Romana Gold Band 67

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KANN ICH IHNEN VERTRAUEN, DR. HUTTON?
von KATE HARDY

Zoe ist absolut hingerissen von Dr. Brad Hutton, dem neuen Kinderarzt im London City General Hospital. Aber so sehr sie sich nach ihm sehnt - sie sollte sich besser nicht mit ihm einlassen. Denn dann entdeckt Dr. Hutton womöglich ihr Geheimnis ...

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  • Erscheinungstag 25.01.2022
  • Bandnummer 67
  • ISBN / Artikelnummer 9783751510868
  • Seitenanzahl 444
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kate Hardy, Caroline Anderson, Barbara Hannay

ROMANA GOLD BAND 67

1. KAPITEL

In der Aufnahme der Kinderstation war der Teufel los. Brad Hutton bedauerte es fast, dass er sich bereit erklärt hatte, das Geschehen zu beaufsichtigen. Es war eine endlose Folge von Fällen hereingekommen, von einer mutmaßlichen Vergiftung über Asthmaanfälle bis hin zu Viruserkrankungen, bei denen der Hausarzt eine Meningitis nicht ausschließen wollte. Brad war kaum einmal zum Luftholen gekommen.

Der einzige Lichtblick auf der Station war seine Oberärztin, Zoe Kennedy. Zwar hatte er sie während der letzten Tage mehrmals nur aus der Ferne gesehen, heute allerdings zum ersten Mal mit ihr zusammengearbeitet. Es war ein reines Vergnügen, ihr dabei zuzuschauen. Wie sie die Patienten beruhigte, Unterlagen überflog, ein Kind einschätzte und über die notwendige Behandlung entschied – schnell, reibungslos und doch sehr gründlich. Und jede ihrer heutigen Entscheidungen war genau richtig gewesen. Eine begabte Ärztin.

Interessier dich nicht zu sehr für sie, warnte eine leise Stimme in seinem Kopf. Du bist absolut nicht in dem Zustand, dich auf eine Beziehung einzulassen.

Das habe ich auch nicht vor, verteidigte er sich. Aber ich kenne niemand in London. Eine Freundschaft wäre bestimmt nicht schlecht.

Dann sorg dafür, dass es bei einer Freundschaft bleibt.

Bestimmt. Sie ist sowieso nicht mein Typ.

Anders als seine früheren Freundinnen, die nicht selten einsachtzig maßen, war sie höchstens ein Meter sechzig groß. Ihr Haar mit der kurzen Bobfrisur war mittelbraun, nicht blond und hüftlang. Die Augen waren warm und braun, nicht kühl und blau. Und er hatte den Eindruck, dass sich unter dem weiten, langärmeligen Pullover und der bequemen Jerseyhose üppige feminine Formen verbargen, nicht die gertenschlanken, die er normalerweise bevorzugte. Eine Westentaschenvenus.

Ja, eindeutig eine Venus. Sie hatte ein herzförmig geschnittenes Gesicht und Lippen wie Cupido, der römische Liebesgott.

Und sie ist nicht wie Lara, erinnerte ihn die Stimme. Wenn du dich gleich auf das genaue Gegenteil von Lara stürzt, wirst du nicht der Einzige sein, der verletzt wird.

„Dr. Hutton?“

Da erst bemerkte er, dass das Objekt seiner stummen Betrachtungen mit ihm sprach. „Verzeihung, Dr. Kennedy – Zoe, nicht wahr?“

Sie nickte.

Er streckte die Hand aus. „Brad. Ich mag es lieber, wenn man sich beim Vornamen nennt.“

Sie schüttelte ihm die Hand, und beinahe wäre er zusammengezuckt, weil er einen Schlag bekam. Auf jeden Fall war es eine elektrische Entladung. Über die mögliche Alternative wollte er jetzt nicht nachdenken.

„Was kann ich für Sie tun?“

„Ich würde gern eine zweite Meinung in einem Fall hören.“

„Gern. Obwohl ich nicht glaube, dass es nötig ist, nach allem, was ich heute Morgen gesehen habe.“

„Danke … für das Kompliment. Aber …“

Die sanfte Röte auf den Wangen war wirklich süß. Für eine Oberärztin sah sie sehr jung aus, was bedeutete, sie musste eine kluge Frau sein. Aber das Erröten zeigte ihm, dass sie sich zumindest noch einen Rest von Bescheidenheit bewahrt hatte. Dass sie ihre Patienten wie Menschen behandelte, nicht nur als medizinische Fälle. „Okay. Was gibt es?“

„Michael Phillips, zwölf Monate. Den Unterlagen nach war er ein schwächelndes Baby. Von Anfang an hatte er Probleme mit der Nahrungsaufnahme, trank wenig und litt unter chronischer Verstopfung. Er lächelte spät und drehte sich mit acht Monaten immer noch nicht auf die Seite. Jetzt erst beginnt er zu krabbeln, aber dabei liegt er auf dem Bauch und arbeitet sich mit den Armen voran, wie Soldaten in der Grundausbildung. Stellt man ihn hin, lassen seine Reflexe stark zu wünschen übrig.“

„Und was vermuten Sie?“, fragte Brad.

„Zerebralparese. Wahrscheinlich eine Mischform mit Spasmen und Athetosen.“

Das konnte der Grund für die Entwicklungsverzögerung sein. „Was sagen die Eltern?“

„Die Mutter ist ganz krank vor Sorge, weil er nicht dem entspricht, was ihr Elternhandbuch vorgibt. Der Vater hingegen verschließt die Augen vor den Tatsachen und ist der Ansicht, sein Sohn sei völlig normal und hätte bis zur Einschulung alles aufgeholt.“

„Okay, ich komme.“

Zoe stellte ihn Jenny und Dave Phillips vor. Brad untersuchte den kleinen Michael. „Sagen Sie, hat er Probleme mit dem Essen?“, fragte er dann.

„Und ob. Er ist schließlich noch ein Baby“, erwiderte Dave. „Die sabbern doch immer beim Essen, oder?“

„Michael mag keine Häppchen“, erklärte die Mutter. „Am liebsten isst er Joghurt und Brei.“

„Das kommt noch“, beharrte Dave. „Du machst zu viel Wirbel um die Sache, Jenny. Mit ihm ist alles in Ordnung.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, irgendetwas stimmt nicht mit ihm, Dave. Ich weiß es.“

„Sagen Sie es ihr, Doktor“, bat Dave. „Sagen Sie ihr, dass sie sich umsonst solche Sorgen macht.“

„Also, ich denke, Ihre Frau hat Recht“, erwiderte Brad.

Panik flammte in Daves Augen auf. „Was stimmt mit ihm nicht?“

„Wir sind ziemlich sicher, dass es eine zerebrale Lähmung ist“, sagte Brad.

„Wollen Sie mir sagen, mein Sohn ist …?“ Daves Stimme verlor sich.

Zoe drückte ihm die Hand. „Sie haben beide recht, Mr. Phillips. Michael wird es gut gehen – aber er wird Hilfe brauchen, wenn er älter wird.“

„Aber … zerebrale Lähmung? Er sieht gar nicht aus wie jemand, der geistig zurückgeblieben ist. Er ist aufgeweckt, zeigt auf Dinge“, brach es aus Dave hervor. „Es kann einfach nicht sein!“

„Zerebrale Lähmung bedeutet motorische Störungen“, erklärte Brad. „Seine Bewegungen sind beeinträchtigt, nicht seine Intelligenz.“

„Es besteht jede Chance, dass Michael auf eine normale Schule gehen kann“, unterstützte Zoe ihn. „Es gibt unterschiedliche Ausprägungen der Störung. Manche sind durchaus ernst, können aber in schwacher Form auftreten, sodass sie praktisch nicht auffallen.“

Dave wirkte nicht überzeugt. „Was genau bewirkt diese zerebrale Lähmung?“

„Sie beeinträchtigt die Übertragung von Befehlen des Gehirns an die Muskeln. Es gibt drei Formen. Die häufigste ist die Form, die wir spastische zerebrale Lähmung nennen, hervorgerufen durch eine Schädigung der Großhirnrinde.“

„Spastisch?“ Dave presste die Augen zusammen. „Oh nein! In der Schule haben wir immer gesagt …“ Er brach mitten im Satz ab und wurde rot.

„Das Wort spastisch ist nur ein anderer Ausdruck für steif“, erläuterte Zoe. „Es bezieht sich auf die Muskeln – sie werden steif und verkürzen sich, und das Kind hat Mühe, seine Bewegungen zu beherrschen.“

„Die zweite Form nennt sich athetotische zerebrale Lähmung, die auf der Schädigung der Basalganglien – oder auch Endhirnkerne – beruht“, sagte Brad. „Sie beeinträchtigt die Haltung des Kindes, weil die Muskeln schnell von steif zu schlaff wechseln und umgekehrt. So hat das Kind keine Kontrolle darüber. Es kann auch zu Sprachstörungen kommen. Auch Probleme beim Essen gibt es, dazu sabbert das Kind. Und es erscheint rastlos – nur im Schlaf ist es entspannt. Der dritte Typus“, fuhr Brad fort, „ist äußerst selten und zeigt sich nur bei rund zehn Prozent der betroffenen Kinder. Die so genannte ataktische zerebrale Lähmung wird verursacht durch eine Schädigung des Kleinhirns und beeinträchtigt die Koordinationsfähigkeit und den Gleichgewichtssinn des Kindes, dazu kommt eine undeutliche Aussprache. Es fällt ihm zusätzlich schwer, die Lage von Dingen um sich herum zu bestimmen.“

„Welche Form hat Michael?“ wollte Jenny bang wissen.

„Das ist schwer zu sagen“, gab Brad zu. „Die Behinderungen sind bei jedem Kind anders ausgeprägt, und es können Mischformen in verschiedenen Abstufungen auftreten.“

„Dann wird er also immer sabbern und nie laufen können?“, fragte Dave.

Zoe schüttelte den Kopf. „Zurzeit lässt sich das nicht genau bestimmen. Das Hauptproblem wird die Kontrolle der Bewegungen und der Gesichtsmuskeln sein. Vielleicht spricht er auch ein wenig undeutlich. Möglich wäre auch eine eingeschränkte Fähigkeit auf bestimmten Gebieten wie Mathematik oder Lesen oder Zeichnen – abhängig davon, ob ein bestimmter Teil seines Gehirns in Mitleidenschaft gezogen ist.“

Dave atmete bebend tief durch. „Und das wäre es? Oder kann es noch schlimmer kommen?“

„Der Verlust des Hörvermögens ist nicht auszuschließen, und es kann sein, dass er schielt. Außerdem sind rund ein Viertel aller betroffenen Kinder Epileptiker.“

„Aber wir können sehr viel tun und werden Ihnen helfen, Kontakt mit der örtlichen Selbsthilfegruppe aufzunehmen“, fügte Zoe hinzu.

„Ist die Erkrankung heilbar?“, fragte Jenny.

„Nein, eine Heilung gibt es nicht“, entgegnete Brad behutsam. „Aber das Gute ist, es kann nicht schlechter werden, und Michaels Zustand wird sich durch entsprechende Behandlung verbessern lassen. Seine Behinderung bedeutet nicht, dass er kein ausgefülltes und selbstständiges Leben führen kann, wenn er älter ist.“

„Nein, nicht?“ Dave fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

„Je eher wir mit der Behandlung beginnen, desto besser können wir helfen“, sagte Zoe.

