Stürmische Begegnung - Zauberhafte Eroberung

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So ein unverschämter ...! schimpft Lady Hester höchst undamenhaft. Arglos fährt sie mit ihrem Einspänner über die Landstraße. Da steuert in rasantem Tempo eine Rennkarriole auf sie zu und schleudert sie in den Graben. Temperamentvoll, wie sie nun einmal ist, stürmt Hester gleich nach dem ersten Schreck empört zu der Kutsche ? und direkt in die Arme des schneidigen Jasper Challinor, Marquis of Landsborough. Sie sieht in ihm einen rücksichtslosen, versnobten Dandy ? er in ihr eine von Kopf bis Fuß verschmutzte Cinderella. Die ihn aber in ihrem Zorn überraschend bezaubert. Und das, obwohl er längst einer standesgemäßen Dame versprochen ist…


  • Erscheinungstag 01.04.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733764760
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL
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Lady Hester Cuerden hämmerte mit der Faust einige Male an die Küchentür des Pfarrhauses von Beckforth, riss sie ungeduldig auf und stürmte hinein.

Emily Dean, die Pfarrerstochter, saß neben dem Herd und versuchte hastig, das Buch, in dem sie gelesen hatte, in den Falten ihres Rockes zu verstecken. Doch als sie ihre beste Freundin erkannte und ihr Zittern bemerkte, sprang sie auf.

„Hester! Was ist los?“ Hester zerrte an ihren Handschuhen und drängte an den Herd. „K…kalt!“, stammelte sie. „Und n…nass!“

„Und furchtbar dreckig.“ Emily entriss Hester die Handschuhe, bevor sie sie auf den frisch geschrubbten Küchentisch legen konnte, und deponierte sie im Spülbecken.

Mit steifen Fingern knöpfte Hester ihren Mantel auf, hängte ihn über Emilys Stuhl und hielt die Hände ans Feuer.“

„Du bist bei dem Wetter ohne Haube aus dem Haus gegangen?“, fragte Emily.

Hester schob sich eine widerspenstige rotbraune Locke hinters Ohr. „Natürlich nicht; ich war bestens ausgerüstet: Haube, Schultertuch, Proviantkorb. Und wo ist das alles gelandet? Im Graben!“

Emilys Blick fiel auf die grünbraune Lache, die sich unter ihrer Freundin auf dem Fliesenboden bildete.

Mit klappernden Zähnen fuhr Hester fort: „Das Einzige, wogegen ich nicht gewappnet war, als ich durchs Tor auf die Straße trat, war die Kutsche des hochwohlgeborenen Jasper Challinor, Marquis of Lensborough, die just in dem Moment mit halsbrecherischer Geschwindigkeit um die Ecke bog.

Dieser rücksichtslose, unflätige … Marquis!“ Ein schlimmeres Schimpfwort schien es für sie nicht zu geben. „Er fuhr zu schnell, um anzuhalten, und ein Ausweichmanöver war offenbar unter seiner Würde. Seine Pferde oder der Lack seiner Karriole hätten schließlich Schaden nehmen können. Weißt du, was er stattdessen getan hat?“ Ohne Emilys Rückfrage abzuwarten, fuhr sie fort: „Verwünscht hat er mich, weil ich fast unter die Hufe seiner Pferde geraten bin. Eine solche Pöbelei habe ich noch nicht erlebt!“

Emily mochte es kaum glauben. „Er hat nicht einmal angehalten?“

„Keine Ahnung – ich war vollauf damit beschäftigt, in den Graben zu segeln.“ Hester verlagerte das Gewicht, sodass grüner Schlamm zwischen dem Oberleder und den Sohlen ihrer alten Stiefeletten hervorquoll.

„Du musst da raus“, entschied Emily. Sie ging in die Hocke und widmete sich den durchnässten Schnürsenkeln. Als sie Hester den ersten Schuh vom Fuß ziehen wollte, hielt sie plötzlich die Sohle in der Hand. „Die sind perdu.“

Hester sank auf Emilys Stuhl. „Na, wenigstens bin ich es nicht.“ Zittrig wischte sie sich über das schlammverschmierte Gesicht. Sie war so sehr mit den Neuigkeiten beschäftigt gewesen, dass sie bei der erstbesten Gelegenheit aus dem Haus gelaufen war und nicht auf den Verkehr geachtet hatte, als sie auf die Gasse hinausgetreten war. Reines Glück, dass sie in letzter Sekunde doch noch aufgeblickt hatte, denn der tosende Wind hatte jedes Geräusch des herannahenden Zweispänners verschluckt.

Der Anblick der galoppierenden Pferde war ein Schock gewesen – nicht minder aber die Blitze, die die nachtschwarzen Augen des wütenden Wagenlenkers versprüht hatten. Einen Augenblick lang war sie wie hypnotisiert gewesen, doch seine empörenden Flüche hatten sie aus der Starre gerissen und ihren Überlebensinstinkt geweckt.

„Wenn ich nicht so eine gute Schwimmerin wäre … Oh, nicht dass der Graben genug Wasser geführt hätte, um darin zu ertrinken; außerdem hat das Eis meinen Sturz gebremst. Aber wenn ich nicht so oft in den Bergsee bei Holme Top gehechtet wäre, hätte ich gegen den feinen Lord keine Chance gehabt.“

„Du schilderst es fast so, als hätte er das absichtlich getan, Hester“, schalt Emily. „Aber du hattest ja schon etwas gegen ihn, bevor du ihm überhaupt begegnet bist.“

Emily hat gut reden, schließlich hat dieser arrogante, kaltblütige Wüstling ihr Leben ja nicht über den Haufen geworfen, dachte Hester empört. Vor drei Wochen hatte er ihren Onkel Thomas angeschrieben und einen Besuch angekündigt, bei dem er entscheiden wollte, welcher ihrer beiden Cousinen die fragwürdige Ehre zuteil werden sollte, seine Frau zu werden. Seither glich das Haus einem Ameisenhaufen, in den irgendein Lümmel einen Stock gesteckt hatte. Ihre Tante und die Cousinen hatten so viele neue Kleider gekauft, dass ihr Onkel über den Rechnungen verzweifelte, und so war es an ihr hängen geblieben, sich um das Personal zu kümmern, das ohnehin schon unter den Vorbereitungen eines Familientreffens gestöhnt hatte, zu dem auch ihre herrische Tante Valerie erwartet wurde. Aber einem Marquis konnte man natürlich nicht antworten, der Zeitpunkt für einen Besuch sei ungünstig, und dass man diesen ominösen Freund, mit dem er die Weihnachtstage verbracht hatte, nun wirklich nicht auch noch beherbergen konnte, wo das Anwesen schon bis zum Bersten mit allerlei Gästen und ihren Dienern angefüllt war.

