viola nicht vorbei konnte, ohne sie darum zu bitten, zur Seite zu gehen. Also suchte sie den Lippenstift in ihrer silberblauen Clutch, die Susi ihr geliehen hatte, um Beschäftigung vorzutäuschen. Madame Marchant sollte sich nur nicht einbilden, dass sie Angst vor ihr hatte!

„Clarissa, meine Liebe“, säuselte Therese ihre Freundin an. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich darüber bin, dass Eva auf die Bühne getreten ist.“ Sie kicherte über ihr eigenes Wortspiel.

„Wirklich eine ganz außergewöhnliche Frau“, pflichtete ihr die Dame in Rosa bei.

„Endlich eine, die Nicolas ebenbürtig ist.“

Viola zuckte bei seinem Namen zusammen, sodass sie den Lippenstift über den Lippenrand gleiten ließ. Sie griff zu einem Kleenex, das aus einer goldenen Dose hervorragte. Thereses Blick traf sie im Spiegel.

„Mein Erstgeborener hat tragischerweise eine Vorliebe für Mädchen, die als Aschenputtel daherkommen, damit der Prinz ihnen ein Leben im Luxus erlaubt. Vielleicht wollte er aber bislang auch nur seinen Spaß haben, bevor er in den Hafen der Ehe steuert. Gegen Eva Gabler als Schwiegertochter hätte ich jedenfalls absolut nichts einzuwenden.“

Ein Blick voller Verachtung und Hass traf Viola, als sie sich umdrehte und Nicolas’ Mutter direkt in die Augen sah. Viola tastete nach dem Schlüssel in ihrer Handtasche. Sie würde es keine Sekunde länger mehr auf diesem Fest aushalten.

„Lassen Sie mich bitte vorbei“, bat sie Therese mit brüchiger Stimme.

Am liebsten wäre Viola direkt zum Ausgang gerannt, doch das hätte sie unter Umständen in Erklärungsnot gebracht. Also würde sie sich diskret verabschieden. Als sie zur Terrasse sah, hörte sie lautes Lachen. Zwischen all den Frackträgern erkannte sie Eva Gabler in ihrem engen roten Kleid. Mit den Absätzen war sie größer als die meisten der Männer um sie herum. Bis auf Nicolas, dem sie ihren Arm um die Schulter legte.

Viola musste hier weg.

Warum brauchte die Garderobiere so lange, bis sie ihre hellgraue Wildlederjacke gefunden hatte? So schwer konnte sie zwischen all den Pelzjäckchen, die die Damen hier trotz des milden Sommers trugen, doch nicht zu finden sein!

„Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?“

„Nein danke, die paar Minuten laufe ich gerne“, antwortete Viola mit Mühe, die Tränen zu unterdrücken.

„In diesem Aufzug? Madame, Touristinnen sind leichte Opfer.“

„Vielen Dank, ich passe schon auf mich auf!“

Hektisch drehte Viola sich um. Sie hatte sowieso nichts dabei, was man ihr stehlen konnte. Als sie Nicolas kommen sah, knöpfte sie ihre Jacke zu und lief so schnell sie konnte auf den Ausgang zu. Obwohl sich die Tür von selbst öffnete, standen zwei Hotelpagen davor und verneigten sich andeutungsweise, als Viola in die Dunkelheit trat. Trotz dieser Geste fühlte sie sich nicht wie eine Prinzessin, sondern wie Aschenputtel. Vor ihr lag eine breite Steintreppe, die vom Seiteneingang des Hotels zur Straße führte. Viola hob ihr Kleid an, um nicht zu stürzen, als sie schnellen Schrittes die ersten Stufen nahm.

Die Situation war so absurd, dass sie einen Moment lächeln musste. Es fehlte nur noch, dass der Prinz hinter ihr her rannte und sie einen Schuh verlor.

„Viola, warten Sie!“

Viola tat so, als hörte sie nicht und hastete auf den hohen Absätzen weiter die Treppe runter. Doch Nicolas hatte sie bald eingeholt.

„Sie können doch nicht einfach gehen, ohne sich zu verabschieden!“

„Warum nicht? Es ist ja nicht so, als wären alle nett zu mir.“

Nicolas Auftreten brachte sie so aus der Fassung, dass sie doch über den Saum ihres Kleides stolperte. In letzter Sekunde wurde sie von zwei starken Armen aufgefangen.

Nicolas hätte sie sofort loslassen können, als sie wieder festen Boden unter den Füßen spürte. Viola hätte sich aus seinem Griff befreien können. Stattdessen sahen sie sich nur an.

„Das war jedenfalls nett“, brach Viola das Schweigen und tat etwas, was sie noch nie getan hatte: Sie küsste einen Mann, ohne dass er sie zuerst geküsst hatte. Ganz sachte nur berührten ihre Lippen seinen Mund. Und bevor ihr klar wurde, was sie da tat, hielt er sie davon ab, damit aufzuhören. Nicolas nahm ihr Gesicht in seine Hände und erwiderte ihren Kuss leidenschaftlich.