„Und was ist die genaue Ursache?“, fragte Jenny. „War es irgendetwas, was ich während der Schwangerschaft getan habe?“

„Nein, Sie tragen überhaupt keine Schuld daran“, versicherte Brad ihr. „Der Teil des Gehirns, der für die Muskelkontrolle verantwortlich ist, entwickelt sich nicht richtig – entweder noch vor der Geburt oder in der frühen Kindheit. Der Grund dafür kann ein blockiertes Blutgefäß oder eine Gehirnblutung sein, oder eine schwierige Geburt, falls das Kind eine Frühgeburt war oder nach der Geburt erkrankte. Oder in der frühen Kindheit eine Infektion bekam, wie zum Beispiel Meningitis.“

„Was können wir tun?“ wollte Jenny wissen.

„Ein Physiotherapeut wird Ihnen Übungen zeigen, die Sie zu Haus durchführen können“, erklärte Brad. „Später dann hilft ein Sprachtherapeut ihm beim Sprechenlernen.“

„Auch ein Beschäftigungstherapeut wird Ihnen zur Seite stehen“, sagte Zoe. „Wichtig ist, dass Sie wissen, Sie sind nicht allein mit Ihren Problemen.“

Als sie endlich alle Fragen beantwortet hatten und die beiden unglücklichen Eltern gegangen waren, fühlte Zoe sich wie ausgelaugt.

„Kommen Sie, wir können jetzt beide eine Pause gebrauchen. Ich spendiere Ihnen einen Kaffee“, sagte Brad.

Zoe wurde rot und ärgerte sich darüber. Brad Hutton sollte auf keinen Fall denken, dass er sie beeindruckt hatte. Der kalifornische Kollege mochte groß und blond sein und wirklich umwerfend aussehen – wegen der blendend weißen Zähne und der bronzenen Haut hatte er von einem neidischen Kollegen sofort den Spitznamen Surfer bekommen –, aber er war nichts für sie. Nicht jetzt, und auch später nicht. In ihrem Leben war kein Platz für eine Beziehung, und die letzten zehn Jahre hatte sie sich strikt daran gehalten. Freundschaft ja, alles Weitere nein.

Aber sein Kaffeeangebot hörte sich auch nicht nach mehr an. Eher wie das eines Chefs, der gute Zusammenarbeit belohnen wollte. So lächelte sie.

„Danke. Ich brauche wirklich eine Dosis Coffein.“

Die sie jedoch kaum gesprächiger machte, als sie vor ihrem Becher saß.

„Einen Penny für Ihre Gedanken.“ Brad lächelte.

„Ich hoffe, die Phillips kommen damit zurecht“, sagte sie. „Sie wissen ja, wie hoch die Scheidungsrate bei Paaren mit behinderten Kindern ist. Ich glaube, Dave wird einige Schwierigkeiten haben zu akzeptieren, dass sein Sohn nicht perfekt ist.“

„Aber sie stehen nicht allein davor. Sie haben Ihnen sachlich die Fakten genannt und zudem noch Hoffnung gegeben. Mir hat gefallen, wie Sie mit der Situation umgegangen sind.“

Erfreut über sein Lob blickte sie auf. Und schaute in seine Augen. Zoe wünschte sofort, sie hätte es nicht getan. Sie waren blau wie das Meer an einem Sommertag. Augen, in denen eine Frau sich verlieren konnte.

Wieder lächelte er freundlich. „Die Arbeit in der Kinderaufnahmestation ist hartes Brot. Ich bin froh, jemand wie Sie in meinem Team zu haben. Jemand, mit dem ich zusammenarbeiten kann.“

„Vielen Dank für das Kompliment, aber ich glaube, das trifft auch auf alle anderen Kolleginnen und Kollegen der Abteilung zu.“

„Kein Drachen in Gestalt der Oberschwester?“

„Nein, unsere Oberschwester Val ist eher wie eine Glucke.“ Sie erwiderte sein Lächeln. „In den letzten Tagen ging es auf der Station so hektisch zu, dass Sie gar keine Zeit hatten, Leute kennen zu lernen. Was machen Sie heute Abend?“

Verblüfft sah er sie an. „Soll das eine Einladung sein?“

„Also … nein. Ja. Nun ja, nicht so, wie Sie vielleicht denken.“

„Vielen Dank für das Angebot“, sagte er trocken, „aber ich brauche kein Date.“

„Sind Sie verheiratet?“ Automatisch schaute sie auf seinen Ringfinger. Kein Ehering, kein blasser Streifen, der verraten hätte, dass er ihn vor kurzem abgenommen hatte. „Ich dachte, Sie wären allein in London.“

„Das bin ich auch“, erwiderte er ruhig.

Dennoch war ein leicht gereizter Unterton dabei. Rasch trat sie den Rückzug an. „Es tut mir leid. Ich wollte wirklich keinen Annäherungsversuch starten. Es ist nur so, Sie kennen nicht viele Leute hier. Da dachte ich, Sie könnten sich vielleicht ein wenig einsam fühlen.“

Einsam? Da hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Seit er Lara verloren hatte, war er nur noch einsam. „Mir geht es gut“, log er.

„Heute Abend treffe ich mich mit meinen Freundinnen Judith und Holly, und da dachte ich, Sie hätten vielleicht Lust, uns Gesellschaft zu leisten. Nichts Großartiges, nur Pasta und dazu einen schlichten Rotwein vom Fass bei unserem Italiener an der Ecke.“

„Danke, aber das ist nicht nötig.“

„Falls Sie doch noch Appetit bekommen – das Lokal heißt Giovanni’s. Wir fangen um sieben Uhr an und bleiben, bis man uns vor die Tür setzt.“

Das hörte sich nach einem Gelage an. „Ich hoffe, Sie haben morgen Spätdienst.“

Seine sarkastische Bemerkung schien sie nicht zu kränken. Ihre Augen leuchteten amüsiert auf, und sie lächelte ihn an. „Nein, Frühdienst. Deswegen werde ich nach dem zweiten Glas Wein auf Mineralwasser umsteigen. Bis das Eis auf dem Tisch steht. Danach geht es sowieso mit Kaffee weiter. Giovanni serviert den besten Cappuccino in ganz London.“

Eigentlich hätte er es wissen müssen. Zoe nahm ihren Beruf ernst und würde nie verkatert zum Dienst kommen.

„Das ist gut.“

„Und was ist mit Mittwochabend … haben Sie da etwas vor?“

Sie war beharrlich, das musste man ihr lassen. „Warum?“

„Wenn nicht, würden Sie dann vielleicht gern Geld machen?“

Er runzelte die Stirn. „Sie gehen ins Spielkasino? Oder zum Hunderennen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nichts von alledem. Es ist eine Aktion, um Geld für medizinische Ausrüstung zu sammeln. Judith, Holly und ich veranstalten sie jeden Monat einmal und teilen dann das Geld zwischen unseren Stationen auf. Judith ist auf der Wöchnerinnenstation und Holly in der Notaufnahme. So profitieren wir alle davon.“

„Und wie funktioniert es?“

„Zum Beispiel können Sie eine Eintrittskarte kaufen. Oder Sie laufen herum, lächeln strahlend, klimpern mit den Wimpern und überreden Leute dazu, welche zu kaufen. Außer …“ Sie sah ihn nachdenklich an. „Sie sind nicht zufällig musikalisch?“

„Ich spiele ein wenig Klavier“, gab er zu.

Was sich als großer Fehler erwies.

„Super!“ Sie stieß enthusiastisch die Faust in die Luft. „Ich glaube, wir haben gerade unseren Gaststar gefunden.“

„Immer langsam.“ Das ging ihm alles viel zu schnell. „Ich bin nicht mehr in Übung. Eingerostet, sozusagen.“

„Sie haben eine volle Woche Zeit. Sie können auf Judiths Klavier üben.“

„Aber …“ Sein Protest erstarb. Brad ahnte, dass er keine Chance hätte. Auf jeden Einwand würde Zoe eine passende Antwort finden.

Ihre braunen Augen blitzten, als sie ihn breit anlächelte. „Gut, dann ist das abgemacht. Danke. Wir setzen Ihren Namen mit aufs Programm. Gaststar: Brad Hutton – singen Sie vielleicht auch?“

„Hat Ihnen eigentlich mal jemand gesagt, dass Sie …“ Ihm fehlten tatsächlich die Worte. Er schüttelte den Kopf.

Zoe lachte leise. „Man nennt mich auch Hurricane Zoe. Jedenfalls hier auf der Station.“

„Der Spitzname passt haargenau zu Ihnen“, sagte er aus voller Überzeugung.

„Also, nur Klavier, oder singen Sie auch?“

Er seufzte. „Beides. Mir bleibt wohl keine Wahl, oder?“

„Sie können Nein sagen.“

Aber das würde bedeuten, sie hängen zu lassen. Verwundert gestand er sich ein, dass er genau das nicht wollte. Er wollte sie nicht enttäuschen. Zoe Kennedy war die erste Person seit fast einem Jahr, die in ihm etwas anrührte. Sollte er nun erleichtert sein – oder Angst haben?

„Wie viele Leute erwarten Sie?“

„Es ist keine große Angelegenheit und findet im Mitarbeiterclub des Krankenhauses statt. Wir verkaufen zwar einige Eintrittskarten – Holly kann sehr beharrlich sein –, aber mehr als dreißig Leute tauchen normalerweise nicht auf. Ich kümmere mich um das Essen, Holly um die Eintrittskarten, und Judith erfreut alle Anwesenden mit ihrem Gesang.“ Sie warf ihm einen Seitenblick zu. „Vielleicht sollten Sie Ihre Meinung ändern und doch heute Abend mitkommen. Sie müssen mit Judith die Lieder und mit Holly das Programm absprechen. Oder wollen Sie die Entscheidungen mir überlassen?“

Ihr? Hurricane Zoe? Der Himmel allein wusste, wozu sie in seinem Namen zustimmen würde.

„Na schön, ich bin einverstanden“, fügte er sich.

„Gut.“ Sie zeichnete auf einer Serviette auf, wo das Lokal lag. „Es ist wirklich einfach zu finden. Achten Sie nur auf die grün-rot-weiß gestreiften Fensterläden.“

„Haben Ihre Partner denn nichts dagegen, dass ich komme?“

Sie schüttelte den Kopf. „Wir sind heute Abend nur zu dritt. Außerdem sind Holly und Judith mehr oder weniger glücklich mit ihrem Beruf verheiratet.“

Und was war mit Zoe? Sie hatte nicht ausdrücklich gesagt, dass sie Single war. Warum interessierte es ihn eigentlich? Er wollte keine Beziehung. Ganz bestimmt jetzt nicht, vielleicht nie. Es war erst ein Jahr her, und der Verlust schmerzte immer noch. Einer der Gründe, warum er nach London gekommen war. Er wollte irgendwohin, wo ihn keine Erinnerungen quälen konnten.