Als sie an die eigentlich längst aufgegebenen Tudor-Zimmer im Nordflügel dachte, in denen sie Seine Lordschaft und seinen Freund unterbringen wollte, hatte sie sich ein gehässiges Lächeln nicht verkneifen können. Von ihrer Tante Susan, die dem Marquis bereits begegnet war, wusste sie, dass er von stattlichem Wuchs war – gerade richtig für das „Königinnenbett“. Seine Beine würden meilenweit über den Rand ragen, wenn er sich ausstreckte, und wenn es ihm tatsächlich gelingen sollte, an die stilechten Kissenberge gelehnt einzunicken, würde das Gepolter auf den blanken Dielenböden im darüber liegenden Personaltrakt ihn wieder aufwecken. Sie glaubte nicht, dass er – wie angekündigt – eine ganze Woche bleiben würde. Ein so wohlhabender Mann war sicher verwöhnt. Er musste doch nur mit den Fingern schnippen, um alles, wonach ihm der Sinn stand, auf einem Silbertablett serviert zu bekommen. So jemandem musste man nicht erst begegnen, um sich eine Meinung über ihn zu bilden!

„Das Beste weißt du ja noch gar nicht.“ Hesters grünbraune Augen glühten fast bernsteinfarben vor Wut. „Als ich gerade aus dem Graben krabbelte, baute sein Reitknecht sich vor mir auf und schimpfte mich aus, weil ich die Pferde scheu gemacht und ihren Sieg beim Wagenrennen gefährdet hätte.“

„Nein!“ Empört lehnte Emily sich zurück.

„Und weißt du, was der feine Herr gemacht hat? Den Wagen zurückgesetzt und die Gasse versperrt. Damit sein Freund ihn nicht überholen konnte. Und als sein Reitknecht mir aufhelfen wollte, hat er ihn zurückgepfiffen.“

Hester unterließ es tunlichst, Emily zu erzählen, dass sie auf den Kerl eingedroschen hatte, als sein Herr ihn zurückbeorderte. Ihr Temperament passte zu ihrem roten Haar, und als der Reitknecht sich erdreistet hatte anzudeuten, diese Pferde wären mehr wert als sie, hatte sie ihm mit einer Backpfeife das unverschämte Grinsen auszutreiben versucht, das er sich beim Anblick einer Frau erlaubte, die sich mit nassen, an den Beinen klebenden Röcken aus dem Schlick aufrappelte. Als er dem Schlag lachend auswich, war es mit ihrer Selbstbeherrschung vollends vorbei gewesen. In aller Öffentlichkeit hatte sie seine Schienbeine mit ihren aus dem Leim gehenden Stiefeln traktiert …

Erst die entrüsteten Rufe des Marquis brachten sie zur Besinnung. Sie raffte ihre triefenden Röcke und marschierte zur Kutsche.

„Was fällt Ihnen eigentlich ein?“, fauchte sie. „Hier in diesem Tempo um die Ecke zu biegen – Sie hätten jemanden umbringen können. Hier hätte ein Kind spielen können!“

„Hätte, könnte.“ Er hob eine Augenbraue. „Bleiben wir doch bei den Tatsachen.“

Sein brüsker Tonfall entfachte ihre Wut aufs Neue. „Tatsache ist, dass ich drastische Maßnahmen ergreifen musste, um meine Haut zu retten, und dass alles, was ich in meinem Korb hatte, nun am Grunde dieses Grabens liegt.“

Er streckte sich und musterte sie ausgiebig. „Ganz zu schweigen vom Verlust Ihrer Haube, dem Zustand Ihrer Strümpfe …“

Hester schnappte nach Luft und merkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Wann hatte er bloß einen Blick auf ihre zerrissenen Strümpfe erhaschen können? Sie schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr und malte sich dabei mit dem verdreckten Mantelärmel einen Strich auf die Wange. Während sie am liebsten im Erdboden versunken wäre, um sich den abschätzigen Blicken des Marquis of Lensborough zu entziehen, brach sein Reitknecht erneut in schallendes Gelächter aus.

„Gott gebe mir Kraft“, seufzte der Marquis und verzog den Mund.

Wie konnte er es wagen, sie von oben herab anzusehen, als wäre sie etwas, das er am liebsten von den Sohlen seiner glänzenden Schaftstiefel gekratzt hätte! Wahrscheinlich musste sein Stiefelknecht das Leder jeden Morgen so lange polieren, bis das überhebliche Gesicht Seiner Lordschaft sich darin spielte. Und dann erst diese eng anliegenden Kniehosen, der Kutschmantel aus edlem Tuch und die geschmeidigen Handschuhe, die zusammen sicherlich mehr gekostet hatten, als ihr Onkel in einem Jahr für die Kleidung seiner Töchter ausgab – aber das Betragen eines Gassenjungen! Ganz gleich, was die anderen sich von seinem Besuch in The Holme erwarteten: Sie verabscheute ihn.

Während sie sich voller Wut und Verachtung anfunkelten, hörten sie, wie sich eine zweite Kutsche näherte.

„Und dann hat er d…die Peitsche geschwungen und i…ist davongebraust, ohne s…sich noch einmal umzudrehen.“ War es die Kälte, die Hester stottern ließ, der Schock oder die Empörung?

„Du musst aus diesem nassen Kleid raus. Komm, ich leihe dir eines von meinen.“

Auf der Treppe ließ sie Hester vorangehen und wischte mit einem Tuch hinter ihr auf.

