Romana Extra Band 80

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LIEBESERWACHEN IN CORNWALL von TAYLOR, ANNE
Den attraktiven Bestsellerautor Andrew Pritchard umgibt ein Geheimnis. Was geschah mit seiner Frau, die spurlos verschwand? Journalistin Ally wittert eine Story und schleust sich auf Pritchards Landsitz in Cornwall ein. Als sie sich in ihn verliebt, stürzt sie in einen Konflikt …

DAS RÄTSEL DES HERRENHAUSES von DOUGLAS, MICHELLE
Rick braucht die schöne Nell, um das Rätsel seiner Herkunft zu lösen, und sie braucht ihn, um ihr Erbe, ein Herrenhaus, zu renovieren. Doch auch, wenn beide sich näherkommen und es sinnlich knistert, fürchtet Rick: Mit seinem Bad-Boy-Image kann er niemals gut genug sein für Nell …

IN SPANIEN KAM DIE LIEBE von MCMAHON, BARBARA
Stacey liebt Reisen und Kinder. Da kommt das Angebot des verwitweten Spaniers Luis Aldivista, sich als Nanny um seine Zwillinge zu kümmern, wie gerufen. Aber am sonnigen Mittelmeer hat Stacey plötzlich ein Problem: Sie liebt Reisen, Kinder - und den Daddy ihrer Schützlinge …

WEITES LAND, WEITES HERZ von MACKENZIE, MYRNA
Schockiert erfährt der Chicagoer Millionär Dillon Farraday, dass er ein Baby hat. Es ist in der Obhut von Rancherin Colleen. Während sie ihm alles Nötige beibringt, wächst ihm nicht nur das Baby immer mehr ans Herz … Aber Vorsicht: Ihre Welten sind auf Dauer zu verschieden! Was nun?


  • Erscheinungstag 16.04.2019
  • Bandnummer 0080
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744786
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Anne Taylor, Michelle Douglas, Barbara McMahon, Myrna Mackenzie

ROMANA EXTRA BAND 80

ANNE TAYLOR

Liebeserwachen in Cornwall

Die junge Ally, die als Nanny seiner Tochter jobbt, weckt zärtliche Sehnsucht in Andrew Pritchard. Vorsichtig lässt er sich auf eine Romanze ein – bis er schockiert entdeckt, dass Ally ihn hintergeht!

MICHELLE DOUGLAS

Das Rätsel des Herrenhauses

Nell hat schon genug Ärger damit, sich um den Erhalt von Whittaker House zu kümmern. Da braucht sie nicht noch eine Liebesaffäre mit einem Bad Boy wie Rick! Doch er ist einfach unwiderstehlich …

BARBARA MCMAHON

In Spanien kam die Liebe

Wenn Stacey lacht, geht die Sonne auf. Das finden nicht nur die süßen Zwillinge, sondern auch ihr Daddy! Kann Luis die bezaubernde Nanny überzeugen, dass sie für immer bei ihnen in Spanien bleibt?

MYRNA MACKENZIE

Weites Land, weites Herz

Kaum gesteht Colleen sich ein, dass sie sich ungewollt in Dillon verliebt hat, taucht seine Ex-Frau plötzlich wieder auf. Bangen Herzens fragt Colleen sich: Wird ihr Traummann sich für sie entscheiden?

1. KAPITEL

„He Ally, rate mal, was ich eben erfahren habe!“

Vivien St. Clair beugte sich so tief über den Schreibtisch ihrer Kollegin, dass ihre rotblonde Mähne die gesamte Computertastatur bedeckte. Irritiert unterbrach Ally Thompson ihre Arbeit an dem Presseartikel, den sie gerade schrieb. Ihr blondes Haar war wie üblich zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden. Dazu trug sie eine hochgeschlossene blütenweiße Bluse, während Viviens tief ausgeschnittenes Shirt mehr erkennen ließ, als angemessen war.

Es war ein eher ruhiger Spätnachmittag in der Redaktion des „Daily Explorer“, einer angesehenen Londoner Tageszeitung. Ende September war immer, was die Gesellschaftsnachrichten betraf, Saure-Gurken-Zeit. Die aufregenden Events des Sommers waren vorbei, und die Ballsaison, die neuen Klatsch und Tratsch versprach, hatte noch nicht begonnen. Trotzdem herrschte hektische Betriebsamkeit. In wenigen Minuten war Redaktionsschluss für die Abendausgabe, und jeder der Mitarbeiter wollte unbedingt seinen Beitrag fertigstellen, um in der Zeitung vertreten zu sein.

Ally war mit einem Bericht über ein Veteranentreffen beschäftigt. Das war nicht unbedingt ein Thema, das sie interessierte, aber es war die Arbeit, die ihr Redakteur ihr zugeteilt hatte, und es füllte die Kasse. Zumindest einigermaßen.

„Du weißt, dass ich nicht gut im Raten bin“, erwiderte sie auf Viviens Frage barscher als beabsichtigt. Aber sie war nicht allzu sehr an Redaktionstratsch interessiert. Wer mit wem und wann und wie oft war ihr ziemlich egal. Sie war hier, um zu arbeiten und hoffentlich bald Karriere zu machen.

„Andrew Pritchard sucht ein Kindermädchen!“, rief Vivien triumphierend.

Überrascht schaute Ally sie an. Andrew Pritchard suchte ein Kindermädchen? Sie überlegte. Natürlich, die Tochter des bekannten Bestsellerautors musste mittlerweile sechs oder sieben Jahre alt sein! „Woher weißt du das?“

„Sandra Beecher aus der Gesellschaftsredaktion hat es mir eben erzählt. Einer ihrer Kontakte bei Richard’s, der Personalvermittlungsagentur, hat es ihr verraten! Richard’s wurde beauftragt, eine geeignete Betreuerin zu finden. Ob sich für diesen Job jemand bewerben wird, wage ich allerdings zu bezweifeln!“ Vivien schüttelte sich, sodass ihre roten Locken durcheinanderwirbelten. „Wer will schon in so ein Gruselhaus? Ich jedenfalls nicht!“

Ally kaute nachdenklich an ihrem Stift. „Wer weiß“, murmelte sie. „Du musst zugeben, das ist doch eine ziemlich mysteriöse Geschichte!“

„Was soll daran mysteriös sein?“, fragte Vivien. „Der Typ hat seine Frau umgebracht. Das würde ich eher beunruhigend nennen. Gelinde gesagt.“

„Ob Andrew Pritchard mit dem Verschwinden seiner Frau etwas zu tun hatte, wurde nie bewiesen“, entgegnete Ally. Ihr Vater hatte ihr von klein auf eingebläut, sich immer nur an die Fakten zu halten. Keine Mutmaßungen oder Spekulationen!

„Ja, aber das ist doch nicht normal!“, widersprach Vivien. „Kein Mensch hat sie mehr gesehen seit – wie lange ist das jetzt schon her?“

„Fünf oder sechs Jahre.“

„Eben! Das ist doch nicht normal. Und Pritchard ist es vermutlich auch nicht. Sieh dir doch nur seine Bücher an. Eines blutiger als das andere. Und immer geht es um irgendwelche Psychopathen, die junge Frauen abmurksen. Da braucht man wirklich nicht viel Fantasie, um zwei und zwei zusammenzuzählen!“

Als Ally in der Redaktion des „Daily Explorer“ als Journalistin zu arbeiten begonnen hatte, hatte das Verschwinden von Elaine Pritchard sämtliche Schlagzeilen beherrscht. Die Ehefrau des Schriftstellers und Bestsellerautors Andrew Pritchard war unter mysteriösen Umständen verschwunden und seither nicht wieder aufgetaucht.

Nachdenklich starrte Ally vor sich hin. Sie hatte sich selbst immer wieder mit diesem Fall auseinandergesetzt. Natürlich wäre es eine Riesenstory, Näheres über diesen Fall herauszufinden. Eine Story, die für einen Journalisten den Durchbruch bedeuten konnte. Was wäre also, wenn …

„Na, Ally, brütest du wieder über deiner großen Story?“, ertönte plötzlich eine gehässige Stimme an ihrer Seite. Irritiert blickte Ally auf. Doug Read, natürlich! Der Kollege aus der Nachrichtenredaktion hatte sich mit einer Tasse Kaffee in der Hand vor ihrem Schreibtisch aufgebaut und funkelte sie feindselig an. „Mit dieser Pritchard-Sache wirst du nicht weit kommen, lass dir das von einem erfahrenen Journalisten gesagt sein. Das ist Schnee von gestern! Du willst doch nicht so enden wie dein Vater, oder?“

Wenn auch die Bemerkung über ihren Vater sie getroffen hatte, ließ Ally sich nichts davon anmerken. Angriffslustig funkelte sie zurück. Erfahrener Journalist, pah! Doug war vielleicht zwei Jahre älter als sie, und das, was er in der Redaktion des „Daily Explorer“ hauptsächlich bearbeitete, waren lediglich Verkehrsmeldungen und Stauwarnungen. Trotzdem fühlte Doug sich bemüßigt, alle Kollegen zu belehren und immer und überall seinen Senf dazuzugeben.

Außerdem traute Ally ihm nicht über den Weg. Doug war skrupellos ehrgeizig und würde nicht davor zurückschrecken, einem Kollegen eine gute Story vor der Nase wegzuschnappen. Deshalb bemühte sie sich, ihren Ärger so gut es ging hinunterzuschlucken.

„Na und?“, meinte sie betont gleichmütig. „Jeder hat eben sein kleines Steckenpferd.“

„Und, Doug“, mischte Vivien sich mit anzüglicher Stimme ein, „wo staut es sich diesmal?“

Doug warf ihr einen bösen Blick zu und rauschte ab. Ally und Vivien kicherten. Dann wurde Vivien wieder ernst. „Ich fürchte nur, Doug hat dieses Mal leider recht. Das ist jetzt so lange her, und da selbst die Polizei keine Hinweise gefunden hat …“

„Ich weiß ja“, erwiderte Ally. „Aber es wäre eine wirklich gute Story, das musst du zugeben!“

Der Chefredakteur des „Daily Explorer“, Evan Moore, trat aus seinem Büro. „Redaktionsschluss in zehn Minuten!“, verkündete er. „Ich habe noch zehn Zeilen auf der Titelseite frei. Wer hat was für mich?“

Ally widerstand dem Impuls, sich zu melden. Mit ihren Veteranen konnte sie Evan wohl kaum beeindrucken. Doug Reads Hand schoss hoch. „Auf der A4 war heute Morgen ein Auffahrunfall mit zwei Verletzten …“

„Gekauft!“, unterbrach der Chefredakteur ihn knapp, drehte sich um und ging zurück in sein Büro. Allys Finger krampften sich um ihren Stift. Irgendwann! Irgendwann würde etwas von ihr auf der Titelseite stehen. Und nicht nur mit zehn Zeilen!

Den ganzen Abend grübelte Ally über das Gespräch mit Vivien nach. Egal, was Vivien oder Doug sagten, aber Andrew Pritchard war immer für eine Schlagzeile gut! Langsam nahm eine Idee in ihrem Kopf Gestalt an. Was wäre, wenn sie sich für die Stelle als Kindermädchen bei dem Schriftsteller bewerben würde?

Aufgrund ihrer Recherchen wusste sie, dass Pritchard seit dem Verschwinden seiner Frau völlig zurückgezogen lebte. Zu den Bewohnern von Grand Manor, einer kleinen Gemeinde in Cornwall, zu der sein Anwesen zählte, hatte er so gut wie keinen Kontakt. Und Interviews hatte er schon seit Jahren nicht mehr gegeben. Wenn es ihr gelingen würde, in seinem Haus aufgenommen zu werden, könnte sie zumindest aus erster Hand darüber berichten, wie der geheimnisumwitterte Schriftsteller heute lebte und wie er mit seinem Schicksal umging. Und vielleicht …

… vielleicht konnte sie ja auch das Rätsel um Elaine Pritchards Verschwinden lösen! Dann wäre ihre Karriere endlich auf Schiene!

Seit fast fünf Jahren arbeitete sie schon beim „Daily Explorer“, doch bisher hatte sich ihre Tätigkeit darauf beschränkt, Artikel für die Gesellschaftsseite zu schreiben, hin und wieder von einem Unfall oder mit etwas Glück von einem Großbrand zu berichten, oder langweilige Parlamentsdebatten zu verfolgen. Der große Durchbruch war ihr noch nicht gelungen. Obwohl sie arbeitete wie ein Tier, schien Evan Moore kein Vertrauen in ihre Fähigkeiten zu haben.

Dabei hatte Ally schon als Kind davon geträumt, Journalistin zu werden. So wie ihr Vater, der einer der besten investigativen Journalisten des Landes gewesen war. Der Gedanke an Nick Thompson entlockte Ally ein Seufzen. Sie würde ihn wieder einmal besuchen müssen. Zu lange schon hatte sie es vor sich hergeschoben. Aber im Augenblick hatte sie Wichtigeres zu tun.

Ally überlegte. Natürlich wusste sie, dass Richard’s eine der renommiertesten Personalvermittlungsagenturen in ganz England war. Sogar das Königshaus griff angeblich auf Dienste dieses Unternehmens zurück. Man würde Referenzen von ihr verlangen, wenn sie sich um den Job bewarb. Schließlich konnte Richard’s es sich nicht leisten, eine Person ohne jegliche Erfahrung zu empfehlen.

