Romana Weekend Band 21

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LIEBESTRÄUME IN PARIS von GIANNA ROBIN

Sanft rieselt der Schnee, als Avery unter dem Eiffelturm von Jack in die Arme gezogen wird. Süßen Küssen folgen leidenschaftliche Stunden im Hotel. Avery ist überglücklich! Was sie nicht ahnt: Das zarte Band ihrer Liebe wird schon bald auf eine harte Zerreißprobe gestellt!

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  • Erscheinungstag 14.12.2024
  • Bandnummer 21
  • ISBN / Artikelnummer 9783751527897
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Robin Gianna

1. KAPITEL

Jack Dunbar betrachtete den Stadtplan und versuchte herauszufinden, wo er sich befand. Auf keinen Fall wollte er seine allerersten Stunden in Paris vergeuden, auch wenn er im Flugzeug nur wenige Stunden geschlafen hatte und weder Französisch sprach noch sich in der Stadt der Liebe auskannte.

Aber ein bisschen Abenteuer konnte nicht schaden, und sogar wenn er sich verirrte, wäre das eine willkommene Ablenkung von der Präsentation, die er heute Abend halten musste. Sie würde einen ganz neuen Abschnitt in seiner beruflichen Karriere einläuten, für die er so lange hart gearbeitet hatte: Er stellte ein brandneues Medizinprodukt vor, das hoffentlich Leben retten und den Ablauf von Herzklappen-OPs für immer verändern würde.

Doch vor dem Sightseeing standen Kaffee und ein leichtes Frühstück auf dem Plan. Als Jack das Hotelrestaurant betrat, wurde dort gerade ein riesiges Buffet angerichtet: silberne Rechauds mit warmen Speisen, dazu Berge von Brot und Käse, Obst und vieles mehr. Aber die Vorstellung, solch ein gewaltiges Frühstück ganz allein einnehmen zu müssen, behagte ihm gar nicht. Lächelnd wandte er sich an den Oberkellner. „Verzeihung, kann ich auch irgendwo ein kleines Frühstück bekommen?“

„Voilà: le petit déjeuner!“ Lächelnd wies der Mann auf das Buffet.

Fast hätte Jack gelacht. Wenn das das kleine Frühstück war … „Vielen Dank, aber ich möchte nur Kaffee und eine Kleinigkeit zu essen. Was gibt es hier in der Nähe?“

„Alles, was das Herz begehrt, Monsieur.“

„Ja, das sehe ich, aber …“

„Ich kenne ein kleines Café ganz in der Nähe, das genau das Richtige wäre“, vernahm er da plötzlich eine weibliche Stimme hinter sich. „Wenn man schon mal in Frankreich ist, sollte man auch essen wie die Franzosen. Und dieses üppige Speisenangebot ist eindeutig für Amerikaner gedacht.“

Jack drehte sich um. Eine bildhübsche zierliche Frau mit den grünsten Augen, die er je gesehen hatte, lächelte amüsiert. Erleichtert, dass sie ihm Auskunft geben wollte, Englisch sprach und klang, als sei sie ebenfalls Amerikanerin, erwiderte er ihr Lächeln.

„Danke, genau das hatte ich vor: in die französische Kultur eintauchen. Und zwar schnell, ich brauche nämlich dringend einen Kaffee.“

Ihre faszinierenden Augen, die von dichten dunklen Wimpern umgeben waren, funkelten. „Kommen Sie mit.“

Er konnte sich kaum beim Oberkellner bedanken, da umfasste sie schon seinen Arm und zog ihn hinaus in den kalten Januartag. „In dieser Straße gibt es ein perfektes Café. Wir könnten uns einfach Kaffee und ein Baguette holen.“

Wir? Jack musste grinsen, weil sie ganz ohne Umschweife die Führung übernommen hatte. Er hatte jedoch nichts dagegen, so unerwartet von einer schönen Frau, die sich offenbar in Paris auskannte, ins Café entführt zu werden.

„Ich heiße übrigens Avery.“

„Und ich Jack.“

Der ungewöhnliche Name passte zu dieser ungewöhnlichen jungen Frau, die einfach einen Fremden mit ins Café nahm, als würde sie ihn schon ewig kennen. Unter ihrer roten Wollmütze quoll glänzendes dunkelbraunes Haar hervor. Sie trug einen orange, rot und gelb gemusterten Schal, einen kurzen schwarzen Mantel und eng sitzende Jeans, die ihre wohlgeformten Beine betonten, dazu gelbe Gummistiefel mit roten Enten drauf. Unter ihrem Arm klemmte ein lilafarbener Schirm. Nein, langweilig oder unscheinbar war sie ganz eindeutig nicht.

„Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Jack.“ Sie lächelte strahlend, und schon wirkte dieser düstere graue Morgen ein wenig heller. „Wie trinken Sie Ihren Kaffee? Auf amerikanische Art? Wenn Sie richtig französisch sein möchten, müssen Sie einen Espresso nehmen. Aber wofür auch immer Sie sich entscheiden, ich werde deshalb natürlich auf keinen Fall schlecht über Sie denken.“

Ihre grünen, übermütig funkelnden Augen faszinierten Jack so sehr, dass er fast gestolpert wäre. „Hm, aus irgendeinem Grund nehme ich Ihnen das nicht ganz ab. Und ich komme zwar damit klar, wenn jemand schlecht von mir denkt, aber ich mag Espresso.“

„Ich wusste doch, dass Sie ein Mann nach meinem Geschmack sind.“

In dem kleinen Café duftete es herrlich. Jack folgte Avery zum Tresen, wo sie auf Französisch bestellte – fast so fließend wie eine Muttersprachlerin.

„Sie haben bestellt, also werde ich bezahlen“, sagte er.

„Darauf hatte ich natürlich spekuliert – nur deshalb habe ich Sie mit hergebracht“, behauptete Avery frech.

„Und ich hatte gedacht, es läge an meinem weltmännischen Charme …“

„Zugegeben, den fand ich auch unwiderstehlich, besonders in Kombination mit ihrem Gesichtsausdruck: Sie wirkten vorhin wie ein kleiner Junge, der sich verlaufen hat.“

Jack musste lachen. Avery war eindeutig die entzückendste Frau, der er seit Langem begegnet war. Sie trugen ihre Baguettes und die winzigen Tassen zu einem Stehtisch, wo er seinen heißen, starken Espresso in einem Zug austrank. „Super – genau das habe ich gebraucht. Nur leider viel zu wenig.“

„Stimmt, dabei habe ich uns sogar einen doppelten bestellt. Ich muss mich hier immer erst auf die winzigen Mengen einstellen. Wir Amerikaner sind ja unsere riesigen Kaffeebecher gewöhnt.“

„Machen Sie Urlaub hier? Mit Freunden?“ Jack hoffte, sie wäre allein unterwegs, auch wenn er es sich kaum vorstellen konnte. Vielleicht könnten sie etwas Zeit zusammen verbringen, denn er würde ja einen ganzen Monat hier sein.

„Ich bin beruflich hier, und zwar allein. Und Sie?“

„Ich auch. Aber jetzt habe ich ein paar freie Stunden. Hätten Sie zufällig Zeit, mich ein bisschen rumzuführen? Ich würde mich auch mit einem Mittagessen bei Ihnen revanchieren.“

„Wir frühstücken doch gerade, und da denken Sie schon ans Mittagessen?“, neckte sie ihn. „Aber wie Sie ja bereits wissen, freunde ich mich immer mit demjenigen an, der mir etwas ausgibt. Also lautet die Antwort Ja.“

Jack lächelte. Vielleicht war dieser schöne Auftakt zu seinem Paris-Aufenthalt ein gutes Omen. „Wohin gehen wir zuerst? Ich weiß so gut wie nichts über Paris – außer dass es den Eiffelturm gibt. Er muss ganz in der Nähe sein, ich habe ihn nämlich vom Hotel aus gesehen.“

„Paris kann man ganz wunderbar zu Fuß erkunden, auch wenn es wie heute kalt ist und nach Regen oder Schnee aussieht. Deshalb schlage ich vor, wir laufen zur Seine und von dort aus weiter. Wenn wir relativ früh beim Eiffelturm sind, sind die Warteschlangen nicht so lang.“

„Sogar um diese Jahreszeit gibt es Warteschlangen?“

„Ja, im Januar und Februar sind hier zwar nicht ganz so viele Touristen wie im Frühjahr und im Sommer, aber immer noch reichlich. Viele wollen auch den Valentinstag hier verbringen – wegen der Romantik, Sie wissen schon.“

Nein, eigentlich nicht. Natürlich hatte es Frauen in Jacks Leben gegeben, einige nur kurze Zeit, andere etwas länger. Doch wie bei seinem Vater früher und bei seinem Bruder drehte sich auch Jacks gesamtes Leben um die Arbeit: darum, Patienten das Leben zu retten, Menschen wie seinem Großvater zu helfen, dessen Herz viel zu früh versagt hatte.