„Der arme Mensch wird von seinen Pferderennen und Wettspielen so in Anspruch genommen, dass er einfach keine Braut findet“, schimpfte Hester, während sie sich in Emilys Zimmer entkleidete. „Also lässt er seine Mutter alle möglichen Familien mit ledigen Töchtern anschreiben, deren Geblüt edel genug ist, um es mit dem der Challinors zu vermischen … Wie man eine Zuchtstute sucht!“ Emily reichte ihr ein Handtuch.

Während sie sich energisch die Beine trockenrieb, fuhr Hester fort: „Der Brief, mit dem er Interesse an meinen Cousinen bekundet hat, war dann auch ungefähr so warmherzig wie eine Anmeldung zum Viehmarkt.“

„Du machst ihn schlimmer, als er ist. In diesen Kreisen ist es völlig normal, dass die Ehen von den Eltern arrangiert werden. Deine Tante und seine Mutter schreiben sich seit Jahren. Lady Lensborough ist schließlich Julias Patentante; wahrscheinlich hat sie ihrem Sohn den Vorschlag gemacht, weil sie meint, dass die beiden gut zusammenpassen würden.“

„Aber ich habe dir doch von ihrem schrecklichen Brief erzählt!“ Hester ließ das Handtuch fallen. „Er soll sich auch Phoebe ansehen, weil ein jüngeres Mädchen sich womöglich noch besser formen lässt. Formen! Als wäre sie ein Stück Ton, aus dem man ein Püppchen macht.“ Leise fuhr sie fort: „Emily, sie ist gerade sechzehn. Ich kann nicht hinnehmen, dass ein Mann von seinem Alter und seiner Erfahrung ein so junges Mädchen an sich bindet, nur weil er außerstande ist, eine passende Frau zu finden.“

Emily reichte ihr ein Paar sauberer Strümpfe. „Deine Cousinen scheinen aber nichts dagegen zu haben, einen Marquis zu heiraten.“

Seufzend steckte Hester einen Fuß in den aufgerollten Strumpf. Tatsächlich waren ihre Cousinen strahlend und kichernd durch den Salon getanzt, als ihre Mutter ihnen erzählt hatte, dass er eine von ihnen heiraten wollte. „Ja, das ist das Schlimmste daran. Nur weil er unglaublich reich ist und aus einer wichtigen Familie stammt, sind sie bereit, sich diesem furchtbaren Mann an den Hals zu werfen. Wenn diese Woche zu Ende geht, wird eine der Ärmsten sich an einen nahezu Fremden binden, der so gefühllos ist, dass er seine Mutter seine Braut aussuchen lässt, und so skrupellos, dass er eine hilflose Frau über den Haufen fährt und dann einfach davonfährt.“

Energisch zog sie den zweiten Strumpf hoch. „Wenn das nicht zufällig hier in eurer Nachbarschaft passiert wäre, hätte ich zum Umziehen nach Hause gehen müssen, statt …“ Sie biss sich auf die Lippe: Ihre Freundin würde sicher missbilligen, was sie heute Nachmittag vorhatte.

Prompt legte Emily ihr die Hand auf die Schulter. „Vielleicht war das ein Fingerzeig, der dich zu Umkehr bewegen soll.“

Hester sprang auf. „Aber ich tue nichts Verkehrtes!“

„Und doch willst du nicht, dass deine Familie davon erfährt“, klang es gedämpft aus dem Schrank, in dem Emily nach Stiefeletten suchte. „Ganz zu schweigen davon, dass deine Hilfe gebraucht wird, um das Haus auf all die Gäste vorzubereiten.“

Hester schlüpfte in die Schuhe, die ihre Freundin ihr anbot. „Ich habe in den letzten Wochen alles perfekt vorbereitet. Und jetzt, da die Gäste eintreffen, wird mich niemand vermissen.“ Sich zuckte mit den Schultern. „Ich habe eine Pause verdient.“

Emily wandte sich wieder dem Schrank zu, um ein Kleid zu finden, das zu Hesters Mission passte. „Das ganze Dorf redet darüber, dass die Zigeuner letzte Nacht ihr Lager in The Lady’s Acres aufgeschlagen haben. Sie hinter dem Rücken deines Onkels zu besuchen, ist völlig unangemessen, und das weißt du auch.“

„Wenn ich ihn heute gefragt hätte, hätte er mich nicht gehen lassen. Und es ist ein ganzes Jahr her, dass ich sie gesehen habe.“ Hester schob entschlossen das Kinn vor.

Emily seufzte; sie wusste, wie stur ihre Freundin sein konnte. „Dann lass mich mitkommen. Wenn dich später jemand zur Rede stellt, kannst du wenigstens sagen, dass du in Begleitung warst.“

Hesters schlechte Laune war wie weggeblasen. „Das würdest du tun? Obwohl Jye ein bisschen …“

„… unheimlich ist?“ Emily erzitterte.

„Sagen wir: unberechenbar. Aber ich weiß ja, dass du dich vor ihm fürchtest; deshalb würde ich dich ja nie darum bitten mitzukommen. Und jetzt habe ich auch noch die Mitbringsel eingebüßt, die ihn besänftigen sollten …“

„Soll er ruhig die Hunde auf uns hetzen; ich laufe schneller als sie.“

Hester lachte. „Marquis oder Zigeuner – kein Mann kann uns hindern, unserem Gewissen zu folgen!“

Mit frisch gewaschenem Gesicht, trockenen Kleidern und ihrer Freundin an der Seite kehrte Hester an den Unfallort zurück. Die Bänder ihrer Haube, die sich in einem Weißdorn verfangen hatten, waren gerissen; sie würde neue annähen müssen. Von den Kuchen, Pasteten und Konserven aus ihrem Korb war nichts zu retten, aber ein Päckchen mit buntem Papier und Kreiden war unversehrt geblieben. Frohlockend wischte sie den bereits gefrorenen Schmutz von dem Mitbringsel.