Nun, während ihrer Zeit auf dem College hatte sie ein Praktikum in einem Kindergarten absolviert. Das Zeugnis davon musste sich noch irgendwo in einer Schublade befinden. Zusammen mit einem guten Empfehlungsschreiben sollte es genügen, sie für die Stelle qualifiziert erscheinen zu lassen. Und wo sie dieses Empfehlungsschreiben herbekommen würde, wusste Ally ebenfalls schon!

Lady Susan Densmore war die Gattin von Lord Archibald Densmore, Mitglied des britischen Oberhauses und einer der reichsten Männer des Landes. Und zu Allys Glück war sie eine Jugendfreundin ihrer Mutter und der Familie seit vielen Jahren verbunden.

Die Bekanntschaft mit ihr hatte sich für Ally schon des Öfteren als sehr nützlich erwiesen. Lady Susan war üblicherweise über alles, was sich bei den Reichen und Schönen des Landes so tat, bestens informiert. Von ihr hatte Ally schon den einen oder anderen heißen Tipp erhalten. Vielleicht konnte sie ihr auch diesmal behilflich sein. Also machte Ally ihr gleich am nächsten Morgen ihre Aufwartung.

Lady Susan konnte normalerweise so gut wie nichts aus der Ruhe bringen. Dass Ally ein Empfehlungsschreiben als Kindermädchen benötigte, erstaunte sie aber doch. „Hast du vor, deine Stelle bei diesem Revolverblatt endlich aufzugeben? Ich gebe ja zu, dass ich früher gerne mal einen Blick hineingeworfen habe, aber dass mein Kleid zur Eröffnung der letztjährigen Opernsaison derart verrissen wurde, habe ich nicht nett gefunden …“

„Es ist – für eine Story, die ich gerade recherchiere“, erklärte Ally ausweichend. Dass es sich um Andrew Pritchard handelte, wollte sie lieber nicht verraten. Lady Susan war nicht nur immer bestens informiert, sondern liebte es auch, selbst zu tratschen. Und eine Indiskretion konnte Ally sich bei dieser Sache nicht leisten. „Auf die Artikel meiner Kollegen habe ich leider keinen Einfluss.“

„Naja, vielleicht war das Kleid wirklich nicht sehr glücklich gewählt“, gab Lady Susan gutmütig zu. „Aber du erzählst mir später alles über deine neue Story. Ich bin ja so neugierig. Es gab in London schon lange keinen guten Skandal mehr!“

Lady Densmores Empfehlungsschreiben ließ Ally als zweite Mary Poppins erscheinen: ein Kindermädchen ohne Fehl und Tadel, das alle Aufgaben zur vollsten Zufriedenheit erledigt hatte. Dass die angeblich betreuten Söhne Nicholas und Jeffrey bereits über zwanzig Jahre alt waren, würde hoffentlich niemandem auffallen.

So ausgerüstet wandte Ally sich an die Personalagentur.

„Ich muss gestehen, dass es bisher nur eine Interessentin für die Stelle gab“, erklärte die streng wirkende Dame bei Richard’s, die sie zum Bewerbungsgespräch empfing. Sie warf Ally einen kritischen Blick über die Ränder ihrer Lesebrille zu. „Allerdings war die andere Bewerberin schon über siebzig und schien mir nicht ganz die Richtige zu sein, um ein sechsjähriges Kind zu betreuen. Es handelt sich bei unserem Auftraggeber um Andrew Pritchard, den bekannten Schriftsteller. Ich nehme an, Sie haben schon von ihm gehört?“

„Pritchard?“ Ally machte ein unschuldiges Gesicht. „Oh ja, er soll ja sehr berühmt sein.“

„Da Mr. Pritchard dringend ein neues Kindermädchen benötigt, wäre es erforderlich, dass Sie umgehend auf Manor Hall in Cornwall vorsprechen. Sie werden dort eine zweiwöchige Probezeit absolvieren. Erst dann wird Mr. Pritchard eine endgültige Entscheidung treffen.“

Ally bemühte sich, ihre Nervosität zu verbergen. „Selbstverständlich. Ich würde mich sehr freuen, für ihn arbeiten zu dürfen. Und Cornwall soll eine wunderschöne Gegend sein!“

„Nun, wir werden sehen.“ Ihr Gegenüber schien nicht vollkommen zufrieden mit Allys Bewerbung zu sein, konnte sie aber angesichts fehlender Alternativen nicht abweisen. „Ich werde Mr. Pritchard über Ihr Kommen in Kenntnis setzen. Hier sind Ihre Unterlagen. Dass Ihre Stellung absoluter Diskretion unterliegt, brauche ich wohl nicht zu betonen?“

„Natürlich.“ Unterwürfig nahm Ally die Karte mit Andrew Pritchards Adresse und ein Schreiben der Agentur entgegen. Innerlich jubilierte sie. Das klappte ja wie am Schnürchen!

Nachdenklich stand Andrew Pritchard am Fenster seines Arbeitszimmers im zweiten Stock des alten Herrenhauses und starrte hinaus auf den Park. Ein Mädchen in einer roten Jacke und in pinkfarbenen Gummistiefeln tobte über den Rasen. Immer wieder warf die Kleine für den riesigen Neufundländer einen alten Tennisball, den der Hund unermüdlich apportierte.

Andrews Gesichtszüge wurden weich, als er seine Tochter betrachtete. Lily! Er erinnerte sich an die Worte, die er in jener Nacht vor so vielen Jahren in ihr Ohr geflüstert hatte: „Ich bin bei dir, Lily! Und ich werde dich niemals im Stich lassen, das verspreche ich dir!“

Wie sollte er ihr das, was geschehen war, jemals erklären?

Wie konnte er sich vor ihr rechtfertigen?

Und wie sollte er mit den gezielten Fragen umgehen, die unweigerlich auftauchten, je älter sie wurde?

Andrew seufzte. Die Vergangenheit lastete wie ein dunkler Schatten auf seinem Leben und ließ sich einfach nicht abschütteln. Trotz seiner achtunddreißig Jahre fühlte er sich wie ein alter Mann, für den es keine Aussicht mehr auf ein glückliches Leben gab. Wie hatte das alles nur geschehen können?

Er wandte sich vom Fenster ab, als sein Handy klingelte. Zögernd griff er nach dem Gerät. Fast erwartete er, Genevieves Namen auf dem Display zu sehen, doch es war sein Verleger Roger Millard. Besser, aber auch nicht gut.

Das nächste Problem, das auf ihn wartete!

„Pritchard“, meldete er sich ein wenig steif.

„Andrew! Wie geht es dir? Ich habe lange nichts von dir gehört!“ Roger bemühte sich, einen unbekümmerten Tonfall anzuschlagen, aber natürlich wusste Andrew, dass dies kein Höflichkeitsanruf war.

„Ich arbeite“, erwiderte er barsch. „Das wird doch von mir erwartet.“

„Wir alle warten schon gespannt auf dein nächstes Buch“, bemühte sein Verleger sich, ihn zu beschwichtigen. Trotzdem wurde sein Tonfall etwas schneidender. „Du weißt, dass der Abgabetermin längst fällig war, Andrew. Ich verstehe ja …“

Gar nichts verstehst du! wollte Andrew ihn anherrschen, aber er verkniff sich die Bemerkung. Natürlich machte Roger sich Sorgen. Er hatte viel Geld in ihn investiert, da durfte er erwarten, dass Andrew seinen Verpflichtungen nachkam. „Ich tue mein Möglichstes“, erklärte er. „Leider komme ich im Moment nicht so voran, wie ich es gerne hätte. Aber ich kann dir versprechen, dass das Buch rechtzeitig fertig sein wird.“

„Der Erscheinungstermin ist für Weihnachten vorgesehen“, erinnerte sein Verleger ihn. „Wenn wir ihn halten wollen, brauche ich das Manuskript in zwei Wochen. Wir müssen dann die Werbekampagne abstimmen, Lesungen organisieren, den Buchtrailer in den sozialen Medien platzieren …“

„Ich weiß selbst, was noch zu tun ist“, gab Andrew gereizt zurück. „Ich bin lange genug in diesem Geschäft. Und du konntest dich bisher immer auf mich verlassen!“

„Das weiß ich ja, Andrew“, gab Roger Millard zurück. Trotzdem klang seine Stimme zweifelnd. „Ich wollte nur sichergehen …“

„Du hörst in zwei Wochen von mir“, unterbrach Andrew ihn und legte auf. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und vergrub sein Gesicht in den Händen. Aus dem Park drang Lilys Lachen zu ihm herauf. Andrew atmete tief durch. Er musste diesen Roman endlich fertig schreiben. Sein Verleger wartete darauf. Die ganze Welt wartete darauf. Und er brauchte die Einnahmen, wenn er seinen Lebensstil aufrechterhalten und Lily weiterhin ein sorgenfreies Leben bieten wollte. Alles, was zählte, war Lilys Wohlergehen.

Aber es wollte ihm einfach nichts einfallen. Dabei hatte es ihm früher nie etwas ausgemacht, unter Druck zu arbeiten. Ganz im Gegenteil: Er hatte es genossen, sich nächtelang in seinem Arbeitszimmer einzuschließen. Wie im Rausch waren seine Finger über die Tasten des Computers geflogen. Während ihn jetzt der leere Bildschirm anklagend anstarrte und darauf wartete, von ihm mit Worten gefüllt zu werden.

Aber früher war so vieles anders gewesen.

Alles.

2. KAPITEL

Ally nahm sich unbezahlten Urlaub, vorgeblich zu privaten Zwecken. Dass jeder in der Redaktion sofort Probleme mit ihrem Vater dahinter vermutete, musste sie wohl oder übel in Kauf nehmen. Ihrem Boss gegenüber deutete sie etwas von einer Recherche für einen umfangreichen Artikel an, hielt sich aber über den Inhalt bedeckt. Sie wollte nicht zu viel von ihrem Plan preisgeben. Sollte sie scheitern und nichts herausfinden, brauchte niemand etwas davon zu erfahren. Sie kannte die Häme ihrer Kollegen nur zu gut. Doug Read war ein leuchtendes Beispiel dafür.

Nur ihrer Freundin Vivien vertraute sie an, was sie vorhatte. Als sie bei einem Latte Macchiato in ihrem Lieblingscafé saßen, erzählte sie von ihrer erfolgreichen Bewerbung bei Richard’s. Vivien war begeistert.

„Wie aufregend! Andrew Pritchard! Ich bin gespannt, was du herausfinden wirst!“ Seufzend schüttelte sie ihre roten Locken. „Ach, wenn doch Adrian Turner auch ein Kindermädchen suchen würde! Da wäre ich sofort dabei. Aber dafür müsste er erst einmal Kinder haben!“

Adrian Turner war ein erfolgreicher Rockmusiker, der, wie Ally zugeben musste, einfach umwerfend aussah. Er war Viviens großer Schwarm. Deshalb lag sie ihrem Boss seit einem halben Jahr in den Ohren, sie in die Musikredaktion zu versetzen, damit sie ein Interview mit Adrian Turner führen konnte. Aber leider hatte Evan Moore keinerlei Verständnis für ihren Wunsch.

Die beiden Freundinnen lachten verschwörerisch, dann wurde Vivien unvermittelt ernst. „Aber sei bitte vorsichtig, Ally! Wenn Andrew Pritchard wirklich etwas mit dem Verschwinden seiner Frau zu tun hat, ist nicht mit ihm zu spaßen. Versprich mir, dass du mich auf dem Laufenden hältst! Bitte melde dich regelmäßig per E-Mail. Sonst mobilisiere ich die Royal Air Force, um dich da rauszuholen!“

Ally nickte amüsiert. „Einverstanden! Du kannst dich auf mich verlassen. Und ich verlasse mich darauf, dass du niemandem etwas davon erzählst. Das ist meine Story!“

Vivien hob die rechte Hand. „Großes Indianerehrenwort! Ich schweige wie ein Grab!“

Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte Ally sich wieder entspannt und zuversichtlich. Endlich war eine große Story zum Greifen nahe! Damit hatte sie die Chance, allen zu beweisen, was für eine erstklassige Journalistin sie war. Aber Vivien hatte recht. Die Sache war nicht so harmlos, wie es schien! Sie musste vorsichtig sein und äußerst diskret vorgehen.

Nachdem Ally für den nächsten Tag eine Bahnverbindung herausgesucht und ihren Koffer gepackt hatte, musste sie bei ihrem Vater nach dem Rechten sehen. Eine Aufgabe, die sie schon viel zu lange vor sich hergeschoben hatte. Mit dem Taxi fuhr sie zu dem schäbigen Mietshaus in East Croydon, in dem ihr Vater lebte.

Als niemand auf ihr Klingeln reagierte, öffnete Ally mit ihrem Nachschlüssel die Tür. Die Wohnung war dunkel, sämtliche Vorhänge waren zugezogen. Die Luft war stickig und roch süßlich. Entschlossen schob Ally den Vorhang im Wohnzimmer zurück und öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Der Raum war unaufgeräumt wie immer. Schmutzige Teller stapelten sich auf dem Couchtisch, der Aschenbecher quoll über von achtlos ausgedrückten Zigarettenstummeln und hinter den Sofakissen versteckten sich die unvermeidlichen Gin-Flaschen. Leer, natürlich.