Zoe Kennedy war nichts für ihn. Und außerdem war sie wohl sowieso gebunden.

„Gut. Sieben Uhr im Giovanni’s.“ Sie lächelte ihn an. „Wir machen uns besser auf den Weg zurück, sonst wartet eine lange Schlange Patienten auf uns!“

2. KAPITEL

Brad war spät dran. Als er das Lokal betrat, saßen die drei Frauen bereits an ihrem Tisch und tranken Rotwein. Ein Platz war noch frei.

Die eine von Zoes Freundinnen war groß und schön, mit wundervollem Teint und langen roten Haaren, im Nacken zusammengebunden. Die andere war der dunkle Typ, mit ausdrucksstarken Augen. Und dann war da Zoe, kleiner als die beiden, mit braunem Haar, das rötlich schimmerte, wenn es einen Sonnenstrahl einfing. Und wenn sie lächelte …

Hastig rief er sich zur Ordnung, ehe seine Gedanken sich weiter in diese Richtung bewegten. Er wollte schon wieder hinausgehen, sich morgen früh entschuldigen, als Zoe ihn entdeckte und ihm zuwinkte.

Nun gab es kein Zurück mehr.

Er zwang sich zu einem Lächeln und ging auf den Tisch zu. Zoe übernahm die Vorstellung. Die Rothaarige war Judith, Gynäkologin und Geburtshelferin, und die Brünette Holly, spezialisiert auf Notfallmedizin. Seit ihren Studientagen waren die drei eng befreundet.

„Zoe hat uns erzählt, Sie sind aus Kalifornien und machen Vertretung hier am London City General. Wie gefällt es Ihnen in England?“ erkundigte sich Judith.

„Es ist … anders.“ Noch wichtiger, obwohl er das natürlich verschwieg: In London erinnerte ihn nichts an Lara.

„Fehlt Ihnen Kalifornien?“, fragte Holly.

Nur das, was unwiederbringlich verloren war. Doch er würde die Frauen nicht mit seinen Problemen belasten. „Mir fehlt das schöne Wetter“, schlug er einen leichten Ton an. „Mir ist gar nicht bewusst gewesen, dass es hier so kühl sein kann und so oft regnet.“

„Na, so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Sie sind doch nicht aus Zucker“, tadelte Zoe ihn ungeniert.

Judith lachte. „Hier, trinken Sie ein Glas Wein.“ Sie schenkte ihm ein. „Ignorieren Sie unsere Zoe einfach. Sie ist so verrückt, dass sie selbst im Spätherbst noch paddeln geht.“

„Ein langer Spaziergang bei einem Wetter wie heute tut gut. Man wird so richtig durchgepustet.“ Zoe lachte.

„Ihre Tante besitzt ein Cottage an der Küste von Norfolk, und sie hat uns schon mitten im Winter dort hingeschleppt, um am Strand ein Picknick zu machen.“ Holly schauderte sichtlich.

„An einem sonnigen Tag?“, fragte Brad.

„Nein. Es regnete zwar nicht, aber fast.“ Judith zog eine Augenbraue hoch. „Wir konnten wohl von Glück sagen, dass in ihrem Picknickkorb ein Thermobehälter mit heißer Suppe und keine Eiscreme war.“

Zoe hatte also eine exzentrische Ader. Sie paddelte im Spätherbst in der Nordsee. Veranstaltete Picknicks mitten im Winter. Liebte Eiscreme. Und konnte kochen.

„Wie auch immer, heute Abend laden wir Sie zum Essen ein“, verkündete Zoe. „Da ich Sie mehr oder weniger gedrängt habe, nächste Woche mit Judith zu singen, ist es das Mindeste, was wir tun können.“

Ihr entschlossener Ausdruck ließ ihn sofort jeden Protest vergessen. „Vielen Dank. Aber erzählen Sie, wie lange veranstalten Sie schon diese Spendensammelaktion?“

„Den Wednesday Night Music Club? Fast ein Jahr“, erklärte Judith. „Es war Zoes Idee. Der Pädiatrie fehlten ein paar Geräte, und die Verwaltung wollte keine zusätzlichen Mittel herausrücken …“

Zwei Stunden später stellte Brad überrascht fest, dass ihm der Abend gefallen hatte. Sehr gut sogar. Zum ersten Mal seit fast einem Jahr hatte er nicht in jedem Moment an Lara denken müssen. Zoe mochte ein Wirbelwind sein, aber sie hatte ein großes Herz.

„Also, da ich morgen Frühdienst habe, verlasse ich euch Nachteulen jetzt“, erklärte Zoe nach dem dritten Cappuccino.

Judith warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Du meine Güte! So spät ist es schon? Ich mache mich besser auch auf die Socken.“

„Für mich gilt das Gleiche“, sagte Holly. „Zu Hause wartet noch ein Bericht, der fertig werden muss.“

„Ich bringe Sie nach Haus“, bot Brad an. Die drei Frauen lachten, und er schaute verwundert in die Runde. „Was ist?“

„Das ist sehr nett von Ihnen. Aber abgesehen davon, dass wir alle seit dem Studium hier in der Nähe wohnen, ist Holly meine direkte Nachbarin auf der Etage“, erklärte Judith.

„Ich komme auch gut allein nach Haus“, meinte Zoe schnell.

„Sie wohnen in derselben Straße?“, fragte Brad.

„Ich … nein, das nicht. In der entgegengesetzten Richtung“, gab sie zu.

„Gut. Dann lassen Sie mich Sie begleiten, sonst könnte es passieren, dass ich mir von einem unserer Patienten einen Virus einfange und leider nicht Klavier spielen und singen kann.“ Brad grinste.

„Tu, was der Mann sagt“, befahl Holly. „Sonst musst du für ihn einspringen, Klavier spielen und mit Judith singen.“

„Wahrscheinlich bezahlen sie mich dann dafür, dass ich nicht singe“, spaßte Zoe, gab aber nach. Sie umarmte ihre Freundinnen, dann verließ sie mit Brad das Lokal.

„Die beiden sind nett“, meinte Brad, als sie die schmale Seitenstraße entlanggingen.

„Sehr nett sogar“, erwiderte sie. „Hören Sie, ich habe Sie ein wenig gedrängt, bei der Sammelaktion mitzumachen …“

„Ein wenig?“

„Na gut, ziemlich, ich gebe es ja zu. Ich wollte nur sagen, wenn Sie lieber nicht mitmachen, hätte ich vollstes Verständnis.“

„Nein, ich bleibe dabei. Ich glaube, es wird Spaß machen.“

„Darauf können Sie Gift nehmen.“

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, aber es war ein angenehmes Schweigen. Als sie Zoes Haus erreichten, blieben sie am Zaun stehen.

„Ich würde Sie ja gern noch auf einen Kaffee zu mir einladen“, sagte Zoe. „aber …“

„Es würde Ihrem Freund nicht gefallen?“ mutmaßte Brad.

„So ähnlich.“ Wenn sie einen Freund hätte. Aber sie wollte gar keinen. Sie war mit ihrem Beruf als Kinderärztin vollkommen glücklich und zufrieden.

„Dann sehen wir uns morgen.“

Einen Moment lang dachte sie, er würde sich vorbeugen und sie küssen, und ihre Sinne reagierten heftig. Sie spürte fast seinen Mund auf ihrem. Sanft, ein wenig unsicher anfangs, und dann lockend verführerisch, zunehmend fordernd, bis …

Was ist das denn? Bist du … Oh, Gott. Es tut mir leid, Zoe. Ich kann das einfach nicht …

Die Worte hallten in ihrem Kopf nach, diese Worte, die sie seit zehn Jahren verfolgten.

Zweite Wahl.

Nein. Nie wieder würde sie sich diese Mischung aus Mitleid und Abscheu in den Augen eines Mannes zumuten. Das bedeutete den Verzicht auf Küsse – denn Küsse führten zum Anfassen, Anfassen zum Ausziehen und das dazu, dass ihre Narben sichtbar wurden. Narben, von denen am Krankenhaus niemand wusste, nicht einmal Holly und Judith. Narben, die Zoe geschickt unter langen Ärmeln, hochgeschlossenen Tops oder Blusen verbarg. Narben, die jeden Mann abschrecken würden.

„Ja, wir sehen uns morgen“, sagte sie, trat durch die schmiedeeiserne Pforte und schloss sie fest hinter sich. „Danke fürs Nachhausebringen.“

Falls Brad ihre Zurückhaltung aufgefallen war, zeigte er es zu ihrer Erleichterung jedenfalls nicht. Die folgenden Tage behandelte er sie wie eine Kollegin. Genauso, wie sie es gewollt hatte. Denn das war sie: Dr. Zoe Kennedy, Kinderärztin. Jedermanns Freund. Niemandes Geliebte.

„Haben Sie eine Minute Zeit, Zoe?“

„Sicher.“

„Bei einem kleinen Patienten besteht Verdacht auf Osteomyelitis“, sagte er. „Andy Solomon, sechs Jahre alt, Fußballfanatiker. Vor ein paar Tagen wollte er nicht mit seinen Freunden Fußball spielen. Seine Mutter fand das merkwürdig. Da er humpelte, vermutete sie, er hätte sich verletzt. Sein Knie war geschwollen. In der Nacht bekam er hohes Fieber. Seine Haut ist gerötet, und er macht einen rastlosen Eindruck. Und seine Schmerzen werden stärker, sagt sie. Der Hausarzt hat ihn an uns überwiesen.“

„Haben Sie ihn untersucht?“

Brad nickte. „Er hat immer noch Fieber, obwohl seine Mutter ihm Paracetamol gegeben hat. Schwellung und Rötung sind deutlich sichtbar, und die Umgebung ist heiß und empfindlich.“

„Sie wollen also Bluttests vornehmen lassen – Anzahl der weißen Blutkörperchen, Blutsenkung und C-reaktives Protein. Danach Röntgenaufnahmen und eine Kernspintomographie? Und eine Kultur anlegen, damit wir die Ursache herausfinden? Allerdings handelt es sich bei achtzig Prozent der Fälle um den Erreger Staphylococcus aureus.“

„Perfekt.“

„Okay, ich werde alles veranlassen und Ihnen die Resultate mitteilen, sobald sie vorliegen. Haben Sie und Judith schon die Liederliste für nächste Woche fertig?“

„Fast. Irgendwelche Wünsche?“

Bestimmt nicht. Einen Mann für sich singen lassen – besonders einen Mann wie Brad – wäre viel zu gefährlich für ihren Seelenfrieden. „Nein, eigentlich nicht. Ich mag jede Art von Musik“, sagte sie. „Singen Sie, was Ihnen gefällt. Hauptsache, es bringt uns einen Haufen Geld ein.“

„Schön. Haben Sie sich schon Gedanken übers Essen gemacht?“

„Der Menüplan steht im Großen und Ganzen. Irgendwelche Wünsche?“ Die Worte waren heraus, ehe sie sie zurückhalten konnte. Zoe wurde rot. Er ging ihr wirklich unter die Haut, und sie ließ es auch noch zu! Ein Ja hätte völlig gereicht.

