Romana Weihnachten Band 20

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WINTERZAUBER IN DEN BERGEN von NIKKI WEST

Hell läuten die Kirchenglocken in dem tiefverschneiten Tal, als Sophie ihre Jugendliebe wiedersieht. Damals verließ Julius, inzwischen ein berühmter Cellist, das Bergdorf ohne sie. Kann die Stille Nacht ihr gebrochenes Herz heilen - und ihnen beiden einen Neuanfang schenken?

LIEBESSTERN ÜBER DEM DEICH von LILLI WIEMERS

Ein Wintersturm tobt über der Nordsee, aber in der kleinen Reetdachkate hinterm Deich herrscht Wärme. Im goldenen Kerzenschein schmiegt Wenke sich an Matthies, den geheimnisvollen Gast auf dem Gestüt. Ihre Liebe ist wie ein Weihnachtswunder - das viel zu schnell mit den eiskalten Raunächten enden könnte …

EIN STÜCK VOM HIMMEL? von ANNA KELLER

Zimmermädchen Marie kann es kaum fassen: Ihr Chef hat ihr im glitzernden Schnee einen Kuss geraubt! Doch das Glück gerät in Gefahr, als ihre Stiefschwester im bayerischen Winterwald auftaucht. Durchtrieben will sie den vermögenden Hotelier Leopold für sich gewinnen …


  • Erscheinungstag 09.10.2020
  • Bandnummer 20
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749361
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Nikki West, Lilli Wiemers, Anna Keller

ROMANA WEIHNACHTEN BAND 20

PROLOG

„Oh, schau! Komm schon! Da vorne in dem Zelt gibt es Puppentheater! Das müssen wir sehen!“ Sophie packte Julius an der Hand und zog ihn in die Richtung, wo sich rot und leuchtend das Spitzdach eines Puppentheaters aus der Menge von Wintermänteln abhob. Die Streben des offenen Theaterzelts waren mit Tannengrün und Stechpalmenzweigen verziert.

Bereitwillig ließ der Junge sich von ihr mitziehen. In ein paar Wochen wurde er schon sechs. Julius war zwei Jahre älter als sie, und wenn er von Sophies Papa in die Vorschule gefahren wurde, trug er immer schicke dunkelblaue Hosen und ein Hemd, das Mama ihm in aller Herrgottsfrühe aufbügelte. Dann wirkte er wie ein Fremder auf Sophie. Doch sobald er zu Hause war, nahm er sich Zeit für sie.

Sie bahnten sich einen Weg durch die Menge auf dem Adventsmarkt. Die Luft duftete nach Lebkuchen und Weihnachtsgewürzen, an den Ständen glitzerten Christbaumanhänger aus funkelndem Glas, leuchteten tausende Lichter und spiegelten sich in den feinen Flocken, die der Himmel über den Weihnachtsmarktbesuchern ausschüttete. Leise klangen Weihnachtslieder aus versteckten Lautsprechern.

Durch den flauschigen Wollstoff ihrer Fäustlinge spürte Sophie Julius’ Hand kaum, aber sie wusste, er war da. Sein Griff gab ihr Sicherheit in der Menge aus Menschen, alle eingemummelt in Mützen, Schals und dicken Anoraks.

Sie drängte weiter. Über dem Eingang zum Zelt baumelte ein mit Schneeflocken und Efeuranken bemaltes Holzschild. „Nächste Vorstellung: 17:30 Uhr“ stand darauf. Gerade schlug die Kirchenglocke zur halben Stunde.

Vor dem Puppentheater hatte sich eine Zuschauertraube gebildet. Sogar ein paar Holzbänke waren vor der Bühne aufgestellt, damit die Kinder dem Spektakel in aller Ruhe folgen konnten.

Sophie erspähte einen letzten Platz auf der Bank in der ersten Reihe. Sie setzte sich, ruckelte ein bisschen nach rechts und ein bisschen nach links und tappte dann mit der Hand auf die freie Stelle, die sie so neben sich geschaffen hatte.

Julius warf ihr einen skeptischen Blick zu.

„Nun komm. Gleich geht es los.“

Ein lustiges Glockenspiel erklang, dann hob sich zum „Ohhh“ und „Ahhh“ der Zuschauer der rote Samtvorhang der Puppenbühne.

„Guten Abend, liebe Zuschauer“, begrüßte der Erzähler die Kinder und Erwachsenen auf den Bänken. Dazu hüpfte eine Handpuppe über die Holzbühne, ein alter Mann mit Lodenumhang und langem Hirtenstock. „Sagt, Kinder, seid ihr alle da?“

„Jaaaa!“, tönte es aus zahlreichen Kehlen.

„Kennt ihr die Geschichte vom armen Spielmann und den goldenen Schuhen?“

Gemeinsam mit den anderen Kindern schüttelte Sophie den Kopf.

„Ich kenne sie“, flüsterte Julius ihr ins Ohr, leise genug, damit nur sie ihn hörte. „Opa Albert hat sie mir erzählt. Das ist eine Legende hier aus der Gegend.“

„Es war einmal ein armer Spielmann“, fuhr der Erzähler fort. „Der reiste in der ganzen Welt umher, immer von Dorf zu Dorf. Wo er rastete, spielte er für die Menschen auf seiner Geige und verdiente sich so ein paar Kreuzer.“

Von der anderen Seite der Bühne betrat eine zweite Puppe das Theater. Sie trug zerrissene Kleider und einen schiefen Hut. In der Hand hielt die Puppe eine Fiedel.

Aus den Lautsprechern über den Köpfen der Zuschauer drang das klagende Singen einer Geige.

„Einmal, an einem besonders kalten Wintertag, suchte der Spielmann Schutz in einer Kapelle.“ Seitlich wurde ein neues Bühnenbild hinter die Puppen geschoben. Es zeigte einen prunkvollen Altar mit einem Sockel aus Marmor und einer zarten Marienstatue im Hintergrund. „Und weil der Spielmann nicht wusste, wie er besser zu Gott sprechen sollte als durch seine Musik, begann er, für die Muttergottes zu fiedeln.“

Wieder setzte die Geigenmusik ein.

Sophie rückte näher an Julius.

„Kannst du auch so schön spielen?“ In dem großen Haus, in dem sie beide wohnten, gab es ein ganzes Zimmer voller Instrumente.

„Würde ich gerne“, gab Julius zu. „Aber nicht Geige, sondern Cello. Weißt du, was ein Cello ist? Es ist größer als eine Geige, und es klingt …“ Er suchte nach Worten. „Himmlisch. Weich und warm und seidig. Dann wieder ernst und tröstend. Wie ein Sänger. Nur schöner. Als würde ein echter Engel singen, und du könntest sein Lied mit dem Herzen hören, nicht mit den Ohren.“

Sophie war noch zu klein, um in Worte zu fassen, was sie in Julius’ Blick erkannte, während er versuchte, ihr seine Begeisterung für das Cello zu beschreiben. Instinktiv spürte sie, dass es etwas Wichtiges war. Etwas, das groß war und ihrem Freund ganz allein gehörte. Etwas, das ihm vielleicht sogar noch wichtiger war als sie.

Plötzlich war ihr nicht mehr danach, das Theaterstück zu Ende zu schauen.

„Wir sollten gehen“, sagte sie. „Sicher ist Herrn Fuchsberger schon aufgefallen, dass wir nicht mehr da sind.“ Mama und Papa hatten Sophie eingebläut, von Julius’ Vater niemals anders zu sprechen als von Herrn Fuchsberger. Gnäd’ger Herr war auch in Ordnung, aber niemals dürfte sie Leopold sagen, oder dein Papa, wenn sie mit Julius sprach. Schließlich hielt Herr Fuchsberger sie in Lohn und Brot. Ihm war es zu verdanken, dass Sophies Familie ein Dach über dem Kopf hatte. Das verdiente Respekt, und dass Julius Sophies bester Freund auf der Welt war, änderte daran nichts. „Wenn du zu lange weg bist, wird er dich wieder schimpfen.“

„Noch nicht“, zischte Julius. „Wir wollten uns doch das Theaterstück ansehen.“

Auf der Bühne nahm die Geschichte ihren Lauf. Die Muttergottes belohnte den Spielmann mit einem ihrer goldenen Schuhe für sein seelenvolles Lied. Der Spielmann, so arm wie er war, wusste nichts mit dem kostbaren Geschenk anzufangen. Zuerst ging er zu einem Bauernhaus und fragte den Bauern um Rat. Der erkannte den Schatz in den Händen des Spielmanns und war überzeugt, der Geiger müsse den Schuh geklaut haben. Also schickte er den Spielmann zum Schuster.

Doch auch der Schuster schenkte dem Geiger nichts als Misstrauen. „Mit dem Schuh kann ich nichts anfangen“, sagte der Schuster zum Spielmann, „denn er ist nicht aus Leder. Geh lieber zum Goldschmied. Womöglich gibt der dir Geld für deinen Schatz.“

Als der Spielmann zum Goldschmied kam, machte dieser große Augen. „Der ist ja aus purem Gold!“, rief er aus. „Den will ich dir gerne abkaufen. Warte in der Stube, bis ich mein Tagwerk verrichtet habe.“

Froh, seine müden Glieder ausruhen zu können, setzte sich der Spielmann an den Kamin und genoss die Wärme.

Der Goldschmied unterdessen hatte gar nicht vor, dem Spielmann das goldene Kleinod abzukaufen. Wie schon der Bauer und der Schuster konnte er sich nicht vorstellen, wie ein musizierender Vagabund zu solch einem Schatz gekommen sein sollte, wenn nicht durch Diebstahl. Er ließ die Landwächter holen. Im Nu waren sie da und legten den Spielmann in Schellen.

„Mein Herz ist rein und meine Hände ebenso. Das Einzige, was ich je gestohlen habe, waren die Töne aus meiner Geige“, beteuerte der Spielmann, doch auch das ärgste Flehen half ihm nichts, und er wurde verhaftet.

Sophies Wangen brannten, so sehr nahm die Geschichte sie mittlerweile in ihren Bann.