Über ihnen glitzerte der Sternenhimmel Nizzas, unter ihnen trug sie die breite Steintreppe, die schon so vielen Menschen den Weg bereitet hatte, zwischen ihnen war nichts.

Hatte die kurze Berührung ihrer nackten Haut während des Tanzes noch einen wohligen Schauer durch ihren Körper laufen lassen, lösten Nicolas’ Lippen ein wahres Feuerwerk in ihr aus. Obwohl ihr Verstand sie warnte, gab sie sich seinem Kuss hin. Sie schlang ihre Arme um seinen starken Körper und musste sich strecken, um auf seiner Höhe zu sein. Kurz öffneten sie beide die Augen, die sie geschlossen hatten, um sich in diesem Kuss zu verlieren, und für einen Moment war all die Traurigkeit, die Nicolas stets zu begleiten schien, aus seinem Blick verschwunden.

Viola erzitterte, als Nicolas ihr sanft eine Locke aus dem Gesicht strich und sie dann mit einer Leidenschaft küsste, die sie fast schwindeln ließ. Nie hatte sie bei einem Kuss so viel gespürt, nie hatte ihr Herz so gerast, als die Lippen eines Mannes auf ihren lagen. Doch in dem Moment, indem sie begann, endgültig alles andere um sich herum auszublenden, spürte sie, wie er sich von ihr löste. Was hatte sein abweisender Blick zu bedeuten?

„Entschuldigung, das entsprach jetzt auch nicht der Etikette“, sagte Nicolas mit einer Kälte in seiner Stimme, die nicht zu dem Kuss vorher passte.

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.“ Das förmliche Sie empfang Viola nun als unangebracht. „Mir tut es leid. Ich habe angefangen, tun wir einfach so, als wäre es nie passiert.“

Was hatte sie nur getan? Warum hatte ihr Körper sie nur so überrumpelt?

Mit geröteten Wangen rannte sie die restlichen Stufen herunter und riss die Tür des ersten Taxis auf, das wartete, um die Feiernden durch die Nacht zu fahren.

„Viola, warte!“

Sie nannte dem Taxifahrer die Adresse ihrer Pension und drehte sich nicht mehr um. Es war besser, sie würden sich nie wiedersehen.

4. KAPITEL

Als Nicolas den Festsaal wieder betrat, war dieser fast leer. Lautes Knallen und grelles Licht verrieten ihm, warum. Ein Pyrotechniker feuerte auf der Terrasse Raketen ab. Tausende bunte Funken versuchten, mit den Sternen zu konkurrieren, und kamen doch nicht gegen die Natur an. Nicolas setzte sich an einen Tisch in dem verlassenen Saal. Ihm war überhaupt nicht danach zumute, sich unter die Feiernden zu mischen.

„Darf ich Ihnen etwas bringen?“

Die Kellnerin, die leere Gläser auf einem Tablett einsammelte, riss ihn aus seinen Gedanken.

„Einen Whiskey, bitte.“

Eben hatte er die Kontrolle verloren, obwohl er nüchtern war. Jetzt brauchte er etwas Hochprozentiges, um darüber nicht mehr nachdenken zu müssen. Vielleicht hätte er es bis morgen vergessen – so wie Viola es vorgeschlagen hatte.

Keine Minute später stellte die Kellnerin einen Whiskey mit Eis vor ihn. Das Getränk brannte ihm auf der Zunge. Dort, wo er gerade noch Viola gespürt hatte.

„Junge, so allein hier?“

Seine Tante Celine, der es draußen zu laut war, rückte einen Stuhl heran und setzte sich.

„Ich glaube, ich bin für Hochzeitsfeiern nicht gemacht.“ Er seufzte.

„Ach, komm. Vielleicht ändert sich das, wenn du deine eigene Hochzeit feierst! Ihr konntet gut miteinander, oder?“

„Wen meinst du? Eva? Nur weil sie mir vor Ewigkeiten Liebesbriefe geschrieben hat, die ich nie bekommen habe?“

Celine steckte eine lockere Haarnadel in ihrer Hochsteckfrisur wieder fest, und Nicolas konnte sich genau vorstellen, wie sie als junge Frau ausgesehen hatte.

„Nicolas, ich meine die Engländerin mit den blonden Locken! Ich habe euch beim Tanzen beobachtet. Du brauchst mir nichts zu erklären.“

Nicolas leerte das Glas in einem Zug und legte seine Hand auf die schmale, faltige Hand seiner Tante.

„Ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor. Ich habe sie nur aufgefordert, um Mamans Verhalten wiedergutzumachen. Stattdessen habe ich alles schlimmer gemacht.“

Bevor Tante Celine antworten konnte, kamen die Gäste zurück in den Raum. Das Brautpaar strahlte und konnte es offensichtlich kaum erwarten, sich in die Hochzeitssuite zurückzuziehen. Alle nahmen ihre Plätze wieder ein, da die Partyplanerin gerade die Hochzeitstorte ankündigte. Da wurde das fünfstöckige Kunstwerk aus Marzipan, Fondant und echten Rosen- und Veilchenblüten auch schon hereingeschoben.

Kellner verteilten Kaffee, Espresso und Cappuccino.

„Wissen Sie, was die Dame neben Ihnen trinkt?“, wurde Nicolas gefragt.

„Nichts. Sie hat sich bereits verabschiedet.“

Argwöhnisch betrachtete Therese ihren Sohn. Er müsste doch strahlen angesichts der Aussicht auf eine der besten Partien Frankreichs. Eva hatte ihr gestanden, wie attraktiv sie ihren Sohn fand.

„Das zeugt ja nicht gerade von Klasse, sich so sang- und klanglos zu verabschieden“, bemerkte sie schnippisch und nippte an ihrem Kaffee.

Maman, hast du schon mal überlegt, inwiefern du deinen Beitrag dazu geleistet hast? Du hast Viola ja geradezu weggeekelt“, raunte Nicolas ihr zu – darauf bedacht, dass es nicht jeder am Tisch mitbekam.

„Also wenn sie sich von ein paar Bemerkungen vertreiben lässt, ist sie zu schwach!“ Therese wand sich anderen Gästen zu, als sei das Thema für sie damit erledigt.

„Darf ich dir einen Rat geben?“ Celine beugte sich zu Nicolas und stach ihre Kuchengabel in das zarte Biskuit mit Rosencremefüllung, das wie von Zauberhand an ihren Platz gebracht worden war.

Nicolas nickte.

„Schick ihr eine Nachricht. Du wirst es dein Leben lang bereuen, wenn du sie einfach ziehen lässt.“

Therese hatte ihren Sohn die ganze Zeit im Blick behalten und beobachtete, wie er sich mit der Hochzeitsplanerin unterhielt. Er schien sie zu etwas überreden zu wollen. Schließlich sah sie, dass die junge Frau ihr Smartphone zückte und Nicolas den Bildschirm zeigte. Aber Therese würde nicht zulassen, dass eine Frau wie Viola ein zweites Mal ihr Glück zerstörte.

Es war Lillys Schuld gewesen, dass ihre Liebe, ihre heile, glückliche Familie zu einer Farce geworden war. Lilly sollte ihr damals das Leben einfacher machen, indem sie auf die Kinder aufpasste, damit Therese ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen konnte. Stattdessen hatte Lilly ihr fast den Ehemann ausgespannt.

Therese sah es nun als ihre Pflicht an, alles zu schützen, was von dem Glück übrig geblieben war. Es ging nicht nur um ihre Ehe, sondern um den Erhalt des Familienerbes und des Ansehens in der Gesellschaft. Damals war die Familie nur haarscharf an einem Skandal vorbeigeschlittert, doch die Wunde war nie verheilt und konnte jederzeit aufreißen. Sie würde kämpfen wie eine Löwin und sprach die Hochzeitsplanerin doch an wie ein sanftes Kätzchen, nachdem Nicolas verschwunden war.

Nicolas nutzte die Tatsache, dass sich die Gäste auf die Hochzeitstorte konzentrierten, um zur Hotelrezeption zu gehen.

„Ah, Monsieur Marchant! Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte der Rezeptionist. Nicolas war ein Grund, aus dem sich der Mann geschworen hatte, dem Hotel immer treu zu bleiben. Nicolas Marchant hatte ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, ein halbes Jahr bei vollen Bezügen freigestellt, als er sich um seine kranke Frau kümmern musste.

„Helfen Sie mir bitte mit einem Blatt Papier und einem Briefumschlag aus. Ein Stift wäre auch nicht schlecht.“

„Wenn es weiter nichts ist.“ Mit einem flinken Griff zog der rundliche Herr eine Schublade hinter dem Tresen auf und reichte Nicolas einen Bogen feinstes Papier und einen seidengefütterten Briefumschlag. Diskret schaute er zur Seite, während Nicolas sich über den Tresen beugte und eine Nachricht verfasste.

Liebe Viola,

ich habe unser Gespräch und den Tanz mit dir sehr genossen und würde unsere Unterhaltung gern fortsetzen. Ich warte morgen Vormittag ab 10 Uhr im Café Lapin auf dich, das ist ein wunderschönes Café direkt am Strand nur fünf Minuten von deiner Pension entfernt. Es würde mich sehr freuen, dich dort zu treffen, bevor du wieder nach England fliegst. Sollte es von deiner Seite nicht passen, bitte ich um eine kurze Nachricht.