„Wenn Sie mich so fragen … Ja, ich habe einen Wunsch. Echte amerikanische Brownies. Seit ich in England bin, habe ich den Geschmack nicht mehr auf der Zunge gehabt.“

Das löste verlockende Bilder aus. Wie sie sich über ihn beugte, während er zurückgelehnt in seinem Schreibtischsessel saß, und Brad mit saftigen Kuchenstückchen fütterte. Zwischendurch küsste er sie zärtlich. Zoe schmeckte bereits die schmelzende dunkle Schokolade auf den Lippen …

Hastig verscheuchte sie die erotischen Bilder. „Ich will sehen, was sich machen lässt.“ Und auf der Stelle verschwinden. „Also, ich kümmere mich jetzt um Andy Solomon“, fügte sie hinzu und nahm buchstäblich Reißaus.

Sie fand den kleinen Jungen und brachte ihn in ein Bett.

„Ich weiß auch nicht, woher er das hat“, klagte seine Mutter. „Vorher ging es ihm gut. Dann, urplötzlich, wollte er nicht mehr zur Schule, nicht mehr Fußball spielen, nichts essen …“

„War er in der letzten Zeit einmal krank – eine Erkältung, Schnupfen, Halsschmerzen?“, fragte Zoe. Osteomyelitis war eine bakterielle Entzündung des Knochens und konnte durch einen Schnupfen oder eine Halsinfektion ausgelöst werden. Oder durch eine infizierte Wunde.

„Nein, nichts.“ Mrs. Solomon schüttelte den Kopf. „Er ist nie krank. Sicher, die üblichen Schrammen und Beulen, aber mehr auch nicht.“

„Schrammen in der letzten Zeit?“

„Vor ungefähr einem Monat. Aber seine Impfungen sind alle auf dem neuesten Stand. Dafür habe ich immer gesorgt. Und von einem aufgeschürften Knie kann man doch nicht so krank werden, oder?“

„Doch, wenn Bakterien in die Wunde gelangen. Manche Erreger können wochenlang schlummern und dann plötzlich eine Entzündung auslösen.“

„Ich achte sehr auf Sauberkeit“, erwiderte Mrs. Solomon ein wenig pikiert. „Er badet jeden Abend.“

„Mit mangelnder Hygiene hat das nichts zu tun“, beruhigte Zoe sie.

„Dann ist es wohl diese Osteo…“

„Osteomyelitis. Wir werden ein paar Untersuchungen vornehmen, um den Grund herauszufinden, und um zu sehen, wie stark Andys Knochen in Mitleidenschaft gezogen ist. Sobald wir das wissen, können wir ihn auch behandeln.“ Sie lächelte ihren kleinen Patienten an. „Magst du Flugzeuge?“

„Ja.“ Es kam ohne jede Begeisterung heraus.

„Wir haben hier nämlich ein paar ganz besondere Flugzeug-Sticker, bei denen sich das Flugzeug verändert, wenn man es bewegt. Nur meine tapfersten Patienten bekommen so einen“, sagte Zoe. „Also, wenn du ganz still hältst, während ich dir Blut abnehme und einen Zugang für dein Medikament lege, dann bekommst du einen Sticker. Abgemacht?“

„Abgemacht“, erwiderte der kleine Junge ernst.

„Okay, legen wir los. Sag mal, wer wird dieses Jahr Sieger in der Premier League?“

„Manchester United!“, rief Andy. „Das ist meine Lieblingsmannschaft. Dad geht mit mir zum Spiel.“ Dann bebte seine Stimme. „Aua, das tut weh.“

„Ich weiß, mein Kleiner, aber nur kurz, und es ist notwendig, damit es dir wieder besser geht“, beruhigte sie ihn. „Und wer ist dein Lieblingsspieler?“

Sie schaffte es, ihn abzulenken, bis sie fertig war. Mit einem Lächeln holte sie dann ihre Sticker aus der Tasche. „Du warst so tapfer, dass du dir selbst einen aussuchen darfst.“

„Den da. Der ist cool“, freute er sich und schob wohlerzogen rasch hinterher: „Danke.“

„Gern geschehen.“

Später klopfte Zoe an Brads Bürotür.

„Herein.“

„Andys Blutwerte sind da. Der Leukozytenwert ist in Ordnung.“

„Gut, aber nicht immer ändern sich die Werte bei einer Osteomyelitis.“

Sie nickte. „Aber die Blutsenkungsgeschwindigkeit ist erhöht und ebenso seine C-reaktiven Proteine. Ich habe auch einen Blick auf seine Röntgenaufnahmen geworfen.“

„Die Filme sind schon zurück?“

Ein verschmitztes Lächeln glitt über ihr Gesicht. „Oh, ich kann Leuten ganz schön auf den Geist gehen, wenn ich will“, sagte sie, wurde aber schnell wieder ernst. „Also, es gibt eine Unschärfe und runde Schatten an der Stelle, wo man es vermuten könnte. Ich würde sagen, es ist Osteomyelitis im oberen Schienbein.“

Er nahm die Aufnahmen und betrachtete sie an einem Leuchtkasten. „Genau richtig, Dr. Kennedy. Es sieht so aus, als wäre hier die Knochendichte vermindert. Wir sollten es im Auge behalten. Was ist mit der Gewebeprobe?“

„Es wird noch ein paar Tage dauern, bis die Kultur so weit ist, aber ich bin sicher, man wird einen Staphylokokkenbefall feststellen.“

Er seufzte. „Und nun müssen wir alles Andys Mutter erklären.“

„Soll ich mitkommen?“

Warum um alles in der Welt hatte sie das gesagt? Er war der Chefarzt und brauchte sicher niemand, der ihm die Hand hielt, wenn er mit Patienteneltern sprach. „Also … nur weil ich vorhin schon mit ihr gesprochen habe. Sie ist nett, und …“ Nein, sie grub sich das Loch nur noch tiefer.

Aber anstatt der erwarteten sarkastischen Antwort sagte er nur: „Danke.“

Und dann beging sie einen weiteren Fehler. Sie blickte ihm in die Augen. Und reagierte wie hypnotisiert. Anders konnte man es nicht bezeichnen. Warum sonst würde sie die Lippen leicht öffnen? Warum sonst waren sie auf einmal so trocken, dass sie sie mit der Zungenspitze befeuchten musste? Warum sonst würde sie sich plötzlich einbilden, dass sein Gesicht näher und näher kam, sein Mund, bis er endlich ihren berührte, ein sanfter Kuss zuerst, aber dann …

Nein, das würde nicht geschehen. Egal, wie attraktiv sie Brad fand, sie würde keine Ausnahme von der Regel machen.

Zweite Wahl. Vergiss das nie, ermahnte sie sich.

Irgendwie schaffte sie es, ihre Gedanken wieder zu sammeln und ihm zu Andy Solomons Bett zu folgen. Andy schlief. Bedrückt saß seine Mutter neben ihm und hielt seine Hand.

„Uns liegen nun die Untersuchungsergebnisse vor, Mrs. Solomon“, sagte Brad. „Wie vermutet, ist es eine Osteomyelitis. Was bedeutet, Andys Knochen ist entzündet. Eiter sammelt sich unter der empfindlichen Knochenhaut, es ist zu einem Abszess gekommen, und der Druck ist die Ursache für Andys Schmerzen. Leider drückt der Abszess auch die Blutgefäße ab, und wenn der Knochen nicht mehr ausreichend ernährt wird, beginnt er abzusterben.“

„Andy verliert sein Bein?“, rief Mrs. Solomon entsetzt.

„Nein, keine Sorge. Mit Hilfe der Antibiotika heilen wir die Entzündung rasch aus, und er wird schnell wieder gesund werden. Besonders, weil Sie gleich zu uns gekommen sind.“

„Jim hat immer gesagt, ich mache zu viel Wirbel deswegen. Aber er ist Pilot und oft nicht zu Haus. Manchmal fühle ich mich wie eine Alleinerziehende, weil ich die meisten Entscheidungen allein treffen muss.“

„Sie haben genau das Richtige getan“, versicherte Brad ihr.

„Er wird also nicht hinken? Wird auch wirklich nichts zurückbleiben?“, fragte Andys Mutter.

„Nein. Vorsichtshalber geben wir ihm ein Breitbrandantibiotikum, weil wir noch nicht genau wissen, welche Bakterien die Entzündung verursachen“, erklärte Zoe. „Er wird vierzehn Tage zur Beobachtung bei uns bleiben müssen. Sollte doch eine Operation nötig sein, wird das betroffene Knochenstück entfernt und mit Knochensubstanz aus einem seiner ungeschädigten Knochen aufgefüllt, damit sich wieder gesunde Zellen bilden. Um das Bein ruhig zu stellen, werden wir es vorerst in einen externen Fixateur bringen.“

„Die nächsten zwei Monate muss er Antibiotika einnehmen“, fuhr Brad fort. „In ein paar Wochen kann er wohl nach Haus. Aber er muss die Medikamente nehmen, bis wir mit den Blutwerten und den Röntgenaufnahmen zufrieden sind. Sobald der Knochen abgeheilt ist, sollte er wieder normal wachsen. Wir möchten Andy jedoch regelmäßig zur Kontrolle sehen.“

„Es kann gut sein, dass er anschließend ein wenig an Gewicht zulegen muss.“ Zoe lächelte. „Eine wunderbare Ausrede, jedes Stück Schokolade in sich hineinzustopfen, das ihm in die Finger kommt!“

„Wer braucht dazu schon eine Ausrede?“ meinte Brad.

Zoe lachte. „Hören Sie nicht auf ihn. Er ist süchtig nach Brownies.“

„Sie arbeiten bestimmt schon lange miteinander“, bemerkte Mrs. Solomon. „Man merkt gleich, dass bei Ihnen die Chemie stimmt.“

Erst einige Tage, dachte Brad. Diese Harmonie war erstaunlich und erschreckend zugleich, weil er sie in der Form noch mit keinem Menschen empfunden hatte. Nicht einmal mit Lara. Sein Unbehagen wuchs. So kurz nach Lara durfte er nicht an eine andere Frau denken. Besonders nicht, wenn diese, wie Zoe, gebunden war. Zoe hatte es deutlich gemacht, als er sie nach Haus brachte. Dass sie keinen Ring am Finger trug, sagte nichts. Um verliebt zu sein, brauchte man keinen Ring.

Er gehörte nicht zu den Männern, die sich in andere Beziehungen drängten. Zoe war tabu, und so musste es auch bleiben. Für seinen eigenen Seelenfrieden.

3. KAPITEL

Am folgenden Mittwoch entdeckte Brad zufällig seinen Namen am Personalbrett. Auf einem Poster für Judiths Wednesday Night Music Club prangte sein Name als Gaststar. Und quer darüber stand mit einem grellen Marker geschrieben: Ausverkauft!

Er machte sich auf den Weg, Zoe zu suchen. „Wie viele Leute kommen heute Abend denn?“, fragte er misstrauisch.