Avery aß ihr Baguette auf und griff nach Handtasche und Schirm.

„Ich vermute, kleine Espresso-Pappbecher zum Mitnehmen gibt’s nicht, oder?“, erkundigte er sich.

„Sie vermuten ganz richtig.“ Sie lächelte frech. „Die Franzosen sind nicht ganz so hektisch wie wir und schütteln eher den Kopf über die verrückten Amerikaner, die sich die Stadt ansehen und dabei essen und trinken, nur um ja nichts zu verpassen.“

„Dann brauche ich heute Mittag einen dreifachen Espresso.“

Während sie über Kopfsteinpflaster zum Eiffelturm schlenderten, erzählte Avery ihm mit ihrer melodischen Stimme einiges über die unterschiedlichen Sehenswürdigkeiten. Nicht zu viel, sondern genau die richtige Menge und sehr informativ. Jack fühlte sich leicht und beschwingt. In ihrer Gesellschaft war all der Stress von ihm abgefallen. Er hatte sich so sehr darauf konzentriert, die Studie voranzutreiben, dass für nichts anderes Zeit gewesen war.

„Das Hôtel des Invalides.“ Avery wies auf ein goldfarbenes Gebäude in der Nähe. „Dort ist Napoleon begraben. Ich habe gelesen, dass die Kuppel anlässlich des Jahrestages der Französischen Revolution mit zehn Kilo Gold neu vergoldet wurde. Aber hätte man das ganze Gold nicht sinnvoller verwenden können, zum Beispiel indem man Frauen mit Schmuck behängt?“

„Heißt das, Sie würden gerne mit Gold behängt werden?“ Er betrachtete ihre Creolen und Armreifen. Sie waren sexy und aus Silber – und ziemlich dezent.

„Nein, eigentlich nicht. Aber wenn ein Mann darauf besteht, würde ich mich natürlich nicht beschweren.“ Sie lächelte frech und griff nach seinem Arm. „Gehen wir schnell zum Eiffelturm, bevor der Massenandrang beginnt.“

Schnell führte sie ihn auf den Turm zu, wo bereits trotz der Kälte zahlreiche Menschen Fotos machten und anstanden.

„Haben Sie Höhenangst?“, fragte Avery.

„Ich habe vor gar nichts Angst“, behauptete Jack.

„Vor irgendetwas hat doch jeder Angst.“ Ihr Lächeln verschwand. Dann sagte sie: „Der Eiffelturm ist ja sehr hoch, und im Aufzug kann man sich sehr beengt fühlen. Wenn Sie möchten, halte ich Ihnen die Hand.“

„Jetzt, wo Sie es so anschaulich beschreiben … Vielleicht habe ich doch Höhenangst.“

Avery lachte und schob ihre schmale Hand in seine, als sei es das Natürlichste der Welt.

„Ehrlich gesagt, mir wird im Aufzug manchmal ganz anders“, sagte sie in verschwörerischem Ton. „Also bitte ich schon mal im Voraus um Entschuldigung, falls ich Ihre Hand zu heftig drücke.“

„Keine Sorge, ich kann einiges aushalten.“

„Das glaube ich Ihnen sofort.“ Erneut schenkte sie ihm ein freches Lächeln. „Die Warteschlangen vor den Aufzügen sind zwar noch nicht so schrecklich lang, aber nehmen wir doch trotzdem lieber die Treppe.“

Ungläubig sah Jack sie an. „Die Treppe?“

„Sie scheinen doch einigermaßen fit zu sein.“ Ihre grünen Augen funkelten übermütig. „Aber keine Sorge, wir gehen nicht bis ganz nach oben zu Fuß, nur bis zur zweiten Ebene, und von da aus fahren wir mit dem Fahrstuhl. So hat man nämlich den besten Blick, besonders an einem Tag wie heute, wenn es mit zunehmender Höhe immer bedeckter wird.“

„Also gut, solange wir nicht den gesamten Tag mit Treppensteigen verbringen, vertraue ich Ihnen da gerne, Frau Fremdenführerin.“

Sie gingen los, und schon bald schlug Jacks Herz schneller. Vielleicht lag das aber nicht an der Anstrengung, sondern an Avery. Sie löste etwas in ihm aus, das er noch nie bei einer Frau empfunden hatte, die er gerade erst kennengelernt hatte.

Auf der ersten und zweiten Ebene blieben sie stehen, um die Aussicht zu genießen. Dabei zeigte Avery ihm verschiedene Wahrzeichen der Stadt. Im gläsernen Aufzug war es sehr eng, aber es machte Jack nichts aus, so nahe neben ihr zu stehen – im Gegenteil. Er atmete ihren angenehmen, dezenten Duft ein: frische Luft, Parfüm und … sie.

Wie sie versprochen hatte, war auch der Blick vom Fahrstuhl aus einfach fantastisch. Auf der ganz oben gelegenen Aussichtsplattform peitschte der Wind ihr Haar, sodass Jack Avery den Arm um die Schultern legte, um sie zu wärmen.

„Möchten Sie durch das Fernrohr sehen? Allerdings wird man wegen der vielen Wolken nicht viel erkennen können.“ Avery wandte sich zu ihm um. Ihre Wangen waren rosa angehaucht, ihre wunderschönen Lippen ebenfalls – und luden sehr zum Küssen ein. Als ihr der Wind das Haar ins Gesicht wehte, konnte Jack nicht anders und schob es ihr unter die Mütze.

„Eigentlich möchte ich vor allem Sie ansehen“, sagte er wahrheitsgemäß. „Aber versuchen wir es trotzdem, denn wer weiß, ob ich noch einmal hierherkomme.“

Averys Wangen wurden noch etwas rosiger, bevor sie sich abwandte und ein paar Münzen einwarf. Sie wechselten sich mit dem Hindurchsehen ab, und ihr Gesicht war seinem so nahe, dass er fast den Kopf geneigt und sie geküsst hätte. Erst auf die Wange, und wenn sie nicht protestiert hätte, auf den Mund. Als sich ihre Blicke begegneten, benetzte sie sich die Lippen mit der Zunge, so als hätte sie denselben Gedanken gehabt …

Fasziniert sah er, wie sich um die geweiteten Pupillen ihrer smaragdgrünen Augen dunkle und goldfarbene Sprenkel zeigten. Langsam neigte er den Kopf, hob die Hand zu ihrem Gesicht und …

„Verzeihung, sind Sie fertig mit dem Fernrohr?“, fragte da plötzlich ein Mann, und Avery wich einige Schritte zurück.

„Ja, wir sind fertig“, versicherte Avery schnell. Der heiße Blick, den er in ihren Augen zu sehen geglaubt hatte, wich einem freundlichen Lächeln. „Wollen wir los, Jack? Ich glaube, wir haben alles bewundert, was heute von hier aus zu sehen ist.“

Verdammt. Na ja, es war ja auch keine brillante Idee gewesen, sie vor all diesen Leuten zu küssen. „Ja, in Ordnung.“

Noch einmal drängten sie sich in den Aufzug, und wieder atmete Jack ihren Duft ein und schob ihr ein paar Strähnen unter die Mütze. „Danke, dass du mit mir hierhergekommen bist, es war wirklich toll.“ Sie war toll. Er merkte gar nicht, dass er zur vertraulichen Anrede übergegangen war. „Und was jetzt, Frau Fremdenführerin? Mittagessen?“

„Du denkst ja schon wieder ans Essen.“ Sie schenkte ihm ein süßes, neckendes Lächeln. „Aber um ehrlich zu sein, eigentlich habe ich auch schon ein bisschen Hunger. Hier in der Nähe am Fluss gibt es ein tolles Lokal. Es werden mehrere Gänge serviert, aber keine Sorge, es wird dich nicht finanziell ruinieren.“

Das wäre ihm auch egal gewesen. Ein entspanntes, ausgedehntes Mittagessen mit Avery war ihm das wert.

Als sie einen von Bäumen gesäumten Weg am Fluss entlanggingen, hatte er den merkwürdigen Drang, wieder ihre Hand in seine zu nehmen. Dabei kannten sie sich doch erst seit einer oder zwei Stunden! Da er kaum etwas über sie wusste, fragte er: „Lebst du eigentlich hier? Du sprichst so gut Französisch.“

„Meine Eltern haben eine Zeitlang in Frankreich gearbeitet, und ich bin zwei Jahre hier in Paris zur Schule gegangen. Auf diese Weise lernt man eine Sprache sehr schnell. Und jetzt bin ich für etwa einen Monat hier.“

„Was machst du denn beruflich?“

„Ich … oh!“ Plötzlich setzte heftiger Schneeregen ein, und sie zog ihren Schirm heraus. Der war so klein, dass Jack sich tief zu ihr neigen musste, weil er sie um Haupteslänge überragte. Lachend drängten sie sich aneinander, um trocken zu bleiben. Er steuerte sie beide unter einen Baum und musste grinsen. Das Schicksal schien es heute wirklich gut mit ihm zu meinen: Es schickte ihm sogar einen Schauer, der ihn ganz nahe an Avery heranbrachte.

