Sehnsucht in deinen Augen

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Ehefrau verzweifelt gesucht! Der Haushalt liegt brach, die Kinder sind unbeaufsichtigt, die Arbeit nimmt überhand. Für eine zärtliche Romanze hat True Whitman in dieser Lage weder Zeit noch Geduld. Da kommt die hübsche Paige McMullen, kürzlich auf die benachbarte Ranch zurückgekehrt, wie gerufen: Von Jugend an kennen sie sich, jetzt scheint eine Vernunftehe mit ihr die perfekte Lösung. Kurz entschlossen schlägt True ihr vor zu heiraten - und sie nimmt an. Doch als er Paige den Ring ansteckt, sieht er plötzlich eine überwältigende Sehnsucht nach Liebe in ihren Augen …


  • Erscheinungstag 27.07.2008
  • Bandnummer 1639
  • ISBN / Artikelnummer 9783863498757
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

So musste sich in Viktorianischer Zeit eine zartbesaitete Jungfrau kurz vor der Ohnmacht gefühlt haben.

Ein so plötzliches Schwindelgefühl hatte Paige McMullen noch nie erlebt. Natürlich könnte sie diese unvermittelte Schwäche auf ihr spärliches Frühstück oder die stickige Luft hier im Laden für Rancherbedarf schieben. Aber vermutlich lag es eher an dem eins neunzig großen Texaner, der sich überraschend vor ihr aufbaute.

True Whitmans sonnengebräuntes Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln, und seine blauen Augen blitzten erfreut. „Hey, wie geht’s dir, Kleines?“ Als Kind hatte er sie schon immer so genannt, wenn sie zusammen gespielt hatten.

„Na, du“, war alles, was Paige herausbrachte. So hatte sie sich das Wiedersehen mit True nicht gerade vorgestellt: zwischen Tierfuttersäcken, in abgewetzten Jeans und ausgeleiertem Pullover, mit zerzaustem Pferdeschwanz und völlig ungeschminkt. Wenn sie von einer Begegnung mit ihm träumte, war sie herausgeputzt wie für einen festlichen Tanzball. Und in ihrer Fantasie fühlten sich ihre Beine auch nicht wie Gummi an …

Aber True schien von alldem nichts zu merken. „Begrüßt man so einen alten Freund?“ Bevor Paige wusste, wie ihr geschah, drückte er sie an sich, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Im Gegensatz zu ihr verspürte er offenbar keinerlei Unbehagen bei diesem unerwarteten Wiedersehen nach so vielen Jahren.

Eigentlich fühlte sie sich ganz wohl in seinen Armen – und nicht nur, weil er sie nun festhalten könnte, wenn sie doch noch ohnmächtig würde. Still genoss sie jedes Detail seiner Gegenwart. Sein Körper verströmte einen herben, erdigen Duft: Viel besser als die Männer mit ihren teuren Aftershaves, mit denen sie in den letzten zehn Jahren zu tun gehabt hatte, dachte sie. Seine vertraute Stimme klang nun tiefer und männlicher. Und Paige bemerkte, wie markant sein Gesicht geworden war.

Ehe sie sich vollends verlor, löste er sich aus der Umarmung. „Wie geht es deinem Dad?“, fragte er mit ernster Miene.

„Gut“, erwiderte sie, vermied jedoch, ihn anzusehen. Noch nie war es ihr gelungen, True anzulügen. Zum Teil hatte sie auch aus diesem Grund den Kontakt zu ihm abgebrochen: Was, wenn er bemerkt hätte, was sie wirklich für ihn empfand?

Sanft hob er mit den Fingern ihr Kinn an, sah ihr nun direkt in die Augen. „Ist es schlimmer geworden? Hatte Rex einen Rückfall?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, aber sein Zustand hat sich auch nicht wesentlich gebessert. Keine Veränderung. Nicht die geringste.“

Mit seinen blauen Augen betrachtete er sie forschend. „Und das ist das Problem.“

Sie nickte, nicht sonderlich überrascht, dass True ihre Gedanken gelesen hatte.