„Das kann ich nicht genau sagen. Es kommt oft vor, dass jemand eine Eintrittskarte oder ein Tombolalos kauft, aber dann doch nicht kommt.“

„Wie viele Eintrittskarten haben Sie verkauft?“

Immerhin hatte sie den Anstand zu erröten. „Einhundertfünfzig. Wegen der Sicherheitsbestimmungen ist das das Maximum.“ Sie blickte ihn bestürzt an. „Nun sagen Sie mir nicht, Sie haben es sich noch einmal anders überlegt. Nicht jetzt.“

Einmal? Hundertmal! „Es ist schon eine Weile her, dass ich in der Öffentlichkeit gespielt habe.“ Er räusperte sich. „Hatten Sie nicht etwas von dreißig Leuten gesagt?“

„Wahrscheinlich kommen nicht alle.“

„Aber Sie haben mehr Eintrittskarten als sonst verkauft?“

„Ja. Möglicherweise Ihretwegen – die Menschen sind eben neugierig“, gab Zoe zu. „Aber es ist für einen guten Zweck.“ Sie schwenkte die Papiertüte, die sie in der Hand hielt. „Zum Probieren. Wie versprochen.“

„Ich hoffe, in der Tüte sind Brownies. Viele Brownies.“

„Natürlich. Glauben Sie mir, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Stellen Sie sich einfach vor, Sie spielten nur vor einem einzigen Zuschauer.“

Hätte sie das nur nicht gesagt! Denn auf einmal sah er sich nur für Zoe allein Klavier spielen. Bei sanftem Kerzenschein oder silbernem Mondlicht. Nur sie beide allein. Etwas Romantisches, Sanftes und Verführerisches.

Nein. Bleib ruhig und vernünftig, ermahnte er sich sofort. „Ein einziger Zuhörer.“ Verdammt, seine Stimme klang seltsam rau. Hoffentlich bemerkte sie es nicht.

„Es ist ein psychologischer Trick. Judith benutzt ihn auch“, erklärte Zoe ihm. „Normalerweise funktioniert er. Oder Sie stellen sich die Leute in der ersten Reihe nackt vor.“

Nackt. Musste sie ausgerechnet so etwas sagen? Brad wurde warm. Wenn sie heute Abend in der ersten Reihe saß … Er schüttete sich einen imaginären Eimer Eiswasser über den Kopf. „Hilft Ihr Freund heute Abend auch mit?“

„Mm …“, murmelte sie undeutlich. „Also, hier sind Ihre Brownies. Ich … komme später wieder zu Ihnen.“

Den Rest des Morgens mied sie seine Nähe, aber er schien ihr immer wieder über den Weg zu laufen. Mal brauchte er noch einen Sticker für Andy, ein anderes Mal Belohnungen für andere kleine Patienten. Am Nachmittag konnte er sie nicht finden und erfuhr, dass sie den halben Tag freihatte.

Und dann fand er sich irgendwann auf der Bühne vor dem Klavier wieder, bei einer kurzen Probe mit Judith.

„Alles okay?“, fragte sie.

„Nur ein bisschen nervös“, gestand er ein.

„Es wird schon gut gehen“, machte sie ihm Mut.

Der Mann hatte komplett untertrieben! Wie war das gewesen? Er könne ein bisschen singen?

Nein, seine Stimme stellte die verrücktesten Dinge mit ihr an. Tief, warm und gefühlvoll passte sie perfekt zu Judiths rauchiger Jazzstimme. Zoe bekam weiche Knie, und in ihrem Bauch tanzten Schmetterlinge. Für einen winzigen Moment stellte sie sich vor, er sang nur für sie allein. Von Liebe und von Leidenschaft und Verlangen.

Sie wandte sich ab. Doch dann erstarrte sie, als Brad Van Morrisons Brown-Eyed Girl zu singen begann. Bestimmt sang Judith mit ihm zusammen, aber sie konnte nur seine Stimme hören. Hörte ihn von dem Mädchen mit den braunen Augen schwärmen. Braune Augen, so wie ihre.

Es kam noch schlimmer. Jemand bat um einen zweiten Van Morrison-Song. Have I Told You Lately.

Da war es um sie geschehen.

Irgendwie, wie in Trance, schaffte sie es, zwischen den anderen Gästen bis nach vorn an die Bühne zu gelangen. Und ihr Blick verfing sich mit Brads, während er den romantischen Text sang …

Verrückt. Er musste komplett verrückt sein. Zoe Kennedy war tabu. Und doch stand er hier und sang einen der romantischsten Songs, der je geschrieben wurde. Für sie. Und nur für sie ganz allein, nicht fürs dankbare Publikum.

Sie musste es wissen. Warum sonst würde sie jetzt vor der Bühne stehen und sein Lächeln erwidern?

Außer, sie lächelte ihrem Freund zu.

Brad suchte den Raum ab. Er sah niemand, der ausschaute, als wäre er mit Zoe hier. Niemand hatte den Arm um sie gelegt, summte die Worte mit für sie, wollte ihr zeigen, dass sie es verstand, seine Traurigkeit zu vertreiben und sein Herz mit Liebe zu füllen. Zoe stand allein da und schaute ihn an. Und Brad sie.

War Zoe diejenige, die seine Traurigkeit vertreiben konnte?

Als sich der Saal langsam leerte, begann Zoe aufzuräumen. „Kann ich helfen?“ erklang unerwartet eine Stimme hinter ihr, sodass sie vor Schreck die Edelstahlplatte auf den Tisch fallen ließ.

„Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken“, entschuldigte sich Brad.

„Ist nicht Ihre Schuld. Ich war mit meinen Gedanken woanders. Ich dachte daran, wie gut es heute Abend gelaufen ist.“

„Haben Sie viel eingenommen?“

„Keine Ahnung. Fragen Sie Holly – sie macht die Abrechnung.“

„War Ihr Freund nicht zum Helfen hier?“

Zoe fühlte, wie sie rot wurde. „Er … konnte heute Abend nicht kommen“, murmelte sie. Natürlich konnte er nicht. Weil es ihn nicht gab!

„Soll ich beim Abwaschen helfen?“

„Danke, das schaffe ich schon. Ich habe ein Abkommen mit dem Küchenpersonal getroffen. Wir dürfen ihren Geschirrspüler benutzen, und ich backe ihnen dafür einen Kuchen.“

„Sie haben ja ein echtes Netzwerk aufgebaut …“

Sie zuckte mit den Schultern. „Eine Hand wäscht die andere, sagt man doch.“

„Gibt es nichts, wo ich mich nützlich machen kann?“, fragte er.

Zoe schüttelte den Kopf. „Sie haben genug getan. Aber ich habe noch etwas zu essen für Sie und Judith aufbewahrt. Bestimmt sind Sie hungrig. Gehen Sie ruhig.“

„Okay, Boss.“ Er schlenderte davon, hinüber zu Judith und Holly. „Na, wie war es?“, erkundigte er sich.

„Hervorragend.“ Holly nannte ihm die Summe.

Brad traute seinen Ohren nicht. „Das alles haben wir an einem einzigen Abend eingenommen?“

„Spenden, Eintrittskarten und von der Bar die Hälfte der Einnahmen. Dank Ihnen.“

„He, ich habe das Ganze doch nicht organisiert.“

„Nein, aber Sie haben sich von Zoe überreden lassen, mit Judith zu singen. Und es kostet schon einige Überwindung, sich dort oben hinzustellen und zu spielen und zu singen. Ich könnte das nicht.“

„Hier, nehmen Sie einen von Zoes Brownies“, bot Judith ihm an. „Bevor ich sie alle selbst verputze. Sie sind wirklich lecker.“

„Danke.“ Er nahm ein Stück. „Sie haben recht, sie sind wirklich gut.“ Es musste ja keiner wissen, dass er bereits drei gegessen hatte. Dass Zoe sie ihm zuliebe gebacken hatte.

„Noch eins von Zoes Talenten. Sie ist in allem gut“, meinte Judith.

„Vom Singen abgesehen“, korrigierte Holly sie grinsend. „Sie singt noch schrecklicher als ich!“

Brad war es egal, ob Zoe singen konnte oder nicht. Es gab viel angenehmere Dinge, die sie mit ihrem süßen Mund anstellen konnte …

„Ist Zoes Freund auch Arzt?“, fragte er.

„Zoes Freund?“ Judith sah ihn verwundert an.

„Ja. Der Bursche, mit dem sie zusammen ist.“ Er hatte seine Neugier nicht zügeln können. „Sie meinte, er konnte heute Abend nicht. Hatte er Dienst oder einen Notfall?“

„Äh … nichts dergleichen“, sagte Judith ein wenig zu munter.

„Sie sind an Zoe interessiert, nicht wahr?“, fragte Holly.

Brad schluckte. War es so offensichtlich? „Wie kommen Sie denn darauf?“, wich er aus.

„Weil Sie heute Abend für sie gesungen haben“, sagte Judith.

Brad rieb sich das Kinn. Verdammt. Es war offensichtlich! „Ich …“

Als würde sie seine Gedanken lesen, fügte Holly hinzu: „Keine Sorge. Sonst ist es niemand aufgefallen. Und uns auch nur, weil … Aua!“ Sie rieb sich das Fußgelenk.

„Weswegen?“ wollte Brad wissen. Hatte Zoe ihnen etwas gesagt?

„Weil wir ihre besten Freundinnen sind“, erklärte Judith.

Vielleicht hatte er sich doch getäuscht. Rasch trat er den Rückzug an. „Hören Sie, ich werde ihr bestimmt keine Schwierigkeiten machen. Ich verspreche es. Ich weiß, sie ist verliebt in ihren Freund, und ich werde mich nicht dazwischendrängen.“

„Für einen Chefarzt sind Sie wirklich nicht sonderlich helle“, erklärte Holly.

Brad runzelte die Stirn. „Wie meinen Sie das?“

„Zoe hat gar keinen festen Freund“, sagte Judith ruhig.

Nun verstand er gar nichts mehr. „Aber warum behauptet sie es dann?“

Holly zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Warum fragen Sie sie nicht selbst?“

Ihm schwirrte der Kopf. Zoe war nicht gebunden. Zoe war nicht tabu. Sie könnten …

„Reden Sie doch einfach mit ihr“, empfahl auch Judith.

Leichter gesagt als getan, dachte Brad zwei Tage später. Zoe wich jeder privaten Unterhaltung aus. Alle seine Versuche lenkte sie sofort wieder auf die professionelle Ebene.

Dennoch gab er nicht auf.

„Haben Sie heute Abend etwas vor?“, fragte er sie bei der nächsten Gelegenheit.

Sauber machen. Einen Berg Bügelwäsche abtragen. Alles, aber auch wirklich alles tun, um nicht immerzu an Brad Hutton zu denken. „Ich bin mit Tom verabredet.“

„Tom?“

„Mein Freund. Derjenige, von dem ich Ihnen erzählt habe“, redete sie drauflos.

Er zog eine Augenbraue hoch. „Sie haben gar keinen Freund.“

Woher wusste er das? Nein … Judith und Holly hatten es ihm bestimmt nicht erzählt. „Doch, habe ich“, log sie.

„Zoe …“

„Ich muss mich beeilen, sonst komme ich zu spät zu unserer Verabredung. Schließlich ist heute Freitagabend. Also, bis dann.“ Und bevor er auch nur noch ein Wort herausbringen konnte, war sie fort.

4. KAPITEL

Am Montagnachmittag, als Brad am Schreibtisch über seinen Berichten saß und häufiger an Zoe Kennedy dachte, als ihm lieb war, klingelte das Telefon.