Nachdem Ally notdürftig Ordnung gemacht hatte, öffnete sie die Tür zum Schlafzimmer. „Dad?“

Ihr Vater lag vollständig bekleidet auf dem Bett. Obwohl Ally sich keine Mühe gemacht hatte, leise zu sein, schlief er tief und fest. Sein röchelndes Schnarchen erfüllte den Raum. Seufzend rüttelte Ally ihn an der Schulter. „Dad, wach auf! Es ist fast Mittag. Zeit, aufzustehen!“

Aber ihr Vater brummte nur etwas Unverständliches und drehte sich auf die andere Seite. Unschlüssig stand Ally vor seinem Bett. Was sollte sie nur mit ihm tun? Sie hatte alles Menschenmögliche versucht, um ihn aus seiner Lethargie zu reißen. Aber ihr Vater hatte das verloren, was man Lebensmut nennt. Und der Alkohol tat leider das Übrige.

Ally versuchte, sich den Mann ins Gedächtnis zu rufen, der ihr Vater noch vor wenigen Jahren gewesen war. Immer aktiv, immer unter Strom! Ein Journalist aus Leidenschaft! Doch dann hatte er über die angebliche Affäre eines prominenten Politikers mit einer verheirateten Frau berichtet. Als sich die Story im Nachhinein als falsch erwies, verlor ihr Vater nicht nur seinen Job, die Frau beging aufgrund von bedrängenden Nachstellungen der Boulevardpresse auch noch Selbstmord.

Seit diesem Tag war Nick Thompson nie wieder derselbe gewesen. Er hatte zu trinken begonnen, ließ sich gehen. Dass ihre Mutter ihn daraufhin verließ, konnte Ally ihr nicht übelnehmen. Ally kümmerte sich um ihn, so gut es ging. Aber sie hatte sich geschworen, nie so zu enden wie er: frustriert, enttäuscht und verbittert. Sie würde bestimmt nicht dieselben Fehler machen!

„Ich habe dir was zu essen mitgebracht! Chop Suey vom Chinesen. Außerdem habe ich den Kühlschrank aufgefüllt. Ich muss für ein paar Tage weg.“

Diese Ankündigung weckte zumindest ein paar von Nick Thompsons Lebensgeistern. Er blinzelte zu ihr hoch. „Bist du hinter einer Story her? Sei bloß vorsichtig, Ally! Man kann niemandem trauen! Vergiss das nie!“

Hustend brach er ab. „Ich weiß, Dad“, murmelte Ally mechanisch. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie oft sie diese Warnung schon gehört hatte. Etwa tausend Mal? „Ich passe schon auf, mach dir keine Sorgen.“

Wieder hustete ihr Vater. Er sollte ins Krankenhaus, sagte Ally sich. Er brauchte dringend medizinische Betreuung und Pflege, wenn er wieder auf die Beine kommen wollte. Aber all das kostete Geld. Geld, das sie nicht hatte. Das, was sie im Moment beim „Daily Explorer“ verdiente, deckte gerade einmal ihre Grundbedürfnisse. Ally seufzte. Noch ein Grund, weshalb sie diese Pritchard-Sache erfolgreich durchziehen musste!

Zwei Stunden später saß sie im Zug Richtung Cornwall. Die Ortschaft Grand Manor lag im äußersten Zipfel des Landes, in der Nähe von Penzance. Dabei musste Ally unwillkürlich an „Die Piraten von Penzance“ denken, jene Operette des britischen Komponisten-Duos Gilbert und Sullivan, die sie einmal in der Schule aufgeführt hatten. Sie hatte die Mabel gespielt, eine etwas naive junge Frau, die sich dem Möchtegern-Piraten Frederic anschließt, teils aus Liebe und teils aus purer Abenteuerlust. Das mit der Abenteuerlust konnte Ally verstehen. Aber aus Liebe alles hinter sich zu lassen? Sein ganzes Leben auf den Kopf zu stellen? Das war für sie nur schwer nachvollziehbar.

Ihr ganzes Leben lang war Ally mehr oder weniger auf sich allein gestellt gewesen. Ihre Mutter hatte als Kunstrestaurateurin oft Reisen unternehmen müssen, ihr Vater ging ganz in seinem Journalisten-Job auf. Ally hatte ein Internat besucht, musste früh lernen, sich um sich selbst zu kümmern. Nach der Scheidung vor vier Jahren war ihre Mutter mit einem neuen Partner nach Australien gezogen, sodass Ally nur sehr spärlichen Kontakt zu ihr hatte.

Sie sagte sich, dass ihr das nichts ausmachte. Sie kam sehr gut allein zurecht, hatte sich in den letzten Jahren nur auf ihre Arbeit und Karriere konzentriert. Für einen Mann war nie Platz gewesen, von ein paar unverbindlichen One-Night-Stands abgesehen. Aber für eine dauerhafte Beziehung fehlte Ally das Vertrauen zu anderen Menschen. Sie hatte mit ansehen müssen, wie die Ehe ihrer Eltern in die Brüche gegangen war. Das wollte sie nicht noch einmal erleben.

Nachdenklich starrte sie aus dem Zugfenster auf die grüne Landschaft Südenglands. Sie rief sich noch einmal die Einzelheiten des Falles Pritchard ins Gedächtnis. Andrew Pritchard war der Autor zahlreicher ziemlich blutiger Psychothriller, mit denen er regelmäßig die Bestsellerlisten anführte. Seinen literarischen Durchbruch hatte er bereits mit knapp dreißig Jahren mit dem Thriller „Die Tür“ gehabt. In dem Roman ging es um einen Psychopathen, der jahrelang eine Frau in einem Zimmer seines Hauses eingesperrt hielt.

Pritchard und seine Frau waren daraufhin gerngesehene Gäste der Londoner High Society gewesen, bis sie nach der Geburt ihrer Tochter überraschend nach Cornwall gezogen waren und dort auf dem alten Landsitz der Familie Pritchard lebten. Von da an war Pritchard kaum noch in der Öffentlichkeit aufgetreten, Gerüchte über eine Ehekrise machten die Runde.

Bis vor etwa fünf Jahren die Nachricht durch die Medien geisterte, Elaine Pritchard wäre verschwunden. Keiner hatte sie seit Längerem mehr gesehen oder von ihr gehört. Es dauerte geraume Zeit, bis Andrew Pritchard sich zu dem Vorfall äußerte, obwohl die Gerüchteküche heißlief. Die Zeitungen ergingen sich in den wildesten Spekulationen. War Elaine mit einem Liebhaber durchgebrannt? Zeugen wollten sie angeblich irgendwo in Nizza oder auf Bali gesehen haben, aber Beweise gab es dafür keine. Irgendwann kam der Verdacht auf, dass Andrew Pritchard etwas mit dem Verschwinden seiner Frau zu tun hatte. Und zwar gewaltsam.

Pritchard ließ schließlich von seinem Agenten ein Statement verbreiten, in dem es hieß, Elaine hätte „sich entschlossen, ihren Weg in Zukunft alleine zu gehen.“ Trotzdem wollten die Gerüchte nicht verstummen, und der nachfolgende Roman von Andrew Pritchard verkaufte sich wohl auch deshalb so gut, weil jeder Leser herauszufinden versuchte, ob sich im Text vielleicht irgendein Hinweis auf Elaines Schicksal fand. Soweit Ally sich erinnerte, hatte Pritchard seitdem nur noch ein weiteres Buch auf den Markt gebracht.

Ally wickelte eine Strähne ihres blonden Pferdeschwanzes um den Finger, wie sie es immer tat, wenn sie nervös oder angespannt war. Natürlich hatte sie Andrew Pritchards Bestseller „Die Tür“ gelesen und äußerst beunruhigend und verstörend gefunden. Was mochte sie am Ende ihrer Reise wohl erwarten?

Es war schon dunkel, als Ally endlich in Grand Manor ankam. Der kleine verschlafene Ort lag inmitten einer üppigen grünen Hügellandschaft. Für den letzten Abschnitt ihrer Reise nahm sie am Bahnhof ein Taxi, das sie zu Pritchards Anwesen bringen sollte. Manor Hall befand sich etwa fünf Meilen außerhalb der Ortschaft.

„Da wohnt doch dieser Schriftsteller“, sagte der junge Taxifahrer, als sie ihr Ziel nannte. „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich schon mal jemanden dorthin gebracht habe. Mit Ausnahme der Tante natürlich!“

„Welche Tante?“, fragte Ally neugierig. Von einer Tante hatte sie noch nie gehört!

„Ich nehme an, die Frau, die hin und wieder zu Besuch kommt, ist die Tante. Sie bleibt meistens nur einen Tag, und dann fährt sie wieder. Französin, nach dem Akzent zu schließen.“

Ally überlegte. Elaine Pritchard war Französin. Gut möglich, dass sie eine Schwester hatte. Das musste sie unbedingt überprüfen. Vielleicht gab es hier eine neue Spur zu der Verschwundenen. „Und was macht diese Tante hier?“

Der Taxifahrer zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Aber sie ist ein ziemlicher Drachen, wenn Sie mich fragen. Sehr arrogant. Und Trinkgeld gibt sie auch nicht!“

„Und Mr. Pritchard? Was erzählt man sich über ihn?“, bohrte Ally weiter.

„Na, das Übliche“, erwiderte der Taxifahrer ungerührt. „Er hat seine Frau umgebracht, aber die Polizei kann ihm nichts beweisen.“ Der Mann schüttelte den Kopf. „Manche können sich eben alles leisten. Typisch!“

Fröstelnd ließ Ally sich in den Sitz zurücksinken. Und die Kälte, die sie spürte, kam nicht nur von der kühlen Nachtluft, die um diese Jahreszeit herrschte. Zweifel machten sich in ihr breit. War es wirklich eine gute Idee gewesen, hierher zu kommen? Was hoffte sie denn, zu entdecken? Elaine Pritchards Leiche im Keller? Oder die Hausherrin eingesperrt auf dem Dachboden, so wie die Protagonistin in „Die Tür“? Wenn Andrew Pritchard seine Frau tatsächlich ermordet hatte, wie alle hier zu glauben schienen, dann würde er Ally wohl kaum davonkommen lassen, sollte sie sein Geheimnis aufdecken!

Hastig tippte sie eine Nachricht in ihr Handy. Eine E-Mail an Vivien. „Bin gut angekommen. Melde mich morgen wieder.“

Das Taxi erreichte schließlich sein Ziel. Manor Hall war ein mächtiges altes Herrenhaus, aus grauem Stein gemauert, mit Erkern und Türmchen wie aus einem viktorianischen Schauerroman. Auch wenn man um diese Tageszeit nicht mehr viel davon erkennen konnte, als sie die breite Kiesauffahrt hinauffuhren und vor dem beleuchteten Eingang hielten. Aber Ally hatte Fotos von dem Anwesen in verschiedenen Zeitschriften gesehen. Der Besitz umfasste einen weitläufigen Park mit alten Bäumen und einem wundervollen Rosengarten. Auf den Bildern sah alles eigentlich sehr hübsch aus.

Im Dunkel dieser nasskalten Nacht wirkte es allerdings alles andere als einladend. Ally bezahlte den Taxifahrer und läutete an der Tür. Nach kurzer Zeit wurde ihr von einer rundlichen älteren Frau in einer gestärkten weißen Schürze geöffnet.

„Miss Thompson? Wie schön, dass Sie da sind. Mein Name ist Martha Watkins. Ich bin Mr. Pritchards Haushälterin. Bitte, kommen Sie doch herein! Sie müssen ja halb erfroren sein!“

Ally trat in eine freundlich wirkende, hell erleuchtete Halle mit viel altem Holz und einer breiten, geschwungenen Treppe, die ins Obergeschoss führte. Mehrere Türen öffneten zu den angrenzenden Räumen. Hinter einer davon konnte Ally ein anheimelndes Kaminfeuer erkennen.

„Mr. Pritchard hat mich angewiesen, Ihnen Ihr Zimmer zu zeigen“, fuhr Mrs. Watkins fort. „Er ist in seinem Arbeitszimmer und möchte heute Abend nicht mehr gestört werden. Und Sie sind sicher erschöpft von der langen Reise.“

Sie nahm Allys Koffer und führte sie die Treppe hinauf zu einem der Zimmer, die an einem langen Gang mit einer edlen pastellfarbenen Tapete lagen. Das Schlafzimmer war ein gemütlicher Raum mit altem Mobiliar und dicken Vorhängen vor den Fenstern. An einer Wand stand ein riesiges Bett mit einem Baldachin, dekoriert mit vielen gemütlich wirkenden Kissen. Jetzt erst spürte Ally, wie müde sie war. Es war ein langer Tag gewesen.

„Möchten Sie noch etwas essen?“, wollte Mrs. Watkins besorgt wissen. „Ich mache Ihnen gerne einen kleinen Imbiss zurecht.“

„Das wäre sehr nett“, antwortete Ally lächelnd.

Als sie allein war, ließ sie sich auf das Bett sinken, in dessen weicher Daunendecke sie beinahe versank. Nun, bis jetzt wirkte alles ganz normal. Kein schauriges Horrorhaus mit knarrenden Dielen und geisterhaft wehenden Gardinen. Aber natürlich hatte sie den mysteriösen Hausherrn noch nicht kennengelernt. Aber zumindest …

Ally fuhr herum, als sie ein Geräusch an der Tür hörte. Ein Kratzen und ein Schlurfen wie von einem – Geist? Was war das?

Langsam öffnete sich die Tür und ein dunkler Haarschopf erschien. Das dazugehörige Mädchen war etwa sechs oder sieben Jahre alt, klein und zierlich für ihr Alter, mit großen dunklen Augen, die Ally neugierig und auch ein wenig herausfordernd musterten.