Seit ihr Vater Rex McMullen im September einen Schlaganfall erlitten hatte, waren vier Monate vergangen. Rex war zäh: Durch seine Willensstärke hatte er es geschafft, wieder sprechen zu lernen, schien sich auch körperlich zu erholen. Doch die Ärzte in der Rehaklinik in Dallas meinten, er würde den rechten Arm und das rechte Bein wahrscheinlich nie wieder richtig bewegen können. An manchen Tagen lief er beinahe problemlos an Krücken. An anderen wiederum gelang es ihm kaum, aus dem Rollstuhl aufzustehen. Dabei konnte er einst wie kein anderer reiten und das Lasso schwingen. Nicht zuletzt durch diese Fähigkeiten hatte Rex die Double M zu einer der erfolgreichsten Farmen in der Gegend um Amarillo gemacht. Doch es war nicht zu leugnen: Aus dem Rancher war ein alter Mann geworden. Es tat Paige in der Seele weh, dass ihr geliebter Vater nie wieder derselbe sein würde.

„Also bleibst du jetzt eine Weile hier, um deinem Vater zu helfen?“, fragte True.

„Ich bleibe für immer hier“, antwortete Paige und musste lachen, als sie sein verblüfftes Gesicht sah. „Komisch, dass du noch nichts davon gehört hast.“

„Hast du das gute Leben in Kalifornien satt?“

„Weißt du, wenn man aus Texas kommt und plötzlich statt einem saftigen Rindersteak Sushi vorgesetzt bekommt …“

True fuhr sich mit der Hand durch sein dunkles Haar. Es war noch genauso voll wie damals vor zwölf Jahren. Als er einundzwanzig und sie neunzehn gewesen war. Und als er eine andere geheiratet hatte.

Schnell schob Paige diesen schmerzlichen Gedanken beiseite. „Ab jetzt werde ich die Ranch führen. Jarrett studiert noch – warum sollte er sein Studium unterbrechen, wenn ich stattdessen einspringen kann? Außerdem hat er gar kein Interesse an der Ranch.“

„Und du? Es besteht ein enormer Unterschied zwischen der Ranch und deinem schicken Ferienklub an der Westküste.“

Sein skeptischer Blick brachte ihr Blut in Wallung. „Überhaupt nicht. Dort habe ich immerhin ein Luxushotel mit allem Drum und Dran geleitet: dreizehnhundert Zimmer, vier Pools, zwei Golfplätze …“

„Ist ja gut“, fiel True ihr ins Wort und hielt seinen Cowboyhut wie zur Verteidigung vor seine Brust. „Du bist ja noch genauso hitzköpfig wie früher, Kleines.“

„Und du behandelst mich immer noch wie deine dumme kleine Schwester.“ Ihre Blicke trafen sich. Paige musste daran denken, wie sie damals versucht hatte, seine Sichtweise zu ändern. Aber sie bezweifelte, dass er sich an diese Nacht erinnerte, als sie ihm erklären wollte, was er ihr bedeutete.

„Ich behaupte ja nicht, dass du die Ranch nicht führen kannst. Ich wundere mich nur, dass du überhaupt daran interessiert bist. Du bist schon so lange von zu Hause weg. Ich hätte nie damit gerechnet, dass du jemals freiwillig wieder nach Hause kommen würdest.“

Was ihn zu dieser Ansicht bewog, war ihr ein Rätsel. Schließlich hatten sie sich in den letzten Jahren kaum gesprochen. Seit sie Amarillo verlassen hatte, um zuerst aufs College zu gehen und dann nach Kalifornien zu ziehen, war sie zwar häufig nach Hause gekommen. Aber obwohl True die Nachbarranch gehörte, hatten sich ihre Wege nur selten gekreuzt. Meist hatte sie True dann in Begleitung seiner Frau und seiner Kinder getroffen.

Allerdings hatten selbst ihre engsten Freunde überrascht reagiert, als sie ihnen eröffnete, nach Amarillo zurückzukehren. Lange Zeit hatte sie sich diesen heimlichen Wunsch selbst nicht eingestehen können. Erst der Schlaganfall ihres Vaters hatte ihr die Augen geöffnet: Nur in der rauen Landschaft von Amarillo wollte sie leben. Dies war ihre Heimat, und hierher gehörte sie.

Sie lächelte. „Hier ist mein Zuhause, weißt du?“ Paige sah auf die Uhr. „Himmel, ich muss nach Hause zurück. Bestimmt wartet Tillie schon mit dem Essen, und ich muss mit Dad noch über diese …“ Unvermittelt hielt sie inne und blickte auf die Papiere in ihrer Hand. Die ganze Zeit schon umklammerten ihre Finger fest die unbezahlten Rechnungen, die sie gerade mit dem Geschäftsführer des Ladens durchgegangen war. Doch True brauchte nicht zu wissen, dass sich die Double M in finanziellen Schwierigkeiten befand.