Mit der Fingerspitze strich er ihr eine schmelzende Schneeflocke von den langen Wimpern. „Ich habe mir Paris immer sonnig vorgestellt, mit unzähligen Blumen. Mir war nicht mal klar, dass es hier überhaupt schneit.“

„Dann hast du aber deine Hausaufgaben nicht gemacht“, erwiderte Avery ein wenig atemlos. Ihr Mund war seinem so nahe, dass auch ihm der Atem stockte. „Es regnet und schneit hier sogar ziemlich viel, und die Pariser hassen den Winter mit typisch französischer Leidenschaft.“

Mit typisch französischer Leidenschaft kannte Jack sich nicht aus, hätte diese aber gern einmal mit Avery ausprobiert … „Ich mag den Winter auch nicht besonders, weil es bei Schnee und Eis schwer ist, zur Arbeit zu kommen.“

„Das klingt aber sehr nach Workaholic“, stellte sie lächelnd fest.

„Da hast du wohl recht. Ich verbringe praktisch meine gesamte Zeit mit Arbeiten.“

„Dann habe ich offenbar einen günstigen Moment erwischt, schließlich machst du gerade Sightseeing.“

„Ja, das stimmt.“ Vielleicht verzauberte Paris ihn, das ja einen Ruf als romantische Stadt hatte. Jack umfasste Averys Gesicht und strich ihr über das weiche Haar. Gab es einen besseren Ort, um eine Frau zu küssen, als unter einem Regenschirm an der Seine, im Schatten des Eiffelturms? „Und ich genieße diesen Moment sehr.“

Ihre Blicke trafen sich, und als Avery leicht die Lippen öffnte, nahm er das als willkommene Einladung und presste den Mund auf ihren.

Der Kuss war genauso toll, wie er ihn sich ausgemalt hatte. Averys sinnliche Lippen hatten ihn schon im Aufzug gelockt – eigentlich schon, als sie ihr Baguette gegessen und ihren Espresso getrunken hatte. Jack konnte noch einen Hauch des Kaffees auf ihren Lippen schmecken und dazu eine Süße, die wohl ihre eigene war.

Er hob ein wenig den Kopf, um zu sehen, ob sie den Kuss ebenso fantastisch fand wie er. Mit großen Augen und tiefrosa angehauchten Wangen sah sie ihn an, doch zum Glück wich sie nicht zurück, und so küsste er sie noch einmal.

Eigentlich hatte er sanft sein wollen, doch als sie leise keuchte, küsste er sie immer leidenschaftlicher, bis er nichts mehr wahrnahm außer den Liebkosungen, die sie austauschten. Vorsichtig legte Avery ihm ihre schmale Hand in den Nacken, kalt und zart, ein weiterer sinnlicher Genuss. Jack sehnte sich danach, Averys regennasse Haut zu schmecken. Würde sie zulassen, dass er mehr kostete als ihr Gesicht und ihren Hals? Würde sie ihn an diesem besonderen Nachmittag jeden Zentimeter ihres ganz sicher atemberaubenden Körpers erkunden lassen?

Kurz öffnete Avery die Augen, um sie dann gleich wieder zu schließen und sich der sinnlichen Reizüberflutung hinzugeben, als Jacks heißer Mund zu ihrer kühlen Wange glitt. Dann spürte sie seine Lippen auf ihrem Hals und der empfindsamen Stelle hinter ihrem Ohr. Noch nie hatte sie einen Mann geküsst, den sie gerade erst kennengelernt hatte, aber wenn das immer so gut war, würde sie es von jetzt an häufiger tun.

Sie spürte seine warmen Hände auf ihren Wangen und seinen warmen Atem, der sich mit ihrem verband, als sein Mund erneut ihren fand. Ihr Herz schlug fast so laut wie der Regen, der auf den Schirm trommelte. Avery hielt sich an Jack fest, denn ihre Knie wurden weich.

Als sie plötzlich den eiskalten Schneeregen auf ihrem Gesicht spürte, öffnete sie die Augen und löste sich von ihm. Wie benommen merkte sie, dass sie den Schirm nicht mehr richtig festgehalten hatte und dieser zur Seite gesunken war. Jack richtete ihn wieder auf. Seine dunkelbraunen Augen glänzten, und sein schwarzes Haar hing ihm feucht in die Stirn.

„Schirme funktionieren nur halb so gut, wenn man sie verkehrt herum hält“, neckte er sie. Ein Lächeln umspielte seinen sinnlichen Mund, der sie gerade so verrückt gemacht hatte.

„Tut mir leid.“ Avery räusperte sich und versuchte, wieder klar zu denken. „Allerdings wärst du ohnehin nass geworden, du hattest ja nicht mal einen Schirm dabei.“

„Stimmt. Aber es macht mir auch nichts aus. Es sieht nämlich sehr hübsch aus, wie die Regentropfen von deiner niedlichen Nase zu deinen Lippen rinnen.“ Er strich ihr übers Gesicht, und fast hätte sie ihm die Regentropfen von den Fingern geleckt, doch dann fielen ihr plötzlich mehrere sehr wichtige Dinge ein.

Zum Beispiel, dass sie Jack kaum kannte, dass sie sich mitten in der Öffentlichkeit befanden – und dass sie nicht auf der Suche nach einer neuen Beziehung war, nachdem sie gerade eine hinter sich gelassen hatte.

Avery betrachtete seine seidenweichen dunklen Brauen und seine dichten schwarzen Wimpern. Aus dem Haar rannen ihm Wassertropfen über die markanten Wangen und das eigensinnig wirkende Kinn. Er war der attraktivste Mann, mit dem sie je Zeit verbracht hatte – sogar noch attraktiver als ihr Exfreund Kent, und schon den hatte sie praktisch für einen Gott gehalten. Zumindest bis sie gemerkt hatte, was für ein egozentrischer Kerl er gewesen war, der sich tatsächlich für einen kleinen Gott hielt. Avery hatte nicht vorgehabt, sich so schnell wieder mit einem anderen Mann einzulassen. Sie atmete tief durch und beschloss, etwas Normalität in diesen völlig verrückten Tag zu bringen.

„Ja, lass uns ins Lokal gehen, damit wir uns aufwärmen und du deinen Appetit stillen kannst.“

„Mir ist soeben klar geworden, dass ich gerade nur auf eine ganz bestimmte Sache Appetit habe.“ Jacks Augen glühten, als er sie ansah. „Und zwar auf dich.“

Meinte er das so, wie sie es verstand? Avery wollte eine lockere Bemerkung machen, doch sie brachte kein Wort heraus und konnte kaum atmen.

Jack küsste sie auf beide Mundwinkel. „Wie wäre es, wenn wir kurz ins Hotel gehen und uns vor dem Essen ein delikates Dessert gönnen? Ich möchte noch mehr von dir kosten.“

Averys Herz schlug wie verrückt. Noch nie in ihrem Leben hatte sie einen One-Night-Stand gehabt – und sich das auch nicht träumen lassen. Aber die Art und Weise, wie Jack sie ansah und ihr sanft über Wange und Hals strich, ließ sie am ganzen Körper erschauern. Als es heiß und lustvoll zwischen ihren Beinen pochte, fragte sie sich, ob heute vielleicht der Tag war, an dem sie ihre Gewohnheiten ändern würde …

Immerhin hatten ihre letzten beiden Beziehungen mit einem schmerzhaften Aufprall in der Realität geendet. Hatte sie da nicht ausnahmsweise mal etwas unverbindliches Vergnügen verdient? Sie würde ja nur einen Monat hier verbringen und die meiste Zeit mit Arbeiten beschäftigt sein. Das waren eigentlich die perfekten Voraussetzungen für das, was Jack vorschlug. Und gegen einen aufregenden Nachmittag mit einem aufregenden Mann war doch wirklich nichts einzuwenden.

„Ich … ähm …“ Sie versuchte, all ihren Mut zusammenzunehmen und einfach Ja zu sagen.