„Bist du die neue Nanny?“, fragte die Kleine. Hinter ihr schob sich ein riesenhafter schwarzer Hund ins Zimmer, der Ally einen Augenblick lang die Luft anhalten ließ. Aber sie entspannte sich wieder, als sie sah, wie das Mädchen den Kopf des Tieres umfasste und liebevoll seine Ohren kraulte. Der Hund schloss die Augen und genoss die Streicheleinheiten.

Ally lächelte. „Ja, das bin ich. Und du bist …?“

„Lily. Tigerlily“, erklärte das Mädchen hoheitsvoll.

„Ah, wie die Indianerprinzessin in Peter Pan“, erinnerte Ally sich. Neugierig beobachtete sie das Mädchen, das langsam durch das Zimmer streifte und alles genau in Augenschein nahm. Der Hund blieb ihm dabei immer auf den Fersen.

„Ich hoffe, wir werden gute Freunde“, fuhr Ally fort. Ihr wurde klar, dass ihr Schicksal oder zumindest ihr Verbleiben auf Manor Hall in der Hand dieser kleinen Gestalt lag.

„Wir werden sehen“, erwiderte Lily streng und rümpfte die Nase. „Die letzte Nanny war doof. Sie wollte immer, dass ich Französisch mit ihr spreche. Aber dazu hatte ich keine Lust.“

„Französisch?“

„Dad will, dass ich das lerne. Deshalb kommt auch Monsieur Bertrand einmal die Woche hierher und gibt mir Unterricht. Damit ich mich mit Tante Gen unterhalten kann.“

Ally hob den Kopf. Da war ja wieder diese ominöse Tante! Was hatte es mit ihr auf sich? „Und wer ist Tante Gen?“

„Tante Gen – e – vieve. Meine Tante“, erklärte Lily einfach. „Sie kommt uns manchmal besuchen. Sie ist Französin, so wie Mum. Aber ich hasse Französisch. Ich finde es grässlich! Bäh!“ Zur Bekräftigung ihrer Worte streckte sie die Zunge heraus.

„Und deine – Mutter? Wo ist die?“, fragte Ally zögernd. War es noch zu früh, dieses Thema anzusprechen? Aufmerksam beobachtete sie Lilys schmales Gesicht.

Aber die zuckte nur mit den Achseln. „Mum hat etwas Wichtiges zu erledigen. Deshalb kann sie nicht bei uns sein. Aber Dad sagt, sie wird bald zurückkommen.“

Sie hob den Deckel von Allys Koffer an und spähte hinein. „Meine Mum hat schönere Sachen als du“, stellte sie mit einem Anflug von Befriedigung in der Stimme fest, als sie ihre Inspektion abgeschlossen hatte. „Das weiß ich von den Fotos. Aber ihre Kleider sind in ihrem Zimmer im zweiten Stock. Da darf ich nicht rein.“

„Und warum nicht?“

„Dad will nicht, dass irgendetwas durcheinandergebracht wird. Deshalb ist das Zimmer abgeschlossen“, erklärte Lily. Offenbar machte sie sich nicht allzu viele Gedanken darüber. Aber Allys Gedanken rasten. Ein Zimmer, das nicht betreten werden durfte. Das klang doch wie …

„Lily!“, ertönte die strenge Stimme von Mrs. Watkins an der Tür. „Du solltest doch längst schlafen! Ab mit dir ins Bett!“

Lilys Gesicht verdüsterte sich. „Ich bin aber noch nicht müde. Und außerdem ist heute Samstag“, erwiderte sie trotzig.

Mrs. Watkins bemühte sich, beschwichtigend zu klingen. „Trotzdem – du weißt, dass dein Vater nicht erfreut wäre, dich um diese Zeit noch herumgeistern zu sehen!“

Die Erwähnung ihres Vaters schien Lily ein wenig einzuschüchtern. „Ich geh ja schon“, murmelte sie missmutig und trottete aus dem Zimmer. „Komm, Shadow!“

Gehorsam setzte der große Hund sich in Bewegung. Mrs. Watkins blickte den beiden mit einem sorgenvollen Gesicht hinterher. „Sie ist ein kleiner Wildfang, fürchte ich“, erklärte sie entschuldigend. „Aber sie hat viel durchgemacht – ich meine – es ist nicht leicht für sie, ohne Mutter aufzuwachsen!“

„Und wo ist Lilys Mutter?“, fragte Ally geradeheraus. Nachdem das Thema einmal angeschnitten war, schien es nur natürlich zu sein, es weiter zu verfolgen.

„Das kann ich wirklich nicht sagen!“ Hastig stellte Mrs. Watkins das Tablett, das sie mitgebracht hatte, auf dem Tisch ab und wandte sich zur Tür, bevor Ally das Gespräch fortsetzen konnte. „Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Miss Thompson. Wir sehen uns morgen!“

Damit schloss sie die Tür hinter sich. Nachdenklich blickte Ally ihr nach. Konnte sie nicht sagen, wo Lilys Mutter war – oder wollte sie es nicht sagen?

Hungrig aß Ally das Sandwich, das Mrs. Watkins ihr gebracht hatte. Dann zog sie sich aus und ging ins Badezimmer. Das Auspacken ihres Koffers verschob sie auf den nächsten Tag. Sie war müde und erschöpft, tausend Fragen schwirrten in ihrem Kopf herum. Als sie endlich im Bett lag und das Licht gelöscht hatte, ließ sie ihre Ankunft auf Manor Hall noch einmal Revue passieren.

Ein Herrenhaus, das zumindest auf den ersten Blick nicht das „Gruselhaus“ war, das Vivien vorausgesehen hatte, auch wenn es einige Geheimnisse zu beherbergen schien. Eine verzogene Göre, die ganz offensichtlich das Sagen in diesem Haus hatte. Ein geheimnisvoller Schriftsteller, der nicht gestört werden durfte. Und die freundliche, gutmütige Mrs. Watkins? Was wusste sie wohl von all dem, was hier vorging?

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen stand Ally früh auf, zog sich an und begann, sich in ihrem Zimmer ein wenig häuslich einzurichten. Sie bewunderte die Größe des Raumes und die lässige Eleganz, mit der er eingerichtet war. Edle Antiquitäten waren mit modernen Einrichtungsgegenständen kombiniert und gaben dem Zimmer eine gemütliche, aber dennoch stilvolle Atmosphäre, in der man sich wohlfühlen konnte. Allys Mutter hatte sie schon früh mit Kunst vertraut gemacht, sodass ihr klar war, dass es sich bei den Einrichtungsgegenständen ihres Zimmers zum größten Teil um Kostbarkeiten aus vergangenen Epochen handelte, die man anderenorts nur als Ausstellungsstücke bewundern durfte.

Sie dachte an ihre eigene kleine Wohnung in Süd-London, die nur mit dem allernötigsten ausgestattet war: ein Bett, ein Schrank, ein Tisch mit vier Stühlen und ein Schreibtisch, an dem sie arbeiten konnte. Mehr brauchte sie nicht. Allys Stil war so nüchtern wie ihre Weltsicht. Auch bei ihrer Kleidung bevorzugte sie klare Schnitte und dezente Farben. Für Schnickschnack fehlte ihr der Sinn. Mit einem Blick auf die pastellfarbenen Damast-Vorhänge, die den Raum hell erscheinen ließen, musste sie allerdings feststellen, dass ein wenig Luxus und Opulenz durchaus seine Vorzüge hatte.

Ally überlegte, wer das Haus wohl eingerichtet hatte. Elaine Pritchard? Sehr wahrscheinlich. Sie erinnerte sich, einen Artikel gelesen zu haben, in dem die Frau des Bestsellerautors als elegant und hochsensibel beschrieben worden war. Ein solcher Einrichtungsstil würde zu einer Person wie ihr passen.

Sie lauschte eine Weile, ob sie irgendwelche Geräusche hören konnte, die darauf schließen ließen, dass auch andere Bewohner des Hauses schon wach waren. Bei der Größe des Anwesens war es aber nicht sehr wahrscheinlich, dass sie irgendetwas davon mitbekommen würde. Zumindest Mrs. Watkins sollte schon auf ihrem Posten sein. Also machte Ally sich auf, die Wirtschaftsräume zu suchen. Als sie ihr Zimmer verließ, bemerkte sie am Ende des Korridors eine Treppe, die in den zweiten Stock führte. Dort lag Elaines Zimmer. Der Raum, der nicht betreten werden durfte. Warum wohl?

Wieder fiel ihr Andrew Pritchards Roman „Die Tür“ ein. Ein Psychopath, der eine Frau in seinem Haus gefangen hielt! War das Ganze wirklich nur ein Roman, oder …?

Ally spielte mit ihrem Pferdeschwanz. Die Verlockung, sich Zutritt zu Elaine Pritchards Schlafzimmer zu verschaffen, war riesengroß. Aber sie wollte an ihrem ersten Tag auf Manor Hall nicht gleich das Misstrauen der Bewohner erwecken. Sonst würde es ein kurzer Aufenthalt werden. Alles zu seiner Zeit, sagte sie sich, wenn auch widerstrebend, als sie die Treppe hinunterlief.

Plötzlich hörte sie Musik und Stimmen. Als auch noch Hundegebell ertönte, wusste Ally, dass sie auf dem richtigen Weg war. Nach kurzer Suche fand sie die Küche, die riesengroß und überraschend modern eingerichtet war mit einem zweitürigen Kühlschrank nach amerikanischem Vorbild und einer Kochinsel in der Mitte des Raumes. Mrs. Watkins stand am Herd und ließ eben einen Pfannkuchen durch die Luft wirbeln. Dazu ertönte fröhliche Musik aus dem Radio.

„Noch mal, Mimi!“, rief Lily gutgelaunt. Sie saß in einem pinkfarbenen Pyjama an dem großen weißen Küchentisch, hatte die Beine zum Schneidersitz verschränkt, und feuerte die Haushälterin an, während sie den unvermeidlichen Shadow mit Muffins fütterte. Gehorsam warf Mrs. Watkins den Pfannkuchen erneut in die Luft, und Lily jubelte vor Freude. „Mimi, du bist die Beste!“

„Mimi?“, wiederholte Ally erstaunt. Jetzt erst wurde sie von Lily und Mrs. Watkins bemerkt. Das Gesicht der Haushälterin wurde rot vor Verlegenheit. „So nannte Lily mich immer, als sie noch zu klein war, um meinen Namen auszusprechen. Und heute nennt sie mich immer noch so!“

„Dann sind Sie wohl schon sehr lange hier im Haus, nicht wahr?“, wollte Ally neugierig wissen.

„Schon immer“, erklärte Mrs. Watkins nicht ohne Stolz. Es war offensichtlich, dass sie sich Manor Hall und allem, was dazugehörte, mehr als nur verbunden fühlte.

„Dann …“ – waren Sie auch hier, als Elaine Pritchard verschwand, wollte Ally nachfragen, doch sie schluckte die Bemerkung rechtzeitig hinunter. Was immer Mrs. Watkins über Elaine wissen mochte, würde sie wohl kaum am Frühstückstisch preisgeben. „Dann haben Sie wohl schon Einiges erlebt!“, meinte sie stattdessen.

Ally wirbelte herum. Sie stand Andrew Pritchard gegenüber!

Andrew hatte eine schlaflose Nacht verbracht, ausgelöst durch Genevieves Telefonanruf am späten Abend. Seine Schwägerin hatte einen weiteren Besuch angekündigt. Wie üblich heuchelte sie Besorgnis wegen Elaine, aber Andrew kannte sie mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass das nicht der eigentliche Grund für ihr Kommen sein konnte. Aber was sie genau im Schilde führte, konnte er nicht sagen. Er ahnte nur, dass es ihm nicht gefallen würde.

Er war schon im Morgengrauen aufgestanden und hatte eine Runde gejoggt. Die monotone, rhythmische Bewegung half ihm, wieder einigermaßen ruhig zu werden. Krampfhaft versuchte er, sich eine Strategie zu überlegen, mit der er Genevieve begegnen konnte, aber solange er nicht wusste, was sie vorhatte, gingen diese Gedanken ins Leere.

Er lief den Weg an den Klippen entlang. Ein kräftiger Wind blies ihm ins Gesicht. Die Gischt, die an die Felsen schlug, war als feiner Sprühregen zu spüren. Es tat Andrew gut, sich anstrengen zu müssen, seinen Körper herauszufordern. So hatte er das Gefühl, etwas zu tun und nicht zu passivem Warten verurteilt zu sein.

Als er zurück zum Haus kam, hielt er einen Augenblick vor der Tür an, um wieder zu Atem zu kommen. Er wünschte, ewig weiterlaufen zu können. Vor all den Problemen, die auf ihn eindrängten, einfach davonlaufen zu können und alles hinter sich zu lassen. Aber er wusste, dass es nicht möglich war. Er trug die Verantwortung für Lily und für diesen Haushalt. Und er musste sich seiner Verantwortung stellen.

Mit einem tiefen Seufzen richtete Andrew sich auf, straffte die Schultern und betrat das Haus. Es war ein neuer Tag. Was immer er bringen mochte …

Auch wenn Ally dem berühmten Schriftsteller noch nie begegnet war, kannte sie Andrew Pritchard aus den Medien. Sie wusste, dass er um die vierzig war, groß, schlank, mit dunklem Haar und einem markanten, ausdrucksstarken Gesicht. Auf den Pressefotos war ihr bislang allerdings nicht aufgefallen, wie unglaublich gut er tatsächlich aussah! Vielleicht lag es an dem melancholischen Blick aus seinen grauen Augen oder an dem entschlossenen Zug um seinen Mund, der zum Ausdruck brachte, dass er alles, was er sich vornahm, auch erreichen würde?