„Darf ich dich zum Mittagessen einladen? Bis zwölf Uhr schaffst du es sowieso nicht rechtzeitig nach Hause. Eure Haushälterin wird also in jedem Fall mit dir schimpfen“, frotzelte er.

Paige verzog das Gesicht. „Manchmal ist Tillie wirklich eine Plage. Ich habe mich oft gefragt, wieso Dad sie all die Jahre behalten hat.“

„Weil sie die beste Schokoladencremetorte von ganz Westtexas backt. Und weil sie euch über alles liebt.“

Als True ihren rötlich blonden Pferdeschwanz berührte, der ihr über die Schulter fiel, kam sie sich wieder wie ein zehnjähriges Mädchen vor. Zorn und Verlegenheit trieben ihr die Röte ins Gesicht.

„Geh mit mir essen“, bat True noch einmal.

Vehement schüttelte sie den Kopf. Niemals würde sie ihn in diesem Aufzug begleiten. Dass er in ihr nicht die Frau sah, zu der sie mittlerweile herangewachsen war, schien offensichtlich. Unter keinen Umständen konnte Paige riskieren, seinen falschen Eindruck zu bestätigen. Beim nächsten Mal würde sie …

„Nein, ich muss jetzt wirklich gehen“, erklärte sie bestimmt.

Mit einem bedauernden Achselzucken folgte True ihr hinaus in die kalte Januarluft und setzte seinen Hut auf. „Es ist schon wieder kälter geworden. Hast du denn keine Jacke dabei?“ Er stellte sich dicht neben sie, als wolle er sie vor dem rauen Wind schützen.

Überrascht von seiner plötzlichen Annäherung fielen Paige die Papiere aus der Hand. Doch bevor der Wind sie erfassen konnte, griff True blitzschnell nach den Blättern und schob sie ihr unter den Arm. Flüchtig berührte er dabei ihre Brust. Einen atemlosen Moment glaubte sie, er ließe seine Hand absichtlich noch ein wenig länger dort ruhen.

Unverhofft schoss ihr durch den Kopf, dass sie doch lieber auf Tillies Ratschläge hätte hören sollen: Eine Dame sollte immer einen Büstenhalter tragen.

Es dauerte eine Weile, bis Paige wagte, ihn wieder anzusehen. Doch der kleine Zwischenfall schien True nicht berührt zu haben. Entweder ging er als höflicher Gentleman darüber hinweg. Oder aber er nahm ihre weiblichen Reize gar nicht wahr.

Ohne ein Wort des Dankes wandte sie sich ihrem weißen Pick-up zu, auf dem zwei rote, verschlungene Ms, das Logo der Double M Ranch, prangten. Betont lässig verabschiedete Paige sich.

„Was dagegen, wenn ich heute Abend bei euch vorbeikomme?“

Vor Schreck ließ Paige die Wagentür wieder zufallen. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken nur so durcheinander.

„Ich würde gern deinen Dad besuchen.“

Dieser Satz brachte sie wieder zur Vernunft. „Natürlich.“ Schnell stieg sie in den Wagen und setzte sich ans Steuer. „Du bist jederzeit willkommen.“

„Falls du Hilfe auf der Ranch brauchst, sagst du mir Bescheid, okay?“

Das fehlte gerade noch, dachte sie. „Ja, mach ich“, gab sie knapp zurück und zog die Tür hinter sich zu.

Als sie davonfuhr, konnte sie einfach nicht widerstehen und warf einen Blick in den Rückspiegel: True stand in der Mitte des kiesbestreuten Parkplatzes. Seine kräftigen Beine hatte er leicht gespreizt, die Arme vor der Brust verschränkt, als wäre er tief in Gedanken versunken.

Aber bestimmt dachte er nicht an sie. Nein, das ganz sicher nicht.

Den ganzen Nachmittag über kreisten Trues Gedanken um Paige. Bei der Reparatur der Zäune im südlichen Teil des weiten Ranchlandes bot sich ihm stets die beste Gelegenheit, seinen Grübeleien ausgiebig nachzugehen. Dass ihm jetzt nichts anderes in den Sinn kam als Paige … Er redete sich ein, dass er einfach deshalb an sie denken musste, weil sie uralte Freunde waren.