Herzliche Grüße

Nicolas Marchant

Nicolas schrieb noch seine Handynummer hinter seinen Namen. Er hatte seine Worte bewusst sachlich gehalten, um Viola nicht zu verunsichern. Nun faltete er das Papier zusammen, steckte es in den Umschlag und ließ seine Zunge über den Klebestreifen gleiten, um den Brief zu verschließen.

Was war da nur in sie beide gefahren? Ob diese Frau sich immer nahm, was sie wollte? Was wäre passiert, wenn sie mehr Zeit allein verbracht hätten?

Nicolas schob das Gefühl der Erregung beiseite, dass ihn bei dem Gedanken an ihre zarten Lippen überkam. Mit einem Nicken verabschiedete er sich und trat aus dem Foyer in die laue Nacht hinaus. Bis zur Pension Eglantine waren es nur zehn Minuten. Die frische Luft würde ihm guttun.

Viola war so anders als alle anderen Frauen, mit denen er sonst zu tun hatte. Sie bemühte sich nicht, ihm zu gefallen, ganz ihm Gegenteil. Sie hatte Spaß daran, ihn zu provozieren, ihm Kontra zu geben. Wie passte dieser Kuss dazu? Oder war das ihre Masche? Erst die Unnahbare spielen und dann frontal angreifen?

Nein, sie sah nicht nach Machtspielchen aus. Das war doch das Talent seiner Mutter, für die Viola ohnehin nur ein Aschenputtel auf Männerfang war.

Ein eng umschlungenes Liebespaar kam ihm entgegen. Nicolas senkte seinen Blick, als sie stehen blieben, um sich zu küssen. Wie schön musste es sein, die Frau fürs Leben gefunden zu haben. Warum hatte er bisher so viel Pech in der Liebe gehabt? Warum war es so schwer für ihn, Nähe zuzulassen?

Immer war er auf der Hut, immer rechnete er damit, nur ausgenutzt zu werden. Und immer hatte er mit seiner Befürchtung recht behalten.

Fast hätte er die schwach beleuchtete Seitengasse übersehen, in der sich die Pension befand, in der Viola laut der Hochzeitsplanerin untergekommen war. Ein schmales Häuschen aus der Jahrhundertwende, die Treppe in der Mitte des Gebäudes ausgetreten, die Tür abgeschlossen. Nicolas klopfte und hörte Schritte.

„Finden Sie Ihren Schlüssel nicht mehr, oder macht es Ihnen Spaß, einen alten Mann durch die Gegend zu scheuchen?“

Der Nachtportier empfand seinen Job anscheinend als Zumutung. Nicolas sah sich in dem kleinen Vorraum um. Ein Schmuckstück, das mal wieder poliert werden müsste. Links und rechts unter einem billigen Teppich lugten aufwendig verzierte Terrakottafliesen hervor. Die Tapete stammte wohl noch aus den Siebzigern und passte gar nicht zu den Antikmöbeln und den runden Fensterbögen.

„Entschuldigen Sie bitte, beherbergen Sie eine Viola Miller?“

„Wen auch immer ich beherberge, ich schütze sie vor männlichen Nachstellungen.“

„Keine Sorge, ich möchte nur etwas für sie abgeben.“

Nicolas zog den Briefumschlag aus seiner Brusttasche. Der Portier musterte ihn und lächelte, als sei ein Groschen gefallen.

„Und wie war Ihr Name gleich?“

„Nicolas Marchant.“

„Ah, die Konkurrenz!“

Er lachte über seinen eigenen Witz, schließlich schliefen hier nur Leute mit wenig Geld. Studenten, junge Liebespaare oder aber Frauen wie Viola Miller, die heute Mittag etwas verloren gewirkt hatte mit ihrem kleinen Köfferchen.

„Was würde ich darum geben, mit Ihnen zu tauschen, Monsieur Marchant. Sie können feiern, und der Laden läuft trotzdem. Ich mache hier alles selbst – auch das Frühstück. Wenn ich nicht noch bis zur Rente warten müsste, dann läge ich schon längst den ganzen Tag am Strand. Und das Schlimmste ist, alle halten mich für den Portier, dabei bin ich genauso der Chef. Bernard ist mein Name.“ Er reichte Nicolas die Hand.

„Angenehm, Monsieur Bernard“, erwiderte Nicolas, wobei er sich zusammenreißen musste, um freundlich zu bleiben. Wenn der Mann wüsste, was für eine harte Arbeit das Management der Hotels der Familie Marchant war, würde er nicht so daherreden, dachte er, während er ihm den Briefumschlag reichte.

„Bitte geben Sie diesen Brief Madame Miller.“

„Sie können sich auf mich verlassen“, antwortete der Inhaber der Pension, während er an den Judaslohn dachte, den Madame Marchant ihm versprochen hatte, wenn er jede Kontaktaufnahme zwischen der englischen Touristin und ihrem Sohn vereitelte.