Sie waren noch nicht weit gegangen, als Emily aussprach, was sie offenbar schon eine Weile beschäftigte: „Bist du überhaupt sicher, dass es der Marquis war?“

„Ja, Tante Susans Beschreibung passte haargenau.“ Sie verzog den Mund. „Natürlich hat sie versucht, ihn möglichst attraktiv darzustellen: ‚Ein Mann von Welt, groß gewachsen und vornehm im Auftreten.‘ Ha! Wohl eher ein grober Klotz mit den Schultern eines Kohlenträgers. Seine Augen sind so hart und schwarz wie Pechkohle. Ich habe wohl noch nie einen Mann gesehen, der so … schwarz war. Seine Kleidung, das Haar … sogar sein Vokabular scheint aus dem Kohlebergbau zu stammen. Für normale Sterbliche wie uns hat er nur Spott und Verachtung übrig.“

Emily runzelte die Stirn. „Er hat dich bestimmt für ein Dienstmädchen gehalten, weil du so … äh … praktisch gekleidet und ohne Begleitung unterwegs warst.“

„Na, dann trifft ihn ja keine Schuld!“ Hester beschleunigte ihre Schritte, sodass Emily mit ihren kürzeren Beinen kaum hinterherkam. „Mein Fehler, dass ich ihm in die Quere gekommen bin.“

„So meinte ich das nicht“, wandte Emily atemlos ein. „Ich glaube nur nicht, dass er deine Cousinen genauso behandeln wird.“

„Oh, er wird es natürlich überspielen, aber im Grunde wird er sie ebenso verachten. Männer seines Standes sehen in Frauen bestenfalls Spielzeug. Ich habe dir doch von den armen Dingern erzählt, um die Mrs. Parnell sich kümmert.“

Mrs. Parnell – eine ehemalige Schulfreundin, der Hester während ihrer kurzen, unerfreulichen Ballsaison wiederbegegnet war – unterhielt ein Haus für ledige Mütter und Findelkinder. Hester war es von Tag zu Tag schwerer gefallen, bei den Tanzabenden mit Männern Konversation zu machen, von denen sie wusste, dass sie ihre Geliebten aus unteren Gesellschaftsschichten gnadenlos im Stich ließen, sobald diese schwanger wurden, und sich dann mit ahnungslosen Mädchen aus ihrer eigenen Klasse verheirateten, um mit der Mitgift ihre Laster zu finanzieren. Sobald einer dieser Gentlemen sie mit jenem lasziven Glanz in den Augen betrachtet hatte, den andere junge Frauen als schmeichelhaft empfanden, hatte Hester bebend die Flucht ergriffen.

„Frauen sind doch völlig rechtlos“, fuhr sie fort. „Ein Mann kann sich seiner Gattin gegenüber alles herausnehmen. Mir graut davor, dass Julia oder Phoebe in die Fänge eines Scheusals wie Lord Lensborough geraten.“

Schon seine bloße Anwesenheit im Hause war ihr zuwider. Er würde ihre Cousinen so beäugen, wie Junggesellen auf Brautschau das eben taten, und damit das ganze Familientreffen vergiften.

Emily ergriff Hesters Hand. „Lern ihn doch erst mal kennen, bevor du ihn so verdammst. Schließlich kann man aus deinem Verhalten auch falsche Schlüsse ziehen, wenn man dich nicht so gut kennt wie ich.“

Hester riss sich los und kletterte über einen Zauntritt.

„Was für ein Vergleich!“, rief sie über die Schulter, während sie über die Wiese auf die bunt bemalten Wohnwagen zueilte, die im Halbkreis um ein Feuer standen.

Sie versuchte in der Schar der abgerissenen Kinder, die ihr entgegenliefen, das eine auszumachen, dessentwegen sie gekommen war. Als sie Lenas Kupferlocken inmitten der ansonsten schwarzen Schöpfe tanzen sah, schossen ihr Tränen in die Augen. Sie schloss die Kleine in die Arme und küsste ihre sommersprossige Nasenspitze. Wie sehr sie gewachsen war!

Emily war so naiv. Männer waren Tiere, sogar jene, die man für vertrauenswürdig hielt. Einen von ihnen zu heiraten hätte geheißen, sich in eine besonders erniedrigende Form der Sklaverei zu fügen. Sie brauchte Lord Lensborough nicht kennenzulernen, um etwas über seine Einstellung zu Frauen zu erfahren. In dieser Hinsicht waren alle Männer gleich: Lena war der lebende Beweis.

2. KAPITEL
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Lord Jasper Challinor, der fünfte Marquis of Lensborough, lehnte sich gegen den Kaminsims und sah staunend zu, wie immer weitere Angehörige von Sir Thomas Gregory ins Zimmer strömten. Sie begrüßten einander lautstark mit geradezu widerwärtiger Ungezwungenheit. Niemand wahrte die strikte Etikette jener Kreise, in denen er normalerweise verkehrte. Kinder tobten so ungebärdig herum, als wäre der Salon ihr Spielplatz, und niemand rief sie zur Ordnung.

Ganz im Gegenteil: Sir Thomas hatte ihm erklärt, das Schönste am jährlichen Familientreffen sei, wirklich alle Mitglieder um sich zu haben, und zwar auch beim Abendessen – bis hin zum kleinsten Säugling. Kurz darauf hatte er seinem Gast das Kindermädchen vorgestellt, in dessen Armen besagter Säugling lag.

Seine Stimmung, die schon morgens beim Aufbruch nicht die allerbeste gewesen war, hatte sich im Tagesverlauf weiter eingetrübt. Wenigstens hielt seine düstere Ausstrahlung die übrigen Gäste auf Distanz.

Sein Freund Stephen Farrar, der als ehemaliger Soldat die Kunst beherrschte, sich in so ziemlich jede Gesellschaft einzufügen, beendete sein Gespräch mit Lady Gregory, der Gastgeberin, und schlenderte zum Kamin herüber.

„Schön, dass du dich amüsierst“, brachte Lensborough heraus.

Stephen grinste. „Oh, ich fand den ganzen Tag sehr unterhaltsam.“

Lensborough schnitt eine Grimasse. Seine Braunen auf unvertrauten Straßen gegen Stephens Graue antreten zu lassen war ein Fehler gewesen. In den Augen des Freundes war das gerade der Reiz, aber dieses Abenteuer wäre beinahe böse ausgegangen.