„Die Piraten von Penzance“ fiel Ally wieder ein. Tatsächlich hatte ihr neuer Arbeitgeber etwas von einem Piraten an sich. Ein müder, abgekämpfter, aber immer noch verwegener Freibeuter, der sich, wenn es sein musste, auch über das Gesetz stellte, um das, was er liebte, zu beschützen!

Andrew Pritchard war in Laufkleidung. Er trug dunkle Jogginghosen und ein schwarzes T-Shirt, das am Bauch und unter den Achseln durchgeschwitzt war. Um den Hals hatte er ein Handtuch geschlungen. Sein dunkles Haar war wirr und feucht. Der Duft eines herben Aftershaves stieg ihr in die Nase, was ein eigenartiges Kribbeln in ihrem Bauch auslöste.

Zögernd trat sie auf ihn zu. „Mein Name ist Ally Thompson, Mr. Pritchard. Ich wurde von Richard’s hierhergeschickt. Wegen des Jobs als Kindermädchen.“

Der abweisende Zug um Andrews Mund schien sich noch zu verstärken. Steif schüttelte er ihre Hand. „Natürlich! Ich wurde darüber informiert. Willkommen auf Manor Hall! Bitte entschuldigen Sie meinen Aufzug. Ich komme gerade von meiner morgendlichen Laufrunde. Das hilft mir, den Kopf frei zu bekommen.“

„Ich brauche kein Kindermädchen“, mischte Lily sich mit trotziger Stimme ein.

Andrew Pritchard hielt Allys Hand einen Augenblick länger als nötig, während er sie mit intensivem Blick musterte. „Wir werden sehen“, erklärte er nicht allzu zuversichtlich.

Erneut spürte Ally dieses Kribbeln im Bauch, aber sie war nicht sicher, ob es nur ihre Nervosität war, die sich meldete. Ganz offensichtlich war sie nicht allzu willkommen in diesem Haus. Und trotzdem …

„Kaffee, Mr. Pritchard?“, meldete Mrs. Watkins sich zu Wort, bestrebt, die angespannte Situation aufzulockern. „Miss Thompson?“

„Sehr gern“, antworteten Ally und Andrew gleichzeitig, als sie sich zu Tisch setzten.

„Jetzt seid ihr verhext!“, rief Lily vergnügt. „Ihr dürft erst wieder reden, wenn jemand euch anspricht!“ Mit einem zufriedenen Grinsen wandte sie sich an Mrs. Watkins, offensichtlich erfreut, dass sie die Szene beherrschte. „Wo bleibt mein Pfannkuchen, Mimi?“

„Hast du nicht etwas vergessen?“, fragte Ally freundlich.

„Was sollte ich vergessen haben?“, gab Lily patzig zurück. „Außerdem darfst du nichts sagen. Du bist verhext!“

„Du hast mich angesprochen. Damit bin ich erlöst“, erinnerte Ally sie. „Und das Wort, das du vergessen hast, heißt bitte.“

Lily starrte sie böse an. „Das brauche ich nicht. Nicht wahr, Mimi?“

„Das Wort bitte verwendet sogar die Queen“, erklärte Ally, ohne auf Mrs. Watkins zu achten. „Es ist eines der wichtigsten Wörter, die es gibt.“ Dieser Spruch, der ihr im Internat eingetrichtert worden war, kam wie von selbst über ihre Lippen.

„Ich denke, Lily und Mrs. Watkins verstehen sich auf ihre Weise“, mischte Andrew Pritchard sich mit ruhiger Stimme ein. Trotzdem war sein unterdrückter Ärger zu spüren.

Betroffen starrte Ally auf ihren Teller. Vielleicht lag es daran, weil sie keine Kinder hatte, dass sie auf schlechte Manieren so allergisch reagierte. Oder weil sie selbst immer das Gefühl gehabt hatte, ihren Eltern im Weg zu stehen und deshalb nach Möglichkeit versucht hatte, sich unsichtbar zu machen.

Trotzdem sollte sie wohl besser den Mund halten, wenn sie ihre Stellung nicht gefährden wollte. „Es tut mir leid“, murmelte sie entschuldigend. „Aber ich denke, dass es nicht zu viel verlangt ist, zumindest grundlegende Umgangsformen zu beherrschen!“

Über den Tisch hinweg traf ihr Blick den von Andrew Pritchard und hielt ihm stand. Sie konnte die Verärgerung in seinen dunklen Augen lesen, und ihr Herzschlag beschleunigte sich.

„Zweifeln Sie die Umgangsformen meiner Tochter an?“, wollte Andrew gereizt wissen.

„Natürlich nicht“, lenkte Ally ein. „Ich würde sie nur gerne sehen. Nicht wahr, Lily?“

Sie wandte sich direkt an das kleine Mädchen. Lily hatte erbost die Arme verschränkt und starrte trotzig vor sich hin.

„Lily?“, forderte Ally sie noch einmal auf. Schließlich entlockte sie dem Kind ein langgezogenes: „Bitte!“

Sofort eilte Mrs. Watkins mit dem bereitgehaltenen Pfannkuchen herbei, offensichtlich erleichtert, dass sie endlich ihren Aufgaben nachkommen konnte. Ally blickte wieder zu Andrew Pritchard. Sein Blick war immer noch auf sie gerichtet, mit einem abweisenden, verschlossenen Ausdruck, den sie nicht ganz deuten konnte. War dies das Ende ihres Aufenthalts auf Manor Hall?

Abrupt stand Andrew Pritchard auf. „Kann ich Sie kurz sprechen, Miss Thompson? Unter vier Augen?“

Also doch. Sie hatte es vermasselt. Ihr verdammter Dickkopf! Pflichtschuldig erhob Ally sich. „Natürlich, Mr. Pritchard.“

Als sie hinter ihrem Arbeitgeber die Küche verließ, sah sie aus den Augenwinkeln, dass Lily ihr mit einer hämischen Grimasse die Zunge herausstreckte.

Natürlich hatte die junge Frau recht. Andrew war klar, dass Lily manchmal frech war. Dass sie sich eine Spur zu viele Freiheiten herausnahm, die er unterbinden sollte. Aber was der jungen Frau, die ihm langsam folgte, offenbar nicht klar war, war die besondere Situation, in der sie sich befanden. Er hatte wahrhaftig Wichtigeres zu tun, als Lily wegen jeder Kleinigkeit zu maßregeln. Dafür engagierte er schließlich ein Kindermädchen, damit sie ihm diese Aufgaben abnahm.

Genau das hatte sie getan. Aber es ging nicht an, dass Lilys Wohlergehen beeinträchtigt wurde. Andrew öffnete die Tür zur Bibliothek und ließ Ally den Vortritt. Dabei nahm er einen leichten Hauch von Vanille und Jasmin wahr, der von ihr ausging. Ein Geruch, der ein fernes Gefühl in ihm weckte. Ein Gefühl …

„Es tut mir leid, wenn ich Sie verärgert haben sollte, Mr. Pritchard“, unterbrach die junge Frau – wie war noch ihr Name gewesen? Ally? – seine Gedanken. „Ich wollte mich nicht in Ihre Erziehungsmethoden einmischen. Ich hielt es nur für meine Aufgabe als Kindermädchen …“

„Ihre Aufgabe als Kindermädchen ist es, Lilys Leben so angenehm und abwechslungsreich wie möglich zu gestalten“, wies Andrew sie zurecht. „Dafür, und nur dafür wurden Sie engagiert. Ich will, dass es Lily gutgeht. Sie soll alles haben, was sie sich wünscht. Um vielleicht das zu vergessen, was …“, er brach ab, suchte nach den richtigen Worten, „… was sie nicht haben kann. Eine Mutter, die sich um sie sorgt und für sie da ist. Alles das, was für andere Kinder selbstverständlich ist.“

Ich bin bei dir, Lily! Und ich werde dich niemals im Stich lassen, das verspreche ich dir! Die Worte hallten in seinem Kopf wider. Diese junge Frau hatte ja keine Ahnung …

„Sie hat immerhin noch einen Vater“, erinnerte Ally ihn, so, als könnte sie seine Gedanken erraten. Dabei sah sie Andrew direkt in die Augen. Er las in ihrem Blick Interesse und Anteilnahme. Sie hatte seinen wunden Punkt getroffen. Wie konnte sie das ahnen?

„Ich fürchte, Sie verstehen nicht, worum es hier geht, Miss Thompson“, fuhr Andrew aufgebracht fort, auch wenn er nicht genau sagen konnte, was ihn so ärgerte. Dass diese Frau sich das Recht herausnahm, ihn zurechtzuweisen? Oder dass sie ihn an seine Pflichten als Vater erinnerte? „Ich nehme an, Sie haben von dem … Verschwinden meiner Ehefrau gehört.“

Er zögerte einen Moment. Immer noch fiel es ihm schwer, darüber zu sprechen. Auch nach all den Jahren. Elaines Gesicht tauchte vor ihm auf, ihr verzweifelter Ausdruck, als sie sich zu ihm herumdrehte … Der Zug um Andrews Lippen wurde hart. „Die Zeitungen stellten und stellen darüber die wildesten Spekulationen an. Journalisten sind wie Hyänen. Sie verfolgen ihre Beute unerbittlich und lassen nichts unversucht, um sie zur Strecke zu bringen. Sie kennen kein Erbarmen!“

Er starrte ausdruckslos ins Leere, versuchte die Erinnerung zurückzudrängen. „Was die Presse über mich schreibt, berührt mich nicht“, fuhr er fort, auch wenn sein bitterer Tonfall diese Worte Lügen strafte. „Ich sorge mich nur um Lily. Sie soll von dieser unglücklichen Geschichte unbehelligt bleiben. Lily muss um jeden Preis geschützt werden!“

Ally hatte den Kopf gesenkt. „Natürlich, Mr. Pritchard. Das verstehe ich“, erwiderte sie mit sanfter Stimme. „Aber wie soll Lily Freunde finden, sich in einer Gemeinschaft behaupten, wenn sie immer nur gelernt hat, ihren eigenen Willen durchzusetzen? Sie können Lily nicht ewig beschützen!“

Abrupt wandte Andrew sich ab. Natürlich hatte Ally auch in diesem Punkt recht. Irgendwann würde er Lily loslassen müssen. Irgendwann würde sie ihren eigenen Weg gehen. Trotzdem … Er war es nicht gewöhnt, mit Widerstand konfrontiert zu sein. Schließlich war er Andrew Pritchard, der Bestsellerautor. Auf der ganzen Welt kannte man seinen Namen. Es würde niemandem einfallen, sein Wort infrage zu stellen. Nur diese Ally Thompson schien davon noch nichts gehört zu haben!

Kühl sagte Andrew: „Das wäre alles, Miss Thompson. Bitte halten Sie sich an meine Anweisungen, wenn Sie Ihren Job auf Manor Hall behalten wollen!“ Er wandte sich um und starrte hinaus auf den Park.

Bestürzt verließ Ally die Bibliothek. Draußen hielt sie einen Moment inne, schloss erschöpft die Augen. Das war knapp. Beinahe hätte sie selbst ihren Hinauswurf provoziert. Konzentrier dich auf deine Aufgabe, ermahnte sie sich. Sie war nicht hier, um das Kind zu erziehen. Sie wollte Informationen über Elaine Pritchards Verschwinden sammeln. Nur darum ging es!

Aber Andrew Pritchards Worte hatten sie betroffen gemacht. Seine Meinung über Journalisten war alles andere als schmeichelhaft. Natürlich waren Journalisten hartnäckig, sagte Ally sich, aber sie versuchten doch nur, die Wahrheit zu ergründen. Trotzdem musste sie sich die Frage stellen, ob das wirklich ihr einziger Beweggrund war. Wollte sie nicht auch ihren ganz persönlichen Ehrgeiz befriedigen? Wollte sie selbst nicht vor allem deshalb auf die Titelseite?

Ally fragte sich, wie Andrew Pritchard wohl reagieren würde, sollte er herausfinden, dass er das Wohlergehen seiner Tochter ausgerechnet in die Hände jener Person gelegt hatte, vor der er sie so verzweifelt zu schützen versuchte. Einer Journalistin! Sie wollte es sich lieber nicht vorstellen.

„Bist du gefeuert?“

In der Tür zur Küche stand Lily. Sie hatte ihre Arme provokant vor ihrer schmalen Brust verschränkt und starrte sie feindselig an. Ally rang sich ein unbekümmertes Lächeln ab.

„Nein, bin ich nicht. Wir werden noch eine ganze Weile miteinander auskommen müssen. Also gewöhn dich daran. Wie wäre es, wenn du mir helfen würdest, meine Sachen auszupacken? Ich könnte ein wenig Hilfe brauchen.“

Ohne auf Lilys Antwort zu warten, drehte sie sich um und ging zur Treppe. Befriedigt stellte sie fest, dass Lily ihr langsam nachtrottete.