Anna hatte die schönste Hochzeitsnacht hinter sich, die sie sich vorstellen konnte, und dennoch nagte etwas an ihr, als sie Hand in Hand mit Thomas den Frühstückssaal betrat. Gestern hatte sie kaum Zeit für Viola gehabt und hoffte, das heute Morgen nachholen zu können.

Obwohl sie gestern noch lange gefeiert hatten, saßen ihre Schwiegereltern, ihre Eltern sowie die meisten anderen Gäste schon wie aus dem Ei gepellt am Tisch. Duftender Kaffee wurde eingeschenkt, Croissants mit Konfitüre bestrichen, Eier geschält oder an frisch gepresstem Orangensaft genippt.

„Guten Morgen, ihr Lieben! Ich hoffe, ihr habt gut geschlafen“, wurde sie von ihrer Mutter begrüßt, während ihr Vater sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Anna verteilte Begrüßungsküsse. Ihr Blick blieb an zwei freien Plätzen hängen. Nicolas und Viola fehlten.

Ihr Herz machte einen Sprung. Ob die beiden etwa gerade zusammen waren? Sie hatte doch bemerkt, wie gut sie sich nach anfänglicher Skepsis verstanden hatten.

„Wie im siebten Himmel! Die Suite ist ein Traum! Und dieser Blick auf das Meer! Ich wünschte, wir könnten hier einziehen.“

Thomas zog seine Frau an sich. „Hmm, morgen haben wir fast eine Insel für uns allein. Ich hoffe, da vermisst du die Suite nicht mehr. Außerdem gehörst du jetzt zur Familie, das heißt, sie gehört dir!“ Wenn Zimmer frei waren, konnten die Familienmitglieder jederzeit im Hotel übernachten.

Therese köpfte ihr Ei und sah um einiges entspannter aus als am Vorabend. „Anna, wir freuen uns sehr, dass du jetzt auch offiziell zur Familie gehörst“, sagte sie. Es klang etwas steif.

„Apropos Familie“, hakte Anna nach, „ich vermisse meinen Schwager. Und meine Freundin Viola. Es ist zehn Uhr, und ich weiß, dass ihr Flieger schon um zwölf geht. Haben die beiden bereits gefrühstückt?“

Therese zeigte auf die unberührten Gedecke. „Nein, das haben sie nicht.“

„Vielleicht sind sie ja gemeinsam unterwegs …“ Anna strahlte.

„Das glaube ich kaum. Nicolas und Eva gehörten zu den letzten Gästen. Sie haben die Feier gemeinsam verlassen, und er hat nicht in seiner Wohnung geschlafen. Wer weiß, vielleicht steht bald die nächste Hochzeit an.“ Therese warf Anna einen Blick zu, der gar nicht mehr so freundlich war. „Und deine Freundin hat sich nicht einmal verabschiedet. Man merkt, dass sie sich in der Gesellschaft nicht so bewegt, wie du es tust, Anna. Kein Wunder, wenn man bedenkt, aus welchen Verhältnissen sie kommt.“

„Auf dem Parkett bewegte sie sich jedenfalls glänzend“, entgegnete ihr Mann.

„Tja, dass du dich von ihr blenden lässt, war ja klar“, giftete Therese.

Anna goss sich einen Kaffee ein und ignorierte das Gerede ihrer Schwiegermutter. So sehr sie Nizza liebte, sie war froh, dass ihr Hauptwohnsitz in Paris sein würde. Sie nahm sich vor, Viola nachher anzurufen, um zu hören, wie es ihr ging.

Ein Blick auf seine Armani-Uhr verriet Nicolas, dass Viola schon fünf Minuten zu spät war. Vielleicht fand sie das Strandcafé nicht? Nicolas hatte sich extra so gesetzt, dass er den Weg, der von der Promenade zu dem kleinen Café führte, im Blick hatte. Von dem Weg führte ein breiter Steg auf eine Holzterrasse, die wie eine Insel auf dem Strand thronte.

Um ihn herum standen Palmen. Hinter ihm rauschte das Meer.

Aber wenn sie nicht kommen würde, hätte sie ihm doch eine Nachricht geschickt! Seine Nummer stand schließlich dabei! Nicolas rührte gedankenverloren in seinem Espresso, obwohl er ihn ohnehin schwarz und ohne Zucker trank.

Der Gedanke an den Kuss machte ihn wahnsinnig. Er spürte, dass Viola die Antwort auf eine wichtige Frage in seinem Leben in sich trug. Sie hatte etwas in ihm bewegt. Klar, er fand sie wunderschön! Und witzig. Aber das war es nicht allein. Sie berührte etwas tief in seinem Inneren, etwas, das er für verschüttet gehalten hatte. In ihrer Gegenwart fühlte er so etwas wie Urvertrauen. Leichtigkeit. War er dabei, sich zu verlieben? Oder machte es ihn nur verrückt, dass sie ihn warten ließ?