Und es hatte ihm Bertrams Tod in Erinnerung gerufen. Sein Bruder hatte ihm nie erzählt, wie es war, jemandem in die Augen zu blicken, den man gerade seines Lebens beraubte, und jetzt wusste er, warum. Den Gesichtsausdruck dieser Frau würde er nie vergessen. War Bertrams Gesicht ebenso unauslöschlich in das Gedächtnis jenes Franzosen eingebrannt, der ihn getötet hatte? Oder war dieser Unbekannte inzwischen selbst Napoleons unersättlichem Ehrgeiz zum Opfer gefallen? Wenigstens war sein Bruder mit dem Säbel in der Hand gestorben, während diese arme Frau unbewaffnet gewesen war. Sie hatte nur ihren Korb umklammert, der gegen die Wucht der galoppierenden Pferde nicht den geringsten Schutz bot. Und er hatte seinem Entsetzen über den Beinahe-Zusammenstoß durch wüstes Schimpfen Luft gemacht …

„Ich weiß nicht, was dich so verdrießt“, meinte Stephen. „Die beiden sind doch hinreißend.“ Er warf Julia und Phoebe Gregory, die am anderen Ende des Salons auf einem der Sofas saßen, ein strahlendes Lächeln zu.

Auch das trug zu seiner schlechten Laune bei. Ja, die Mädchen, die seine Mutter ausgesucht hatte, waren nach seinem Geschmack: blond und blauäugig und wohlproportioniert. Leider unterschieden sie sich in nichts von einem Dutzend ebenso geeigneter Kandidatinnen in London. Und dafür war er nun nach Yorkshire gereist.

Er ballte die Hände und riss sich zusammen. Er hatte Bertram geschworen, dass er heiraten und Erben in die Welt setzen würde, wenn ihm etwas zustieße. Die Familie aussterben zu lassen – undenkbar. Ebenso undenkbar war es jedoch, eine dieser Geld- und Titelsüchtigen Personen zu ehelichen, die ihn umschwärmt hatten, sobald er seine Trauerkleidung angelegt hatte. Der Tod seines Bruders freute sie, denn er erhöhte ihre Chancen, Marquise zu werden. Er hatte seiner Mutter erklärt, dass er seine Pflicht gegenüber der Familie erfüllen und dabei nicht allzu wählerisch sein würde – wenn er nur keine dieser pietätlosen Personen heiraten musste, die sich ihm aufdrängten!

Und so hatte sie ihre Beziehungen spielen lassen und Erkundigungen eingeholt, während er sich nach Ely zurückgezogen und sich von morgens bis abends um seine Rennpferde gekümmert hatte, um den widerwärtigen Nachstellungen zu entgehen. Der Einzige, dessen Gesellschaft er noch ertrug, war Stephen, den er bei Captain Fawley – einem schwer versehrten Kameraden Bertrams – kennengelernt hatte und der es sogar schaffte, ihn bei Pferderennen zu schlagen.

Nach einer Weile hatte seine Mutter ihm geschrieben, dass ihr Patenkind Julia Gregory bereit wäre, ihn kennenzulernen, und er auch gleich ihre kleine Schwester begutachten könne, die dem Vernehmen nach ebenfalls recht hübsch sei. Sie vergaß nicht zu erwähnen, dass die Mutter der beiden, Lady Gregory, noch zwei weitere Töchter und zwei Söhne geboren habe und immer noch wohlauf sei. Er verstand: beste Voraussetzungen für eine ganze Schar gesunder Erben. Da er Weihnachten in seinem Jagdhaus Stanthorne bei York verbringen würde, schlug sie vor, von dort ins nicht einmal einen Tag entfernte Beckforth weiterzureisen und der Familie seine Aufwartung zu machen. Die Gregorys waren nicht reich, aber auf eine Mitgift legte er auch keinen Wert. Hauptsache, seine Braut war in London ein Niemand – so wollte er die Damen düpieren, die sich so eifrig um ihn bemüht hatten.

Er lächelte grimmig: Insofern hatte seine Mutter eine weise Wahl getroffen. Ja, er würde eines der Gregory-Mädchen nehmen, warum nicht. Die Familie war zu arm, um auf einer Liebesheirat zu bestehen, und würde sich unendlich geehrt fühlen.

„Die Mutter gefällt mir auch“, fuhr Stephen fort. Lord Lensborough traute seinen Ohren kaum. Als sie heute Nachmittag eingetroffen waren und die Hausherrin die Stufen heruntergeeilt war, um sie mit ausgestreckten Armen zu begrüßen, war er regelrecht zurückgezuckt. Stephen hatte sich angesichts dieses Aufeinanderpralls von ungezwungener Herzlichkeit und spröder Distinguiertheit das Lachen kaum verkneifen können. „Doch, wirklich. Fast so sehr wie Sir Thomas.“

Lensborough warf ihm einen bösen Blick zu. Sir Thomas hatte den größtmöglichen Kontrast zu seiner Frau geboten, als der Butler sie nach dem Einquartieren zu ihm führte. Er hatte genau hier am prasselnden Kamin gestanden und sie mit finsterer, geradezu kämpferischer Miene gefragt, ob die Unterkünfte nach ihrem Geschmack seien.

Die niedrigen Räume in dem offenbar unbewohnten Flügel, in die der Butler sie geführt hatte, hatten Lensborough regelrecht abgestoßen, aber angesichts des Trubels, den die Gregory-Familie verbreitete, klang Sir Thomas’ Erklärung gar nicht mehr so absurd: Hester – offenbar die Haushälterin – sei der Meinung gewesen, in diesen Räumen hätten sie wenigstens ihre Ruhe. Stephen hatte erwidert, ihm gefalle der Blick aus dem gemeinsamen Wohnzimmer auf die Ställe ebenso wie das stets prasselnde Feuer im Kamin.

„Ein sehr gemütliches Ambiente“, hatte er freundlich hinzugefügt.

Für Lensborough hatte das Feuer jedoch nichts Tröstliches gehabt. Kaum hatte er sich in einen der weichen Ledersessel sinken lassen und seine Füße in Richtung der Flammen ausgestreckt, hatte er wieder an diese zitternde, nasse Frau mit den moosgrünen, vor Empörung funkelnden Augen denken müssen. Er hätte sie nicht so auf der Straße stehen lassen dürfen. Aber der unerträgliche Spott seines Reitknechts über ihre Misere hatte ihn so wütend gemacht, dass er die Konfrontation umgehend hatte beenden wollen – sonst hätte er den Kerl entlassen müssen.