„Oh nein!“ Sie legte ihre Hand auf Julius’ Oberschenkel, klammerte sich so fest an den Freund, als hätte der die Macht, den Lauf des Stücks zu beeinflussen. „Der Spielmann hat gar nichts gemacht. Er hat nur gespielt. Sie können ihn doch nicht für etwas einsperren und aufhängen, das er gar nicht gemacht hat!“

Julius blickte finster drein. „Du kriegst doch auch Strafen im Kindergarten für etwas, das du nicht getan hast. Wenn du nicht tust, was die Kindergartenfräuleins von dir wollen zum Beispiel. Die Strafen sind immer am schlimmsten, wenn man nicht macht, was die anderen von einem wollen.“

„Aber …“

„Pssst“, unterbrach er sie, gerade als dem Puppenspielmann die Schlinge um den Hals gelegt wurde.

Sophie kämpfte mit den Tränen. Warum fragte niemand, was wirklich geschehen war? Warum kamen alle zu ihren eigenen Schlüssen, ohne dem Spielmann überhaupt eine Chance zu geben?

„So gewährt einem Todgeweihten doch nur eine Bitte!“, flehte der Puppenspielmann um Gnade. „Führt mich zur Kapelle am See, wo die Muttergottes mich so reich beschenkt hat. Noch einmal will ich spielen. Nur ein letztes Lied, bevor mein Leben zu Ende geht.“

Wie Sophie hielten auch alle anderen Zuschauer den Atem an. Was würde geschehen?

Ein Aufatmen ging durch die Reihen, als die Landwächter mit dem Spielmann Mitleid hatten. Sie führten ihn zurück zur Kapelle mit der schönen, jungen Madonna, und der Spielmann spielte, wie er noch nie gespielt hatte. So innig und beseelt, dass kein Auge trocken blieb. Nicht auf der Bühne, wo den Puppen winzige Tränen über die hölzernen Wangen rannen und schon gar nicht auf den Zuschauerrängen.

Da rührte sich auf einmal die Muttergottes auf dem Bühnenbild, und Sophie erkannte, dass in die Kulisse eine weitere Puppe eingearbeitet war, die sich bewegen konnte. Die Marienpuppe bückte sich, streifte sich auch den zweiten Schuh von den Füßen und warf ihn dem Spielmann zu.

Die Landwächter erkannten, welch Unrecht sie dem Spielmann getan hatten, und ließen ihn frei. Der verkaufte die kostbaren Schuhe an den Goldschmied.

Fortan musste er niemals mehr hungern und frieren, denn die Geschichte von seinem Schicksal verbreitete sich im ganzen Land. Jeder wollte ihn spielen hören, und wo immer er auftrat, wurde er behandelt wie der Kaiser persönlich.

„Meinst du, das ist wahr?“, fragte Sophie, als der Vorhang gefallen war. „Meinst du, es gab wirklich mal einen Spielmann hier im Salzkammergut, der so schön spielte, dass selbst die Muttergottes für ihn weinte?“

Sophie konnte sich das nicht vorstellen. Jeden Sonntag ging sie mit Mama und Papa zur Messe, und weil sie sich dabei meist recht langweilte, vertrieb sie sich die Zeit damit, die Bilder auf der Decke und an den Wänden anzusehen. Eine Madonnenstatue hatten sie bei sich zu Hause in St. Lorenz, aber goldene Schuhe hatte sie keine, und weinen konnte sie ganz sicher nicht.

„Natürlich nicht“, sagte Julius und stieß ihr belustigt in die Seite.

Sophie rümpfte die Nase. Sie mochte es nicht, wenn Julius beweisen musste, dass er älter und klüger war als sie, und überhaupt, dass seine Eltern etwas Besseres waren als ihre.

„Es ist nur ein Bild, so etwas wie eine Fabel.“ Er zwinkerte. „Natürlich kann eine Holzstatue nicht weinen.“

„Aber …“

Er unterbrach sie. „Musik kommt an Orte, von denen der Verstand nicht einmal träumen kann. Das soll die Geschichte bedeuten. Wenn niemand dir zuhören will, versuch es mit Musik. Vielleicht wird dann alles wieder gut. Musik öffnet Herzen und Türen. Sie bewirkt Wunder.“

Noch lange danach dachte Sophie über Julius’ Worte nach. Irgendetwas gefiel ihr daran nicht. Ganz und gar nicht.

„Du?“, fragte sie später auf dem Heimweg.

„Hm?“ Er legte einen Arm um sie, und Sophie atmete tief durch.

„Wenn du an diese Orte reisen würdest. An die, wo nur die Musik hinkommt.“

„Ja?“

„Würdest du dann wenigstens mich mitnehmen? Du hast versprochen, dass wir allerbeste Freunde bleiben. Immer und alle Zeit. Erinnerst du dich?“

Lachend drückte er sie an sich. „Natürlich nehme ich dich mit. Was denkst du denn?“

„Immer und für alle Zeit“, verlangte sie von ihm die Worte, die ihr so unendlich viel bedeuteten. „Versprich es.“

„Immer und für alle Zeit. Versprochen.“

Sie glaubte ihm.

Vielleicht hätte sie es besser wissen müssen, schon damals, mit vier Jahren. Vielleicht hätte sie auf den Verstand hören sollen, der ihr schon als kleines Mädchen zugeflüstert hatte, dass immer und für alle Zeit ziemlich lang war. Eine Zeitspanne, die niemand überblicken konnte. Schon gar nicht ein Junge, der für Sophie zwar ein Held war, aber für den Rest der Welt genauso ein Kind wie sie selbst.

1. KAPITEL

Viele Jahre später.

Als letztes Lied spielte Julius Fuchsberger – oder Jules Fox, wie ihn die Welt dieser Tage kannte – Stille Nacht, heilige Nacht. Der Weihnachtsklassiker ging immer.

Als er den Bogen von den Saiten nahm, lauschte er mit gesenktem Kopf dem letzten Ton nach. Dann begann der Applaus. Standing Ovations, Füßegetrampel, Bravo-Rufe – der perfekte Dreiklang eines großartigen Finales. Bereits oft hatte er sich gedacht, dass jede Darbietung nicht eine letzte Note hatte, sondern drei: den letzten Klang, den sein Bogen dem Cello entlockte, die atemlose Stille, die folgte, wenn das Publikum die Luft anhielt, noch immer verzaubert vom Nachhall des Stücks, und schließlich den Applaus.

Dieser Dreiklang war es, der Julius immer wieder versöhnte. Mit schlaflosen Nächten im Tourbus, mit den Tagen, an denen er in einem Hotelzimmer aufwachte und nicht wusste, in welcher Stadt er sich befand. Mit dem Verlust seiner Privatsphäre, wenn Fotografen und Fans ihn verfolgten und aus einem Stadtbummel einen Spießrutenlauf machten.

Manchmal sehnte er sich zurück in die Zeit, als alles einfacher gewesen war. Als er selbst Herr seines Lebens und nicht Sklave eines Terminkalenders gewesen war. So schlecht ist das Leben auf der Straße doch gar nicht gewesen, maulte dann eine leise Stimme in seinem Hinterkopf. Vor allem im Süden, wo der Sommer unendlich und das Leben voller Sonne war.

Dann jedoch kam ein Moment wie dieser. Wenn die Menge der Jubelnden zu einer Woge aus Begeisterung wurde, wenn er in den Gesichtern der wenigen, die er im Scheinwerferlicht erkennen konnte, ablesen konnte, was er ihnen mit seiner Musik schenkte. In solchen Augenblicken wusste er, warum er all das tat. Er lebte seinen Traum. Vom obdachlosen Straßenmusiker zum Weltstar – das war der Stoff, aus dem Legenden geschrieben wurden. Welcher Mensch besaß schon das Privileg, von sich behaupten zu können, in einem Märchen zu leben?

Er verbeugte sich, winkte ins Publikum. Die riesige Leinwand in seinem Rücken fing das Lächeln ein, das er den Konzertbesuchern schenkte. Die Presse beschrieb es als seelenvoll. Julius nannte es einstudiert. Stunden hatte er mit einem Personality-Trainer vor dem Spiegel gestanden, um genau den richtigen Winkel zum Heben seiner Lippen herauszufinden. In seinem Gesicht fühlte sich die Grimasse künstlich und falsch an.

Die Menge explodierte. Rosen flogen auf die Bühne, Teddybären, Liebesbriefe. Ein paar Dinge sammelte er auf. Um den Rest würde sich die Bühnencrew kümmern. Eine Auswahl der Geschenke schickte ihm das Management ins Hotel, der Großteil landete unbesehen im Mülleimer oder in Spendencontainern.

Nach dem neunten Verbeugen ebbte der Applaus ab, und Julius wandte sich zum Gehen.

Direkt hinter der Bühne heftete Nathalie sich an seine Seite, ihr immer präsentes Klemmbrett unter die Achsel geschoben, in der Hand eine Halbliterflasche Wasser, die sie ihm reichte.

Er nahm sie, sprenkelte sich ein paar Tropfen in den Nacken und kippte sich den Rest noch im Gehen in seine ausgedörrte Kehle.

„Drei Minuten bis zum Interview mit dem Klassiksender“, informierte Nathalie ihn. „Danach GQ, Soundfabrik und die Herrschaften von Webpoint. Denk dran, du hast genau zwölf Minuten pro Interview. Ich gebe dir den Countdown per Handzeichen, wenn es so weit ist.“

Er nickte und fuhr sich mit einem Handtuch, das irgendeine hilfreiche Seele ihm im Vorübergehen reichte, über den Nacken.

„Von den Interviews gehst du direkt zum Fantreffen mit den Influencern. Nimm dir Zeit dafür. Sei charmant und ein bisschen arrogant. Das mögen vor allem die weiblichen Fans. Die letzten Umfragen haben ergeben, dass neue Fans sich zu über achtundsiebzig Prozent aus Online-Kanälen generieren. Die meisten sind Frauen zwischen achtzehn und neununddreißig. Du solltest über ein weiteres Mitglied für dein Social-Media-Management nachdenken. Wenn es aussieht, als würdest du auf jeden Kommentar persönlich antworten, steigen die Ticketverkäufe in den darauffolgenden achtundvierzig Stunden um 0,3 Prozent.“

„Wo muss ich hin?“ Direkt vor ihnen teilte sich der Gang in zwei endlose Reihen gleicher Türen. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Irgendwo in den Eingeweiden einer Konzerthalle in irgendeiner deutschen Stadt.

Es war der dritte Advent, sein letztes Konzert vor der Tour-Pause. Weihnachten würde er in seinem Haus in Malibu verbringen, ehe er für ein Silvesterkonzert zurück nach Deutschland musste. An so viel konnte er sich erinnern.