Andrew saß an seinem Schreibtisch und versuchte, sich auf die Arbeit an seinem Roman zu konzentrieren. Warum konnte er einfach nicht mehr schreiben? Nicht einmal die einfachsten Sätze? Er las noch einmal den letzten Ansatz:

Jeff Bolden stand an der Bar, nippte nachdenklich an seinem Whiskey. Dieser Fall – er musste ihn lösen, oder es war das Ende seiner Karriere. Aber die Suche nach der verschwundenen Millionärstochter gestaltete sich schwieriger als gedacht. Seine letzte Hoffnung war seine neue Informantin, Tina Andrews. Jeff beobachtete, wie sie das Lokal betrat, einen aufmerksamen Blick über die Gäste schweifen ließ und sich dann in seine Richtung bewegte.

Sein letztes Buch war vor über zwei Jahren erschienen. Das Publikum verlangte nach neuem Lesestoff. Natürlich war Andrew klar, dass die Leser vor allem interessierte was, mit seiner Frau geschehen war. Ein bitteres Lachen entrang sich seiner Kehle. Sein halbes Leben lang hatte er alles für den Erfolg getan und dafür, im Rampenlicht zu stehen. Und nun wünschte er sich nichts mehr, als unsichtbar sein zu können. Er wollte vom Radar der Öffentlichkeit verschwinden und ein ganz normales Leben führen, so wie jeder andere auch. Aber war das überhaupt noch möglich?

Aus dem Park drangen laute Stimmen zu ihm herauf. Andrew stand auf und trat ans Fenster. Da unten waren Lily, Shadow und das neue Kindermädchen. Ally Thompson. Der Name hallte durch Andrews Kopf. Ally!

Als er sie vorhin in der Küche das erste Mal gesehen hatte, war Andrew überrascht gewesen, wie jung sie war. Und wie – attraktiv. Die früheren Kindermädchen, die es allesamt nicht allzu lange in seinem Haus ausgehalten hatten, waren deutlich älter gewesen. Jenseits von Gut und Böse, wie man zu sagen pflegte. Aber Ally …

Leichtfüßig sprang sie über die Erdhaufen, die der Maulwurf im Park hinterlassen hatte. Als Andrew sie beobachtete, spürte er ein Ziehen in der Leistengegend. Etwas regte sich in ihm … ein Gefühl, das er schon längst verloren geglaubt hatte. Ihre schlanke, anmutige Figur, das blonde Haar, das wie Gold im Licht der Herbstsonne leuchtete – all das erinnerte ihn daran, dass er mehr war als Andrew Pritchard, der Schriftsteller, der Vater, derjenige, der die Verantwortung für dieses Haus und alles, was darin geschah, trug.

Es erinnerte ihn daran, dass er auch ein Mann war. Mit all den Wünschen, Sehnsüchten und Bedürfnissen eines Mannes. Er hatte sich diese Sehnsüchte schon viel zu lange versagt. Bis der Anblick von Ally Thompson sie plötzlich mit einer Heftigkeit in ihm weckte, die er nie für möglich gehalten hätte. Ihre zarte Schönheit und ihre Stärke, die sie in der Auseinandersetzung mit ihm bewiesen hatte, zeigten ihm, was er verloren hatte, was das Leben zu bieten hatte. Auch für ihn?

Andrew kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Seine Finger auf der Tastatur des Computers begannen sich wie von selbst zu bewegen.

Langsam kam Tina auf ihn zu. Ihr wiegender, selbstsicherer Gang brachte vorteilhaft die Rundungen ihres Körpers zur Geltung, die sich unter ihrem eleganten grauen Kostüm abzeichneten. Ihr Haar schimmerte golden im Halbdunkel des Lokals.

„Mr. Bolden?“ Ihre Stimme klang tief und rauchig.

„Miss Andrews.“ Er wies auf den Barhocker neben sich. Mit einer katzenhaften Bewegung ließ sie sich darauf nieder und schlug die Beine übereinander. Es schienen endlose Beine zu sein, wie Jeff mit Kennerblick feststellte. Diese Nacht versprach heißer zu werden, als er geahnt hatte …

Ally verbrachte den Nachmittag mit Lily in der weitläufigen Parkanlage von Manor Hall. Nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander her gestapft waren, begann das Mädchen, etwas zugänglicher zu werden. Sie zeigte Ally ihre Lieblingsplätze, wo Nester mit Jungvögeln zu finden waren, die man beobachten konnte, und wo die zahlreichen Eichhörnchen, die den Park bewohnten, ihre Höhlen hatten. Mit Tieren schien Lily gut zurechtzukommen. Waren sie doch weitgehend die einzigen Spielkameraden, die sie hatte.

„Gibt es denn keine Nachbarskinder, die dich manchmal besuchen?“, wollte Ally wissen.

Lily schüttelte düster den Kopf. „Dad will nicht, dass jemand ins Haus kommt. Er darf nicht gestört werden, weil er ganz wichtige Bücher schreibt.“

Ally verzog leicht die Stirn. Wenn Andrew Pritchard wirklich so besorgt um seine Tochter war, sollte er sie mit anderen Kindern spielen lassen, anstatt sie in diesem Mausoleum einzusperren. Aber war seine Arbeit wirklich der einzige Grund, weshalb er keine Fremden im Haus duldete?

„Und in der Schule?“, bohrte Ally weiter. „Du gehst doch zur Schule?“

„In die Grundschule in Grand Manor“, erklärte Lily. „Aber nur bis zwölf. Vom Nachmittagsunterricht bin ich befreit. Dad will nicht, dass ich in der Schule esse.“

„Und würdest du das denn gerne tun?“

Lily zuckte die Achseln. „Weiß nicht. Aber während der Nachmittagsbetreuung werden immer coole Spiele gespielt. Das haben mir die anderen Kinder erzählt.“

Ihre Augen begannen bei diesen Worten sehnsüchtig zu glänzen. Offensichtlich wäre sie sehr gerne bei diesen Spielen dabei. Wie es schien, war Lily im Grunde ihres Herzens ein ganz normales Kind, mit den ganz normalen Bedürfnissen eines Kindes. Wenn nur jemand diese Bedürfnisse wahrnehmen würde …

Spontan griff Ally nach Lilys Hand und stellte erfreut fest, dass das Mädchen sie nicht zurückzog. „Komm, lass uns zurück zum Haus gehen. Es wird schon dunkel.“

Als sie sich dem Haus näherten, konnten sie sehen, dass ein Taxi vor dem Eingang stand. Lilys Schritte verlangsamten sich. Ally konnte ihren Widerstand spüren und versuchte, sie mit sanftem Druck zum Weitergehen zu bewegen. „Was ist denn, Lily? Hast du etwas vergessen?“

Aber Lily antwortete nur: „Da ist Tante Gen!“

4. KAPITEL

Die Frau, die aus dem Taxi stieg, war eine eindrucksvolle Erscheinung: Schlank und hochgewachsen, in einem eng geschnittenen schwarzen Kostüm, das sich wie eine zweite Haut an ihren Körper schmiegte. Kein Gramm Fett zu viel, eher zu wenig, stellte Ally neiderfüllt fest. Ein pechschwarzer Pagenkopf umschmeichelte das Gesicht, die Lippen glänzten in derselben tiefroten Farbe wie die Sohlen ihrer hochhackigen Schuhe.

„Andrew! Wie schön, dich zu sehen!“ Mit ausgebreiteten Armen ging sie auf Andrew Pritchard zu, der auf der obersten Eingangsstufe stand und ihre Begrüßung nur mit einem knappen „Gen!“ quittierte. Da er seine Hände nicht aus seinen Hosentaschen nahm, musste sie den Versuch, ihn zu umarmen, aufgeben. Als sie sich umdrehte, bemerkte sie Lily, die an Allys Hand zögernd näherkam.

„Lily, ma chére! Tu es trés jolie!“

Auf ein Kopfnicken ihres Vaters hin reichte Lily ihr pflichtschuldig die Hand. „Gen, das ist Miss Thompson, Lilys Kindermädchen“, stellte Andrew vor. „Mademoiselle Marchand, meine Schwägerin.“

Genevieve Marchand gab Ally mit unverhohlener Abneigung die Hand. Ihre grünen Augen musterten ihr Gegenüber aufmerksam. Ally fiel auf, dass sie ihrer verschollenen Schwester wie aus dem Gesicht geschnitten war. Zumindest, wenn man den Fotos von Elaine Pritchard, die sie aus der Presse kannte, glauben durfte. „Sehr erfreut, Mademoiselle. Aber Sie sind doch selbst noch ein halbes Kind!“

„Alt genug, um zu wissen, was Kinder brauchen“, erwiderte Ally höflich, aber bestimmt.

Mit einem eisigen Lächeln wandte Genevieve sich ab. „Wir wollen hineingehen. Es ist ziemlich frisch hier in England. Daran bin ich nicht gewöhnt“, erklärte sie mit einem französischen Akzent, der charmant hätte klingen können, wäre ihre Stimme nicht so gereizt gewesen. „Überdies habe ich einiges mit dir zu besprechen, Andrew.“

Hocherhobenen Hauptes stolzierte sie ins Haus und überließ es ihrem Schwager, den Taxifahrer zu bezahlen und die Reisetasche in Empfang zu nehmen.

„Siehst du, was ich meine“, flüsterte Lily, als Ally sie in ihr Zimmer begleitete. „Ich hasse Französisch.“

„Sie bleibt sicher nur ein oder zwei Tage, soviel ich weiß.“

„Ich mag sie nicht“, erwiderte Lily mit fester Stimme. „Sie tut immer so freundlich, aber sie ist es nicht.“

„Trotzdem“, meinte Ally, „eine Indianerprinzessin lässt sich das nicht anmerken.“

Die Erwähnung der Figur aus „Peter Pan“ schien das Mädchen ein wenig zu besänftigen. „Ich werde brav sein“, versprach Lily feierlich. „Tigerlily hält ihr Versprechen!“

Ally lächelte. Wie es schien, machte sie Fortschritte bei Lily. Das freute sie, und nicht nur, weil es ihre Aufgabe erleichterte. Tatsächlich begann ihr das taffe kleine Mädchen ans Herz zu wachsen. Sie fand, dass sie einander ziemlich ähnlich waren. Auch sie hatte sich als Heranwachsende stets bemüht, ihre Gefühle unter Verschluss zu halten und so zu tun, als würden ihre Einsamkeit und die Gleichgültigkeit ihrer Eltern sie nicht berühren. Im Grunde genommen tat sie das immer noch, wenn sie sich an die Szene mit Doug Read in der Redaktion erinnerte. Etwas Ähnliches ging wohl auch in Lily vor.

„Soll ich dir beim Umziehen helfen?“

Abweisend schüttelte Lily den Kopf. „Das kann ich selbst.“ Dann fügte sie versöhnlich hinzu: „Danke.“

Ally machte sich rasch ein wenig frisch und erneuerte ihr Make-up. Natürlich konnte sie nicht mit Genevieve Marchands Schönheit konkurrieren, aber ein gewisser Ehrgeiz war geweckt. Auch wenn sie sich selbst nie für allzu hübsch oder begehrenswert gehalten hatte. Nicht so wie Vivien mit ihrer sinnlichen roten Haarpracht. Ally war es immer ein Bedürfnis gewesen, mit ihrer Leistung zu glänzen, nicht mit ihrem Aussehen.

Trotzdem wollte sie Genevieve das Feld nicht ganz kampflos überlassen. Auch wenn sie nicht genau wusste, wen sie eigentlich beeindrucken wollte. Andrew Pritchard? Ein weltgewandter Mann wie er würde sich wohl kaum für sie interessieren. Und weshalb dachte sie überhaupt darüber nach? Beinahe ärgerlich wandte Ally sich vom Spiegel in ihrem Badezimmer ab. Sie musste mehr über diese Genevieve Marchand erfahren. Welche Rolle spielte sie in dieser Geschichte? Darüber sollte sie sich Gedanken machen.

Als sie die Treppe hinunterging, hörte sie laute Stimmen in der Bibliothek, deren Tür einen Spalt breit offenstand. „Willst du mich ruinieren?“, rief Andrew Pritchard ungehalten. „Willst du mir auch noch das Letzte nehmen, das mir geblieben ist?“

„Ich bitte dich, Andrew, davon kann doch keine Rede sein“, ertönte Genevieves zuckersüße Antwort. „Ich bin ebenso überrascht wie du. Aber schließlich und endlich habe ich viel für dich getan. Sehr viel. Das solltest du nie vergessen!“

Andrews Stimme klang bitter. „Wie könnte ich? Du wirst ja nicht müde, mich daran zu erinnern. Aber diesmal werde ich nicht aufgeben. Verlass dich darauf!“

Hastig versteckte Ally sich hinter einer antiken Standuhr, als sie hörte, dass seine Schritte sich der Tür näherten. Aber Andrew Pritchard stürmte so wutentbrannt aus der Bibliothek, dass er nichts um sich herum wahrnahm.

Nachdenklich starrte Ally ihm nach. Was hatte dieses Gespräch zu bedeuten? Auf welche Weise sollte Genevieve Marchand ihren Schwager ruinieren? Ganz offensichtlich hatte sie etwas gegen ihn in der Hand. Ich habe viel für dich getan! Das klang, als würden die beiden unter einer Decke stecken. Aber wobei? Ging es um Elaines Verschwinden? Ally schluckte. Anscheinend war dieses Rätsel mysteriöser, als sie gedacht hatte.