Er beschloss, diese Frau ausfindig zu machen; so viele rothaarige Xanthippen konnte es im Dorf ja nicht geben. Also rief er seinen Kammerdiener, beauftragte ihn mit der Suche und gab ihm so viel Geld mit, dass die Frau sich davon mehrere neue Mäntel und Kleider kaufen konnte und den Rest als Kompensation für ihr Ungemach akzeptieren würde. Es war ihm wirklich unangenehm, dass die einfache Bevölkerung unter diesem törichten Wagenrennen hatte leiden müssen.

„Ja“, hatte Sir Thomas erwidert, „Hester war sich sicher, dass es schon gehen würde, sobald der Kamin gereinigt wäre. Das Blaue Zimmer ist immer für meine Schwester reserviert, und wir wollten sie nicht umquartieren …“

Lensborough hatte sich gefragt, warum man ihn nicht einfach gebeten hatte, seinen Besuch zu verschieben, statt ihn hier mit all den Leuten zusammenzupferchen, auf deren Bekanntschaft er keinerlei Wert legte. Hörbar verärgert hatte er gesagt: „Ich hoffe, wir haben Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereitet, Sir Thomas.“

Sir Thomas hatte geschnaubt. „Mir bestimmt nicht. Es ist Hester, die den Haushalt führt und an der die ganze Mühe hängen bleibt. Ich habe jedenfalls nicht vor, von meinen Plänen für diese Woche auch nur um ein Iota abzuweichen, weil Sie hier sind. Ich habe beschlossen, mich nicht an Ihrer Selbsteinladung zu stören, Mylord. Sie sind hier, um sich ein Bild von meinen Töchtern zu machen – nun gut. Wir sind keine vornehmen Leute, und wir werden uns Ihnen zuliebe nicht verstellen.“

„Verstehe ich Sie richtig“, hatte Lensborough nachgehakt, „dass Sie mein Interesse an Ihren Töchtern missbilligen?“

Der Gastgeber hatte die Schultern hochgezogen. „Meine Meinung tut nichts zur Sache. Die beiden wollen es nun mal … Wenigstens sind Sie nicht so alt, wie ich dachte. Wie alt genau?“

„Achtundzwanzig.“

„Und in guter körperlicher Verfassung, wie ich sehe.“ Wohlwollend hatte er Lord Lensboroughs breite Schultern, den flachen Bauch unter der edlen, dezenten Weste und die muskulösen Beine in den eng anliegenden Kniehosen und den schwarzen Seidenstrümpfen gemustert.

„Ach, nun schmollen Sie mal nicht“, hatte Sir Thomas angesichts Lord Lensboroughs gerunzelter Stirn ausgerufen. „Wenn Sie mein Schwiegersohn werden wollen, müssen Sie sich an meine unverblümte Art gewöhnen. Ich gehöre nicht zu den Kerlen, die einem Mann ins Gesicht lächeln und dann hinter seinem Rücken schlecht über ihn reden. Bei mir wissen Sie immer, woran Sie sind.“

„Und? Wie fällt Ihr Urteil aus, Sir?“

„Wie, zum Teufel, soll ich das jetzt schon wissen? Ich kenne Sie doch noch gar nicht.“

Mit diesen Worten war Sir Thomas davongestapft, sodass Stephen sich sein Grinsen nicht länger verkneifen musste.

„Scheint so, als würdest du in dieser Woche eine Menge neuer Erfahrungen machen, Lensborough.“

„Ja, so etwas wie Familie Gregory ist mir jedenfalls noch nie untergekommen“, knurrte er.

„Das Haus trägt auch zum Charme der Situation bei. All diese Nischen und Treppenhäuser und verwinkelten Gänge zu vergessenen Zimmern, die schon ewig niemand mehr betreten hat …“

„Außer uns, die wir darin schlafen sollen. Hast du den Schimmelgeruch in den Fluren bemerkt? The Holme ist wie ein Kaninchenbau; seit den Normannen hat offenbar jede Generation nach Gutdünken und nach dem jeweiligen Zeitgeschmack etwas angebaut, ohne sich um den Gesamteindruck zu scheren.“

„Ach, komm. Es könnte keinen besseren Ort geben, um gleichzeitig zwei hübschen Mädchen den Hof zu machen.“

Lensborough warf einen düsteren Blick zum Sofa hinüber, auf dem die Schwestern in ihren geschmacklosen Provinzkleidern mit den tiefen Ausschnitten und den übertriebenen Puffärmeln saßen, Hand in Hand, und ihm aus ansonsten ausdruckslosen Gesichtern schmachtende Blicke zuwarfen. Er würde seine Mutter bitten müssen, seine Auserwählte ein bis zwei Wochen in der Brook Street zu beherbergen, bevor er sie in die Gesellschaft einführte. Eine Unbekannte zu heiraten war eine Sache – sich dem Verdacht auszusetzen, keinen Geschmack zu haben, eine ganz andere.

Die Mädchen würden sich bestimmt mit Begeisterung neu einkleiden lassen, dachte er. Aufgeregt flüsternd und hinter vorgehaltener Hand kichernd schienen sie bereits ihre Pläne zu schmieden. Er kam nicht umhin, ihre Unreife und Habsucht mit der königlichen Verachtung zu vergleichen, mit der ihn die Frau auf der Straße gestraft hatte. Diese sommersprossige Bettlerin hatte sich von seinem Stand nicht blenden lassen. Sie hatte offen ausgesprochen, was sie von seinem Benehmen hielt, weil sie nichts von ihm wollte – außer dass er sie am Leben ließ.

Es lief ihm kalt den Rücken hinunter. Hatte er sich überhaupt bei ihr entschuldigt? Sein Kammerdiener würde sicher die richtigen Worte finden, wenn er sie ausfindig machte, aber lieber hätte er selbst beobachtet, wie die Verachtung in diesen moosgrünen Augen der Freude über die Entschädigung wich. Solche Augen hatte er überhaupt noch nie gesehen: In dem schmalen Gesicht hatten sie riesig gewirkt, und das Grünbraun, in dem sich ihre Angst gespiegelt hatte, war einem leuchtenden Bernsteinton gewichen, sobald sie wütend geworden war. Dieser Anblick würde ihn bis ans Ende seiner Tage verfolgen, wenn er nichts dagegen unternahm. Selbst jetzt meinte er aus dem Augenwinkel ihre magere, in ein reizloses Kleid gehüllte Gestalt und ihr blasses, von rotem Haar umrahmtes Gesicht wahrzunehmen.