„Tür siebzehn.“ Nathalie legte ihm eine Hand auf die Schulter und drängte ihn eilig vorwärts. „Mach schon. Sie warten auf dich. Brauchst du Stichpunkte für das Interview? Nur noch ein paar Sekunden.“

„Was ist mit einer Toilettenpause?“ Er hob eine Augenbraue und sah sie grinsend von der Seite her an. „Hast du mir dafür auch ein genaues Zeitfenster eingeplant?“

„Sehr witzig.“

Julius war sich nicht sicher, ob es als Witz gemeint war. Doch ehe er das Missverständnis aufklären konnte, riss Nathalie die Tür mit der dezenten Aufschrift 17 auf.

Kamerablitze blendeten ihn, in seinem Kopf legte sich ein Schalter um. Die kommenden Stunden versanken in einem Rausch aus Fragen und Antworten. Er posierte für Fotos, flirtete mit Fans. Lächelte, lächelte, lächelte.

Als er das nächste Mal richtig zu sich kam, saß er auf der Rückbank einer Limousine. Nathalie hielt ihm eine Pillendose hin.

„Deine Abendration.“

Er fragte nicht, wohin sie fuhren oder was genau er da schluckte. Vitaminpillen, nahm er an. Etwas zum Runterfahren nach der Hektik des Konzerts. Ohne diese Unterstützung fand er einfach keinen Schlaf. Zeitverschiebungen, durchwachte Nächte und das endlose Reisen brachten jeden Biorhythmus durcheinander, auch seinen. Er lehnte den Kopf an die Nackenstütze und schloss die Augen. Auf der Rückseite seiner Augenlider verwirbelten Sterne. In seinen Ohren pfiff es. Vielleicht waren das schon die Pillen, die Nathalie ihm gegeben hatte. Sein ganzer Körper schmerzte vor Müdigkeit.

„Eine Sache wäre da noch.“ Die Stimme seiner Assistentin schreckte ihn auf.

„Sind wir da?“ Er blickte aus dem Fenster. Regen perlte die Scheibe hinab. Sie standen an einer roten Ampel, die Uhr an einer Litfaßsäule zeigte rot blinkend 2:03. Rechts neben der Fahrbahn führte eine Brücke über einen Fluss, am anderen Ufer streckte der Kölner Dom majestätisch und hell beleuchtet seine Türme in den Nachthimmel.

Köln also. So viel dazu.

„Noch nicht. Das Hotel ist gleich um die Ecke. Das Management ist beunruhigt, Jules. Es gibt da eine etwas unangenehme Sache.“

Er zwang sich, den Blick von der Straße abzuwenden und Nathalie anzusehen.

„Wir dachten erst an einen Spinner. Eine Userin hat auf allen deinen Social-Media-Kanälen ein einziges Wort gepostet. Brausepulverherzenzeit.“

Er fuhr hoch. Für die Dauer einiger Schläge setzte sein Herz aus, die Kehle wurde ihm eng, er bekam keine Luft mehr. Hektisch fummelte er sich am Kragen.

Nathalie plapperte unbeirrt weiter. „Natürlich haben das die Administratoren sofort gelöscht. Aber dann kam auch noch ein an dich adressierter Brief im Büro an. Darin stand wieder nur dieses Wort. Wir haben die Polizei eingeschaltet, das alles klingt verdächtig nach Stalking. Niemand will dir noch mehr Stress bereiten, aber du solltest überlegen, während der Feiertage Personenschutz zu organisieren. Ich habe schon Kontakt mit einer Firma in L.A. aufgenommen, du kannst dich übermorgen mit einem Repräsentanten …“

Er hörte nicht hin.

Brausepulverherzenzeit.

Die Erinnerung überwältigte ihn, stieg so klar vor seinem inneren Auge auf, als wäre sie Realität.

Zwei Kinder. Ein Junge und ein Mädchen. Sieben, vielleicht acht Jahre alt. Hand in Hand rennen sie den hölzernen Badesteg entlang, springen ab, tauchen unter. Sie planschen und lachen. Später trocknet sie die Sonne. Splitterfasernackt sind sie, und die Luft schmeckt nach Heu und reifen Äpfeln. Auf ihren Zungen kribbelt die Säure von Brausepulverherzen.

„Brausepulverherzen sind das Beste“, sagt das Mädchen. Sie streckt dem Jungen die Zunge raus. Ihre Zähne und die Lippen sind rot von der Süßigkeit. „Schau mal, wie lustig!“

Der Junge weiß, er sollte nicht hier sein. Seine Eltern mögen es nicht, wenn er Zeit mit dem Mädchen verbringt. Ihnen ist es lieber, er spielt mit den Freunden, die sie für ihn aussuchen. „Ich muss gehen“, sagt er, „ich habe gleich Cello.“

„Aber es ist doch Brausepulverherzenzeit!“

Er hasst es, wenn seine Freundin traurig ist. „Wir können uns nach dem Abendessen noch mal treffen. Mama und Papa sind heute Abend auf einer Gartenparty.“

„Immer musst du irgendwo sein.“ Sie streckt die Unterlippe vor und schmollt. „Was ist, wenn ich dich auch mal ganz dringend brauche? Noch viel dringender als dein Cellolehrer oder deine Eltern? Wenn ich traurig bin zum Beispiel. Beste Freunde sind füreinander da, wenn sie traurig sind.“ Dass er seit einem Jahr Cellounterricht nehmen darf, ist sein größtes Glück – und das größte Ärgernis für seine kleine Freundin. Über nichts sonst streiten sie. Deshalb gesteht er auch jetzt nicht, wie sehr er sich auf den Unterricht freut, und konzentriert sich stattdessen auf das andere, was sie gesagt hat.

„Bist du traurig? Dann musst du es mir sagen.“ Er würde ihr gerne sagen, dass es auch ihn unglücklich macht, wenn seine Eltern ihm die Freunde aussuchen. Aber er findet nicht die richtigen Worte. Dass er dankbar für das sein soll, was er hat, haben ihm Mama und Papa gründlich eingebläut. Da kommt ihm plötzlich ein Gedanke.

„Wenn es wirklich wichtig ist, dann sag mir, dass es Brausepulverherzenzeit ist. Wenn du das sagst, weiß ich, dass es ernst ist, und dass ich auf jeden Fall zu dir kommen muss. Dass es dringender ist als alles andere auf der Welt.“

„Sogar wichtiger als Cellounterricht?“ Die Augen des Mädchens strahlen. Wenn sie das tun, fühlt der Junge sich wie der allergrößte Held.

„Natürlich.“ Er richtet sich auf, spannt die Schultern an, macht sich groß. Niemand auf der ganzen Welt hat ihn so lieb wie dieses Mädchen, bedingungslos und von ganzem Herzen. Mit ihr zusammen zu sein schenkt ihm ein ganz warmes Gefühl in seinem Innern. „Sophie, das ist jetzt unser geheimes Wort. Egal, wo ich bin, wenn ich es höre, komme ich zu dir.“

„Versprochen?“, fragt sie, ihre Stimme leise vor Bewunderung und Staunen.

„Versprochen. Immer und für alle Zeit.“

„Jules? Hörst du mir überhaupt zu?“ Nathalie schüttelte ihn an der Schulter. Die Erinnerung zerplatzte. Zurück blieb das hohle Gefühl in der Brust. Eine Leere, geboren aus Sehnsucht, Scham und schlechtem Gewissen, an die er sich normalerweise nie gestattete zu denken. Er rieb sich das Brustbein.

Nathalie folgte der Handbewegung mit sorgenumwölkter Miene. „Das ist wichtig, Jules. Ich weiß, du brauchst eine Auszeit. Die letzten Monate waren knochenhart. Aber um diese Auszeit genießen zu können, brauchst du vor allem Schutz. Gerade in L.A. Du weißt doch, wie die Pressegeier dort sind. Die warten nur darauf, dass du die Nerven verlierst, weil irgendwas dich unter Druck setzt.“

„Ich fliege morgen nicht nach Los Angeles.“ Es war nur ein Gedanke gewesen. Erst als das Echo der Worte den Fond der Limousine füllte, wurde ihm bewusst, dass er wirklich gesprochen hatte.

„Wie bitte?“ Nathalies Stimme überschlug sich. „Du willst deinen Flug umbuchen?“ Schon zückte sie das Handy und begann, wie wild darauf herumzutippen. „So was musst du mir sagen, Jules. Das weißt du doch. Auf wann soll ich den Flug verschieben? Lass mich gucken. United hat eine Verbindung …“

„Ich brauche keinen neuen Flug.“

Seine Assistentin ließ das Handy sinken und seufzte. Wenn es im Wageninneren heller gewesen wäre, hätte er mit Sicherheit sehen können, wie sie die Augen verdrehte. Er schätzte Nathalie. Wirklich. Ohne sie wäre er aufgeschmissen. Seit fünf Jahren war sie seine Assistentin. Auf Schritt und Tritt hatte sie ihn auf dem Weg nach oben begleitet. Trotzdem gab es immer wieder Augenblicke, in denen es ihn irritierte, dass sie über sein Leben bestimmte wie ein Wachhund.

„Ooookay.“ Betont ruhig, als wäre er ein bockiges Kind, sprach sie weiter. „Wie wäre es dann, wenn du mir sagst, was du stattdessen planst? Ich bemühe mich, weißt du? Aber die Fortbildung für Gedankenlesen hat mein Boss mir noch nicht bezahlt.“ Spielerisch stupste sie ihn mit der Schulter an. „Du musst schon mit mir reden.“

„Ich fahre nach Hause.“

Sie atmete hörbar aus. Ihre Gereiztheit brodelte zunehmend dicht unter der Oberfläche. „Nach Malibu, ja, ich weiß. Dafür musst du nach L.A. fliegen.“

„Nicht nach Malibu. Nach Hause.“ Diesmal sprach er mit mehr Nachdruck.