„Ich weiß schon, wir haben uns gerade erst kennengelernt. Ich tue so etwas normalerweise auch nicht, ehrlich.“ Erneut umfasste er ihr Gesicht und küsste sie auf den Mund. „Aber hier in Paris mit dir zusammen zu sein … das fühlt sich einfach richtig an. Oder?“

Unwillkürlich nickte sie, denn ihr ging es genauso: Aus irgendeinem verrückten Grund fühlte es sich genau richtig an: ein unverbindliches Intermezzo mit einem sehr erotischen Mann, das ihr helfen würde, frühere Enttäuschungen zu vergessen.

Als ihr noch ein Wassertropfen übers Augenlid rann, sagte sie: „Ich bin bloß ziemlich feucht.“

Als Jacks Augen aufglühten, wurde ihr bewusst, was sie da gesagt hatte. „Umso besser“, gab er zweideutig zurück.

Avery lachte atemlos. Dann beschloss sie, sich selbst ein kleines Geschenk zu machen – als Entschädigung für das, was sie mit ihren idiotischen Exfreunden durchgemacht hatte.

Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, nahmen sie einander an der Hand und rannten fast zum Hotel. Erstaunt stellte Avery fest, dass ihre Vorfreude stetig zunahm. Sie begab sich auf gänzlich unbekanntes Terrain, und eigentlich hatte sie sich doch schon immer ein Leben voller Abenteuer gewünscht. Mit klopfendem Herzen folgte sie Jack in sein Hotelzimmer. Drinnen angekommen, spürte sie Schmetterlinge wild in ihrem Bauch umherflattern. Was, um alles in der Welt, sollte sie denn jetzt zu ihm sagen?

„Es war ja klar, dass es aufhört zu regnen, sobald wir drinnen sind“, sagte sie. Warum war sie denn jetzt so nervös? Ein kleines Techtelmechtel war doch keine große Sache – vor allem in Paris.

„Vielleicht haben wir Glück, und es fängt wieder an, wenn wir rausgehen. Es gefällt mir, die Regentropfen von dir wegzuküssen.“

Er wirkte leicht amüsiert über ihre Verlegenheit, doch seine Augen drückten kaum verhohlene Leidenschaft aus. Ohne den Blick von ihr zu wenden, schloss Jack die Tür. Averys Herz machte einen Sprung, da zog er sie auch schon an sich und küsste sie.

Diesmal begann er nicht sanft und langsam, sondern küsste sie hart und fordernd und liebkoste ihre Zunge mit seiner, bis sie fast das Atmen vergaß. Er schob ihr die Finger ins Haar und umfasste ihren Hinterkopf, während sein Kuss immer tiefer und wilder wurde, sodass Avery unwillkürlich aufstöhnte.

Langsam ließ Jack die Lippen zu ihrem Hals gleiten. „Hast du dich etwas entspannt?“, fragte er rau.

Woher wusste er, was in ihr vorgegangen war? „Ich … ähm, ja. Danke“, flüsterte Avery, auch wenn „entspannt“ nicht annähernd die richtige Beschreibung für das war, was sie empfand.

Innerhalb von Sekunden hatte er sämtliche Knöpfe ihres Mantels geöffnet. „Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber mir ist ein bisschen warm.“ Er streifte ihr den Mantel ab und warf ihn über einen Stuhl.

„Bestimmt weil wir so schnell zum Hotel gerannt sind“, erwiderte sie atemlos.

Als Jack nun langsam die Knöpfe ihrer Bluse öffnete, streifte er mit der Rückseite seiner Finger ihre Haut und ließ sie prickeln. „Ich kann es kaum erwarten, endlich zu sehen, was du hier drunter trägst.“

Als ihre weiße Spitzenbluse den Blick auf ihre Brüste freigab und Jacks Augen dunkel wurden, erfüllte Avery ein zutiefst femininer Stolz. Sie hörte ihn tief durchatmen, dann umfasste er ihre Brust und presste gleichzeitig erneut den Mund auf ihren.

Du meine Güte. Er küsste einfach fantastisch. Weltklasse, dachte Avery und schmolz fast dahin. Sie spürte seine kühle Hand auf ihrer Brust, deren Spitze sich aufgerichtet hatte. Zärtlich ließ Jack die heißen Lippen über ihre Haut gleiten, streifte ihr den BH ab und ließ ihn auf den Boden fallen. Die andere Hand schob er ihr in den Slip, umfasste ihren Po und ließ sie dann zwischen ihre Beine gleiten. Als er ihren empfindsamsten Punkt berührte, keuchte sie auf.

„Avery“, sagte er heiser und begann, sie zu streicheln und gleichzeitig Gesicht, Hals und Mund zu küssen, sodass sie vor Lust fast aufgeschrien hätte. All ihre Nervosität war verschwunden, und sie empfand nur noch Sehnsucht und Verlangen.

Wie sie zum Bett gelangt waren, wusste Avery nicht, aber als Jack den Mund von ihrem löste und sie ihn wie benommen ansah, merkte sie, dass sie nackt auf dem Rücken lag, während er neben ihr stand und sie ansah.

„Du bist genauso wunderschön, wie ich mir dich vorgestellt hatte“, sagte er. „Dein Anblick verschlägt mir den Atem.“

Ihr ging es mit ihm genauso.

„Jetzt möchte ich dich aber auch ansehen. Also: ausziehen bitte.“

Avery erschrak über ihre eigenen energischen Worte, doch Jack lachte nur. „Dein Wunsch ist mir Befehl.“ Den Blick weiter auf sie gerichtet, streifte er sich ungeduldig das Hemd ab. Der Anblick seines schlanken, aber muskulösen Oberkörpers ließ ihr den Atem stocken. Als er sich Hose und Slip abstreifte, kam seine mächtige Erektion zum Vorschein. Und dann spürte sie auch schon seinen Körper auf sich, heiß und schwer.

„Du hast mir nicht viel Zeit gelassen, dich zu betrachten“, brachte sie mühsam heraus.

„Tut mir leid. Ich muss einfach endlich deine zarte Haut an meiner spüren.“

Avery musste zugeben, dass sie sich einfach fantastisch fühlte. Doch noch immer konnte sie es nicht fassen, dass sie tatsächlich nackt neben einem Mann lag, den sie kaum kannte. Sie spürte seinen Körper auf ihrem, während er sie überall küsste. Erstaunt stellte sie fest, dass ihr nichts davon merkwürdig vorkam. Stattdessen war sie voller Vorfreude – und unglaublich erregt.

Mit Händen und Lippen erkundete Jack ihren Körper, bis sie sich fast wahnsinnig vor Verlangen gegen ihn drängte und immer wieder leise stöhnte. Unzählige Male kam sie einem Höhepunkt nah und hätte Jack fast angefleht, sie endlich zu erlösen, als er sich ein Kondom überstreifte, ihre Hüften umfasste und sie zu sich heranzog.

Instinktiv legte sie ihm die Beine um die Taille, um ihn ganz in sich aufzunehmen. Gemeinsam begannen sie sich im selben Rhythmus zu bewegen, und es schien unvorstellbar, dass sie sich erst morgens kennengelernt hatten. Denn es war, als hätten ihre Körper diesen erotischen Tanz schon in sich getragen und bereits unzählige Male miteinander geteilt.

Als Avery bereits kurze Zeit später den Gipfel der Lust erklomm, schrie sie laut seinen Namen – und er ihren, bevor er schwer atmend auf sie niedersank.

2. KAPITEL

„Nur um das klarzustellen … ich tue so was sonst wirklich nicht“, sagte Avery, als Puls und Atem sich langsam wieder beruhigten. Sie zog sich die Decke über die nackten Brüste und blickte zu Jack hinüber, der genauso erfüllt und zufrieden wirkte, wie sie sich fühlte.

„Was tust du sonst nicht?“, fragte er gespielt unschuldig, doch seine Augen funkelten amüsiert.

„Du weißt genau, was ich meine“, erwiderte sie ungeduldig. „Mit Männern schlafen, die ich gerade erst kennengelernt habe. Ich habe ja noch nicht mal einen Mann geküsst, den ich gerade erst kennengelernt habe.“

Langsam drehte er sich auf die Seite, sodass sich sein warmer Körper an ihren schmiegte. „Ich habe dich geküsst. Weil ich natürlich davon ausging, das sei eine Tradition hier in Paris – Stadt der Romantik, du weißt schon. Und was könnte noch romantischer sein, als ein Regenschauer im Schatten des Eiffelturms?“

„Hm, ja, das stimmt natürlich.“ Allerdings war sie ziemlich sicher, dass es nicht zu leidenschaftlichen Küssen und fantastischem Sex gekommen wäre, wenn sie irgendeinen anderen Mann zum Frühstück eingeladen hätte. Und zu ihrer Überraschung verspürte sie keinerlei Bedauern. Vielleicht weil sie wusste, dass es nur dieses eine Mal passieren würde.