Allmächtiger! Da stand sie wirklich und runzelte die Stirn. Er musste sich am Kaminsims festhalten. Was tat diese Bettlerin im Hause seiner Gastgeber?

Sir Thomas kam an seine Seite. „Endlich können wir dinieren; Hester ist wieder aufgetaucht. Weiß der Himmel, wo sie gesteckt hat.“ Demonstrativ zog er seine Taschenuhr hervor. Die rothaarige Frau, der diese Geste nicht entging, errötete und senkte das Haupt.

„Hester, komm doch bitte einmal“, rief Sir Thomas. Durch seine laute Stimme auf ihre Ankunft aufmerksam geworden, eilten sofort sämtliche Kinder zu der Frau hinüber, die sich zu ihnen niederbeugte und versuchte, so viele wie möglich auf einmal zu umarmen. Sir Thomas seufzte. „Ich muss mich entschuldigen, Mylord. Hester ist so verrückt nach Kindern, dass sie darüber jedes Benehmen vergisst. Aber das hat auch sein Gutes: Wenn die Kleinen gleich mit uns zu Tisch sitzen, wird Hester dafür sorgen, dass sie nicht stören. Sie versteht es stets, die Kleinen zu fesseln. Wie man sieht, lieben sie sie heiß und innig.“

„Hester?“ Also war sie keine Bettlerin, sondern eine Bedienstete – und zwar, wie er sich mit wiederaufflammender Wut vergegenwärtigte, jene Bedienstete, die Stephen und ihn im baufälligsten Winkel des Hauses untergebracht hatte. Die niemals vor seine Pferde geraten wäre, hätte sie hier ihre Pflicht getan. Und die zweifellos genau gewusst hatte, auf wen sie da draußen auf der Gasse zeternd und Feuer speiend losgegangen war.

Sir Thomas brummte ungeduldig und ging zu Hester hinüber, da sie keine Anstalten machte, sich von den Kindern zu lösen. Mit zusammengekniffenen Augen sah Lensborough, wie die offene Freude über das Willkommen der Kinder einem störrischen Blick wich, als Sir Thomas sie am Arm nahm und in Richtung des Kamins führte. Dieser Mann wollte ihm offenbar tatsächlich noch eine Bedienstete vorstellen …

Hesters Wangen glühten. Ihr Versuch, unbemerkt in den Salon zu schlüpfen, um ihre Verspätung zu kaschieren, war misslungen. Ehe sie sich versehen hatte, war im Zigeunerlager die Dämmerung angebrochen. Sie hatte sich nur rasch die Hände und das Gesicht waschen und das erstbeste saubere Kleid überstreifen können. Zum Waschen der Haare, denen man das unfreiwillige Bad im Graben deutlich ansah, hatte die Zeit nicht gereicht, und so hatte sie nur einige besonders verfilzte Stellen mit der Nagelschere herausgeschnitten und den Rest hochgesteckt.

Jetzt schlug ihr das Herz bis zum Hals, denn ihre Hoffnung, Lord Lensborough werde sie nicht wiedererkennen, da Pferde ihm wichtiger waren als Menschen, war durch den ersten Blick aus seinen rabenschwarzen Augen zunichte gemacht worden. Seine zuckenden Nasenflügel und die verengten Augen verrieten seine Entrüstung darüber, dass sie es wagte, dieselbe Luft zu atmen wie er. Und jetzt hatte Onkel Thomas sie auch noch ihres menschlichen Schutzschildes beraubt und sie zu ihm gezerrt. Warum wollte er sie unbedingt miteinander bekannt machen? Sie hatte ihm doch immer wieder erklärt, dass sie sich im Hintergrund um alles kümmern und ihren Cousinen die Konversation überlassen wollte!

„Lord Lensborough, meine Nichte, Lady Hester Cuerden.“ Onkel Thomas ließ ihren Ellbogen los.

Also war er es wirklich. Hatte sie Emily nicht gleich gesagt, dass der schwarzhaarige, missgelaunte Mensch auf dem Kutschbock jener Pascha sein musste, der wie auf einem Sklavenmarkt mit dem Finger auf eine ihrer Cousinen zeigen würde? Es war ihr unangenehm, so dicht vor ihm zu stehen, aber einen Schritt zurückzutreten wäre einer eingestandenen Niederlage gleichgekommen.

„Ihre Nichte?“ Sein ungläubiger, verwirrter Tonfall gab Hester eine gewisse Befriedigung. Wahrscheinlich kam es nicht alle Tage vor, dass seine Opfer sich in einen anständigen Salon verirrten, um ihn an seine Missetaten zu erinnern!

Die Furchen in Lensboroughs Stirn vertieften sich. Nun gut, diese Frau war also keine Bedienstete, sondern ein Familienmitglied. Aber Lady Hester?! Als sie sich aus dem Graben befreit hatte, war es ihm trotz ihrer klaren, dialektfreien Aussprache keinen Augenblick in den Sinn gekommen, dass sie ein Mitglied der besseren Gesellschaft sein könnte, denn ihre Kleider hatten wirklich schrecklich ausgesehen. Eine Dame würde niemals im Aufzug einer Bettlerin aus dem Haus gehen; sogar in der größten Not würde sie noch versuchen, aus den vorhandenen Mitteln das Beste zu machen. Er ließ seinen Blick erst über das schlammbraune Abendkleid wandern, das wie ein Sack von ihren schmalen Schultern hing, und dann über ihren Scheitel, den sie ihm präsentierte, da sie konsequent den Teppich vor seinen Füßen fixierte. Zwischen den kupferfarbenen Locken ragten kleine grüne Zacken hervor. Offenbar hatte sie keine Zeit gefunden, sich das veralgte Grabenwasser aus dem Haar zu spülen. Stattdessen schien sie die schlimmsten Stellen herausgeschnitten, den Rest hastig mit allen möglichen Kämmen hochgesteckt und sich das erstbeste Kleid übergestreift zu haben.

„Ich dachte, Sie wären die Haushälterin“, brachte er heraus.