Nicolas war es nicht gewohnt, dass eine Frau ihn zappeln ließ. Oder hatte er sie mit der Heftigkeit seines Kusses verschreckt?

„Ah, Nicolas, gestern noch gefeiert und heute schon so früh auf den Beinen?“ Alfredo, ein alter Geschäftspartner seines Vaters, reichte ihm die Hand und deutete auf den Platz neben ihm. „Ist der noch frei?“

Inzwischen war es halb elf.

„Ich hoffe, gleich nicht mehr!“ Selbst wenn Viola nicht kommen würde, hatte Nicolas wenig Interesse an Alfredos Gesellschaft.

Auch auf Nicolas Smartphone war keine Nachricht eingegangen.

Alfredo zückte die Tageszeitung, die er unter dem Arm trug. „Die Hochzeit deines Bruders wird im Boulevardteil erwähnt. Ein Traum mit Feuerwerk und Starsängerin. Junge, Junge, das zu toppen wird nicht einfach.“

Nicolas lächelte. Er hatte gar nicht vor, seinen Bruder zu übertrumpfen. Wozu auch? Er hatte sich nie Gedanken über Geld machen müssen, dennoch hatte er eine Abneigung gegen Protz, solange so viele Menschen nicht wussten, wie sie am nächsten Tag satt werden sollten. Er gönnte sich gerne Luxus, aber nur, wenn mindestens genauso viel an Bedürftige floss. Vielleicht sollte er dem Himmel einen Deal anbieten: wenn Viola noch kam, würde er dem Waisenhaus in Nizza doppelt so viel spenden wie im letzten Jahr.

„Da hast du wohl recht“, antwortete er dem Mann, während er überlegte, ob er in der Pension nachfragen sollte, ob der Brief Viola auch erreicht hatte. Nein, das ging über seinen Stolz. Er würde ihr nicht hinterherrennen. Wenn sie füreinander bestimmt waren, würden sich ihre Wege wieder kreuzen …

Nicolas erschrak vor seinen eigenen Gedanken. Füreinander bestimmt? Was ritt ihn denn da? Und was war das für ein Gefühl, das sich in seinem Bauch ausbreitete? Aufregung? Schmetterlinge? Oder Ärger darüber, dass sie immer noch nicht da war? Als ein Krankenwagen zu hören war, zuckte Nicolas zusammen. Und wenn ihr etwas passiert war? In einer halben Stunde ging ihr Flug. Ob er sie am Flughafen suchen sollte? Sie musste längst beim Einchecken sein. Er nahm sein Handy.

„Ha, die Dame lässt dich aber ganz schön zappeln!“, spottete Alfredo. Nicolas ignorierte ihn und wählte die Nummer der Pension.

„Guten Morgen, Monsieur Bernard, haben Sie Madame Miller noch angetroffen?“

Nicolas war fast enttäuscht, als er hörte, dass sie den Brief in Empfang genommen hatte. Das konnte nur bedeuten, dass er ihr nicht mal eine Absage wert war. Nicolas, dem normalerweise die ganze Welt, vor allem der weibliche Teil, zu Füßen lag, konnte den mitleidigen Blick seines Gegenübers nicht ertragen.

Er hatte das Handy gerade erst in seine Hosentasche gesteckt, da vibrierte es. Endlich! Erleichtert drückte er die Annahmetaste, als er die unbekannte Nummer sah.

„Nicolas Marchant hier“, sagte er freudig erregt.

„Hallo, Nicolas, wie schön, deine Stimme zu hören. Hier ist Eva. Hast du Lust auf einen spontanen Kaffee am Strand?“

„Und Sie sind sich sicher, dass nichts für mich abgegeben wurde?“

Viola stand mit ihrem Koffer in der Hand und der Jacke über dem Arm vor dem Portier, der mürrisch von seiner Zeitung aufblickte. Wenn das meine Pension wäre, würde ich mich ganz anders darum kümmern, dachte sie. Das Haus lag buchstäblich im Dornröschenschlaf und wartete dringend auf jemanden, der es wachküsste. Der Mief der letzten Jahrzehnte und die Lieblosigkeit, mit der die charmanten Räume zugestellt worden waren, ließen kaum erkennen, was für ein Rohdiamant die Unterkunft war. Aber schon freundliches Personal würde das Niveau heben.

„Das habe ich Ihnen doch gesagt, Madame. Nichts. Nothing!“, antwortete der Mann so heftig, dass Kaffee über den Rand seiner Tasse schwappte. Er wischte die braune Flüssigkeit mit dem Ärmel vom Tresen.