Als sie am Morgen beim Verlassen des Aufzugs Jack gesehen hatte, war ihre gesamte Aufmerksamkeit sofort auf ihn gerichtet gewesen. Ein großer, schlanker Mann, offenbar Amerikaner mit attraktivem Gesicht und entzückend verwirrter Miene, der mit dem Oberkellner gesprochen hatte. Impulsiv hatte Avery sich ihm genähert – um dann einen Unbekannten zum Frühstück einzuladen, als würde sie das jeden Tag tun. Und offenbar dachte er, das täte sie tatsächlich.

„Ich hoffe, du bereust es nicht: das Küssen – und das hier.“ Er stützte sich auf den Ellenbogen und strich ihr sanft über die Wange. „Ich jedenfalls tue das nicht. Als wir uns unter dem Schirm so nahe waren, konnte ich einfach nicht anders, als dich zu küssen. Und dann wollte ich dich immer weiter küssen, überall.“

Avery hätte niemals seinem Kuss widerstehen können – oder dem beglückenden Intermezzo, das darauf gefolgt war. „Wir haben zusammen ein petit déjeuner gegessen, sind durch die Stadt spaziert und auf den Eiffelturm gestiegen, haben uns unter einem Regenschirm geküsst und uns geliebt. Da wäre jetzt vielleicht ein guter Zeitpunkt, um ein bisschen mehr übereinander zu erfahren. Du bist doch hoffentlich nicht verheiratet?“

Das sagte sie wie im Scherz, aber plötzlich fragte sie sich wirklich, ob Jack vielleicht einer jener Männer war, die auf Reisen fremdgingen. Sofort bekam sie ein beklommenes Gefühl in der Magengegend, denn diesen Typ Mann kannte sie besser, als ihr lieb war.

„Nein, ich bin nicht verheiratet und war es auch nie. Wie gesagt: Mein Leben besteht fast nur aus Arbeit. Ich bin also ziemlich langweilig.“

Avery war unendlich erleichtert. So überzeugend konnte niemand lügen. „Keine Sorge, absolut langweilig bist du nicht.“

Das Funkeln seiner dunklen Augen zeigte ihr, dass er wusste, wie aufregend seine Gesellschaft sein konnte.

„Und was isst du am liebsten? Von Espresso einmal abgesehen.“

„Tja, leider ist Kaffee tatsächlich eins meiner Hauptnahrungsmittel. Aber ich mag auch alles andere, was ich dir von den Lippen lecken könnte.“

Lachend schüttelte sie den Kopf. „Nach deinen Talenten brauche ich nicht zu fragen. Schmeichelei gehört auf jeden Fall dazu.“

„Und was ist mit meinen anderen Talenten?“ Er legte ihr eine Hand auf den Rücken und zog sie an sich, was ihr erneut den Atem verschlug.

„Dein Ego ist groß genug, das brauche ich nicht noch zu streicheln.“

„Du könntest etwas anderes streicheln.“

„Das habe ich schon erledigt. Und offenbar muss ich bei dir sehr darauf achten, was ich sage“, stellte Avery fest.

Als er sie leise lachend auf die Schulter küsste, musste sie an seinen Mund, seine Lippen und an die Dinge denken, die er damit anstellen konnte, und ihr wurde heiß.

„Was sind deine Hobbys?“, erkundigte er sich.

„Ich weiß nicht, ob ich das als Hobby bezeichnen würde, aber ich gehe gerne laufen. Auf die Art kriege ich einen klaren Kopf, wenn ich im Stress bin. Und ich liebe Marshmallows.“

Jack lachte. „Im Ernst?“

„Leider ja. Wenn ich am Computer sitze, esse ich die ständig. Deswegen gehe ich auch laufen: weil ich nicht selbst als Marshmallow enden will.“

„Davon bist du meilenweit entfernt.“ Jack strich ihr so zart über die Arme, dass sie erbebte. „Ich gehe leider immer nur aufs Laufband, weil mir meine Arbeit für mehr leider keine Zeit lässt.“

„Und was ist das für deine Arbeit, die dein ganzes Leben einnimmt?“

„Ich bin Kardiologe.“

Avery erstarrte und sah ihn entsetzt an. Er war Kardiologe? Das konnte doch nicht wahr sein!

Wahrscheinlich war er es gewohnt, dass alle Frauen schwach wurden, wenn er seinen Beruf nannte, aber bei ihr war er da an der falschen Adresse. Sie hatte schon mit mehr Kardiologen zu tun gehabt, als ihr lieb war. Arroganz und Selbstgefälligkeit schienen Voraussetzungen für diesen Beruf zu sein. Darüber hatte sie bei ihren letzten zwei Freunden viel zu lange hinweggesehen.

Plötzlich kam Avery ein Gedanke, der sie erschaudern ließ. Jack und sie wohnten im selben Hotel … Ihr Herz schlug wie verrückt, als sie die Decke enger um sich zog. „Wie heißt du mit Nachnamen, Jack?“

„Dunbar“, antwortete er lächelnd und merkte offenbar nicht, wie entsetzt sie ihn ansah. „Ich werde einen Monat lang im Krankenhaus hier im Viertel arbeiten und teste dort ein neues Medizinprodukt für den Herzklappenersatz. Ich habe unglaublich hart dafür gearbeitet, dass es fertig wird und die klinische Erprobung losgehen kann. Ich kann immer noch nicht fassen, dass es jetzt wirklich so weit ist.“

Oh nein. Auch Avery konnte es nicht fassen: Der Mann, mit dem sie gerade geschlafen hatte, war Dr. Jack Dunbar? Der Jack Dunbar, mit dem sie im Krankenhaus zusammenarbeiten und dessen Arbeit sie überwachen würde? Der Jack Dunbar, der ein Verfahren erprobte, von dem sich viele Menschen – sie eingeschlossen – erhofften, dass es die derzeit gängige Operation am offenen Herzen ersetzen könne, mit der defekte Herzklappen ersetzt wurden? Der Jack Dunbar, der die neue Generation Herzklappen für die kathetergestützte Implantation mit entwickelt hatte, die auf ihrem Entwurf beruhte?

Eine neue Generation, die, wie sie befürchtete, weder besser noch sicherer war als ihre eigene. Sollte Avery ihre Meinung äußern müssen, dass die Studie abgebrochen werden müsse, dann hätte Jack sicher keine Lust mehr, sie zu küssen oder mit ihr zu schlafen. Aber das hatte sie auch nicht.

Denn einen Kardiologen wollte sie nie wieder in ihrem Leben haben.

„Und du?“ Jack legte sich wieder hin und strich ihr mit dem Daumen über die Hand. Wie vorhin schon, als sie gemeinsam umhergeschlendert waren. Doch jetzt fühlte Avery sich unwohl und war bestürzt. „Was für ein Nachname passt zu Avery? Und was führt dich nach Paris?“

Sie schluckte. „Meine Arbeit hat ziemlich viel mit deiner zu tun, Dr. Dunbar.“

Überrascht sah Jack sie an. „Bist du Ärztin?“

„Nein. Ich habe in Biomedizinischer Technik promoviert.“ Mehr sagte sie nicht, dabei würde die Wahrheit doch sowieso bald ans Licht kommen. Stattdessen sprang sie aus dem Bett und sammelte ihre Kleidung auf.

„Das ist … beeindruckend.“ Stirnrunzelnd setzte Jack sich auf und beobachtete, wie sie sich hastig anzog. Er hatte die dunklen Augenbrauen hochgezogen. Diesen Gesichtsausdruck hatten die Leute oft, wenn sie ihnen erzählte, welchen Beruf sie ausübte. Für ihr Alter hatte sie schon eine beindruckende Karriere gemacht und wusste, dass ihre zierliche Statur sie noch jünger wirken ließ, als sie war.

„Nein, eigentlich nicht. Ich habe nur hart gearbeitet, so wie du. Allerdings sind Kardiologen meiner Erfahrung nach schnell beeindruckt – in der Regel von sich selbst.“ Und das war noch stark untertrieben.

„Eigentlich sollte ich gekränkt sein, aber ich fürchte, das stimmt.“ Jack lächelte jungenhaft. „Und was führt dich nach Paris?“

„Wie gesagt, meine Arbeit hat mit deiner zu tun.“ Was für eine absurde Situation! Da ließ sie sich zum ersten Mal auf ein flüchtiges Abenteuer mit einem Mann ein, und der entpuppte sich ausgerechnet als jemand, mit dem sie eng zusammenarbeiten würde! Avery musste ein hysterisches Lachen unterdrücken. Als sie sich fertig angezogen hatte, atmete sie tief durch und fügte hinzu: „Wie du ja weißt, soll derjenige, der die erste TAVI-Klappe entwickelt hat, für die Crilex Corporation die von ihr finanzierte Studie eures neuen Modells beobachten. Und derjenige bin ich.“

Fassungslos sah Jack sie an. Als er fast unmerklich den Kopf schüttelte, brach sie in nervöses Lachen aus.