„Du hast kein Zuhause, Jules. Du bist mit neunzehn Jahren abgehauen, um als Straßenmusiker die Welt zu bereisen, schon vergessen? Deine Eltern wollten dich in ein Leben als Immobilienheini zwingen, aber du wärst lieber gestorben, als ohne Musik zu leben. Also hast du der kleinbürgerlichen Welt in irgendeinem Kaff in Österreich Lebewohl gesagt und dich ganz deiner Kunst gewidmet. Wenn dich Harald Bretter von Polymusic nicht auf der Straße mit deinem Cello gehört und entdeckt hätte, wäre dir das mit dem Sterben womöglich gelungen. Geh auf julesfox.com, da kannst du es nachlesen.“

„Lass gut sein, Nathalie.“ Er war müde und abgespannt. Dass Sophie ihn suchte, hatte ihm den Boden unter den Füßen weggerissen. Und um mit seiner Assistentin zu streiten, fehlte ihm schlicht die Kraft. „Nimm dir ein paar Tage frei. Der Abstand wird uns beiden guttun. Wir treffen uns, wenn die Tour weitergeht.“

„Du setzt mich vor die Tür?“

Er schüttelte den Kopf. Auch als erwachsener Mann hasste er es noch immer, die Menschen in seinem Umfeld zu enttäuschen, genau wie früher als kleiner Junge. „Nur eine Auszeit. Es sind doch nur ein paar Wochen.“

„Ein paar Wochen reichen bei dir zum Verhungern, wenn ich nicht da bin, um dich an regelmäßige Mahlzeiten zu erinnern. Oder daran, dass du gelegentlich mal deine Mails checken musst, oder dass du mindestens sechseinhalb Stunden Schlaf am Tag brauchst und …“

Er blendete ihr Geplapper aus. Er würde schon zurechtkommen. Früher hatte er das ja auch gekonnt.

Er stellte sich tiefverschneite Tannenwälder vor. Dick vereiste Seen, auf denen Kinder Schlittschuh liefen und Männer sich abends zum Eisstockschießen trafen. Er dachte an Bergketten, die sich wie Girlanden um die Szenerie wanden, schneebedeckte Hausdächer und den Geschmack von gebrannten Maronen. Und er dachte an ein Mädchen, dem er das Herz gebrochen hatte. Die einzige Frau, die er geliebt hatte.

Und dann so bitter enttäuscht.

Es gab keine Entschuldigung für das, was er getan hatte, und dafür, wie er es getan hatte. Außer, dass er damals keinen anderen Weg gesehen hatte.

Aber Weihnachten galt doch als die Zeit der Wunder, oder nicht? Wann, wenn nicht jetzt, sollte er den Versuch wagen, den größten Fehler seines Lebens wiedergutzumachen?

Alberts Brust hob und senkte sich in einem gleichmäßigen Rhythmus, begleitet vom Pfeifen seines Atems und dem leisen Rauschen des Sauerstofftanks. Sophie erhob sich von dem Stuhl neben dem Krankenbett. Wieder einmal war sie viel zu lange bei ihrem Patienten geblieben. Die Pflegeleitung sah es nicht gerne, wenn sie zu viel Zeit mit Dingen verbrachte, die nicht über die Krankenkasse abgerechnet werden konnten. Für Zuhören und Händchenhalten gab es keine Kostenstelle.

Sie streckte ihren Rücken, dehnte ihre verspannte Nackenmuskulatur. Was machte es schon aus? Albert war ihr letzter Patient an diesem Tag. Niemand konnte Sophie einen Strick daraus drehen, wenn sie einen Teil ihrer Freizeit bei ihm verbrachte, und Vicky würde es ihr nicht übelnehmen, wenn sie sich ein paar Minuten verspätete. Glühwein und Baumkuchen liefen ihnen nicht weg.

Sie packte ihre Sachen zusammen, überprüfte ein letztes Mal den Sitz von Alberts Sauerstoffmaske, dann wollte sie sich auf den Weg machen.

„Sopherl?“ Alberts Stimme, altersschwach und müde, hielt sie an der Türschwelle auf. Offenbar hatte er doch nicht geschlafen.

„Ja?“ Sie drehte sich zu ihm um. „Brauchst du etwas? Hast du Schmerzen?“

„Hat … hat er sich gemeldet? Der Julius?“ Er schlug die Augen auf, sah sie an. Die Hoffnung in den trüben Augen machte Sophie das Herz schwer.

Sie schüttelte den Kopf. „Albert …“

„Aber er kommt doch, oder?“ Er unterbrach sie. „Du hast ihm gesagt, dass es wichtig ist.“

„Schon, aber …“ Sie stockte. Wie sollte sie ihm sagen, dass sie nicht einmal wusste, ob Julius ihre Nachrichten bekommen hatte? Ob er sich überhaupt noch an den lächerlichen Pakt erinnerte, den sie als Kinder geschlossen hatten?

Julius Fuchsberger würde sich daran erinnern, da war sie sicher. Aber Jules Fox? Der Mann, der mit seinen Konzerten ganze Stadien füllte, der Dauergast in irgendwelchen Talkshows war und sein Gesicht zahlreichen Werbeanzeigen lieh?

Die Chancen standen nicht schlecht, dass diesen Mann ihr Hilferuf nicht einmal erreicht hatte. Die Kunstfigur Jules Fox verbarg sich hinter Bataillonen von Managern, Publizisten, Assistenten und Beratern. An ihn persönlich heranzukommen hatte sich als ein Ding der Unmöglichkeit herausgestellt.

Albert atmete hörbar aus. Müde schloss er die Augen. „Er wird kommen.“ An seinen Mundwinkeln zupfte ein Lächeln. „Wirst schon sehen, Sopherl. Im Herzen weiß Julius, wo er hingehört.“

Traurig lächelte sie, auch wenn sie wusste, dass es Albert nicht mehr sehen konnte. Sie wünschte sich so sehr, dass er recht behielt. Kein Mensch sollte aus dieser Welt gehen, ohne dass seine Seele Frieden fand. Nur deshalb hatte sie überhaupt den Versuch gestartet, Julius zu kontaktieren.

„Mach’s gut, Albert“, verabschiedete sie sich. „Wir sehen uns morgen wieder.“

Er antwortete nicht. Ihr Gespräch begleitete sie jedoch den ganzen Weg von dem kleinen Haus in der Berggasse, aus dem Albert sich partout nicht vertreiben lassen wollte, hinunter zum Markt, wo sie mit Vicky im Café Zauner verabredet war.

In der Berggasse sei er geboren, sagte Albert immer, und hier würde er auch sterben. Wie sein Vater und Großvater vor ihm war er ein Bergmann, sein Herz war aus Salz geschnitzt, dem weißen Gold, das Bad Ischl zu Reichtum und Ruhm verholfen hatte. Er würde seine Wurzeln nicht verraten, nur weil es anderswo bequemer für ihn war und sein Sohn Leopold ein gutes Händchen fürs Geld hatte.

Je näher Sophie dem Stadtzentrum kam, desto voller wurden die Straßen. Passanten freuten sich an den Lichtergirlanden über der Fußgängerzone. Die Kaiserstadt erstrahlte in vollem Glanz. Kein Wunder, dass es dem Franzl und seiner Sissi hier so gut gefallen hatte. Die prunkvollen Hausfassaden mit ihren Giebeln und Erkern, der Duft nach Schnee und Kälte, der von den Bergen herunterwehte und die Luft mit Frische erfüllte, die weihnachtlich geschmückten Schaufenster – das alles liebte Sophie so sehr, dass sie sich nicht vorstellen konnte, irgendwo anders zu leben.

Vicky erwartete sie schon vor dem Eingang zur historischen Trinkhalle. Auf der Eisfläche vor dem Gebäude drehten ein paar Kinder auf Schlittschuhen ihre Runden. Aus der Halle drang das Aroma von frisch gebackenem Baumkuchen und Früchtepunsch.

„Da bist du ja endlich.“ Zur Begrüßung küsste Vicky Sophie auf die Wange. „Ich dachte schon, du lässt mich hier festfrieren.“

„Na, wie es aussieht, hast du dich schon ordentlich aufgewärmt.“ Sophie zwinkerte Vicky zu und deutete vielsagend auf den Becher in der Hand der Freundin. „Punsch oder Glühwein?“

„Glühmost“, korrigierte Vicky. „Den musst du probieren. Der ist noch besser als der Beerenpunsch vom letzten Jahr.“

„Dann willst du gar nicht mehr weiter ins Café?“

Vicky zuckte mit den Schultern. „Hier ist es auch nett. Die nächste Runde geht auf dich. Ich such uns schon einen Platz an einem der Stehtische.“

Sophie trat an den Verkaufsstand, um zwei weitere Becher zu ordern. Allein das würzige Aroma von heißen Äpfeln, Zimt und Kardamom stieg ihr zu Kopf und machte sie ein wenig betrunken. Also kaufte sie noch eine Tüte heißer Esskastanien dazu. Die wärmten nicht nur den Bauch, sondern auch die Finger beim Schälen.

„Ahhh, gute Idee.“ Sofort stibitzte Vicky sich eine Marone und begann, die Frucht zu schälen.

Die Becher stellte Sophie auf dem Tisch ab.

„Also erzähl. Wie war dein Date mit diesem Typen aus dem Internet?“

„Frag lieber nicht.“ Sophie machte eine wegwerfende Handbewegung. Auf die ganze Sache hatte sie sich ohnehin nur eingelassen, weil Vicky ihr mit dem Thema keine Ruhe ließ.

„So fürchterlich?“ Die Freundin lachte. „Was hat er denn Schlimmes getan? Hat er dir in den Wein gespuckt?“

„Das wäre ja noch amüsant gewesen. Aber nein. Kennst du diese Typen, die sich über alles und jeden beschweren? Der Tisch ist zu klein, der Wein nicht richtig temperiert, die Familie am Nebentisch zu laut, die Bedienung zu langsam?“

Vicky verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

„Genau! Mir war das so peinlich!“ Noch jetzt, eine Woche später, stieg Sophie Hitze in die Wangen, wenn sie daran dachte, wie unwohl ihr während der Verabredung gewesen war. Was für ein fürchterliches Theater dieser Andreas gemacht hatte! Das kleine Mädchen am Nebentisch hatte sich absolut vorbildlich verhalten und sich ganz ruhig mit einem Ausmalbuch beschäftigt. Nur wenn ihr Kichern ertönte, hatten Sophie und ihr Begleiter überhaupt was von der Kleinen mitbekommen. Und die Bedienung? Die hatte sich tausendmal entschuldigt, dass der Service ein wenig langsamer war als sonst. An dem Abend hatte der Christkindlmarkt zum ersten Mal in der Saison die Tore geöffnet, und zur Abendessenzeit war das Lokal bis auf den letzten Platz besetzt gewesen. „Am liebsten hätte ich mich bei allen für diesen Kerl entschuldigt.“

„Es kann eben nicht jeder so ein gutes, geduldiges Herz haben wie du, Prinzessin Perfect.“ Vicky meinte es gut, trotzdem versetzten ihre Worte Sophie einen Stich. Sophie, die Brave. Sophie, die Gute, Sophie, die Träumerin, die jeden Tag versuchte, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen. Warum machte sie der Wunsch, ein guter Mensch zu sein, immer wieder zum Opfer von Spott? Als wäre sie ein naives Kind, das im Körper einer erwachsenen Frau gefangen war. Sie war es so leid.