Trotzdem stellte er sich immer wieder den Moment vor, in dem seine Hand ihre Brust gestreift hatte. Allein diese kurze Berührung hatte ihm eine Ahnung von ihren weichen, weiblichen Rundungen gegeben. Er hatte nicht damit gerechnet, dass das Gefühl so angenehm sein könnte. Überraschend angenehm.

Natürlich hatte er sich nichts anmerken lassen, denn schließlich kannte er Paige schon sein halbes Leben – sie war seine Sandkastenfreundin gewesen. Erst kurz bevor sie fortgezogen war, hatte sich etwas zwischen ihnen verändert. Doch nichts könnte ihm jemals die Erinnerung an die gemeinsame Kindheit und Jugend nehmen. Nie würde er den Spaß vergessen, wenn sie auf ihren Pferden über die Felder galoppiert waren und danach im Fluss gebadet hatten.

In der Nacht, als Paiges Mutter gestorben war, war Paige weggelaufen, und True hatte sie schließlich gefunden. Damals war er dreizehn gewesen. Sie hatte sich an seiner Brust ausgeweint, bevor er sie nach Hause gebracht hatte. Dieses Erlebnis hatte sie noch fester zusammengeschweißt.

Heute hätte er nur allzu gern mehr Zeit mit ihr verbracht. Es wäre schön gewesen, sich beim Essen mit ihr darüber zu unterhalten, was sie all die Jahre getrieben hatte. Erst bei ihrem Wiedersehen im Laden war ihm klar geworden, wie sehr er sie vermisst hatte – komisch, dass ihm das nie bewusst gewesen war. Es brauchte nur einen Blick von ihr – plötzlich war die Zeit, in der sie getrennt voneinander waren, wie ausradiert.

Seine Frau war überzeugt gewesen, dass Paige mehr für ihn empfand als bloße Freundschaft. Aber er hatte das Marcies romantischem Wesen zugeschrieben.

Marcie.

Ein wehmütiges Lächeln glitt über Trues Gesicht, als er in seinen Truck stieg. Drei Jahre nach ihrem tödlichen Autounfall war er endlich in der Lage, an seine frühere Frau zu denken, ohne dabei in der alles erdrückenden Trauer zu versinken. Marcie wäre jetzt sicher stolz auf ihn: Sie hätte gewollt, dass er sein Leben weiterlebt.

Unweigerlich zog er jedoch eine bittere Bilanz: Sein ganzes Leben bestand nunmehr einzig und allein daraus, seine Ranch zu bewirtschaften und die Kinder aufzuziehen. Natürlich gaben ihm viele Frauen unmissverständlich zu verstehen, dass sie an ihm interessiert waren. Mit einigen war er auch ausgegangen, aber selten mehr als ein Mal.

Sicher, er wollte irgendwann wieder heiraten. Aber mit keiner der Frauen konnte er sich ein gemeinsames Leben vorstellen. Keine von ihnen erschien ihm geeignet, das alte Farmhaus in Ordnung zu halten und sich um seine Zwillinge zu kümmern, die demnächst zehn wurden. Darüber hinaus fehlte ihm die Zeit und die Geduld, einer Frau den Hof zu machen – mit Blumen, Geschenken und all dem Kram.

Was wohl Paige über die Frauen sagen würde, die darum kämpften, eines Tages seine Ehefrau zu werden? Bestimmt würde sie alle ziemlich albern finden. Zumindest die Paige von früher hätte sich köstlich amüsiert. So hatte sie auch über Marcie gelacht, nachdem er ihr erzählt hatte, dass er ein Mädchen aus der Stadt heiraten und auf der Ranch leben wollte. Als es dann zwischen ihnen zum Streit über Marcie kam, war plötzlich alles anders gewesen. Kurz darauf war Paige weggezogen.

Doch jetzt war sie wieder zu Hause. True lächelte. Er war froh, dass sie zurückgekehrt war. Vielleicht konnten sie ihre alte Freundschaft aufleben lassen. Sicher war das möglich. Sofern er nicht andauernd daran dachte, wie angenehm weich sich ihre Brust angefühlt hatte.