„Du bist … Dr. Girard?“, fragte er entgeistert.

„Ja. Und ich bin genauso erschüttert darüber, dass du Dr. Dunbar bist.“ Verlegen reichte sie ihm die Hand. „Avery Marie Girard. Sehr erfreut.“

Langsam breitete sich wieder das sinnliche Lächeln auf Jacks Gesicht aus, das sie so sexy gefunden hatte. Dann lachte er, schüttelte ihr die Hand und hielt sie fest. „Es ist mir eine Ehre, Dr. Girard. Ich weiß natürlich, was du schon alles geleistet hast. Mit deinen Entwürfen für die unterschiedlichsten Medizinprodukte habe ich mich viele Stunden befasst, als ich gemeinsam mit Medizintechnikern das Modell erarbeitet habe, das wir testen werden. Ich kann einfach nicht fassen, dass du das bist.“

„Weil ich jung bin?“ Oder weil er sie nackt gesehen hatte? Avery beschloss, so zu tun, als sei das nicht passiert. Als ob das möglich wäre …

„Weil du bildhübsch, lustig und spontan bist. Weil du dir dein seidiges Haar nicht zu einem Knoten bindest und ausgefallene bunte Kleidung trägst statt trostlosem Grau und orthopädischen Schuhen.“ Um seine Augen erschienen feine Lachfältchen. „Offenbar hatte ich das Klischee einer hochtalentierten, aber unscheinbaren Wissenschaftlerin im Kopf.“

„Jack Dunbar!“ Avery, der diese Denkweise nicht neu war, schüttelte gespielt vorwurfsvoll den Kopf. „Wenn du das öffentlich zugibst, wird dich der Wissenschaftlerinnen-Verband öffentlich auspeitschen lassen.“

„Und ich hätte es absolut verdient.“ Als er sie ansah, drückte sein Blick Wärme und Bewunderung aus. Doch das würde sich ändern, falls er erfahren sollte, welche Rolle sie bei dem Projekt zu spielen hatte. Verzweifelt wünschte Avery, sie hätte seinen Namen erfahren, bevor sie zusammen in sein Hotelzimmer gegangen waren.

„Freut mich, dass du das einsiehst. Schließlich gibt es Wissenschaftler jeden Geschlechts, Aussehens und Alters.“

„Das stimmt, tut mir leid.“ Als er ebenfalls aufstand, wandte sie schnell den Blick von seinem fantastischen nackten Körper ab. „Allerdings scheinst du ja auch gewisse Vorurteile zu haben: dass alle Kardiologen selbstverliebt sind.“

Das glaubte Avery tatsächlich, allerdings basierte ihre Meinung auf persönlichen Erfahrungen. Und trotzdem war sie heute mit einem weiteren Exemplar ins Bett gegangen. „Vergessen wir doch einfach unsere vorgefassten Meinungen.“

„Einverstanden.“ Kopfschüttelnd zog Jack sich an. „Ich kann es immer noch nicht fassen. Ich war nämlich ziemlich gespannt darauf, die berühmte Dr. Girard kennenzulernen, und war hocherfreut, dass sie an unserer klinischen Studie teilnehmen wird. Natürlich habe ich nicht geahnt, dass sie auch eine fantastische Fremdenführerin ist, die grünsten Augen der Welt hat und …“, er sah sie an und fuhr mit einem derart sinnlichen Tonfall fort, dass sie erschauerte: „… die sinnlichsten Lippen diesseits und jenseits des Atlantiks.“

Du meine Güte. Und seine waren ebenfalls unglaublich sinnlich.

„Aber sicher ist dir jetzt klar, dass das hier keine gute Idee ist, da wir ja zusammenarbeiten werden.“

Die Idee war sogar noch viel schlechter, als er wissen konnte.

Robert Timkin, der CEO von Crilex, hatte Jack und allen anderen Beteiligten weisgemacht, dass Avery die klinische Studie beobachten würde, um sich weiterzubilden. Die Unternehmensleitung wusste jedoch, dass sie Bedenken in Bezug auf die neue TAVI-Herzklappe hatte. Deshalb hatte man sie beauftragt, die Daten auszuwerten. Außerdem war sie befugt, die Weiterführung der Studie zu stoppen, falls sie das für notwendig hielt.

Über ein Jahr lang hatte Jack an der neuen TAVI-Herzklappenprothese gearbeitet und die Studie vorbereitet. Sollte Avery sich aufgrund der Daten gezwungen sehen, alles zu beenden, würde er ausrasten.

„Zusammenarbeiten …“ Jacks Lächeln wich einem Stirnrunzeln. „Stimmt, das ist wohl ein Problem.“

„Ja.“ Avery atmete durch. „Also, es war wirklich schön: zwei Fremde, die einen tollen Tag zusammen verbringen. Allerdings sind wir keine Fremden, und ich muss objektiv sein, wenn ich die klinische Studie beobachte und Daten erfasse. Also werden wir von jetzt an Arbeitskollegen sein und sonst nichts.“

Einen Moment lang sah Jack sie ernst an. Dann nickte er. „Du hast recht. Berufliches und Privates sollte man nicht miteinander vermischen.“

„Stimmt.“ Abgesehen davon hatte sie sich geschworen, sich nie wieder mit einem Kardiologen einzulassen.

Kurz entschlossen zog er sie an sich und küsste sie auf den Mund. Und trotz allem schmiegte Avery sich an ihn.

„Das war ein Dankeschön von Jack an Avery für einen unvergesslichen Tag“, flüsterte er, den Mund ganz nah an ihrem. Dann löste er sich von ihr. „Und morgen werden sich dann Dr. Dunbar und Dr. Girard im Katheterlabor auf den Grund ihres Aufenthalts in Paris konzentrieren. Okay?“

„Okay.“

Er küsste sie, etwas länger diesmal. Dann nahm er ihren Mantel und hängte ihn ihr über den Arm. Avery ging hinaus und zog die Tür leise hinter sich zu. Unwillkürlich presste sie sich die Finger auf den Mund. Das hier war der einzige One-Night-Stand, den sie jemals haben würde, also wollte sie sich die Erinnerung daran bewahren. Und sie hoffte inständig, dass sie während der kommenden dreißig Tage keinen Grund hätte, ihr flüchtiges kleines Abenteuer zu bereuen.

3. KAPITEL

Avery stand hinter einer Glasscheibe auf einer Seite des OP-Tischs im Katheterlabor des Krankenhauses und verfolgte das Geschehen auf dem Röntgenmonitor. Wie alle anderen Anwesenden trug sie Schutzkleidung und Mundschutz, hatte jedoch zusätzlich ein Tablet in der Hand, auf dem sie ihre Anmerkungen festhalten wollte.

„Die Herzklappenprothese besteht aus Gewebe von Kühen“, erklärte Jack den Pflegekräften und Ärzten, die am geplanten Eingriff beteiligt waren oder es beobachteten. Er und die Krankenschwester Jessica Bowman, die aus den USA mitgekommen war, bereiteten den Patienten vor. „Anders als beim Vorgängermodell ist zum Öffnen kein Ballon erforderlich.“

Wie bei der Präsentation am Vorabend erklärte er, wie eine TAVI, eine kathetergestützte Aortenklappenimplantation, ablief, wie der Katheter gestaltet war und warum Stent und Klappe schirmförmig waren: Die erkrankte Klappe wurde zur Seite geschoben, bevor sich der Schirm öffnete und die neue Klappe positioniert wurde. Da noch nicht begonnen wurde, hatte Avery kurz Gelegenheit, stattdessen Jack zu betrachten.

Heute wirkte er absolut professionell: Die dunklen Augen über dem Mundschutz blickten ernst, seine Stimme klang sachlich. Ein starker Kontrast zu dem unterhaltsamen, geistreichen Begleiter, der er gestern gewesen war. Als sie durch Paris geschlendert waren, hatten seine Augen humorvoll und interessiert geleuchtet, er hatte gelächelt und ihr sowie den Sehenswürdigkeiten seine ganze Aufmerksamkeit geschenkt.

Eine absolut verlockende Mischung. So verlockend, dass sie jegliche Vorsicht vergessen hatte. Zum Glück hatten sie sich geeinigt, dass es keine heißen Küsse und keinen spontanen Sex mehr geben durfte. Doch allein beim Gedanken an die Küsse und das leidenschaftliche Liebesspiel wurde Avery von der Sehnsucht nach mehr erfasst …

Reiß dich zusammen! tadelte sie sich im Stillen. Mit Kardiologen hatte sie endgültig abgeschlossen – nach zwei sehr enttäuschend verlaufenen Beziehungen.