Vicky schwante wohl, dass sie zu weit gegangen war, und ruderte zurück. „Ich will dich nicht verletzen.“ Sie legte ihre Hand auf die von Sophie und drückte sie leicht. „Was du alles tust, ist wirklich toll. Aber du musst auch mal an dich selbst denken. Die Welt geht nicht unter, wenn du einmal zu jemandem Nein sagst.“

„Hab ich doch. Diesem Andreas habe ich einen Korb gegeben.“

„Hast du?“ Zweifelnd hob Vicky eine Augenbraue.

„Na ja“, sie musste schmunzeln. „Ich habe gesagt: Wir hören voneinander. Und dann habe ich seine Kontaktdaten aus meinem Handy gelöscht.“

Vicky brach in schallendes Gelächter aus. „Das ist genau das, was ich meine.“

„Aber er war wirklich fürchterlich, Vicky. Soll ich mich mit einem Typen weitertreffen, den ich nicht mal mag?“

„Natürlich nicht. Aber weißt du was? Jedes Mädchen muss ein paar Frösche küssen, bevor es den Traumprinzen findet. Abhaken und weitermachen! Das nächste Date wird sicher besser.“ Sie hielt kurz inne, benetzte ihre Lippen mit der Zunge, dann fuhr sie fort, leiser jetzt, aber umso eindringlicher: „Hauptsache, du zeigst dich mal ein bisschen da draußen, Süße. Zehn Jahre, Sophie! Es sind über zehn Jahre, seit dieser Mistkerl sich davongeschlichen hat. Irgendwann musst du wieder anfangen zu vertrauen und den Männern eine Chance zu geben.“ Sie holte Luft. Zu dem nächsten Satz setzte sie an wie zu einem Hieb. „Julius Fuchsberger ist tot, Sophie. Den wirst du nie wiedersehen. Jetzt gibt es nur noch Jules Fox, und der hat keinen Zweifel daran gelassen, dass er mit nichts und niemandem in seiner Heimat in Verbindung gebracht werden will.“

Hör auf, dachte Sophie. Hör einfach auf. Selbst nach beinahe zwölf Jahren tat es ihr immer noch zu weh, daran zu denken, wie sehr sie sich in Julius getäuscht hatte. Aber Vicky hatte kein Einsehen mit ihr. Sie redete immer weiter.

„Hast du mal Interviews mit ihm gelesen oder gesehen? Er sagt es nicht geradeheraus, aber zwischen den Zeilen wird es sehr deutlich, dass er sich für viel zu gut für uns hält. Alle, die immer gesagt haben, er sei genau wie sein Vater, hatten recht. Er ist wie der alte Fuchsberger, nur auf eine andere Weise.“

Sophie schüttelte den Kopf. Warum genügte auch nach so langer Zeit allein der Klang seines Namens, damit ihr Herz einen Satz machte? Besser, sie gestand Vicky nicht, was sie getan hatte. Dass sie Alberts Wunsch nachgekommen war und versucht hatte, mit Julius Kontakt aufzunehmen, damit sich ihr Lieblingspatient mit seinem Enkel versöhnen konnte, ehe Albert seinem Schöpfer gegenübertrat.

Sie tat es ja nicht für sich, sagte sie sich. Was sie mit ihren Patienten besprach, ging Vicky nichts an. Und wenn Julius wirklich kommen würde? Nun, Sophie war sicher, dann würde es das ganze Salzkammergut noch früh genug erfahren.

2. KAPITEL

Zum ersten Mal tauchten die Berge kurz hinter München auf. Steingraue Riesen, die ihre Spitzen gen Himmel reckten. Dazu zauberte der Föhnwind weiße Schlierenwolken ins Azur des Himmels.

Es hätte perfekt sein können, wäre da nicht die Gangschaltung des Mietwagens, die Julius zunehmend Sorge bereitete. Ein Automatikgetriebe wäre eine feine Sache gewesen angesichts des quietschenden Heulens, welches das Getriebe jedes Mal von sich gab, wenn er zum Überholen den Gang wechselte.

Julius rieb sich das Gesicht. Er war ein solcher Loser. Was tat er hier überhaupt? Saß mit Baseball-Cap und Rentier-Strickpullover hinter dem Steuer eines geliehenen Mittelklasse-Kleinwagens und tat, als hätte er einen Plan.

Der Pullover war vergangenes Jahr ein Witzgeschenk von Nathalie gewesen. Wenn du den anziehst, erkennt dich kein Mensch, hatte sie ihm beim Überreichen augenzwinkernd gesagt. Daran hatte er sich heute Morgen erinnert, während er im Hotel gesessen und überlegt hatte, ob er sich zum Frühstücksbuffet wagen sollte.

Gott bewahre, wenn jemand Jules Fox dabei erkannte, wie er Spiegeleier mit Speck frühstückte. Die Spekulationen in der Klatschpresse und den sozialen Medien wären vorprogrammiert. Cholesterin und Fett zum Fest bei Jules Fox: Ist der Cello-Star auf einem Selbstzerstörungstrip? So oder so ähnlich malte er sich die Bildunterschrift aus. Die Vorstellung genügte, und die Frage nach dem Frühstück erledigte sich von selbst.

Jetzt war es später Nachmittag, und außer sechs Hähnchennuggets und einer kleinen Tüte Pommes frites, die er im Drive-in eines Fast-Food-Restaurants ergattert hatte, hatte er nichts gegessen. Seit Stunden knurrte sein Magen.

Nicht mehr weit. Mit etwas Glück hatte Therese eine Suppe auf dem Herd, mit der er sich nicht nur den Magen, sondern auch das Herz wärmen konnte, sobald er … Seine Gedanken stockten.

Sobald er zu Hause war, hatte er im Sinn gehabt. Aber selbst in seinen Gedanken kam ihm diese Umschreibung für das Haus am Attersee, in dem er aufgewachsen war, nicht richtig vor.

Nathalie hatte schon recht. Er besaß kein Zuhause mehr, genauso wenig wie echte Freunde. Oder wie die verdammte Fähigkeit, eigenhändig einen VW Golf zu fahren, ohne sich dabei anzustellen wie der letzte Idiot. Stattdessen verfügte er über jede Menge Geld und den Ruf eines Weltstars. Er sollte glücklich sein. Warum also fühlte er sich immer öfter wie eine Mogelpackung?

Seufzend konzentrierte er sich auf die Fahrt. Je näher er seinem Ziel kam, desto vertrauter wurden die Namen auf den Autobahnschildern. Seekirchen am Wallersee, Thalgau, Mondsee.

Er griff nach seinem Handy. „Siri: Spiel die Mondscheinsonate.“

„Ich habe die Klaviersonate Nr. 14 von Beethoven in folgenden Interpretationen gefunden“, informierte ihn die Sprachassistentin des Telefons.

Er entschied sich für eine reine Pianoversion und ergab sich dem Zauber der Musik. Das ist es, dachte er. Das ist mein Zuhause. Der Klang der hohen Noten, die Umarmung der tiefen Töne, das Gefühl von Ruhe und Sehnsucht, das seinen Körper ergriff, wenn er sich der Musik ergab. Mehr brauchte er nicht. Selbst der Kampf mit der Kupplung fiel ihm mit der richtigen Begleitmusik leichter.

Manchmal fragte er sich, wie es möglich war, dass er in einer Sache wirklich gut war, während die Welt im Großen und Ganzen für ihn schon immer ein Labyrinth aus Rätseln und Hindernissen gewesen war. Nie hatte er sich irgendwo gänzlich richtig gefühlt, nie wirklich wie er selbst.

Außer mit Sophie. Mit Sophie war immer alles besser gewesen.

Und dann hatte er sie verlassen.

Kaum, dass er von der Autobahn abfuhr, verengten sich die Straßen. Die Berge rückten näher. Unter Hauben aus Schnee grüßten ihn die Zwiebeltürme der Dorfkirchen und die vertrauten Giebeldächer der Bauernhäuser. Weggabelungen, die er als Kreuzungen in Erinnerung hatte, waren nun Kreisverkehre. Es gab neue Supermärkte und Gewerbegebiete, die er nicht kannte. Dennoch war es, als führe der Wagen auf einmal von allein.

Auf diesem Campingplatz hatte er sein erstes Bier getrunken, beim Sprung von jenem Badesteg hatte er sich als Sechsjähriger einen Schneidezahn abgebrochen. Da war die Fahrschule, in der er Autofahren gelernt hatte. Und dort, unter der Linde, direkt am See, hatte er Sophie zum ersten Mal geküsst.

Ihre samtweichen Lippen unter seinen, ihr Atem, flach und süß vor Nervosität, der winzige Laut, den sie von sich gab, als seine Zunge fragend an ihren Mundwinkel stieß. Damals war sie zwölf gewesen und er vierzehn. Die Erinnerung traf ihn so voller Wucht, dass er um ein Haar die Auffahrt zu seinem Elternhaus verpasste.

Verdammt noch mal! Er trat auf die Bremse, heftig genug, um das Auto auf der schneenassen Straße ins Schlingern zu bringen. Doch er bekam gerade noch die Kurve.

Wie ein Schloss ragte sein Elternhaus vor ihm auf. Drei Stockwerke purer Prunk, flankiert von verspielten Türmen rechts und links, die Wände gelb gestrichen, nur unterbrochen von weißen Sprossenfenstern und leuchtend grünen Holzläden. Die Auffahrt war penibel geräumt, sodass der leuchtend weiße Kies unter den Rädern des Golfs knirschte, während er sich dem Eingangsportal näherte. Direkt vor der Haustür brachte er den Wagen zum Stehen. Er stieg aus, wartete auf das Gefühl von Vertrautheit, das ihn beim Passieren der Straßen seiner Jugend überkommen hatte, und empfand … nichts. Auch dann nicht, als er die wenigen Stufen zur Haustür erklomm und die Hand hob, um den altmodischen Messingklingelknopf zu betätigen.