Auf dem Heimweg schüttelte er die Gedanken an Paige ab und ließ stattdessen stolz den Blick über seine Ranch schweifen. Die Scheunen und die Stallungen – alles befand sich in ausgezeichnetem Zustand. Natürlich besaß die flächenmäßig kleinere Circle W nicht das Ansehen der Double M. Nichtsdestotrotz war es ihm gelungen, die Ranch vor dem sicheren Bankrott zu bewahren und mittlerweile schwarze Zahlen zu schreiben. In diesem Jahr würde vielleicht sogar genügend Geld übrig bleiben, um das Farmhaus zu renovieren.

Es erfüllte ihn mit Stolz, dass er seinen Besitz nicht von Touristen abhängig machen musste. Zwar war im Prinzip nichts dagegen einzuwenden, eine Ranch für Feriengäste auszubauen. Paiges Familie hatte bewiesen, dass damit viel Geld zu verdienen war. Aber trotzdem wollte True auf seiner Ranch nach wie vor Ackerbau und Viehzucht betreiben. Und das sollte auch so bleiben.

Als er sich dem Haus näherte, hörte er schon aus der Ferne, wie Becca, seine pausbäckige kleine Tochter, wieder mit ihrem Zwillingsbruder Billy stritt. Die blauen Augen hatte Becca von ihrem Vater, das kastanienbraune Haar von ihrer Mutter. Dagegen wirkte Billy wie eine kleinere und schmalere Ausgabe von True.

„Immer weißt du alles besser!“, schrie Becca wütend und warf mit einem Ausstechförmchen nach ihrem Bruder. „Dabei bist du einfach nur dumm.“

Billy fing die Plätzchenform auf und erwiderte von oben herab: „Und du bist dick und hässlich.“

„Nimm das sofort zurück!“

„Wenn du aufhörst, dich so blöd zu benehmen.“

„Du benimmst dich blöd.“

„Nein, du!“

So wie er es seit Jahren gewohnt war, ging True auch dieses Mal schnell dazwischen. Er nahm Billy den Plätzchenstecher ab, bevor er noch weiteren Schaden anrichten konnte. „Hört sofort auf damit! Was ist hier wieder los?“

Gleichzeitig begannen die Kinder mit ihren Erklärungen und gegenseitigen Beschuldigungen. Doch bald fand True heraus, dass Billy die Hälfte der Plätzchen verdorben hatte, die Becca für heute Abend zum Nachtisch backen wollte. Ein kurzer Blick durch die Küche genügte: Die beiden hatten es geschafft, sämtliche Schüsseln, Teller und Backbleche schmutzig zu machen.

„Wo ist denn Tante Helen?“, fragte True müde.

„Sie hat sich versteckt“, sagte eine Stimme hinter ihm.

Als True sich umdrehte, sah er seine Tante langsam aus dem Flur in die Küche kommen. Mit einer Hand hielt sie einen Eisbeutel an den Kopf gepresst, mit der anderen rieb sie sich den Rücken. „Kinder, ich habe euch doch gesagt, ihr sollt warten, bis ich wieder da bin“, ermahnte sie die Zwillinge matt. „Jetzt guckt mal, wie es hier aussieht.“

Beccas blaue Augen füllten sich mit Tränen. „Ich wollte dir doch nur helfen.“

„Sicher wolltest du das, mein Engel.“ True strich seiner Tochter über das weiche Haar. „Aber wenn man dir sagt, dass du warten sollst, dann …“

„Na gut!“ Heulend lief Becca zur Treppe. „Nie wieder helfe ich euch!“

Obwohl er sich noch ein paar Minuten vorher heftig mit seiner Zwillingsschwester gestritten hatte, warf Billy Helen und True einen vernichtenden Blick zu. „Wegen euch weint sie jetzt“, sagte er vorwurfsvoll und lief hinter Becca die Treppe hoch.

Ächzend ließ Helen sich auf einen Küchenstuhl fallen. Auf einmal war es ganz still.