Beim Abendessen fehlte der Hausherr. Lily und Ally nahmen die Mahlzeit allein mit Tante Gen ein, die ihr Kostüm gegen eine weich fließende schwarze Hose und eine schwarz-weiß gestreifte Bluse getauscht hatte. Ally bewunderte ihre Eleganz, kam aber nicht umhin, auch ihre offensichtliche Arroganz zu bemerken. Steif saßen sie sich gegenüber. Genevieve bemühte sich, eine Unterhaltung auf Französisch mit Lily zu führen, aber die antwortete einsilbig und abweisend mit „Oui“ oder „Non“. Ally kramte die Reste ihres Schulfranzösisch hervor, um sich an dem Gespräch zu beteiligen.

„Wo in Frankreich leben Sie?“, wollte sie wissen.

„In der Nähe von Paris. Wo sonst?“, gab Genevieve hochmütig zurück. „Und woher kommen Sie, Mademoiselle Thompson?“

„Aus London“, antwortete Ally. „Woher sonst?“

Aus den Augenwinkeln nahm sie ein befriedigtes Grinsen auf Lilys Gesicht wahr. Genevieve lächelte säuerlich. „Ich habe mich in London nie besonders wohlgefühlt. Viel zu groß und laut.“

„Dann haben Sie wohl die falschen Plätze aufgesucht. Wenn man ortskundig ist, kann London ganz zauberhaft sein.“

„Ich mag London“, mischte Lily sich lebhaft ein. „Das Riesenrad London Eye ist toll. Und das Sea Life Aquarium auch! Dad war schon zweimal mit mir dort!“

Es schien, als würden Ally und Lily eine geschlossene Front gegen Genevieve bilden. Wie ein gemeinsamer Feind doch zusammenschweißen konnte, dachte Ally amüsiert. Ihr französischer Gast starrte sie über den Tisch hinweg feindselig aus ihren grünen Augen an.

„Ich fürchte, da gehen unsere Interessen auseinander“, erklärte sie kühl. Um dann versöhnlicher hinzuzufügen: „Wie schade, dass dein Vater uns nicht Gesellschaft leistet, ma petite.“

„Dad muss immer viel arbeiten“, erklärte Lily. Sie schien an die Abwesenheit ihres Vaters gewöhnt zu sein, sodass sie ihr nicht als ungewöhnlich auffiel.

„Nun, dann werde ich wohl früh zu Bett gehen“, meinte Genevieve. Es schien ihr nichts auszumachen, dass der Eindruck entstand, als würde Allys und Lilys Gesellschaft sie langweilen. „Ich hatte eine lange Reise. Grand Manor liegt ja am Ende der Welt.“

„Aber es ist doch ein wunderschönes Ende. Ich finde die Landschaft ausgesprochen reizvoll“, widersprach Ally, als sie den verletzten Ausdruck auf Lilys Gesicht bemerkte. Nun hatte sie die Gelegenheit, sich für die Unterstützung von London zu revanchieren.

Genevieve verzog das Gesicht. „Das ist wohl Ansichtssache.“

Und damit war das Gespräch weitgehend beendet. Wie angekündigt zog, sich Genevieve sofort nach dem Essen auf ihr Zimmer zurück. Ally nötigte Lily, ihr und Mrs. Watkins beim Abräumen des Tisches zu helfen, obwohl die Haushälterin versicherte, das allein zu schaffen. Aber da Andrew Pritchard nicht anwesend war, fühlte Ally sich berechtigt, erzieherisch auf Lily einzuwirken. Und der schien es sogar Spaß zu machen, diese Aufgabe zu erledigen.

Dann ging Ally mit ihrem Schützling in deren Schlafzimmer, um die Bücher und Hefte für den kommenden Schultag in ihre Tasche zu packen. Es war schon gegen neun Uhr und damit Zeit für Lily, zu Bett zu gehen. Ally sorgte dafür, dass sie ihren Pyjama anzog und sich die Zähne putzte.

„Soll ich dir noch eine Geschichte vorlesen?“

Lily schüttelte den Kopf. „Das macht Mimi. Sie kommt später und deckt mich zu.“

Als Ally sich zur Tür wandte, rief Lily ihr nach: „Gute Nacht, Ally!“

Lächelnd drehte Ally sich zu ihr um. „Gute Nacht, Lily. Schlaf gut und träum etwas Schönes!“

Doch unerwartet verdüsterte sich das Gesicht des Kindes bei diesen Worten. „Das würde ich gerne. Aber ich träume immer nur schlimme Sachen.“

Ally blieb stehen. „Wie meinst du das? Was für Sachen?“

Lily zuckte mit den Achseln. „Schlimme Sachen. Es ist kalt und dunkel. Und jemand weint.“

„Jemand weint? Und wer?“

„Das weiß ich nicht. Ich kann das Gesicht nicht sehen. Aber ich glaube, es ist eine Frau.“

Nachdenklich musterte Ally das Kind, das sie mit großen, furchtsamen Augen ansah. Eine Frau, die weinte? War das etwas, das Lily sich nur einbildete? Oder war es vielleicht – eine Erinnerung an ihre Mutter? Ein kalter Schauer kroch über Allys Rücken. Was war in diesem Haus geschehen?

„Soll ich bei dir bleiben, bis du eingeschlafen bist?“, bot sie ihrem Schützling an.

Einen Augenblick zögerte Lily, dann schüttelte sie energisch den Kopf. „Nein, danke. Ich habe ja Shadow.“

Der große Hund hatte sich vor dem Bett niedergelassen und den Kopf zwischen seine Pfoten gelegt. Er wich tatsächlich nie von Lilys Seite. Ally nickte aufmunternd. „Wenn du irgendetwas brauchst, weißt du ja, wo du mich findest!“

In ihrem Schlafzimmer ließ Ally sich erschöpft auf das Bett sinken. Lilys Worte gingen ihr nicht aus dem Kopf. Es ist kalt und dunkel und eine Frau weint. Lily war ein knappes Jahr alt gewesen, als ihre Mutter verschwand. Dass sie die Ereignisse dieser Zeit bewusst miterlebt hatte und sich daran erinnern konnte, war nicht anzunehmen. Aber irgendein Erinnerungsfetzen konnte sich sehr wohl in ihrem Kopf festgesetzt haben. Falls es zu einer Auseinandersetzung zwischen Andrew und seiner Frau gekommen war …

Mechanisch griff Ally nach ihrem Handy und öffnete ihren E-Mail-Account. Eine ungelesene Nachricht wurde angezeigt. Von Vivien, natürlich.

Hallo Schatz, lebst du noch? Ich komme sofort, dich zu retten! Die Nationalgarde steht schon Gewehr bei Fuß!

Ally lächelte. Es tat gut, wieder eine Stimme von außerhalb dieser abgeschotteten Welt zu hören, auch wenn es eine geschriebene Stimme war. Sie brauchte dringend etwas Aufmunterung. Rasch tippte sie eine Antwort.

Alles klar, Viv. Es geht mir gut. Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen.

Sie überlegte einen Moment, dann schrieb sie weiter:

Aber hier gehen sehr merkwürdige Dinge vor sich. Du musst unbedingt jemanden für mich überprüfen. Ihr Name ist Genevieve Marchand. Sie ist Andrew Pritchards Schwägerin, die Schwester seiner verschwundenen Ehefrau. Sie ist heute zu einem Kurzbesuch eingetroffen. Allerdings ist die Stimmung sehr angespannt. Es sieht so aus, als ob sie irgendetwas gegen Pritchard in der Hand hat.

Dann schickte sie die Nachricht ab. Eigentlich erwartete sie nicht, gleich wieder von Vivien zu hören, aber deren Antwort erschien umgehend auf dem Display. Offensichtlich war sie gerade online.

Und was? Worum geht es?

Ally schrieb zurück:

Das weiß ich nicht, aber möglicherweise hat es etwas mit Elaines Verschwinden zu tun. Ich hoffe, bald mehr zu erfahren. Aber ich brauche dringend die Informationen über Genevieve Marchand.

Wieder antwortete Vivien sofort:

Ich werde mich gleich daranmachen. Ich habe Bereitschaftsdienst in der Redaktion, da kann ich ein wenig Abwechslung gut gebrauchen. Und was ist mit Andrew Pritchard? Wie ist er so? Sieht er so gut aus wie auf den Fotos?

Ally zögerte. Sie griff nach einer Strähne ihres Pferdeschwanzes und wickelte sie um ihren Finger. Das Gesicht ihres Arbeitgebers tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Seine eindringlichen grauen Augen. Sein athletischer, durchtrainierter Körper, der stets vor innerer Anspannung zu beben schien. Sie konnte nicht leugnen, dass Andrew Pritchard ein sehr attraktiver Mann war. Aber möglicherweise barg er auch ein dunkles Geheimnis. Obwohl Ally sich bemühte, diesen Gedanken nüchtern und objektiv zu erwägen, konnte sie nicht verhindern, dass ihr Magen sich zusammenkrampfte.

Er ist ziemlich verschlossen. Mehr kann ich noch nicht sagen. Ich melde mich wieder!

Hastig schaltete Ally das Handy ab, bevor Vivien weitere Fragen stellen konnte. Aber die Fragen kreisten ganz von selbst durch ihren Kopf. Warum wehrte sie sich plötzlich gegen die Vorstellung, dass Andrew Pritchard etwas mit dem Verschwinden seiner Frau zu tun hatte? Sie war doch eigentlich hierhergekommen, um genau das zu beweisen. War es, weil sie sich zu ihm hingezogen fühlte? Dass sie das tat, konnte sie nicht leugnen. Und zwar mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte.

Dabei hatte sie es bisher immer tunlichst vermieden, persönliche Gefühle in ihre Arbeit einfließen zu lassen. Halte dich an die Fakten! Ihre innere Stimme wiederholte die Worte ihres Vaters. Ein guter Journalist musste objektiv und sachlich berichten. Und die Augen nicht vor der Wahrheit verschließen, auch wenn es eine unangenehme Wahrheit sein mochte. Aber wenn sie an Andrew Pritchard dachte, fielen ihr diese Grundsätze schwerer als gedacht.

Doch das machte ihre Entschlossenheit nur noch größer. Sie musste dieses Geheimnis lüften. Sie musste herausfinden, was mit Elaine Pritchard geschehen war. Nicht nur, weil es ihre journalistische Pflicht war, sondern vor allem, weil sie sich selbst Gewissheit verschaffen wollte. Und sie wusste auch schon, was sie als nächstes zu tun hatte. Sie musste einen Blick in dieses Zimmer im zweiten Stock werfen. Elaines Schlafzimmer. Das verschlossen war, damit nichts durcheinandergebracht werden konnte.

Ally warf einen nachdenklichen Blick zur Decke. Was verbarg sich in dem Zimmer? Sie nahm nicht an, dass tatsächlich eine Frau dort eingesperrt war, wie in Andrews Roman. Schließlich war das Buch lange vor Elaines Verschwinden geschrieben worden. Aber irgendein Hinweis auf ihr Schicksal würde dort zu finden sein, davon war sie überzeugt. Wenn sie nur hineingelangen könnte …

Andrew stand am Fenster seines Schlafzimmers und starrte hinaus in die Dunkelheit. Elaine war tot. Das hatte Genevieve ihm wenig zartfühlend mitgeteilt. Er dachte, dass er jetzt Trauer empfinden müsste, aber er spürte nur Erleichterung. Erleichterung darüber, dass dieser Albtraum endlich vorbei war. In all den Jahren hatte er sich Schritt für Schritt von Elaine verabschiedet. Die Frau, die er einmal gekannt und geliebt hatte, war längst in seinem Herzen begraben. Es fehlte nur der letzte Schritt, der jetzt vollzogen worden war.

Er hatte gehofft, sich danach endlich frei fühlen zu können. Doch so war es nicht. Er hatte ein Gefängnis gegen ein anderes getauscht. Die Last der Vergangenheit hing immer noch um seinen Hals, wenn auch in anderer Form. Wie hatte er nur so naiv sein können, sich auf Genevieve zu verlassen? Sein Schicksal in ihre Hände zu legen? Er hatte immer gewusst, dass sie kalt und berechnend war. Aber hatte er eine Wahl gehabt?

Aufgebracht wandte Andrew sich vom Fenster ab. Sein ganzes Leben lang hatte er alles darangesetzt, sein Schicksal aktiv zu gestalten. Sein eigener Herr zu sein. Doch nun war er plötzlich zur Untätigkeit verurteilt und war anderen ausgeliefert, die nach Belieben über ihn bestimmen konnten. Dieser Gedanke machte ihn fast verrückt. Er konnte plötzlich nachempfinden, wie sich ein Raubtier in einem Käfig fühlen musste. Aber er würde nicht zulassen, dass Gen ihn weiterhin beherrschte!

Eiserne Entschlossenheit überkam ihn. Er musste diesen Roman fertigschreiben. Und das Buch musste ein Erfolg werden. Denn er brauchte Geld, viel Geld. Nur dann hatte er eine Chance, es mit ihr aufzunehmen.

Andrew ging in sein Arbeitszimmer und setzte sich an den Computer. Ihm wurde bewusst, dass in dem Zimmer unter ihm das Kindermädchen schlief. Ally Thompson. Der Gedanke an sie verdrängte seine Sorgen wegen Genevieve und machte einer anderen Form der Erregung Platz. Dieses Gefühl, als er sie beobachtet hatte, regte sich wieder in ihm. Ihr schlanker, graziler Körper. Ihr leuchtend blondes Haar. Der Duft ihrer Haut.