Die Tür öffnete sich beinah geräuschlos. Vor ihm stand eine junge Frau in Spitzenhäubchen und Schürze über einem einfachen schwarzen Kleid.

Die Uniform kannte er aus seiner Kindheit. Das Gesicht der Frau war ihm fremd.

„Sie wünschen?“ Die Fremde musterte ihn abschätzig. Ein Runzeln breitete sich auf ihrer Stirn aus, als ihr Blick auf den Rentierpulli fiel.

„Ich … ähm“, er räusperte sich. Wenn er damit gerechnet hätte, hier nicht erkannt zu werden, hätte er sich Worte zurechtgelegt. Aber darauf war er nicht einmal im Traum gekommen. Wenn schon nicht als Jules Fox, so hatte er zumindest damit gerechnet, in seinem Elternhaus als Julius Fuchsberger bekannt zu sein. „Ist Sophie da? Ich muss mit ihr sprechen.“

„Sophie?“ Das Stirnrunzeln des Dienstmädchens vertiefte sich. „Hier gibt es keine Sophie.“

„Dann mit Therese oder dem Ferdi.“ Wenn es anatomisch möglich gewesen wäre, hätte er sich gerne selbst in den Hintern getreten. Natürlich war es nicht so einfach. Sophie war mittlerweile achtundzwanzig Jahre alt. Niemand in dem Alter lebte noch bei den Eltern.

„Hören Sie …“ Wieder dieser musternde Blick. Das Ergebnis, zu dem das Mädchen kam, war offenbar genauso wenig schmeichelhaft wie beim ersten Mal. In ihrem Rücken zog sie die Tür ein wenig weiter zu. „Ich glaube nicht, dass Sie hier richtig sind. Dies ist ein Privathaushalt. Bitte gehen Sie, oder …“

Julius wurde es zu bunt. Er schob sich an dem verwirrten Mädchen vorbei in die Lobby der Villa. Der Duft nach Bohnerwachs und Blumen erschlug ihn fast. Der Prunktisch aus Marmor und Gusseisen in der Mitte der großen Halle, der glänzende Marmorfußboden, die Mahagoni-Anrichte an der Seite: Alles sah aus wie früher.

Plötzlich fehlte ihm die Luft zum Atmen, die Kehle wurde ihm eng, die Anzeichen einer drohenden Panik. Es war das Echo seiner Kindheit, das die letzten Töne der Musik in seinem Kopf verschluckte. Eine Kindheit, in der Einsamkeit und das Gefühl, niemals verstanden zu werden, ihn beinahe umgebracht hätten.

„Sie!“ Das Mädchen riss und zerrte an seinem Ärmel. „Ich werde die Polizei rufen. Sie können hier nicht einfach …“ Ein erstickter Schrei vom oberen Treppenabsatz brachte sie zum Verstummen.

Sehr langsam, wie in Zeitlupe, hob Julius den Kopf.

Eine Hand über den Mund gelegt, die andere auf ihr Herz gepresst, stand seine Mutter oben an der Treppe.

Irina Fuchsberger schwankte. Einen Moment fürchtete er, sie würde fallen, dann straffte sie die Schultern und streckte den Rücken durch. Jede Emotion wich aus ihrer Miene. Zurück blieb eine leere Maske.

„Mama.“ Seine Stimme klang fremd in seinen Ohren. Zu hoch, zu schwach, zu flehend. „Ich bin nach Hause gekommen.“

„Was willst du hier?“

Kein Willkommen zurück. Nicht einmal ein Hallo.

Erst jetzt merkte er, dass er die Luft anhielt, und zwang sich, gleichmäßig auszuatmen.

Seine Mutter sprach weiter. „Du hast dich nicht angemeldet. Dein Vater wird nicht erfreut sein, wenn du seine Pläne für heute durcheinanderbringst. Er erwartet Gäste zum Abendessen.“

Schwarze Flecken rasten über Julius’ Gesichtsfeld. Konzentrier dich, sagte er sich. Du hast kein herzliches Willkommen erwartet. Das ist nicht der Grund, warum du hier bist. Es gibt Wichtigeres.

Brausepulverherzenzeit.

Er klammerte sich an das Wort in seinem Kopf, wie er sich früher an Thereses Rockzipfel geklammert hatte.

Wenn er jemals eine Mutter gehabt hatte, dann war es die herzliche Köchin der Fuchsbergers gewesen – nicht die Frau aus Eis dort oben am Treppenabsatz.

„Ich möchte mit Sophie sprechen.“

„Sophie?“ Seine Mutter zog die Augenbrauen zusammen. Die perfekt gezupften Bögen wirkten wie Risse in der blassen Haut ihres Gesichts. „Die kleine Goldberg?“

„Oder Therese. Meinetwegen auch Ferdinand. Einer von ihnen wird mir sagen können, wo ich Sophie finde.“

„Ach du liebes bisschen.“ In Mutters Lachen klang Grausamkeit. Die Art von Gemeinheit, die deshalb schmerzhaft traf, weil sie sich der Wahrheit bediente. „Die Goldbergs arbeiten schon seit Jahren nicht mehr für uns.“

„Was?“ Er spürte, wie ihm schwindlig wurde. „Das kann nicht …“

„Ich bitte dich!“ Seine Mutter unterbrach ihn. „Was hast du geglaubt, würde dein Vater machen, als sie sich geweigert haben zu sagen, wohin du abgehauen bist? In Wien auf diesem Konservatorium bist du nie angekommen, und so vernarrt wie du damals in die kleine Goldberg warst, musste sie wohl wissen, wohin du gegangen bist. Sie und ihr Geheimnis zu schützen, das war die Entscheidung ihrer Eltern.“ Irina machte eine wegwerfende Handbewegung. „Also mussten sie mit den Konsequenzen leben.“

Nach über zwanzig Jahren in eurem Dienst? Am liebsten hätte er geschrien. Das war typisch für seine Eltern. Menschen gab es für sie nicht. Alles, was sie sahen, war der Mehrwert, den ihr Gegenüber ihnen bringen konnte.

Hätte er sein Instrument zwischen den Schenkeln gehabt, hätte er gewusst, wie er dem, was er in diesem Moment empfand, Ausdruck verleihen könnte. Er würde den Bogen über die A-Saite jagen, scharf und schneidend, bis ein Ton erklang, der einem durchdringend und hell durch Mark und Bein fuhr, direkt in die Seele.

Doch er war ohne sein Cello hier. Und so blieb ihm nur, den Mund zu öffnen und ein kraftloses „Aber …“ herauszuquetschen.

„Genug“, unterbrach ihn Irina.

Er klappte den Mund zu. Es war wie atmen. Manche Mechanismen waren so automatisiert, dass man sie nicht verhindern konnte. Wenn seine Mutter ihm zu reden verbot, sprach er nicht weiter.

„Ebenso wie die Goldbergs hast auch du deine Wahl getroffen. Vater hat es dir damals schon gesagt, und ich wiederhole es gerne noch einmal: Solange du deine Füße unter unseren Tisch stellst, wirst du tun, was man von dir erwartet. Wir haben deine lächerliche Freundschaft mit diesem Mädchen toleriert. Himmel, ich habe dich sogar dabei unterstützt, Cello zu lernen. Es war niemals davon die Rede gewesen, dass du das zu einem Beruf machen könntest. Deine Freiheiten haben in dem Moment aufgehört, als du dich geweigert hast, das zu tun, wofür du geboren wurdest. Du wolltest deinen eigenen Weg gehen. Jetzt sieht zu, dass du ihn auch alleine zu Ende bringst.“

„Du möchtest, dass ich gehe?“ Seine Stimme klang erstickt, brüchig. Dabei war die Frage seiner Mutter berechtigt. Was hatte er erwartet? Was hatte er geglaubt, würde passieren, wenn er nach beinah zwölf Jahren wieder hier aufkreuzte? Hatte er wirklich gemeint, seine Erfolge hätten etwas an der Einstellung seiner Eltern geändert? Dass sie vielleicht stolz auf ihn wären?

Ein bitteres Lachen stieg in ihm auf und blieb an dem Knoten in seiner Kehle hängen.

Er ballte die Hände an den Seiten zu Fäusten. „Ich werde gehen“, sagte er. Noch nie hatte er sich mehr nach Nathalies Hausapotheke gesehnt. Seine Assistentin wüsste mit Sicherheit ein Mittel, um die Taubheit zu vertreiben, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Doch Nathalie war nicht da. Er musste selbst einen Ausweg finden.

„Leb wohl, Mutter.“

„Julius …“ Diesmal glaubte er in der Art, wie Irina seinen Namen aussprach, Schmerz zu hören. Vielleicht erinnerte sie sich ja doch daran, dass er ihr Sohn war – nicht nur ein Rebell, der es darauf anlegte, ihr das Leben schwer zu machen. Falls dem so war, wollte er davon nichts hören. Nicht nach allem, was er in diesen fünf Minuten in seinem Elternhaus gehört hatte.

Er verschloss seine Ohren, spannte die Fäuste so fest an, dass die Knöchel knackten, und ging zur Tür hinaus.

„Schau mal, da.“ Albert zeigte auf die Schwarz-Weiß-Aufnahme in dem Fotoalbum, das er über der Bettdecke auf den Oberschenkeln balancierte. Sophies Lieblingspatient hatte einen guten Tag, und wie so viele alte Menschen zog es Albert an solchen Tagen in die Vergangenheit.

„Da war Leopold noch ganz klein. Ein süßer Fratz war er schon.“

„Das stimmt.“ Wie sollte sie widersprechen? Der blonde Junge auf der Fotografie grinste frech in die Kamera. Die dünnen Beine steckten in kurzen Lederhosen, in der einen Hand hielt er eine Angelrute, mit der anderen reckte er stolz einen Fisch in die Höhe. Trotzdem fühlte sich das Lächeln auf ihrem Gesicht falsch an. Zu sehr erinnerte der junge Leopold sie an den Jungen, den sie einst gekannt hatte.

Nicht den Vater. Den Sohn.