„Brad Hutton“, meldete er sich schroffer als gewollt.

„Hallo, Brad, hier ist Judith. Tut mir leid, wenn ich Sie störe, aber ich brauche einen Kinderarzt im OP. Könnten Sie vielleicht Zoe zu mir schicken?“

„Das geht nicht.“

Eine kurze Pause. „Warum nicht?“

„Sie ist bereits in einer OP.“

„Oh nein!“ Judith war hörbar bestürzt. „Ist denn sonst jemand verfügbar?“

„Was gibt es denn?“

„Ich habe hier eine Schwangere mit Eklampsie.“

Auf einmal drehte sich alles um ihn herum. Eklampsie. Ausgerechnet eine Eklampsie.

„Brad? Wir nehmen einen Notkaiserschnitt vor, denn das Baby ist in Schwierigkeiten. Ich brauche jemand hier. Schnell“, drängte Judith.

Es gab niemanden. Ohne große Erklärungen konnte er Zoe nicht aus dem OP zerren, und die wollte er nicht geben. Es hatte auch keinen Sinn, seine erfahrene Assistenzärztin anzupiepen, denn sie würde nicht rechtzeitig von ihrer Frühstückspause zurück sein. Und in einem solchen Fall konnte er auch keinen jungen Assistenzarzt einsetzen, der wahrscheinlich noch nie einen Fall von Eklampsie gesehen hatte und nicht wusste, worauf er bei dem Baby achten musste.

Er musste selbst hin.

Sich dem Dämon stellen, der ihn seit fast einem Jahr verfolgte.

„Okay. Bin schon unterwegs.“ Nur mit Mühe brachte er die Worte heraus.

„Danke. Ich bin auf der Entbindungsstation. OP vier“, erklärte Judith ihm.

Eklampsie. Keiner konnte voraussagen, wen sie traf. Obwohl sich eine Eklampsie mit ihren lebensbedrohlichen Krämpfen, die früher auch Schwangerschaftsvergiftung genannt wurde, zumeist aus einer Präeklampsie entwickelte, gab es Fälle, bei denen diese Vorstufe fehlte. Die Ursachen ihrer Entstehung waren nicht genau bekannt. Eine Theorie besagte, dass eine abnorme Immunreaktion des Körpers auf die Schwangerschaft sie auslöste. Erhöhter Blutdruck und Eiweiß im Urin gehörten zu den Symptomen.

Lara war von der Erkrankung getroffen worden wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie hatte nicht zur Risikogruppe gehört und war gewissenhaft zur Schwangerschaftsvorsorge gegangen. In der Familie gab es keine Fälle von Präeklampsie, Lara litt auch vor der Schwangerschaft nicht unter Bluthochdruck oder Nierenversagen. Es war ihr erstes Kind, und während der gesamten Schwangerschaft hatte es keinerlei Probleme gegeben.

Noch schlimmer, es gab keinerlei Anzeichen einer Präeklampsie. Keine Spur von Proteinen im Urin, keine geschwollenen Finger oder Fußgelenke, kein Bluthochdruck. Der erste Verdacht kam, als sie eines Nachmittags im Büro über Kopfschmerzen klagte. Und dann kollabierte sie, wurde von Krämpfen geschüttelt. Bis sie schließlich in der Notaufnahme ankam und Brad in der Pädiatrie angepiept worden war, hatte Lara zwei weitere Anfälle gehabt. Trotz aller Bemühungen der Kollegen bekam das Kind in ihrem Bauch nicht genügend Sauerstoff und starb. Seine wunderschöne Tochter, das kleine Mädchen, auf das sie sich beide so sehr gefreut hatten … tot.

Er hatte auf einmal einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Als hätte der Verlust seiner Tochter nicht gereicht, stellten sich bei Lara Komplikationen ein. Es kam zu einer tödlichen Gehirnblutung.

Und so hatte er Frau und Tochter zusammen begraben müssen. Zwei Särge, ein großer und ein winziger, in denen sein ganzes Leben lag. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub …

Er riss sich zusammen. Er durfte nicht zusammenbrechen. Nicht jetzt. Er war Arzt, Chefarzt der Pädiatrie, und er hatte einen Job zu erledigen. Er musste sich um das Baby kümmern. Dafür sorgen, dass es am Leben blieb, nicht das gleiche Schicksal erlitt wie seine kleine Cassandra.

„Danke, dass Sie schnell kommen konnten, Brad“, sagte Judith. „Die Patientin heißt Susie Thornton. Siebenunddreißigste Woche, erstes Kind. Sie ist siebenunddreißig.“

Brad wand sich innerlich. Genau so alt war Lara gewesen, als sie starb. Drei Jahre älter als er. Erstes Kind, siebenunddreißigste Woche.

„Da sie eine leichte Präeklampsie hatte, hatten wir sie die letzten vierzehn Tage hier auf der Station unter Beobachtung und haben Bettruhe und blutdrucksenkende Mittel verordnet. Heute jedoch klagte sie über leichte Kopfschmerzen, dann unter Schmerzen unterhalb der Rippen, und sie meinte, Wehen zu spüren.“

Brad zwang sich, die nächsten Worte auszusprechen. „Und dann krampfte sie?“

Judith nickte. „Wie im Lehrbuch, der Hebamme nach. Gott sei Dank befand diese sich gerade im Raum. Susie hörte auf zu atmen, ihr Gesicht verzerrte sich, der Körper wurde steif. Dann Phase zwei. Zuckungen am Kinn, diese breiteten sich über den ganzen Körper aus. All das dauerte gut eine Minute. Hinterher war sie einige Minuten bewusstlos und hyperventilierte, als sie wieder erwachte. An die Ohnmacht oder den Krampf konnte sie sich nicht erinnern.“

Lara auch nicht. Er hatte hinterher ihre Hand gehalten, und sie hatte verzweifelt gefragt: „Was ist mit mir geschehen, Brad? Ich … kann mich an nichts erinnern. Du darfst nicht zulassen, dass unserem Baby etwas passiert. Versprich es mir.“

Ihre Worte hallten in seinem Kopf wider. Immer und immer wieder. Versprich es mir. Und er hatte es versprochen, er, der allseits hoch gelobte Kinderarzt. Natürlich würde seinem Baby nichts passieren. Das würde er nicht zulassen.

Aber als es dann darauf ankam, war er nicht in der Lage gewesen, auch nur das Mindeste zu tun …

Judiths Worte rissen ihn in die Gegenwart zurück.

„Wir haben dafür gesorgt, dass sie ausreichend Sauerstoff bekommt und sie auf die linke Seite gelegt, damit das Baby gut mit Blut versorgt wurde. Gegen weitere Krämpfe bekam sie intravenös Magnesiumsulfat. Ich habe angeordnet, alle zehn Minuten den Blutdruck zu messen und ihren Urin regelmäßig auf Proteine prüfen zu lassen. Ich dachte, sie wäre inzwischen stabilisiert und hatte vor, ihr Oxytocin zur Geburtseinleitung zu geben. Susie wollte so gern eine natürliche Geburt, doch die Kontrolle der fetalen Herztöne zeigte, dass das Baby in Schwierigkeiten geriet. Mein Chefarzt riet, das Kind zu holen. Sofort.“

„Sicher.“ Brads Stimme war heiser. „Behalten Sie sie hinterher gut im Auge. Für den Fall …“ Er konnte das Wort nicht aussprechen. Um nichts in der Welt. Einer Hirnblutung.

„Dass es Komplikationen gibt, ja, ich weiß.“ Judith verzog das Gesicht. „Ich mache mir größere Sorgen ums Baby. In diesem Land sterben jährlich nicht einmal fünf Frauen an Eklampsie, aber sie bringt zehn, elf Kinder wöchentlich um.“

Ja. Das wusste er. Aus eigener, bitterer Erfahrung.

Er beobachtete, wie der Anästhesist alle Vitalfunktionen überprüfte. Sah zu, wie Judith den kleinen Einschnitt machte, sah zu, wie ihr Kollege auf Susie Thorntons Unterleib drückte, sah zu, wie Judith das Baby auf die Welt geleitete.

Und die ganze Zeit sah er dabei eine andere Frau. Eine große, wunderschöne Blondine, die seine Hand so fest hielt, so verzweifelt, bereit, alles zu tun, damit es gut ging. Eine Frau, deren Panik in den ersten Sekunden nach der Geburt zunahm – diese langen, quälenden Sekunden, als sie auf den ersten Schrei ihres kleinen Mädchens warteten. Immer noch warteten, als das Team mit der Wiederbelebungsprozedur begannen. Vergeblich.

Der Schrei des Neugeborenen weckte ihn aus seiner Starre. Es war noch mit der so genannten Käseschmiere bedeckt, die die zarte Haut vor dem Fruchtwasser schützte – so wie sie auch Cassandra geschützt hatte. Aber der große Unterschied war, dieses Baby schrie. Sein Herz schlug. Sein Muskeltonus war in Ordnung. Seine Haut färbte sich rosig. Es atmete. Er ging in Gedanken die Checkliste durch und lächelte.

„Sie hat einen Apgarwert von neun.“ Der optimale Wert lag bei zehn.

Er übergab das Kind der Hebamme zum Wiegen. „Es ist alles in Ordnung mit ihr. Aber die ersten vierundzwanzig Stunden sollten Mutter und Kind auf der Intensivstation liegen. Nur zur Sicherheit.“

„Standardvorgehensweise“, sagte Judith und lächelte. „Susies Blutdruck sollte innerhalb einer Woche wieder normale Werte aufweisen und das Protein in ihrem Urin innerhalb von sechs Wochen verschwunden sein. Alles gut gelaufen.“

„Ja.“ Konzentrier dich auf hier und jetzt, ermahnte sich Brad und zwang sich, ihr Lächeln zu erwidern. „Ich mache mich dann wieder an meine Schreibtischarbeit“, sagte er.

„Danke für die Hilfe, Brad.“

„Gern geschehen.“

Aber sein Lächeln erstarb, kaum dass er den OP verlassen hatte. Auch wenn in diesem Fall sich der Albtraum des letzten Jahres nicht wiederholt hatte, so hatte die Situation ihn doch erschüttert. Alle Erinnerungen wieder hochgebracht. Laras schmerzerfülltes Gesicht, als sie erfuhr, dass ihr kleines Mädchen es nicht geschafft hatte. Die Qual in ihren Augen. Die Bitterkeit um ihren Mund, als er ihr erklären musste, dass er keine guten Nachrichten hatte. Dass ihr Kind tot zur Welt gekommen war. Und als er dann auch noch Lara verlor …

Brad war außerstande, sofort wieder auf die Station zurückgehen. Nicht im Moment. Vielleicht half ihm ein starker Kaffee wieder seelisch auf die Beine. Damit er weitermachen konnte, als wäre nichts geschehen. Vielleicht.

Aber als er die Tür zur Kantine erreichte, kehrte er wieder um. Er konnte dort nicht vor seinem Kaffee sitzen, während ständig irgendwelche Leute an ihm vorbeigingen. Hier war es, weil niemand ihn kannte. In Kalifornien hatten sie nicht gewusst, was sie sagen sollten. Manche waren sogar auf die andere Straßenseite gewechselt, nur um nicht mit ihm reden zu müssen.