„Ich kümmere mich um das Chaos hier“, erklärte True und tätschelte die rundliche Schulter der Frau, die ihn großgezogen hatte. „Hast du wieder Schmerzen?“

Sie blickte zu ihm hoch. „Meine Kopfschmerzen sind nicht das Problem. Ich schaffe das einfach nicht mehr mit den beiden.“

„Ja, im Moment machen sie eine schlimme Phase durch. Aber bald …“

„Bald – das sagst du immer“, unterbrach Helen ihn. „Aber die Kinder sind völlig außer Kontrolle geraten. Sie brauchen eine feste Hand, und dazu bin ich zu alt.“

„In Zukunft werde ich mich selbst wieder mehr um sie kümmern. Die ganze Zeit war ich nur mit der Ranch beschäftigt und habe dir zu viel zugemutet.“

„Da hast du verdammt recht.“

Die brüske Antwort der grauhaarigen Frau überraschte True nicht im Geringsten. Schon immer sagte Helen Parks ihre Meinung geradeheraus. So hatte sie sich als junge Frau sogar dem Willen ihrer Eltern widersetzt: Helen hatte die heimatliche Ranch verlassen, um ihren Mann bei seinen Rodeowettbewerben zu unterstützen. Ihr Jake, wie sie ihn nannte, war ein begnadeter Lassowerfer und handfester Trinker. Als er eines Tages im Ring von einem jungen Ochsen niedergetrampelt wurde und starb, war Helen zwar durch das Erbe finanziell abgesichert. Doch den Wunsch, wieder zu heiraten, verspürte sie nie wieder.

Kurz darauf verlor True seine Mutter: Sie verstarb bei der Geburt ihres nächsten Kindes, das ebenfalls tot zur Welt kam. Helen kehrte zur Ranch zurück und half ihrem Bruder, True großzuziehen. Sie hielt das Haus in Ordnung, kochte für die Familie und die Farmarbeiter und half sogar beim Brandmarken des Viehs. Nach Marcies Tod lasteten Haushalt und Kindererziehung allein auf ihren Schultern. Zwar liebte sie True und die Kinder heiß und innig. Doch mit mittlerweile zweiundsiebzig Jahren besaß Helen nicht mehr die Energie und Geduld, die sie früher gezeigt hatte.

„Du musst die Kinder in den Griff bekommen, sonst werden die Probleme immer größer.“

Rasch holte True ein Blech mit halb verkohlten Plätzchen aus dem Ofen. „Aber es sind doch ganz normale Kinder. Kinder machen nun mal Unordnung und haben Unsinn im Kopf.“

„Du nimmst sie immer in Schutz.“

Er zuckte die Schultern und warf die verbrannten Kekse in die Spüle. „Ich versuche, Rücksicht auf die Kinder zu nehmen und ihnen möglichst viel Freiraum zu lassen. Sie vermissen Marcie.“

„Dein Vater und ich waren mit dir nicht so nachsichtig, obwohl du auch keine Mutter hattest.“

„Das ist nicht dasselbe. Meine Mutter starb, als ich vier war. Ich kann mich kaum an sie erinnern.“

„Ich sehe da keinen Unterschied. Marcie hätte ihnen jedenfalls den Hintern versohlt, wenn sie die Küche so vorgefunden hätte.“

„Es ist doch nur schmutziges Geschirr.“

„Und du spülst es für sie.“

„Tante Helen …“

„Ich werde gehen“, verkündete sie.

Das hatte True schon häufig gehört. „Das meinst du nicht ernst.“

„Diesmal schon.“ Sie stand auf und ging durch die große Küche hinüber zu der Sitzgruppe vor dem rauchgeschwärzten Kamin. Aus ihrem Nähkorb holte sie einige Papiere und kam damit an den Esstisch zurück. „Hier, sieh dir das an.“

True ging die Unterlagen durch – der Prospekt einer neuen Seniorenwohnanlage in Lubbock und der Mietvertrag für ein kleines Apartment.

Verblüfft blickte True seine Tante an. „Was hast du denn gemacht?“

Helen presste die Lippen kurz aufeinander. „Ich habe eine Entscheidung getroffen. Eine meiner Freundinnen aus der Zeit bei den Rodeos zieht auch dorthin.“

„Aber kannst du das denn bezahlen?“

„Dreißig Jahre lang haben weder dein Vater noch du mir erlaubt, die Summe anzurühren, die mein Jake mir hinterlassen hat. Selbst als du dringend Geld brauchtest, wolltest du nichts von mir annehmen. Jetzt habe ich genug, um auf meine alten Tage gut zu leben.“

True starrte sie entgeistert an und brachte kein Wort heraus.