Und dann gab es da ja noch ein zweites Problem. Natürlich wäre es toll, wenn das neue System einwandfrei funktionieren würde und die Erprobung ein Erfolg wäre, sodass es in weiteren Ländern und Krankenhäusern zum Einsatz käme. Immerhin wurde allein in den USA bei über hunderttausend Menschen eine Aortenstenose festgestellt, und ein gutes Drittel von diesen waren Risikopatienten, bei denen die herkömmliche Operation am offenen Herzen kaum oder gar nicht in Frage kam.

Doch Avery hatte sich Stent, Katheter und Klappe angesehen und befürchtete, dass auch mit diesem Modell das gravierende Problem einer postoperativen Undichtheit der Aortenklappe, das zu einem Lungenödem führen konnte, nicht vollständig gelöst worden war. Schon bei ihrem ursprünglichen Modell hatte dieses Problem bestanden, und sie versuchte es bei ihren neuen Prototypen zu beseitigen.

„Ich lege einen zentralvenösen Zugang durch die rechte innere Drosselvene.“ Jack machte einen Schnitt am Hals des Patienten. „Dann wird ein temporärer Herzschrittmacher eingeführt. Der Leistenbereich des Patienten ist entsprechend vorbereitet, und im nächsten Schritt führe ich eine Einführschleuse in die Oberschenkelarterie ein.“

Avery beobachtete, wie er mit sicheren Bewegungen die entsprechenden Schritte durchführte. Dann setzte er an der Leiste des Patienten einen Schnitt und schob den Führungsdraht in die Arterie.

„Kontrastmittel bitte. Und die Heparin-Verabreichung überwachen“, sagte er und verfolgte seine Schritte auf dem Monitor. „Wie Sie sehen, ist es wichtig, die Arterie in einem großen Winkel zu punktieren.“

Er war ganz klar ein sehr talentierter interventioneller Kardiologe. Avery konzentrierte sich auf ihre Notizen, um nicht an die anderen Talente zu denken, die er gestern unter Beweis gestellt hatte. Sie hatte der Versuchung nur nachgegeben, weil es eine vermeintlich flüchtige Begegnung gewesen war. Und jetzt würde sie Jack täglich sehen …

Schließlich vernähte er die Einstichstellen, und der Patient wurde in den Aufwachraum verlegt. Alle gratulierten Jack.

„Danke, aber ich bin nur ein kleines Rädchen im Getriebe, durch das sich die Herzklappentransplantation hoffentlich für immer verändern wird“, wehrte er ab. „Ein sehr wichtiges Rädchen ist übrigens anwesend: Dr. Avery Girard, die das erste Modell einer Herzklappe zur kathetergestützten Implantation entwickelt hat.“

Darauf war Avery nicht vorbereitet, denn die meisten Kardiologen, die sie kannte, spielten sich gern in den Vordergrund und heimsten sämtliche Lorbeeren allein ein. Sie errötete, als Jack sich zu ihr umdrehte und lächelnd zu klatschen begann. Die anderen applaudierten ebenfalls. Sie hatte sich bewusst im Hintergrund gehalten, und die meisten Krankenhausmitarbeiter gingen sicher davon aus, dass sie eine Vertreterin von Crilex war.

„Vielen Dank, Dr. Dunbar“, sagte sie und spürte, wie ihr warm ums Herz wurde, was natürlich albern war. „Ich hoffe sehr, dass das von Ihnen mitentwickelte neue Modell optimal funktionieren wird. Herzlichen Glückwunsch, dass der erste Eingriff so gut gelaufen ist.“

„Danke.“ Der Blick, mit dem er sie bedachte, erinnerte sie an den Vortag. Doch dann bestürmten ihn die anderen Ärzte mit Fragen, und er wandte sich ihnen zu.

Avery legte Kittel, Mundschutz und Haube ab und beobachtete, wie Jack mit den Anwesenden sprach. Seine tiefe Stimme klang begeistert, und zu gerne hätte sie ihm noch länger zugehört. Doch sie zwang sich, leise hinauszugehen. Es wäre das Beste, wenn sie so wenig wie nur möglich mit ihm zu tun hätte. Und außer der gerade durchgeführten OP war für heute keine weitere angesetzt.

Als ihre Aufzeichnungen alle ordnungsgemäß in die Datenbank eingegeben waren, ging Avery zum Hotel. Sie fühlte sich merkwürdig unruhig. Eigentlich hatte sie auf ihrem Zimmer arbeiten wollen, doch eine ungewohnte Einsamkeit erfüllte sie. Also ging sie zum Arbeiten in ein kleines Café. Nach ein paar Stunden kehrte sie ins Hotel zurück und machte es sich mit ihrem Laptop in einem Sessel bequem. Sie hatte Ideen dafür gesammelt, wie sie ihr erstes TAVI-Modell optimieren könnte, sollte es mit Jacks derzeit erprobtem Modell erhebliche Schwierigkeiten geben.

Plötzlich breitete sich ein beklommenes Gefühl in Averys Magengegend aus, und sie begriff sofort, warum.

Wenn sie nahelegen musste, dass die Studie abgebrochen wurde, würde Jack dann nicht denken, dass sie Crilex dazu bringen wollte, einem ihrer Entwürfe den Vorzug zu geben und seine Weiterentwicklung zu finanzieren? Womöglich würde er vermuten, dass Eigeninteresse dahintersteckte und nicht Sorge um die Patienten.

Avery arbeitete freiberuflich, seit sie überstürzt den Arbeitgeber verlassen hatte, der ihr erstes TAVI-Modell finanziert hatte. Das Unternehmen hatte die Studie fortgesetzt, obwohl längst klar gewesen war, dass zuerst das Problem mit der Undichtigkeit behoben werden musste. Deswegen war Avery froh gewesen, diese aktuelle Studie beobachten zu können, denn das sollte auf keinen Fall noch einmal passieren.

Könnte sie doch nur mit Jack darüber reden, dann würde er keine Hintergedanken ihrerseits vermuten. Doch sie hatte Crilex vertraglich zusichern müssen, diese Informationen absolut vertraulich zu behandeln.

Avery versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Es hatte keinen Sinn, sich Sorgen zu machen, und außerdem wusste Jack ja, dass sie das Ausgangsmodell entwickelt hatte. Da war ihm doch sicher klar, dass sie an den Nachbesserungen arbeitete und diese auch im Hinterkopf hatte.

Sie konnte Jack nicht sagen, wie weitreichend ihre Befugnisse bei der Studie waren. Aber vielleicht sollte sie ihm wenigstens anvertrauen, dass sie in Bezug auf das Modell Bedenken hatte – und ihn dezent dazu bringen, nach denselben Schwierigkeiten Ausschau zu halten wie sie.

Nachdem Avery eine Weile vor sich hin gestarrt hatte, klappte sie seufzend den Laptop zu. Um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, wollte sie sich etwas frische Luft gönnen und einen Ort aufsuchen, an dem sie länger nicht gewesen war. Sofort fiel ihr etwas ein, das perfekt geeignet war.

Als sie sich eine halbe Stunde später mit den anderen Passanten aus der Metro drängte, stand die Sonne schon gefährlich tief. Dabei war sie doch gleich aufgebrochen, um Sacré-Cœur bei Sonnenuntergang zu erleben! Damit ihre Bemühungen nicht umsonst gewesen waren, rannte Avery los – und stieß mit einem Mann zusammen.

„Entschuldigung!“

„Nein, das war meine Schuld. Ich habe gerade nachgesehen, wie ich zur Basilika Sacré-Cœur komme, um sie mir bei Sonnenuntergang anzusehen, und …“

Der Mann wandte sich um, und Avery erstarrte. Das konnte doch nicht wahr sein: Vor ihr stand Jack Dunbar. Entgeistert sah er sie an, dann schüttelte er lachend den Kopf. „Wann immer ich eine Fremdenführerin brauche, steht plötzlich die beste von ganz Paris vor mir. Wie kann das angehen?“

Das war ganz klar Schicksal. Aber warum führte es sie und Jack immer wieder zusammen?

„Leider kann ich die Geheimnisse des Universums nicht lüften. Aber wahrscheinlich wird es dich nicht überraschen, dass ich dasselbe Ziel habe wie du.“

Als Jack lächelte und sich feine Linien um seine Augen bildeten, machte ihr Herz einen kleinen Sprung. „Stimmt, das überrascht mich wirklich nicht. Und da ich mich auf keinen Fall mit dem Universum anlegen möchte, sollten wir wohl gemeinsam hingehen.“

Statt Beklommenheit und Unruhe verspürte Avery plötzlich eine übermütige Heiterkeit. Sie wusste, dass es nicht klug wäre, Zeit mit Jack Dunbar zu verbringen. Aber sie konnte einfach nicht anders.