Viola fragte sich, ob sie sich wirklich so getäuscht hatte. Aber sie hatte Nicolas doch in der vergangenen Nacht gesehen, hatte gesehen, wie er auf die Pension zugegangen und dann darin verschwunden war.

Vorsichtig hatte sie die schweren Samtvorhänge zur Seite gezogen und auf die schwach beleuchtete Gasse geschaut, als ihr Herz einen Sprung machte. Bei dem Gedanken daran, dass sie ihn sofort in ihr Zimmer gelassen hätte, wenn er geklopft hätte, stieg ihr das Blut in die Wangen. So etwas war bisher nicht mal in ihrer Fantasie vorgekommen. Mit klopfendem Herzen hatte sie an der Tür gewartet, doch als niemand kam, hatte sie wieder aus dem Fenster gestarrt, bis das Licht der letzten Straßenlaterne verlosch.

„Und hat jemand nach mir gefragt?“

„Madame, geht Ihr Flug nicht gleich? Sie sollten sich beeilen. Die Sicherheitskontrollen fressen eine Menge Zeit heutzutage.“

„Also niemand?“

„Nein. Niemand. Soll ich Ihnen ein Taxi zum Flughafen rufen?“

Die gut gelaunten Touristen, die geschichtsträchtigen Hausfassaden, die Sonne, die so anders schien als in ihrer Heimat – all das lenkte sie von Nicolas ab. Na ja, zumindest redete sie sich das ein, als sie das Flughafengebäude erreicht hatte.

Ob sie Nizza je wieder besuchen würde? Es war, als hätte sie einen kurzen Blick auf eine Stadt werfen dürfen, die ihre Sehnsucht weckte, um im nächsten Moment wieder in die triste Wirklichkeit zurückgeworfen zu werden.

Den Griff ihres Vintagekoffers fest umklammert, hielt sie nach Nicolas Ausschau. Vielleicht brachte er ja seine Tante zum Flughafen?

Sei nicht albern, ermahnte sie sich, Nicolas ist nicht hier, und das ist auch besser so. Wahrscheinlich war sie nur gut genug dafür gewesen, seine Mutter zu provozieren. Durch einen Tanz mit dem Pöbel. Aber es war ein wunderbarer Tanz gewesen. Ihr Handy vibrierte in der Tasche ihres Etuikleides. Eine unbekannte Nummer. Ihr Herz klopfte.

„Viola Miller.“

„Guten Morgen, Viola, gut, dass ich dich noch erwische, bevor wir in die Flitterwochen ohne Handyempfang starten.“

Enttäuscht ließ Viola den Koffer sinken und rückte in der Warteschlange weiter vor.

„Guten Morgen, Anna. Ich hoffe, du hast die Feier genau so genossen, wie du es dir gewünscht hast. Es war alles grandios“, antwortete Viola, ohne zu lügen. Es war grandios gewesen, nur dass sie sich dabei schrecklich klein gefühlt hatte.

„Das habe ich. Aber ich habe ein schlechtes Gewissen, weil wir uns in all dem Trubel gar nicht verabschiedet haben. Geht es dir gut?“

„Ja, alles bestens.“

Das war eine Lüge, aber eine nett gemeinte, da sie ihrer Freundin nicht den ersten Tag als Madame Marchant verderben wollte.

„Es war wirklich ein tolles Fest. Und du hattest recht. Der zweite Trauzeuge war … sehr unterhaltsam.“

„Ich wusste, dass ihr euch versteht. Ihr habt einen ähnlichen Humor.“

„Stimmt, er kann durchaus nett sein, wenn er denn Mund hält“, erklärte Viola frech und dachte an den Kuss, bei dem er nichts Falsches gesagt hatte. Aber nur, weil seine vollen Lippen anderweitig beschäftigt waren.

„Haha, das meine ich.“

Wie konnte Viola herausfinden, ob Nicolas Interesse an ihr bekundet hatte? Ohne den Eindruck zu erwecken, sie wäre interessiert? Anna war zwar ihre Freundin, aber sie wollte sich dennoch nicht die Blöße geben.

„Tja, der Mann hat es in sich. Kein Wunder, dass die Frauen hinter ihm her sind“, gestand sie.

„Abgesehen von dir natürlich.“ Klang da ein Hauch Ironie in Annas Stimme mit?

„Natürlich. In die Marchant-Dynastie einzuheiraten wäre Höchststrafe bei dem Drachen von Schwiegermutter!“, antwortete Viola bemüht lustig.

„Ach, ich bekomme den Drachen gezähmt!“ Anna lachte.

„Letzter Aufruf nach London“, ertönte da eine Durchsage aus dem Lautsprecher. Doch Viola brauchte noch eine Info, bevor die einzige Verbindung zu Nicolas in die Flitterwochen verschwand. „Dann hoffe ich, dass es Eva Gabler auch gelingt“, sagte sie und betete gleichzeitig, dass Anna ihr widersprechen würde.