Andrews Hände ballten sich zu Fäusten. Schluss damit, sagte er sich. Für diese Dinge war kein Platz in seinem Leben. Und er hatte es während der vergangenen fünf Jahre auch erfolgreich geschafft, jeden Gedanken an Frauen und an Sex aus seinem Kopf zu verbannen. Die Abgeschiedenheit von Manor Hall war ihm dabei sehr zugute gekommen.

Doch mit der Ankunft von Ally Thompson waren diese sorgfältig weggesperrten Gefühle plötzlich wieder in ihm lebendig geworden und meldeten sich immer heftiger und dringender zu Wort. Als ob er nicht genug andere Probleme hätte! Andrew schloss die Augen, versuchte die Gedanken an Ally Thompson aus seinem Kopf zu verbannen und sich auf seine Arbeit zu konzentrieren.

Jeff presste Tinas Körper an sich. Ihr Parfüm stieg in seine Nase, ein Duft von Jasmin und Vanille. Sie so nahe zu spüren, raubte ihm fast den Verstand. Was hatte diese Frau an sich, dass er ihr einfach nicht widerstehen konnte?

Doch Tina machte sich mit einem kühlen Lächeln von ihm los. „So leicht bin ich nicht zu haben, Big Boy“, hauchte sie. „Da wirst du dich etwas mehr anstrengen müssen …“

5. KAPITEL

Der Montagmorgen kündigte sich kühl und regnerisch an. Ally stand früh auf, um Lily für die Schule fertig zu machen. Mit etwas Überredungskunst gelang es ihr, das Kind davon zu überzeugen, dass feste Schuhe und eine Jacke bei diesem Wetter besser geeignet waren als pinkfarbene Sandalen und ein T-Shirt mit kurzen Ärmeln. Lily entschied sich für Gummistiefel – natürlich auch in Pink. Das schien ihre Lieblingsfarbe zu sein, wie bei vielen Mädchen ihres Alters.

Als sie zum Frühstück nach unten kamen, saß Genevieve bereits am Tisch. Sie trug wieder ihr schwarzes Kostüm, ihre Handtasche lag auf dem Stuhl neben ihr, und ihre Reisetasche stand neben der Tür. Offensichtlich war ihr Besuch auf Manor Hall wieder beendet. Bei Allys und Lilys Eintreten leerte Genevieve hastig ihre Tasse und stand auf.

„Wie schade, dass ich keine Zeit mehr für ein gemeinsames Frühstück habe“, erklärte sie mit einem dünnen Lächeln. „Au revoir, ma chère Lily. Bitte grüß deinen Vater von mir. Sag ihm, ich werde mich bei ihm melden!“ Zur Erleichterung aller klingelte es an der Tür, und Genevieve stelzte hocherhobenen Hauptes davon. „Das ist mein Taxi. A bientôt!“

Ally und Lily warfen sich einen bedeutungsvollen Blick zu. Ganz offensichtlich tat es niemandem leid, dass Genevieve abreiste. Nach dem Frühstück begleitete Ally ihren Schützling zu der Bushaltestelle, die sich unmittelbar neben der Einfahrt von Manor Hall befand. Lily wurde von einem Schulbus abgeholt, der sie und die anderen Kinder, die er auf seiner Route einsammelte, morgens direkt zur Schule und mittags wieder zurückbrachte.

Begleitet wurden sie auch von Shadow, der wie immer neben ihnen hertrottete. Nachdem Lily in den Bus eingestiegen war, kehrte Ally zum Haus zurück. Shadow blieb wie eine Statue neben der Einfahrt sitzen und ließ sich nicht zum Mitkommen bewegen. Wie Mrs. Watkins erzählt hatte, wartete er den ganzen Vormittag über und manchmal auch länger an der Haltestelle, bis Lily zurückkam. Sogar sein Futter musste zur Einfahrt gebracht werden, sonst hätte er den ganzen Tag über nichts zu sich genommen.

Ally musste mit leiser Verwunderung den Kopf schütteln. Was für eine treue Seele! Sie überlegte, dass die meisten Menschen so etwas für einen anderen nicht tun würden!

Zurück im Haus ging Ally hinauf in den ersten Stock und begann, in Lilys Zimmer aufzuräumen. Der Vormittag stand zu ihrer freien Verfügung, bis Lily wieder von der Schule zurückkam.

„Ach, lassen Sie nur! Das mache doch ich!“, ertönte plötzlich die Stimme von Mrs. Watkins an der Tür. Ally drehte sich um.

„Aber warum denn? Ich kann mich doch ruhig etwas nützlich machen“, erwiderte sie. „Sie haben bestimmt Besseres zu tun. Da übernehme ich es gerne, in meinem und Lilys Zimmer für Ordnung zu sorgen.“

Mrs. Watkins machte ein verlegenes Gesicht. Offensichtlich war sie nicht an Hilfe gewöhnt. „Nun, wenn das so ist, fahre ich zum Einkaufen ins Dorf. Aber sie können das Aufräumen wirklich mir überlassen. Es ist ja nicht allzu viel zu tun, bei nur zwei Leuten.“

„Da haben Sie recht“, stimmte Ally ihr zu. „In diesem riesigen Haus hätten gut und gern drei Familien Platz!“

Mrs. Watkins lächelte. „Nun, früher einmal …“ Sie verstummte hastig und bestätigte dann: „Das Haus ist wirklich viel zu groß für zwei!“

Ally beschloss, die Gelegenheit, dass sie mit der Haushälterin allein war, beim Schopf zu packen. Mit vertraulicher Stimme fügte sie hinzu: „Aber Mr. Pritchard hat doch sicher eine Freundin, nachdem seine Frau schon so lange – weg ist? Ein gutaussehender Mann wie er …“

Sie hoffte, dass ihre Worte wie das harmlose Geplapper einer naiven jungen Person klangen, die einfach nur ein wenig neugierig war. Und nicht nach einer Journalistin, die an Informationen zu kommen hoffte. Mrs. Watkins blickte sie einen Moment unsicher an. In ihr schienen die Loyalität Andrew Pritchard gegenüber und der Wunsch nach einer netten kleinen Plauderei im Widerstreit zu sein. Schließlich gewann ihre angeborene Freundlichkeit die Überhand. Betrübt schüttelte sie den Kopf.

„Nein, nein, da gibt es niemanden. An so etwas denkt Mr. Pritchard gar nicht. Schließlich – ich meine, er muss sich doch um Lily kümmern. Sie ist sein ganzer Lebensinhalt. Und Mrs. Pritchard …“

Die Haushälterin brach mitten im Satz ab. Was war mit Mrs. Pritchard? „Weiß denn niemand, wo sie ist?“, setzte Ally nach. „Eine Mutter, die ihr Kind im Stich lässt …“

Gewichtig schüttelte sie den Kopf in der Hoffnung, Mrs. Watkins dadurch aus der Reserve locken zu können. Doch der schien klar geworden zu sein, dass sie bereits zu viel verraten hatte. „Ich bin mir sicher, dass sie Gründe dafür hatte“, erklärte sie steif und wandte sich zur Tür. „Kann ich Ihnen irgendetwas aus Grand Manor mitbringen, Miss Thompson?“

„Nein, danke, sehr liebenswürdig von ihnen“, antwortete Ally. Sie bemühte sich, ihre Enttäuschung nicht zu zeigen. Irgendetwas verbarg Mrs. Watkins. Wusste sie, wo Elaine sich aufhielt? Oder was mit ihr geschehen war? Versuchte sie, Andrew zu schützen? Aber wovor?

Trotzdem war es merkwürdig, dass Andrew Pritchard nach all den Jahren keine neue Partnerin an seiner Seite hatte. Bedeutete es, dass er Elaine immer noch liebte, egal, was passiert war?

Der Gedanke verursachte einen eifersüchtigen Stich bei Ally. Das Gefühl der bedingungslosen Liebe hatte sie nie erlebt, weder in ihrem Elternhaus noch bei einem Mann. Aber sie hatte auch noch nie jemand nahe genug an sich herangelassen, um ein solches Gefühl zu erzeugen. Trotzdem beneidete sie Elaine Pritchard um die Liebe, die sie erfahren hatte und offensichtlich immer noch erfuhr.

Was Allys Eifersucht weckte, war nicht die Vorstellung, dass Elaine von irgendjemandem geliebt wurde, sondern die, dass es Andrew war, der solch tiefe Gefühle für sie hegte. Aber warum, zum Teufel, sollte mir das etwas ausmachen? fragte Ally sich ungehalten. Komm bloß nicht auf die Idee, dich in Andrew Pritchard zu verlieben, mahnte ihre innere Stimme. Doch sie wusste selbst, wie sinnlos diese Ermahnung war.

Gedankenverloren verließ sie Lilys Zimmer – und stieß mit Andrew Pritchard zusammen, der eben an der Tür vorbeiging. Der Zusammenstoß war so heftig, dass sie sich gegenseitig aneinander festhalten mussten, um nicht zu stürzen.

„Ich – verzeihen Sie, das …“, stammelte Ally.

Sie hielt seine Oberarme umklammert, spürte die angespannten Muskeln unter seinem Shirt. Die Berührung schickte intensive Gefühlswallungen durch ihren Körper, die sich schließlich in ihrem Bauch sammelten und dort ein erregtes Kribbeln verursachten. Andrew trug wieder seine Joggingkleidung. Der feine Geruch eines holzigen Aftershaves umwehte ihn. Ein anziehender, männlicher Duft, wie Ally fand.

Andrews Hand lag an ihrer Hüfte, als er sich abzustützen versuchte, um nicht über sie zu stolpern. „Aber nein – ich muss …“

Mit einem verlegenen Lachen machten sie sich voneinander los. „Laufen Sie jeden Tag?“, fragte Ally.

„Ja, das gehört zu meinen Morgenritualen. So bekomme ich den Kopf frei für meine Arbeit“, erklärte Andrew.

Mit Blick auf seine kurze Laufhose deutete Ally ein Frösteln an. „Ist es nicht schon zu kühl dafür?“

Andrew schenkte ihr ein Lächeln, das ihn noch attraktiver machte. Ein kleines Grübchen erschien an seinem Kinn. „Dann sollte ich besser jetzt ganz schnell laufen, um nicht einzufrieren“, meinte er schelmisch. Es schien, als wollte er noch etwas hinzufügen, aber dann räusperte er sich und wandte sich zum Gehen. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Vormittag, Miss Thompson.“

„Bitte, Sir, sagen Sie doch Ally zu mir“, hielt Ally ihn noch einen Moment zurück. Aufmerksam beobachtete sie sein Gesicht, als er sich zu ihr herumdrehte. Schon befürchtete sie, er würde diese Vertrautheit ablehnen, aber nach kurzem Zögern nickte er. „Das mache ich gern, Ally. Und nennen Sie mich Andrew.“

Ally lächelte. „Gern, Andrew!“

Sein Blick traf den ihren, hielt ihn einen Augenblick fest. Sie konnte sehen, dass seine Brust sich heftig hob und senkte. Auch ihre eigene Atmung ging plötzlich schneller. Da war etwas zwischen ihnen – es fühlte sich an wie eine körperliche Berührung, obwohl sie mehr als zwei Schritte voneinander entfernt standen. Trotzdem konnte Ally immer noch seine Hand auf ihrem Körper spüren, hatte den Duft seines Rasierwassers in ihrer Nase. Es war, als könnten sie sich nicht voneinander losreißen. Schließlich brach Andrew den Bann, als er sich abrupt umdrehte und die Treppe hinunterlief.

Ally starrte ihm nach. Was für ein eigenartiger Mann – hart und verschlossen, dabei schien er gleichzeitig so verletzlich zu sein. Aber sie musste sich eingestehen, dass es gerade diese Mischung war, die ihn so ungemein anziehend machte. Er hatte etwas von einem Bad Boy an sich, von einem verwegenen Freibeuter, der bereit war, jedes Risiko einzugehen für die, die er liebte …

Nachdenklich wollte sie in ihr Zimmer gehen, als ihr plötzlich die Treppe ins Auge stach. Die Treppe, die in den zweiten Stock führte. Aus dem Erdgeschoss hörte sie das Geräusch der Eingangstür, die sich hinter Andrew schloss. Mrs. Watkins war schon vor einer Weile mit ihrem Wagen aus der Einfahrt gefahren, um ihre Besorgungen in Grand Manor zu erledigen.

Das bedeutete, dass sie allein im Haus war. Allys Herzschlag beschleunigte sich. Eine solche Gelegenheit, das Schlafzimmer von Elaine Pritchard zu erkunden, würde sich ihr vielleicht nie wieder bieten. Es hieß jetzt oder nie. Trotzdem verspürte sie einen seltsamen Widerwillen dagegen, in den oberen Stock zu schleichen. Hatte sie Angst vor dem, was sie dort vielleicht vorfand? Aber was sollte das sein?

Sei nicht albern, sagte sie sich. Das ist deine große Chance! Denk an deine Story! Die Meldung auf Seite Eins. Nur darum geht es!

Zögernd setzte sie ihren Fuß auf die erste Treppenstufe. Angestrengt lauschte sie, ob sie irgendein Geräusch im oberen Stockwerk oder sonst irgendwo im Haus hören konnte. Aber alles war still. Ally schluckte, dann stieg sie weiter nach oben. Die dritte Stufe quietschte unter ihrem Tritt, und sie hielt erschrocken inne.

Hör endlich auf, Gespenster zu sehen, Ally! Du bist Journalistin! Also benimm dich auch wie eine!

Autor

Myrna Mackenzie
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