„Jetzt musst du dich um die Kinder kümmern.“

„Tante Helen, ich will doch nicht, dass du nur wegen der Kinder bleibst. In Zukunft werde ich mehr tun, das verspreche ich. Und ich werde sie auch härter anpacken. Du sollst bleiben, weil dies dein Zuhause ist.“ Er schluckte, weil ihm vor Rührung die Stimme versagte. „Ohne dich … ist … ist es kein Zuhause mehr.“

Sie würde tatsächlich gehen. Die Erkenntnis traf True wie ein Schlag. Was sollte er bloß ohne sie anfangen? Dabei ging es gar nicht um die praktischen Dinge: Sein Leben lang war sie der Fels in der Brandung für ihn gewesen. Schon jetzt vermisste er sie. Heftig zog er sie an sich und hielt sie lange fest. Zum zweiten Mal schon umarmte er heute eine Frau, die eine wichtige Rolle in seinem Leben gespielt hatte. Doch Paige war in sein Leben zurückgekehrt, Helen würde ihn verlassen.

Nachdem er später die Küche aufgeräumt, den Streit mit den Kindern beigelegt und mit ihnen zu Abend gegessen hatte, fuhr er zur Ranch der McMullens hinüber. Helen hatte er erzählt, er würde Rex besuchen. Tatsächlich wollte er auch nach dem alten Mann sehen. Doch insgeheim dachte er eher an Paige, als er durch die winterliche Landschaft fuhr.

Von Weitem sah er bereits das hell erleuchtete Wohnhaus, das viel größer als sein eigenes war. Eigentlich befand sich der Eingang auf der Veranda, doch seit Kindertagen benutzte er stets die Hintertür. Als er eintrat, wischte Tillie gerade den Boden, obwohl die Küche blitzsauber wirkte.

Ebenso wie Helen hatte auch Tillie fast ihr ganzes Leben damit verbracht, sich um das Haus und die Kinder anderer zu kümmern. Davon abgesehen unterschieden sich die Frauen jedoch erheblich. Tillie war etwa zehn Jahre jünger als Helen und schlank, während Helen ziemlich mollig war. Im Gegensatz zur ruhigeren Tillie war Helen eher laut und impulsiv. Trotzdem verband die beiden eine enge Freundschaft.

Während sie seinen Mantel an einen Haken neben der Tür hängte, blickte Tillie ihn neugierig von der Seite an. „Hat Helen dir schon die Neuigkeit erzählt?“

True lachte. „Hätte ich mir doch denken können, dass du es als Erste erfahren hast.“

Ein nachdenklicher Ausdruck huschte über Tillies schmales Gesicht. „Ich werde sie vermissen.“

So viel Gefühl zu zeigen, sah Tillie gar nicht ähnlich. True war darüber so erstaunt, dass er gar nicht bemerkte, wie Paige hereinkam. Während er sich allmählich fasste, betrachtete er sie.

Zu dunkelblauen Hosen trug sie ein passendes Oberteil. Das rotblonde Haar umspielte ihr dezent geschminktes Gesicht und fiel offen auf die Schultern. Diese Frau kann unmöglich Paige sein, schoss es True durch den Kopf. Zumindest handelte es sich nicht um die Paige aus seiner Erinnerung.

Eindringlich musterte er sie: Ihr schlanker Körper schien an den wesentlichen Stellen weich gerundet. Seit ihrer letzten Begegnung vor zwölf Jahren war ihr Gesicht voller geworden und bildete mit ihren großen braunen Augen ein harmonisches Ganzes. Wieso war ihm das heute Mittag nicht schon aufgefallen?

Er war so perplex, dass er kaum mehr als ihren Namen herausbrachte, nachdem Tillie sich auffordernd geräuspert hatte.

Paige lächelte. „Ich dachte mir schon, dass du die Hintertür benutzt. Versuchst du wieder, ein Stück von Tillies Kuchen zu stibitzen – wie in alten Zeiten?“

Weil er immer noch keinen Ton von sich gab, antwortete Tillie für ihn. „Er ist eben erst hereingekommen.“

„Du willst doch bestimmt Dad sehen.“ Paige wandte sich zum Gehen.

Stumm nickte True, machte aber keinerlei Anstalten, ihr zu folgen.

Ganz untypisch für sie gluckste Tillie amüsiert auf, als sie True einen sanften Schubs gab. „Was ist los, True? So verdattert habe ich dich nicht mehr erlebt, seit du versucht hast, auf dem Pferd von Mr. Rex zu reiten, und mit einer gebrochenen Rippe am Boden lagst.“

Genauso fühlte er sich jetzt, stellte True fest. Paiges Erscheinung, die ihm vertraut und doch faszinierend anders vorkam, hatte ihn glatt umgehauen. Aber es gefiel ihm.