Wäre die Aufnahme in Farbe gewesen, hätte das Bild ebenso gut Julius zeigen können. Vater und Sohn glichen einander wie ein Ei dem anderen.

Albert gab ein Seufzen von sich, das sich schnell in einen Hustenanfall verwandelte. Sophie half ihm, sich aufzurichten, und reichte ihm anschließend den Schnabelbecher mit Früchtepunsch vom Nachttisch.

„Langsam“, riet sie. „Das wird helfen.“

Dankbar nahm Albert einen Schluck, sein Blick richtete sich in die Ferne. „Schon als Bub war der Leopold nie zufrieden mit dem, was er erreicht hat.“ Auch seine Stimme klang weit entfernt, ein Wispern aus der Vergangenheit. „Diese Fotografie? Ganze drei Minuten lang hat er sich über den Fisch gefreut, dann hat er im Eimer einen größeren gesehen, den ich geangelt hatte, und er hat seinen Fang wütend zurück in den Fluss geworfen.“ Albert gab einen Laut von sich. Halb Lachen, halb Schnauben. „Wenn er in irgendwas nicht der Beste war, war es ihm nichts wert.“

„Sein Ehrgeiz hat ihn weit gebracht.“

Im ganzen Salzkammergut war die Lebensgeschichte von Leopold Fuchsberger eine Legende. In ein paar Jahrzehnten vom armen Salzbergmannssohn zum Milliardär.

Angefangen hatte alles mit einem Praktikum bei einem internationalen Immobilienentwickler in Wien. Das musste in den frühen Siebzigerjahren gewesen sein. Bald schon hatte der Inhaber das Potenzial des jungen Leopold erkannt und ihn zur Lehre in die USA geschickt. Zehn Jahre später kam Leopold zurück ins Salzkammergut, mit jeder Menge Erfahrungen und den ersten Millionen im Gepäck.

Was er gelernt hatte, nutzte er, um ein eigenes Immobilien-Imperium aufzubauen. Luxusanwesen für Hollywoodstars, prestigeträchtige Bauprojekte, Gewerbeimmobilien der Extraklasse.

Leopold Fuchsberger wusste, wie man Geld machte, und er wusste, wie man es vermehrte. Ob er neben all dem Geld auch ein Herz hatte – darüber schieden sich die Geister.

„Weit gebracht? Vor allem weit weg von seiner Familie. Das ist es, wohin ihn der Ehrgeiz gebracht hat. Und sein Sohn tut es ihm direkt nach. Vergisst, wohin er gehört und …“

Das Klingeln der Türglocke unterbrach Alberts Tirade.

„Ich mach auf.“ Sophie erhob sich. Die Unterbrechung kam ihr gerade recht.

Sie liebte Albert. Nur ihm hatte sie es zu verdanken, dass sie nach Julius’ Verschwinden nicht den Boden unter den Füßen verloren hatte. Er hatte sie und ihre Eltern bei sich aufgenommen, nachdem sie von einem Tag auf den anderen ihr Zuhause verloren hatten. Er hatte Sophies Eltern zurück auf die Beine geholfen und Sophie so lange mit Süßigkeiten und aufmunternden Worten gefüttert, bis sie eines Morgens begonnen hatte, wieder daran zu glauben, dass der nächste Tag noch etwas anderes als Herzschmerz und Liebeskummer bringen könnte. Sich jetzt um Albert als Patienten zu kümmern, war für sie Ehrensache.

Doch wann immer er von Julius sprach, regte sich in ihr der alte Schmerz. Womöglich waren zwölf Jahre lang genug, um zu verzeihen. Vergessen konnte sie immer noch nicht.

Sie riss die Tür auf, entschlossen, sich von den alten Geschichten nicht die Laune verderben zu lassen – und erstarrte.

Auf der Türschwelle stand kein Paketbote mit Weihnachtspost. Auch nicht Frau Höblinger aus der Nachbarschaft. Auf der Türschwelle, den Kopf eingezogen gegen die von der Dachrinne tropfende Nässe, die dunkelblonden Haare nachlässig zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, stand der Mann, der ihr das Herz gebrochen hatte.

Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder.

Warum war sie so überrascht? Immerhin war sie es gewesen, die ihn kontaktiert hatte. Sie hätte also mit ihm rechnen müssen. Sie hätte darauf vorbereitet sein müssen, ihn zu sehen. Ihr bester Freund, ihre erste Liebe, der Mann, den sie inniger geliebt hatte als irgendwen sonst auf der Welt.

Sie wollte ihm um den Hals fallen, so froh war sie, dass es ihn immer noch gab, dass er nicht nur ein Produkt ihrer Fantasie war, wie sie manchmal schon begonnen hatte zu glauben. Gleichzeitig wollte sie ihm ins Gesicht schlagen vor Wut. Jeden einzelnen Schmerz, den sie seinetwegen erlitten hatte, wollte sie ihm vergelten. Genauso wie jede einzelne Freude, die er ihr je gemacht hatte. Sie wusste nicht, was schwerer wog. Ein Leben voller Gemeinsamkeit und Rückendeckung oder ein Entschluss, der alles zerstörte.

Zwölf Jahre. Zwölf Jahre lang hatte sie versucht, nicht mehr an ihn zu denken. Jetzt stand er vor ihr.

„Sophie.“ Es hatte Zeiten gegeben, in denen er ihren Namen ausgesprochen hatte wie ein Gebet. Dann wieder hatte er ihn gelacht oder die Silben mit seiner Stimme liebkost wie ein Geschenk. Jetzt lag Staunen in seinem Tonfall, Überraschung, aber auch eine Vertrautheit, die ihm nicht mehr zustand.

Weil sie befürchtete, vor ihm in die Knie zu gehen, klammerte sie sich an den Türrahmen.

Er sprach weiter. „Hier bist du. Ich wusste nicht, wo ich dich suchen soll. Ich war bei meinen Eltern. Sie …“ Er stockte, schloss kurz die Augen, als müsse er überlegen, was er hatte sagen wollen. „Wie auch immer. Ich bin hierhergekommen, weil ich nirgends sonst unterkommen kann und weil ich gehofft hatte, dass Albert wüsste, wo ich dich finde. Ich habe deine Nachricht erhalten. Ich bin sofort gekommen. Himmel …“

Wieder stockte er. Dieses Mal schloss er nicht die Augen. Ließ den Blick über ihren Körper gleiten. Streifte die Beine in den Jeans, das langärmlige Polohemd mit dem Logo des Pflegedienstes auf der Brust.

Ihr Gesicht.

Sie fragte sich, was er wohl sah. Fielen ihm die winzigen Fältchen um ihre Augenwinkel auf? Dass sie die Haare heute kürzer trug als damals? Oder sah er noch immer das Mädchen, mit dem er aufgewachsen war? Die junge Frau, die ihn geliebt hatte, auf jede Weise, wie eine Siebzehnjährige einen Mann lieben konnte?

Sie wich seinem Blick aus. Das alles war zu viel für sie.

Albert rettete sie. „Sophie?“ Seine Stimme klang brüchig aus Richtung des Wohnzimmers. „Wer war das an der Tür?“

„Überraschung!“ Sophie zwang sich zu einem Lächeln, trat einen Schritt zur Seite und stieß die Tür weit genug auf, damit Julius eintreten konnte. „Da wirst du staunen, wen der Weihnachtsmann dir bringt, Albert.“ Und dann, leiser und an Julius gerichtet: „Seinetwegen habe ich dir geschrieben. Aus keinem anderen Grund. Er sehnt sich nach dir. Versau es nicht. Albert hat es nicht verdient, dass die Menschen, die er liebt, ihn vergessen.“

Bevor Julius etwas erwidern konnte, drehte sie sich um und ging zurück ins Wohnzimmer. Jetzt musste sie nur noch zusehen, dass sie hier rauskam. Zu lange mit Julius Fuchsberger in einem Raum zu verbringen hatte ihr noch nie gutgetan.

3. KAPITEL

Wie vom Blitz getroffen sah er ihr nach. Da war sie. Seine Sophie. Das Mädchen, das seit seiner Kindheit durch seine Träume marschierte, als würden sie ihr gehören. Die junge Frau, die ihn gelehrt hatte, was es bedeutete, geliebt zu werden. Vorbehaltlos und ohne Bedingung. Sie war noch immer so schön wie früher. Schöner sogar.

Als neunzehnjähriger Bengel hatte er ihre glänzend braunen Haare bewundert, die rosenholzfarbenen Lippen mit dem ausgeprägten Bogen an der Oberlippe. Er war fasziniert von der Art gewesen, wie ihr Körper sich im Lauf der Jahre veränderte. Brüste, die sich rundeten, Kurven, die sich formten, wo vorher Ecken und Kanten gewesen waren.

Erst jetzt, in diesem Augenblick, begriff er, dass es ihre Natürlichkeit war, die Sophie zu einer wahren Schönheit machte. Sie brauchte weder Farbkästen noch Pinsel und Quasten, um zu zeigen, wer sie war. Sie war auch ohne Schminke schön, denn statt Make-up trug sie ihre Emotionen auf dem Gesicht. Die Überraschung, als sie ihn erkannte, den kurzen Funken von Freude, dann den Schmerz. Einen Schmerz, den er verursacht hatte und der nach über einer Dekade mit einer gehörigen Portion Wut gewürzt war.

Immer noch unfähig, sich zu rühren, beobachtete er, wie sie im Haus verschwand. Er hörte sie etwas murmeln, wahrscheinlich zu Albert, dann tauchte sie wieder im Flur auf. Hastig griff sie nach einem Mantel an der Garderobe, schlüpfte in schwere Winterschuhe. Und ohne Julius eines weiteren Blickes zu würdigen, quetschte sie sich an ihm vorbei ins Freie.

„Du gehst? Du … was …“ Herrgott noch mal, schaffte er es nicht einmal, einen geraden Satz zu formulieren?

Sie tat, als hätte sie ihn nicht gehört, und stapfte geradeaus die Straße hinunter. Er setzte ihr nach.

„Was hast du bei Albert gemacht?“ Von hinten näherte sich eine Kutsche. Er musste aus dem Weg springen, um nicht unter die Räder zu geraten. Auf den Rückbänken saß, dick eingemummelt in flauschige Decken, eine Familie und sah staunend in die Gegend. Wahrscheinlich fühlten sie sich wie im Märchen. Der Kutscher spielte Fremdenführer und erzählte in bestem Salzburger Dialekt, dass die winzigen Hexenhäuschen rechts und links der Straße früher Bergarbeiterhäuser gewesen waren. Als er Sophie sah, winkte er ihr zum Gruß.