Ein Muskel zuckte an seinem Kinn. Ihm war klar gewesen, irgendwann würde er, statistisch gesehen, an einem größeren Krankenhaus einen Fall von Eklampsie haben. Er hatte gedacht, damit umgehen zu können, denn das London City General stand in England, Tausende von Kilometern entfernt von Kalifornien, wo Lara und Cassandra gestorben waren. Er hatte gedacht, darauf vorbereitet zu sein.

Es war ein Irrtum gewesen.

In Gedanken verloren wanderte Brad zurück zu seinem Büro. Setzte sich an seinen Schreibtisch, konzentrierte sich verbissen auf seine Arbeit und verdrängte den Schmerz. So überhörte er das Klopfen.

Zoe öffnete die Tür.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie.

Natürlich nicht. Aber das würde er für sich behalten.

„Was ist passiert?“

Er schüttelte den Kopf.

Zoe schloss die Tür hinter sich, ließ die Jalousie vor dem Türfenster herunter und marschierte auf ihn zu.

„Es tut gut, wenn man darüber redet“, sagte sie sanft. „Und falls Sie den Krankenhaustratsch fürchten, darf ich Ihnen versichern, ich klatsche nicht.“

Das musste sie ihm nicht erst sagen.

„Selbst wenn …“, murmelte er. „Es geht mir gut.“

„So sehen Sie nicht aus.“ Sie nahm seine Hand. „Was ist es? Schlechte Nachrichten von daheim?“

Daheim? Er hatte kein Heim mehr. Das Haus, in dem er mit Lara gelebt hatte, hatte er verkauft und war nach England gekommen. In eine Mietwohnung. Ein Ort zum Leben, kein Heim.

„Brad, reden Sie mit mir.“

Er wusste, sie würde nicht lockerlassen. Und er sah kein Mitleid in ihren Augen. Er hasste Mitleid. Davon hatte er genug für sein ganzes Leben.

Sie strich mit dem Daumen über seine Hand, eine tröstliche Geste. „Kann ich irgendjemanden für Sie anrufen?“

„Nein.“ Er hatte keine Familie mehr. Nun gut, dem Namen nach vielleicht. Einen älteren Bruder, der alle Hiobsbotschaften tunlichst ignorierte. Und seine Mutter, die sich nur für Dinge interessierte, die Auswirkungen auf ihr eigenes Leben hatten. Deswegen hatte er nicht bei ihnen nach Laras und Cassandras Tod Zuflucht gesucht. Sein Bruder hätte das Thema gewechselt, weil er lieber den Kopf in den Sand steckte, als sich mit schmerzlichen Tatsachen auseinander zu setzen. Und seine Mutter hätte schluchzend geklagt, wie sehr sie Lara vermisse, wie furchtbar es sei, dass sie nun nicht Großmutter würde und was sie ohne die beiden machen solle. Brad hätte seine eigenen Gefühle beiseite geschoben und sie getröstet, während er in Wirklichkeit jemand brauchte, bei dem er sich ausweinen, von dem er sich in die Arme nehmen und trösten lassen konnte. Jemand, der ihm versicherte, es gäbe immer ein Licht am Ende eines Tunnels, er müsse nur darauf zugehen.

„Nein, da ist niemand“, sagte er leise.

„Dann reden Sie mit mir“, sagte sie, ebenso leise.

„Da gibt es nichts zu bereden.“

„Ich glaube doch. Sie sehen fürchterlich aus“, erklärte sie aufrichtig. „Sie sind weiß wie die Wand. Was ist passiert?“

„Ich wurde wegen einer Eklampsie in den OP gerufen.“

„Das kommt selten vor.“ Sie blickte ihn an. „Ich vermute, Sie konnten das Kind nicht retten?“

Nein. Er hatte sein Kind nicht retten können. „Dem Baby geht es gut“, sagte er tonlos.

„Was ist es dann?“

Der Druck war zu stark. „Wissen Sie nicht, wann Sie den Mund halten müssen?“ fuhr er sie an.

Schweigen breitete sich aus. Sie sagte nichts. Keinen Ton. Aber als sie sich umdrehte, um zur Tür zu gehen, sah er den Ausdruck in ihren Augen. Er hatte ihr wehgetan. Ohne echten Grund. Sie hatte versucht ihm zu helfen, und er hatte seinen Frust an ihr ausgelassen.

„Es tut mir leid, Zoe“, murmelte er, als sie die Tür erreichte. „Gehen Sie nicht. Bitte.“

Er konnte sie nicht ansehen. Wartete darauf, dass die Tür hinter ihr zuknallte. Stattdessen schloss sie sich mit einem leisen Klicken. Nun gut, dann war Zoe eben ruhig hinausgegangen, nicht gestürmt. Morgen würde er versuchen, sich anständig zu entschuldigen …

Und dann strich ihm eine zarte Hand über die Stirn.

Brad fuhr heftig zusammen.

„Sie sind offensichtlich voller Schmerz, Brad. Deswegen werde ich vergessen, was Sie eben gesagt haben.“

„Es tut mir aufrichtig leid. Ich hätte es nicht an Ihnen auslassen dürfen.“

„Schon gut.“ Sie setzte sich auf die Schreibtischkante und nahm seine Hand. Drückte sie. Hielt sie fest. „Vorausgesetzt, Sie geben mir eine Erklärung.“

Er schluckte trocken. Eine Erklärung. Sie hatte ein Recht darauf. Aber selten war es ihm so schwer gefallen zu reden. „Meine Frau hatte Eklampsie. Sie starb daran. Unser Kind auch.“

„Wann?“

„Letztes Jahr.“ Er hatte das Gefühl, an dem Kloß in seiner Kehle zu ersticken. „Freitag vor genau einem Jahr.“

„Ein solcher Verlust ist nur schwer zu ertragen“, sagte sie.

Kein Mitleid. Einfach nur einfühlsames Verständnis. Es war fast zu viel für ihn.

„Und deswegen kamen Sie hierher? Um den Erinnerungen zu entfliehen?“

Er nickte. „Es war meine Schuld.“

„Eklampsie? Nein. Niemand kann vorhersagen, wen sie trifft und wann.“

„Ich hätte es wissen müssen. Hätte die Anzeichen sehen müssen.“

„Ihre Hebamme hätte die Symptome erkennen müssen, bevor es dazu kam“, korrigierte Zoe ihn. „Blutdruck, Proteine im Urin …“

„Es gab keine.“ Er schüttelte den Kopf. „Lara hatte keine Präeklampsie.“

„Als Mediziner wissen Sie, wie selten so etwas ist. Dass man es niemals vorhersagen kann. Außerdem sind Sie Kinderarzt, kein Geburtshelfer.“

„Genau. Cassandra … ich hätte sie retten müssen. Ich hätte …“ Wieder war seine Kehle wie zugeschnürt.

„Cassandra war Ihr kleines Mädchen?“

Er nickte.

Zoe hielt immer noch seine Hand. „Wo waren Sie, als Ihre Frau krampfte?“

„Lara. Sie hieß Lara.“

„Ein hübscher Name. Wie Lara in Dr. Schiwago.“

„So hat sie mich immer genannt. Dr. Schiwago. Sie war High-School-Lehrerin.“ Er erwiderte den Druck ihrer Hand, weil er das Gefühl hatte zu ertrinken und sie die Einzige war, die ihn davor bewahren konnte, endgültig unterzugehen.

„Waren Sie bei ihr?“, wiederholte sie.

Brad schüttelte den Kopf. „Ich war im Krankenhaus. Man rief mich über den Pager an. Als ich ankam, hatte sie bereits zwei weitere Anfälle erlitten. Und dann geriet das Kind in Gefahr. Man traf Vorbereitungen für einen Kaiserschnitt. Lara beharrte auf einer Spinalanästhesie. Sie wollte erleben, wenn unser Kind kam.“ Er holte bebend Luft. „Aber es war zu spät. Cassandra schaffte es nicht. Und Lara machte sich Vorwürfe – vielleicht hätte eine Vollnarkose Cassandra die extra Zeit verschafft, die sie möglicherweise noch gebraucht hätte.“

„Das bezweifle ich“, sagte Zoe sanft. „Es war nicht Laras Schuld. Und Ihre schon gar nicht.“

„Ich hätte die Kontrollgeräte im Auge behalten müssen.“

„Sie sind kein Geburtshelfer“, betonte sie nochmals. „Sie sind Kinderarzt.“

„Einer, der sein Kind nicht gerettet hat. Ich hätte darauf bestehen sollen, die Wiederbelebung selbst in die Hand zu nehmen.“

„Man hätte es nicht zugelassen. Nicht bei Ihrem eigenen Kind“, erinnerte Zoe ihn. „Und Sie hatten bereits eine wichtige Aufgabe – für Lara da zu sein, als sie Sie brauchte. Und das waren Sie.“

„Es reichte nicht aus.“

„Sie sind Arzt, nicht Superman. Brad, es war nicht Ihre Schuld. Manchmal geschehen solche Dinge einfach, ohne dass jemand Schuld hat. Sie haben Pech gehabt.“

„Ich habe mein Baby verloren. Und dann Lara …“ Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Aber er musste sie herausbringen, musste es Zoe sagen. „Lara hatte eine Gehirnblutung. Ich konnte sie nicht retten, Zoe. Keine von ihnen. Was für ein Arzt bin ich?“

„Ein guter“, erwiderte sie. „Einer, der sein Bestes gibt.“

„Mein Bestes?“ Brad schüttelte den Kopf. „Aber ich war nicht einmal gut genug.“

„Sie können nicht jedes Leben retten. Sie sind ein Mensch. Sie können nur Ihr Bestes geben. Mehr ist nicht möglich.“ Sie drückte seine Hand. „Und denken Sie doch an all diejenigen, die Sie gerettet haben. Ich bin sicher, da neigt sich die Waage zu Ihren Gunsten.“ Kurz presste sie die Lippen zusammen, dann nickte sie, als hätte sie eine Entscheidung getroffen. „Sie müssen hier raus.“

„Ich habe noch Schreibarbeiten zu erledigen.“

„Das kann warten. Kommen Sie, gehen wir.“ Sie rutschte vom Schreibtisch.

„Was ist mit Ihrem Dienst?“

„Der endete vor einer halben Stunde. Genau wie Ihrer.“

„Wohin gehen wir?“

„Etwas essen. Wo wir uns in Ruhe unterhalten können.“

Giovanni’s? Kaum. Obgleich er sich nicht vorstellen konnte, was sie sonst meinte. Nun, er konnte überhaupt kaum klar denken.

Doch er wusste, er konnte Zoe vertrauen.

Sollte Hurricane Zoe ihn eben treiben, wohin auch immer sie wollte.

5. KAPITEL

Kaum hatte Zoe angehalten, erkannte Brad die schmiedeeiserne Pforte wieder, die sie so fest hinter sich geschlossen hatte, als er sie neulich nach Haus brachte. Sie nahm ihn mit zu sich? Aber sie hatte etwas von Essen gesagt. Wollte sie für ihn kochen?