Als Paige Tillies Bemerkung hörte, konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. Während sie sich zum Abendessen umgezogen hatte, versuchte sie sich einzureden, die Wahl ihrer Kleidung hätte nichts mit True zu tun. Doch natürlich sollte er sie in einem schmeichelhafteren Licht erleben als am Mittag. Sein verdutzter Gesichtsausdruck bewies ihr, dass sie ihr Ziel erreicht hatte.

„Daddy“, rief sie, als sie das mahagonigetäfelte Arbeitszimmer ihres Vaters betrat. „Sieh mal, wer da ist.“

Rex McMullen saß auf einem ledergepolsterten Sofa vor dem prasselnden Kaminfeuer. Als True ihm die Hand entgegenstreckte, lächelte er. Sein rechter Mundwinkel zuckte, und zur Begrüßung reichte er seinem Besucher die linke Hand. Die rechte blieb auf der Wolldecke über seinen Knien liegen. Er sah dünn aus, sein sonst so gebräuntes Gesicht blass. Rex’ rotblondes Haar war nahezu weiß geworden, und Paige fand, dass das Weiß seine markanten Gesichtszüge noch besser zur Geltung brachte. Aber natürlich war sie voreingenommen. Sie warf True einen kurzen Blick zu und fragte sich, wie er wohl reagieren würde.

Falls True über den Anblick von Rex erschrocken war, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. „Ich bin sehr froh, dass du wieder zu Hause bist, Rex“, sagte er und setzte sich in den Ohrensessel neben dem Sofa.

„Ja, das bin ich auch“, erwiderte Rex. Seine Stimme war noch immer kräftig, doch er brachte die Worte langsamer als gewöhnlich über die Lippen.

Paige ließ die beiden allein und kam erst ein paar Minuten später mit Kaffee und Kuchen wieder. Als sie das Arbeitszimmer betrat, sprang True sofort auf und nahm Paige das Tablett ab. Es schien beinahe, als habe er ungeduldig auf ihre Rückkehr gewartet. Aufmerksam sah er zu, wie sie Kaffee ausschenkte und den Kuchen servierte.

Es entging Paige nicht, dass er sie unablässig betrachtete. Als sie die Decke fester um die Beine ihres Vaters wickelte, spürte sie seinen Blick. Sie war unsicher, ob sie von seinem Verhalten geschmeichelt oder genervt sein sollte. Zu gern hätte sie gewusst, was in ihm vorging.

Nach Kaffee und Kuchen verkündete Rex, er sei jetzt müde und wolle ins Bett. Während Paige ihn in sein Schlafzimmer führte, trug True das Tablett in die Küche. Eigentlich hatte Paige angenommen, dass er sofort nach Hause fahren würde. Doch als sie ins Arbeitszimmer zurückkam, saß er wieder vor dem Kamin und blickte versonnen ins Feuer.

Er passt hierher, dachte sie unvermittelt. Die Mahagonimöbel, die Lederpolster, die gedämpften Rot- und Goldtöne der Einrichtung – der passende Hintergrund für einen starken, selbstbewussten Mann. Darin war True ihrem Vater sehr ähnlich. Er strahlte eine natürliche Stärke aus, die den Raum erfüllte. Diese stille Kraft ließ Paige an Rex denken. Ihr wurde klar, wie schwer es für sie war zu akzeptieren, dass ihr Vater sich so verändert hatte.

Eine Weile blieb sie im Türrahmen stehen, bis True sich zu ihr umwandte. „Du bist noch hier“, bemerkte sie überflüssigerweise.

„Willst du, dass ich gehe?“

„Natürlich nicht.“ Paige winkte ab. „Wolltest du noch etwas mit mir besprechen?“

Wieder fixierte er sie mit seinen blauen Augen, schwieg aber. Um seinem Blick auszuweichen, faltete Paige die Wolldecke zusammen und ordnete die Zeitschriften auf dem Beistelltisch. Schließlich setzte sie sich, doch True musterte sie noch immer durchdringend. Langsam war sie mit ihrer Geduld am Ende.

„Warum starrst du mich ununterbrochen an?“

Überrascht blinzelte er. „Ich weiß nicht, was du meinst.“

„Habe ich vielleicht Schokolade am Kinn? Oder stimmt sonst irgendetwas nicht?“

Autor

Celeste Hamilton
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