„Mit Sicherheit. Therese ist fest davon überzeugt, dass die beiden die Nacht miteinander verbracht haben!“

5. KAPITEL

Als Viola im Flugzeug saß und ihr Blick auf das graue Rollfeld fiel, konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie hörte überhaupt nicht hin, als die Stewardess die Passagiere begrüßte, und nickte nur, als ihr der Mann neben ihr ein Taschentuch reichte.

Ihre erste Einschätzung war also doch richtig gewesen. Nicolas war ein arroganter Lackaffe. Einer, der meinte, er könne sich nehmen, was er wolle. So wie alle reich geborenen Männer, die glaubten, die Welt liege ihnen zu Füßen.

Nizza wurde immer kleiner, und das Meer vor Violas Augen immer größer. Als verschlucke es alles, was gewesen war. Sie fühlte sich so gedemütigt. Er hatte bemerkt, wie erregt sie gewesen war. Er hatte sie geküsst, um später mit einer anderen Frau ins Bett zu gehen.

Nein, sie hatte ihn zuerst geküsst. Sie schämte sich bei dem Gedanken daran, zu was sie noch bereit gewesen wäre, wenn er sie nicht abgewiesen hätte. Sie hätte mit ihm geschlafen. Sie hätte sich ihm hingegeben, seine nackte Haut so gerne auf ihrer gespürt. Wie mussten seine Hände sie erst an anderen Stellen erregen, wenn die Berührung ihres Rückens sie schon wahnsinnig gemacht hatte?

Sie schluchzte auf.

„Alles in Ordnung?“, fragte ihr Sitznachbar.

Viola schüttelte den Kopf. Nichts war in Ordnung. Noch jetzt begehrte sie diesen Mann, obwohl sie ihn hasste! Für ihn war sie nur ein Spielzeug gewesen. Wahrscheinlich hatte ihn der Gedanke an Eva dazu gebracht, die Finger und Lippen von ihr zu lassen.

Vielleicht fürchtete er auch nur die Paparazzi, die seine Bilderbuchliebe zerstören konnten. Ein Mann, der zwei Frauen am selben Abend küsste, würde von der Presse zerpflückt, auch wenn er der heißeste Typ der Stadt war.

Ihr Sitznachbar reichte ihr seinen Drink, eine Bloody Mary. „Trinken Sie. Er ist noch unberührt.“

Darüber musste Viola lachen, sodass sich ihr Schluchzen mit einem Glucksen verband. Hätte sie gestern nichts getrunken, hätte sie die Kontrolle über sich behalten. Aber jetzt war es sowieso zu spät.

„Danke!“

Mit wenigen Zügen trank sie den scharfen Tomatendrink leer und hoffte, dass er sie alles vergessen lassen würde.

In London war es nicht nur gefühlte zehn Grad kälter, sondern auch zehnmal so nass. Selbst der Boden in der U-Bahn war nass, weil all die grau gekleideten Leute das Wasser aus den Pfützen mit in den Tunnel brachten. Aber der Regen kam Viola sehr recht. So sah niemand, dass ihre Wimperntusche durch ihre Tränen verschmiert war.

Der Moment, in dem sie die Ankunftshalle in Heathrow betrat und anscheinend die Einzige war, die nicht mit einem Herzlich-willkommen-Schild oder einer Umarmung empfangen wurde, hatte sie noch einmal weinen lassen.

Ihr Sitznachbar, der sich bei seiner Frau untergeharkt hatte, winkte ihr zu. „Kopf hoch! Kein Mann ist es wert, dass man seinetwegen weint, solange er nicht gestorben ist.“

Das sollte jetzt ihr Motto sein: Kopf hoch! Und je näher sie ihrer Wohnung kam, desto leichter fiel es ihr. Das bunte Treiben in den Straßen Notting Hills gab auch ihrer Stimmung wieder etwas Farbe. Blumenläden, Vintage-Shops, Cafés begrüßten sie. Als sie die Tür ihres Wohnhauses aufschloss, die breite Altbautreppe hochstieg und schon vor der Wohnungstür den Geruch von Apple Pie wahrnahm, wurde ihr warm ums Herz. Sie war zu Hause. In ihrer gemütlichen Trutzburg, die sie nicht nur vor allen potenziellen Schwiegermütterdrachen bewahrte, sondern auch ein Ruhepol für sie war.

Autor

Lucy Monroe
<p>Die preisgekrönte Bestsellerautorin Lucy Monroe lebt mit unzähligen Haustieren und Kindern (ihren eigenen, denen der Nachbarn und denen ihrer Schwester) an der wundervollen Pazifikküste Nordamerikas. Inspiration für ihre Geschichten bekommt sie von überall, da sie gerne Menschen beobachtet. Das führte sogar so weit, dass sie ihren späteren Ehemann bei ihrem...
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