Sophie winkte zurück. Das gab Julius die Chance aufzuholen.

„Bitte, Sophie, jetzt warte doch. Mir ist kalt, ich bin elf Stunden ohne Pause Auto gefahren, um dich zu sehen. Willst du mir nicht wenigstens sagen, was genau los ist?“

„Wenn dir kalt ist, hättest du dir eine Jacke anziehen sollen.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Das rhythmische Hufgeklapper der Kutschenpferde hallte durch die Gasse, begleitet von dem Klingen der Glöckchen in ihren Geschirren. In seinem Kopf legte sich eine Melodie über das Geklapper, wurde zu einem Lied, beruhigte seine Nerven.

Er atmete tief durch. Die Luft war eiskalt und schmeckte nach Winter und Heimat. Du schaffst das, sagte er sich. Du kannst dich wie ein vernünftiger erwachsener Mann verhalten und die Chance nutzen, auf die du seit über einem Jahrzehnt wartest.

Einer von Sophies Mundwinkeln hob sich zu einem Schmunzeln. „Was ist das überhaupt für ein Pullover, den du da anhast? Der ist absolut scheußlich. Hast du keinen Styleberater oder so?“

„Dutzende“, gab er zu und ließ sich von ihrem Lächeln anstecken. „Willst du mir sagen, dass ich mich nicht mehr auf deren Geschmack verlassen kann?“

Ihr Schmunzeln breitete sich zu einem Grinsen aus. „Ich sage gar nichts.“ Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Wo kommst du eigentlich her? Bist du wirklich ohne Pause hierhergefahren? Ganz alleine?“

In dem winzigen Moment, in dem sie die Straße mit dem Blick scannte, vermisste er bereits ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es hatte sich schon immer gut angefühlt, von Sophie Goldberg beachtet zu werden.

„Mit dem Golf da?“ Sein Mietwagen war das einzige Auto, das sich in der schmalen Straße ins Parkverbot gewagt hatte. „Ich hätte eher einen Ferrari oder einen Jaguar erwartet.“

„Zu kompliziert. Schon bei dem kleinen Flitzer hat mich die Gangschaltung überfordert.“ Er blickte beschämt auf seine Schuhspitzen. Leiser dann, beinah flüsternd, fügte er hinzu. „Ich fahre oft selbst. Himmel, Sophie, ich …“

Die Worte gingen ihm aus. Wie sollte er erklären, was aus ihm geworden war? Als Kind hatte er davon geträumt, wie der Spielmann aus der Legende zu sein. Die Musik aussprechen zu lassen, wozu er nur schwer die Worte fand, und damit reich und berühmt zu werden. Nur blöd, dass die Legende nicht davor gewarnt hatte, was nach dem Ruhm kam. Dass hinter Geld und Berühmtheit Menschen standen, die so lange an dem Spielmann zogen, zerrten und bogen, bis kaum mehr etwas von dem Mann übrigblieb, der er einst gewesen war.

Wenn Julius jetzt sein Leben betrachtete, spürte er ganz oft vor allem eines: Scham. Vor allem dafür, dass er sie verlassen hatte. Sophie verlassen hatte.

Er wand sich innerlich. Es war höchste Zeit, dass er seinem Leben einen neuen Sinn gab. Sophies Hilferuf hatte ihn genau im richtigen Moment erreicht. Wie immer war sie just dann da, wenn er sie am dringendsten brauchte.

„Du hast dich verändert, Julius Fuchsberger.“ Ihre Stimme klang sanft, sie machte ihm keine Vorwürfe.

Er schluckte. Wieder einmal machte Sophie ihrem Namen Ehre. Nur eine Sophie Goldberg konnte verstehen, was er versuchte zu sagen, auch dann, wenn ihn einmal mehr die Worte im Stich ließen. Statt nur den arroganten Cello-Heini zu sehen, blickte sie tiefer, bis in die dunkelsten Winkel seiner Seele, wo Scham, Reue und chronische Überarbeitung sich zu einem undurchdringlichen Nebel aus Erschöpfung verdichtet hatten.

Er sah ihr in die Augen und lächelte. „Du bist genau dieselbe geblieben.“

Schweigen legte sich zwischen sie. Nicht mehr angefüllt von Wut und unterdrückter Aggression, sondern wohlig und tröstend. Ein Pianissimo, in dem nichts als das Pochen ihrer beider Herzen die Distanz zwischen ihnen füllte. Seines schlug noch immer für sie. Nichts und niemand, keine Zeit der Welt, würde daran jemals etwas ändern. Aber sie jetzt wissen zu lassen, wie er fühlte: Das wäre der Gipfel des Egoismus.

Er war gegangen, und er würde wieder gehen, spätestens wenn die nächste Etappe der Tour auf dem Plan stand. Der Unterschied zu damals war: Heute gehörte sein Leben nicht mehr ihm selbst.

„Geh zu deinem Großvater“, sagte sie schließlich. „Er ist alt und krank, und er weiß, dass ihm nicht mehr viel Zeit auf Erden bleibt. Du kannst ihm den Abschied einfacher machen, sodass er in Frieden gehen kann, wenn es so weit ist. Du musst nur zurück in dieses Haus gehen und ihm zuhören.“

Er rieb sich die Schläfen, dann nickte er. „Und du? Wann kann ich mit dir sprechen? Nicht nur Albert und ich haben eine Aussprache verdient, meinst du nicht?“

„Julius … es ist so lange her … bitte …“

Hatte er sich nicht gerade noch vorgebetet, es wäre fairer, Dinge, die sich nicht mehr ändern ließen, ruhen zu lassen? Er war ein solcher Idiot. Doch jetzt hatte er einmal angefangen, also konnte er auch weitermachen.

„Bitte“, hakte er nach. „Ich habe so oft an dich gedacht, Sophie. Gib mir diese Chance. Ich weiß, dass ich nicht wiedergutmachen kann, was ich damals verbockt habe. Aber ich will meine Freundin zurück. Ich brauche meine Freundin zurück. Bitte. Lass es mich wenigstens probieren.“

„Das fällt dir ein bisschen plötzlich ein, oder?“ Sie schnaubte. „Du brauchst deine Freundin zurück? All die Jahre hast du nicht ein einziges Mal versucht, mich zu erreichen. Und mich schirmt im Gegensatz zu dir nicht ein ganzes Team ab. Du hättest einfach nur einen Telefonhörer in die Hand nehmen müssen!“

„Ich hatte Angst. Wenn du mir gesagt hättest, du wolltest nie wieder etwas mit mir zu tun haben …“ Er führte den Satz nicht zu Ende, zu schmerzhaft war die Vorstellung, Sophie könnte ihn ein für alle Male komplett aus ihrem Leben streichen. Er hatte es nicht anders verdient, sicher, aber so lange sie es nicht aussprach, konnte er sich an die Hoffnung klammern, sie würde ihm irgendwann verzeihen.

Irgendwann war noch nicht jetzt. Seufzend rieb sie sich das Gesicht. „Ich habe wenig Zeit, Julius. Ich arbeite bei einem ambulanten Pflegedienst, und an den Adventswochenenden helfe ich bei dem Schlösseradvent am Traunsee mit. Das Wunschbaumprojekt hat dort einen Stand. Du weißt schon, diese Wohltätigkeitsorganisation …“ Sie unterbrach sich, schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich weißt du es nicht. Wie solltest du? Du gehörst kaum zu der Zielgruppe des Projekts.“

Wusste sie, dass Jules Fox zahlreiche Wohltätigkeitsorganisationen unterstützte? Er behielt es für sich. Einmal im Quartal einen Scheck auszustellen war kaum die Art Hilfe, die Sophie meinte.

„Ich kann helfen. Wenn du mir zeigst, was zu tun ist, unterstütze ich euch gerne. Irgendwas wirst du doch für mich zu tun finden.“ Der Schlösseradvent am Traunsee war eine Touristenattraktion. Vor seinem inneren Auge sah Julius Menschenmengen. Tausende neugierige Augen, blitzende Fotoapparate, endloses Posieren für Selfies. Dennoch konnte er sich nicht dazu bringen, sein Angebot zurückzunehmen. War er nicht auch nach Hause gekommen, um zurück zu sich selbst zu finden? Um herauszufinden, was von dem Jungen übrig war, der das Salzkammergut vor einer gefühlten Ewigkeit ohne einen Blick zurück verlassen hatte?

Nun, hier war seine Chance. Wenn er Sophie überzeugen konnte, dass er noch für etwas anderes gut war als dafür, zu tun, was andere von ihm verlangten, würde er es sich irgendwann womöglich sogar wieder selber glauben.

„Wirklich?“ Ihre Augenbrauen schossen in die Höhe. „Aber du bist ein Star. Ein … Weltstar. Den Cello-Gott nennen sie dich in der Presse. Und du willst beim Schlösseradvent Tische abwischen und Prospekte verteilen?“

„Du hast meine Karriere verfolgt?“ Ein warmer Funken explodierte hinter seiner Brust. Bedeutete das, sie hatte ihn nicht aus dem Gedächtnis gestrichen? Bedeutete das, sie hatte auch von seinen Ausschweifungen gelesen? Von den Frauen, mit denen er versuchte, eine Erinnerung zu vertreiben, die so tief in seinem Herzen verankert war, dass keine je daran rühren konnte? Von den Partys und Exzessen?

Wahrscheinlich schon.

Der Funke in seiner Brust erlosch. Er schnaubte. „Cello-Gott – was heißt das eigentlich? Kannst du dir vorstellen, dass ich zu einem Klassentreffen gehe, und irgendwer fragt mich: Hey, Julius, und? Was machst du so? Und ich antworte: Ich bin ein Cello-Gott?“ Wieder schnaubte er.

Autor

Anna Keller
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Lilli Wiemers
Früher zog es Lilli Wiemers stets in die weite Welt hinaus. Kein Reiseziel war zu weit, kein Flug zu anstrengend. Erst durch ihren Ehemann hat sie erkannt, wie viel Wahrheit in dem alten Sprichwort steckt: Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nah liegt? Heute erforscht sie gemeinsam...
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Nikki West
Foto: © schmidfoto.de
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