Noch immer war sein Kopf wie leer, das Herz voller Schmerz. Nur undeutlich nahm er wahr, dass ihr Flur schwarz-weiß gefliest war. Hohe Decken, goldfarbene Tapeten, eine Garderobe aus gebogenem Holz, gerahmte Drucke von Gemälden der Präraffaeliten fielen ihm auf, und dann hängte sie seinen Mantel an die Garderobe und ging mit ihm in die Küche.

„Setzen Sie sich.“ Sie deutete auf einen der Stühle, die um einen Tisch mit Glasplatte gruppiert waren. Gleich darauf stand ein Glas Rotwein vor ihm.

„Ich … es ist noch so früh am Tag. Ich …“ Er brachte nicht einmal einen vernünftigen Satz zu Stande.

„Nicht zu früh, und ich habe auch nicht vor zuzulassen, dass Sie sich betrinken. Trinken Sie einen kräftigen Schluck und atmen Sie tief durch. Dann reden Sie. Es ist egal, was Sie sagen, wichtig ist nur, dass Sie reden. Sie müssen reden, Brad. Nicht mehr alles in sich einschließen.“

Sie kommandierte ihn herum. Und wie! Aber im Augenblick war es genau das, was er brauchte. Und recht hatte sie – er musste reden. Er hatte alles so lange in sich vergraben, es fing an, ihn kaputtzumachen.

So trank er einen Schluck und schaute sich in der Küche um. Schlichte weiße Wände, große Terrakottafliesen am Boden vermittelten ein mediterranes Flair, wundervoll ergänzt durch hellgrüne Schränke und dunkelgrüne Arbeitsflächen. Einladend. Friedlich.

Zoe war damit beschäftigt, das Essen vorzubereiten. Sie holte Messer und Schneidbrett aus dem Schrank, Zutaten aus dem Kühlschrank, schnitt Kräuter von den Töpfen auf der Fensterbank. Benahm sich, als wäre alles ganz normal.

Natürlich wusste er, dass sie ihm Gelegenheit geben wollte, sich wieder in den Griff zu bekommen.

„Erzählen Sie mir von Lara“, forderte sie ihn freundlich auf. „Wie war sie?“

Er atmete tief durch. Seit ihrem Tod hatte er kaum einmal über sie reden können. Und er wusste, es würde wehtun, über sie zu reden. Und doch, als er begann, merkte er, es war nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte.

„Sie war klug und fröhlich und schön“, begann er. „Und sie hatte wundervolle blaue Augen. Sie fielen mir als Erstes an ihr auf. Ich lernte sie im Krankenhaus kennen.“ Mit jedem Wort fiel es ihm leichter. Er lächelte sogar. „Ihre dreijährige Nichte Sadie hatte Meningitis, und Lara kam jeden Tag, damit ihre Schwester Nell sich für ein paar Stunden hinlegen konnte.“

„Dann behandelten Sie also Sadie?“

„Ja. Es stellte sich heraus, dass sie sich mit Haemophilus influenzae B infiziert hatte.“

Zoe verzog das Gesicht. „Schlimm. Und selten.“ Haemophilus influenzae B, kurz Hib genannt, löste lebensbedrohliche Krankheiten aus, die meist Babys und Kinder unter fünf Jahren befielen.

„Nell hatte sich von der Diskussion über mögliche Impfschädigungen beeinflussen und Sadie nicht impfen lassen, und machte sich natürlich Vorwürfe.“

„Aber Sadie wurde wieder gesund?“

Brad nickte. „Sie hatte Glück, aber sie blieb für ein paar Wochen auf meiner Station, und ich unterhielt mich natürlich des Öfteren mit Lara. Und dabei fiel mir auf, dass sie keinen Ring am Finger trug. Als Sadie entlassen wurde, fragte ich Lara, ob sie Lust hätte, mit mir auszugehen. Sie sagte Ja, und es wurde ein wunderschöner Abend. Weitere folgten. Und dass ich oft spät arbeiten musste, machte ihr nichts aus, weil sie dann ihre Korrekturen machen konnte.“

„Was unterrichtete sie?“

„Englische Literatur an einer High School. Sie hat mich auch mit dem Theater bekannt gemacht.“

„Hört sich gut an.“ Zoe gab die Nudeln ins kochende Wasser. „Mögen Sie Ciabatta? Leider ist es kein selbst gebackenes.“

„Gern. Danke.“

„Wann erkannten Sie, dass Sie sich in sie verliebt hatten?“

„Im Theater. Sie nahm mich mit zu Shakespeares Viel Lärm um nichts. Und jedes Wort, das Benedikt zu Beatrice sagte, drückte aus, was ich für Lara empfand. Ich brachte sie im Schneetreiben zurück nach Haus. Und dann rissen die Wolken gerade so lange auf, dass ein Stern sichtbar wurde.“ Der Schmerz packte ihn wieder mit Macht, und er schloss die Augen. „Ich nahm es als Zeichen des Himmels und machte ihr einen Heiratsantrag. Drei Monate später heirateten wir.“

Er hörte, wie sie sich ihm gegenüber setzte. „Wie lange waren Sie verheiratet?“

„Fast fünf Jahre.“ Mehr war ihnen nicht gegeben. Fünf kurze Jahre. Er öffnete die Augen wieder. „Sie war drei Jahre älter als ich, aber wir dachten, wir hätten genügend Zeit, eine Familie zu gründen. Nach eineinhalb Jahren sagte sie mir, wir würden ein Baby bekommen. Es war nicht geplant, aber ich war überglücklich. Ich wollte so gern Vater werden. In der zehnten Woche hatte sie eine Fehlgeburt, so beschlossen wir, bis zum nächsten Mal etwas zu warten. Aber es dauerte ewig. Wir überlegten schon, uns untersuchen zu lassen, als sie dann doch schwanger wurde.“ Ihm wurde die Kehle eng, als er sich an die leuchtende Freude in Laras Augen erinnerte. Sein Glück war vollkommen gewesen. Und während der Schwangerschaft hatte er sie förmlich in Watte gepackt.

Bebend holte er tief Luft. „Den Rest kennen Sie.“

„Ja.“ Wieder sagte Zoe nicht, dass es ihr leidtäte. Aber sie nahm seine Hand, drückte sie. Tröstete ihn. „Es ist so schwer, jemand zu verlieren, den man liebt.“

In ihrer Stimme schwang ein seltsamer Unterton mit, und Brad betrachtete Zoe aufmerksam. Hatte sie auch jemand verloren, den sie liebte? Stand deswegen Verständnis statt Mitleid in ihren Augen? Zoe Kennedy wusste, was Schmerz hieß … Und sein Gefühl sagte ihm, auch sie wusste es vor anderen zu verbergen.

„Die Zeit danach war schlimm. Ich war wie taub. Unbeschreiblich einsam. Es gab plötzlich ein Riesenloch in meinem Leben, und da war nichts, mit dem ich es füllen konnte, von der Arbeit abgesehen. Und dann die vielen, vielen Erinnerungen … Sie fehlt mir, Zoe. Und auch meine kleine Tochter. Ich habe sie nur einmal in den Armen gehalten. Sie war so wunderschön. Und nie werde ich ihr Lächeln sehen können, sie niemals größer werden sehen, nie sie sagen hören: Daddy.“

Zoe schwieg. Was sollte sie auch sagen? Ohne es zu ahnen, hatte er ihr aus dem Herzen gesprochen. Manchmal hörte sie ihre biologische Uhr ticken, und wenn ihr Herz beim Anblick ihrer kleinsten Patienten förmlich schmolz, hatte sie Mühe, sich an ihre Entscheidung vor zehn Jahren zu erinnern. Sie bedeutete, dass sie niemals ein eigenes Kind haben, niemals das Wort Mommy hören würde. Niemals nach Haus kommen, von ihrem Mann in den Arm genommen und mit einem zärtlichen Kuss begrüßt werden würde, der mehr als alle Worte sagte.

Das war der Preis für den Schutz vor Mitleid, Peinlichkeit und Abscheu, wie sie es in den Augen ihres Exliebhabers gelesen hatte.

Zweite Wahl.

Die Worte hallten in ihrem Kopf wider.

„Bin gleich wieder bei Ihnen.“ Rasch, bevor Brad die Tränen in ihren Augen glitzern sah, trat sie an den Herd. Sie zwinkerte heftig, während sie das Ciabatta hineinschob, dazu Teller zum Anwärmen, und das angebratene Gemüse in die Tomatensauce gab.

„Ich habe mich meinem Schmerz so sehr ergeben, mich abgekapselt, dass ich manchmal denke, ich habe vergessen, wie das normale Leben ist.“ Seine Stimme klang rau.

Sie kehrte an den Tisch zurück. „Es ist immer noch da. Überall um Sie herum. Und Sie erledigen jeden Tag Ihren Job, geben anderen Menschen die Hoffnung, die Sie selbst vergessen haben. Vielleicht sollten Sie einfach wieder die Augen öffnen für das, was um Sie herum geschieht. Und sich daran erinnern, dass Sie ein Teil dessen sind.“

„Bitte, sagen Sie mir nicht, dass die Zeit alle Wunden heilt.“

„Das stimmt auch nicht. Man lernt nur, mit dem Schmerz umzugehen.“

„Ich war nicht sehr nett zu den Leuten“, sagte er. „Als sie mir sagten, Lara würde nicht wollen, dass ich mich so zurückziehe, dass ich noch immer jung sei und sie bestimmt gewollt hätte, dass ich wieder jemand kennen lerne, dass ich mich nicht so meinem Schmerz ergeben sollte, da …“ Er schüttelte den Kopf. „Woher zum Teufel wollten sie wissen, was sie gedacht hatte?“

„Das konnten sie nicht. Sie wollten nur helfen, etwas sagen. Etwas, das das Schweigen ausfüllte.“

„Ich konnte ihr Mitleid nicht ertragen.“

„Mitleid biete ich nicht an.“ Sie tätschelte ihm die Hand. „Aber Sie können sich nützlich machen und den Tisch decken. Besteck liegt dort drüben in der Schublade.“ Während er deckte, goss sie die Spaghetti ab, füllte sie auf zwei Teller und gab Sauce darüber. „Reiben Sie sich so viel Käse, wie Sie mögen“, sagte sie, stellte einen Teller vor ihn hin und holte ein Stück Parmesankäse und eine Reibe.

Autor

Kate Hardy
Kate Hardy wuchs in einem viktorianischen Haus in Norfolk, England, auf und ist bis heute fest davon überzeugt, dass es darin gespukt hat. Vielleicht ist das der Grund, dass sie am liebsten Liebesromane schreibt, in denen es vor Leidenschaft, Dramatik und Gefahr knistert?
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Caroline Anderson ist eine bekannte britische Autorin, die über 80 Romane bei Mills & Boon veröffentlicht hat. Ihre Vorliebe dabei sind Arztromane. Ihr Geburtsdatum ist unbekannt und sie lebte die meiste Zeit ihres Lebens in Suffolk, England.

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Die Kreativität war immer schon ein Teil von Barbara Hannays Leben: Als Kind erzählte sie ihren jüngeren Schwestern Geschichten und dachte sich Filmhandlungen aus, als Teenager verfasste sie Gedichte und Kurzgeschichten.
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