„Wir sollten uns beeilen.“ Sie nahm seine Hand, was natürlich absolut unvernünftig war. Doch gegen die freudige Erregung, die sie erfüllte, kam sie einfach nicht an. „Die Sonne geht gleich unter!“

„Dann los, Frau Fremdenführerin. Heute Abend gehöre ich ganz Ihnen.“

4. KAPITEL

Jack sah die entzückende Frau an, die ihn mit sich zog. Was für ein Glück, dass er sie kennengelernt hatte, bevor ihre gemeinsame Arbeit begonnen hatte! Dass sie an einem gemeinsamen Projekt beteiligt waren, war wirklich ungünstig, denn er hatte sich geschworen, sich nie mehr mit einer Frau einzulassen, mit der er beruflich zu tun hatte. Doch an diesem letzten Abend würde er es sich noch einmal erlauben, Averys Gesellschaft zu genießen. Er konnte einfach nicht anders.

„Viele Leute glauben, die Kirche sei sehr alt, aber tatsächlich wurde sie erst nach dem Ersten Weltkrieg geweiht, 1919.“

„Das wusste ich nicht. Möchtest du mir beweisen, dass Wissenschaftlerinnen in vielen Bereichen versiert sein können?“

„In Bezug auf die Kompetenz von Wissenschaftlerinnen muss ich nichts beweisen“, entgegnete sie würdevoll. „Ich trage schließlich keine orthopädischen Schuhe.“

Jack lachte. „Stimmt. Ehrlich gesagt, habe ich noch nie knallgrüne Stiefeletten gesehen.“

„Wirklich nicht? Vielleicht solltest du dir auch mal farbenfrohe Schuhe zulegen.“

„Leider befürchte ich, dass meine Patienten dann an meinen Fähigkeiten zweifeln würden.“ Er sah ihr in die Augen, deren Grün noch intensiver war als das ihrer Schuhe. „Im Gegensatz zu mir kannst du dich in deinem Labor und hinter deinem Computer verstecken.“

„Du könntest sie tragen, wenn deine Patienten in Narkose liegen.“ Sie hatte wieder jenen neckenden Ausdruck im Blick, den Jack gestern unwiderstehlich gefunden hatte. Irgendwie musste er es schaffen, dem zu widerstehen – ab morgen …

„Leider sind meine Patienten meistens wach, also bleibe ich lieber bei Schwarz oder Braun.“

„Bist du denn gar nicht abenteuerlustig?“

„Doch. Zum Beispiel heute Abend mit dir.“

Mit merkwürdig starrer Miene sah Avery ihn an. „So geht es mir auch.“ Sie ging noch schneller und fügte hinzu: „Wir sind fast da, und da jetzt im Januar Nebensaison ist, ist es hoffentlich nicht so überlaufen. Zum Glück kommt die Sonne durch. Vielleicht wird es doch ein schöner Abend.“

„Der Abend ist doch schon sehr schön.“

Avery errötete. Jack hatte seine Worte ernst gemeint: Da er sich so auf seine Arbeit konzentrierte, hatte er selten Gelegenheit, Dinge wie einen schönen Sonnenuntergang zu genießen – oder eine schöne Frau. Doch Avery hatte schon vom ersten Moment an seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, und offenbar konnte er nichts dagegen tun.

Sie führte ihn um eine Ecke und blieb dann plötzlich stehen. „Voilà! Wir haben es geschafft! Wow, so schön war es noch nie!“

Jack folgte ihrem Blick und war überwältigt. In einiger Entfernung sah er ein wunderschönes altes Gebäude mit Säulen, das alles andere überragte. Die untergehende Sonne tauchte die Kuppeln und Turmspitzen in rosa- und goldfarbenes Licht, sodass sie sich wie ein wunderschönes Wandgemälde vor dem blassblauen Himmel abhoben.

„Das ist einfach … atemberaubend.“

„Ja.“ Avery löste ihre Hand aus seiner, umfasste seinen Arm und zog ihn näher.

Als er ihr in die Augen sah, las er in ihrem Blick das, was auch er empfand: ungläubiges Staunen und eine tiefe Verbindung, die gestern schon zu jenem denkwürdigen Intermezzo geführt hatte.

„Ich habe mir die Basilika lange nicht mehr angesehen.“

Jack legte ihr den Arm um die Schultern. So standen sie eine ganze Weile da und sahen, wie die Pastellfarben dunkler wurden. Irgendwann schluckte die untergehende Sonne Licht und Farben. Jack drehte sich zu Avery um und zog sie ohne nachzudenken in die Arme.

„Irgendwie glaube ich, dass es ohne dich nicht ganz so schön gewesen wäre.“

Lächelnd senkte sie den Kopf und schmiegte die Wange an seine Brust. Als sie gemeinsam die nun im Schatten daliegende prächtige Kirche betrachteten, dachte Jack erstaunt, wie natürlich und normal es sich anfühlte, Avery so in den Armen zu halten: als hätten sie schon viel Zeit zusammen verbracht und nicht nur einen einzigen Tag.

Langsam ließ er die Hand an ihrem Rücken hinaufgleiten und umfasste ihren Hals. „Wollen wir mit der Seilbahn hochfahren und auf die Stadt runterblicken?“

„Woher weißt du von der Seilbahn?“

„Ach, du meinst wohl, nur du bist für Sightseeing-Tipps zuständig?“ Er schob ihr das Haar unter die Mütze – heute trug sie eine gelbe –, ließ die Finger kurz in ihren weichen Strähnen ruhen und strich ihr dann über die Wange. „Ich habe einen Reiseführer über Paris gelesen, weil ich ja nicht ahnen konnte, dass ich in den Genuss einer persönlichen Fremdenführerin kommen würde.“

Einen Moment lang sah Avery ihn nur an. Dann stellte sie sich – was ihn überraschte und gleichzeitig glücklich machte – auf die Zehenspitzen, schlang ihm die Arme um den Nacken und küsste ihn. Als ihr Mund seinen berührte, war es, als würde ein Stromschlag durch seinen gesamten Körper fahren. Jack schloss die Arme enger um sie und erwiderte ihren Kuss. Schon bald hatte er alles vergessen: dass sie zusammen arbeiteten, dass sie an einem Ort standen, an dem Touristen Fotos machten … auch den vorbeibrausenden Verkehr nahm er kaum noch wahr.

Es war genau wie am Vortag, als Averys zarte Lippen ihn unter ihrem Regenschirm alles hatten vergessen lassen.

Als das laute Motorengeräusch eines Motorrollers ertönte, löste Jack sich von ihr und lehnte die Stirn an ihre. Sie keuchten beide ein wenig, und in der kalten Luft zwischen ihnen vermischte sich ihr dampfender Atem. „Wow, das war schön.“

„Ach, du meinst wohl, nur du bist dafür zuständig, beim Küssen die Initiative zu ergreifen?“

Jack lachte leise. „Ganz und gar nicht. Aber so gerne ich dich weiter küssen würde – ich möchte auf keinen Fall, dass einer von uns über den Haufen gefahren wird.“ Oder berufliche Schwierigkeiten bekommt. „Komm, lass uns hochfahren.“

Avery löste sich von ihm, und kurz flackerte ein merkwürdiger Ausdruck in ihren Augen auf.

Jack umfasste ihr Kinn. „Was ist denn los?“

„Eigentlich waren wir uns doch einig, dass wir uns nicht mehr küssen wollen“, sagte sie stirnrunzelnd. „Aber mich überkommt es irgendwie, und dann vergesse ich all die vernünftigen Gründe, die dagegensprechen.“

„Dann hoffe ich, dass sie dir nicht so schnell wieder einfallen“, neckte Jack sie und zog sie mit sich, bis er mit dem Rücken...

Autor

Cathy Gillen Thacker
<p>Cathy Gillen Thacker ist eine Vollzeit-Ehefrau, - Mutter und – Autorin, die mit dem Schreiben für ihr eigenes Amusement angefangen hat, als sie Mutterschaftszeit hatte. Zwanzig Jahre und mehr als 50 veröffentlichte Romane später ist sie bekannt für ihre humorvollen romantischen Themen und warme Familiengeschichten. Wenn sie schreibt, ist ihr...
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Jessica Gilmore
Jessica Gilmore hat in ihrem Leben schon die verschiedensten Jobs ausgeübt. Sie war zum Beispiel als Au Pair, Bücherverkäuferin und Marketing Managerin tätig und arbeitet inzwischen in einer Umweltorganisation in York, England. Hier lebt sie mit ihrem Ehemann, ihrer gemeinsamen Tochter und dem kuschligen Hund – Letzteren können die beiden...
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