Der Kopf schnellte hoch, und sie maßen sich mit feindseligen Blicken.

„Ach ja, das entschuldigt natürlich alles, nicht wahr?“, erwiderte sie gepresst.

Da ihr Onkel unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat, verkniff sie sich weitere Bemerkungen. Sie durfte ihre Familie nicht kompromittieren. Um sich zu beruhigen, fixierte sie den Stein seiner Krawattennadel – bezeichnenderweise kein Diamant oder Rubin, sondern ein schlichtes Tigerauge. Wenn man beim niederen Landadel zu Besuch war, taten es offenbar auch Halbedelsteine, selbst wenn man einer der reichsten Männer Englands war. Mit seinem ganzen Auftreten brachte er die Verachtung zum Ausdruck, die er für seine potenziellen Bräute übrig hatte – von dem barschen Ton seiner Briefe bis hin zur Wahl des Schmucks.

„Ja, also …“ Ihrem Onkel war das eisige Schweigen offenbar unangenehm. „Hester ist eine unschätzbare Hilfe für ihre Tante, vor allem, wenn das Haus so viele Gäste auf einmal beherbergt.“

Stephen sprang ihm bei: „Wie ich hörte, haben wir Ihnen unsere charmanten Unterkünfte zu verdanken, Lady Hester?“

Zu Lensboroughs Erstaunen versetzte Sir Thomas seiner Nichte einen regelrechten Schubs, sodass sie vor Stephen Farrar landete, und stellte sie einander vor. Dass sie immer wieder die Hände ballte, verriet ihm, wie wütend sie noch war. Nun gut, sie hatte sich aus seinem Mund auch einiges anhören müssen, was nicht für das Ohr eine Dame bestimmt war – aber das gab ihr noch nicht das Recht, ihn so abzufertigen!

„Ich bin entzückt.“ Stephen setzte zu einem Handkuss an – dem obligatorischen Eröffnungszug der Charmeoffensive, die er gegenüber jedem Mitglied des zarten Geschlechts abspulte, ungeachtet des jeweiligen Alters oder Aussehens.

Lady Hester versteckte ihre Hände hinter dem Rücken, bevor er auch nur die Lippen spitzen konnte, und trat so abrupt zurück, dass sie sicher das Gleichgewicht verloren hätte, wenn nicht Sir Thomas’ verheiratete älteste Tochter Henrietta ihr just in diesem Moment einen Arm um die Taille gelegt hätte.

„Setz dich zu mir, Hester“, bat die hochschwangere Frau. „Verzeihen Sie, meine Herren: Wir haben uns so viel zu erzählen. Weißt du, Liebes, Barny zahnt schon wieder …“

Während Henrietta ihre jüngere Schwester fortführte, sah Sir Thomas abwechselnd Stephen Farrar und Lord Lensborough an, als erwarte er einen Kommentar über das rüde Verhalten seiner Nichte.

„Ja, sie ist gewöhnungsbedürftig“, gab er ungefragt zu. „Aber nicht mit Gold aufzuwiegen.“ Er räusperte sich. „Da nun alle versammelt sind, sollten wir den Speisesaal aufsuchen. Sie, Lord Lensborough, werden meine Schwester begleiten. Lady Valeria hat unter unseren Damen den höchsten Rang.“ Dann winkte er die ehrwürdige Dame herbei.

Stephen nutzte die Gelegenheit, seinem Freund ins Ohr zu flüstern: „Das wird ja immer besser. Wir sind in einem verfallenden Labyrinth zu Gast, dessen Bewohner sich gegenseitig an Exzentrik überbieten. Und ich fürchtete schon, mich zu langweilen, während du dieses Arrangement festklopfst, das du leichtsinnigerweise Vernunftehe nennst.“

„Und ich hätte mir nie träumen lassen“, schlug Lensborough zurück, „einmal eine Frau so panisch vor deiner geschmacklosen Weste zurückzucken zu sehen.“

„Das hast du falsch gedeutet.“ Stephen strich über die kirschrot gestreifte Seide. „Es war die Begegnung mit einem leibhaftigen Marquis, die Lady Hester die Nerven geraubt hat. Kaum hattest du bei ihrem Anblick die linke Braue hochgezogen, ging das große Zittern los.“

Der große Saal, in den die ganze Gesellschaft nun hinüberging, war Lady Moulton zufolge die Halle eines sächsischen Gefolgsadeligen gewesen, um die herum die Gregorys nach und nach ihren Stammsitz errichtet hatten. Der Raum sah tatsächlich aus, als wäre er lange vor der normannischen Invasion errichtet worden. Die nackten Dachbalken, die einem das Gefühl gaben, in einer riesigen Scheune zu sitzen, waren vom Alter geschwärzt, die Steinfliesen uneben, und die massive Eichentür sah aus, als könnte sie immer noch einer Invasionsarmee standhalten. Die unterteilten Fenster wurden von Rüstungen flankiert, die lange, klobige Tafel hätte ins Refektorium eines Klosters gepasst, und Lord Lensborough entging nicht, dass alle Kinder, die an ihr Platz nahmen, mit großen Augen das üppige Arsenal altertümlicher Waffen an den Wänden bestaunten – von Breitschwertern bis zu schartigen Streitäxten.

Lady Moulton führte ihn zu einem Platz nahe am Kopf der Tafel, der dem lodernden Feuer näher lag, als ihm lieb war. Doch seine Befürchtung erwies sich als unberechtigt: Der Kamin war zwar groß genug, um einen ganzen Ochsen darin zu grillen – was wahrscheinlich oft genug geschehen war. Aber die Hitze der Flammen wurde sofort von der Kaltluft fortgetragen, die durch die gesprungenen Fensterscheiben und die breiten Türschlitze hereinwehte. Der Zug ließ die verblichenen Banner flattern, die von der Spielmannsempore herabhingen.

Julia und Phoebe, die ihm gegenüber zu beiden Seiten Stephens Platz genommen hatten, bekamen sofort eine höchst unvorteilhafte Gänsehaut. Sogar er in seinem Seidenhemd und dem Rock aus feinster Wolle war dankbar für die wärmende würzige Zwiebelsuppe, die als erster Gang serviert wurde. Währen die Diener die Suppenschüsseln abtrugen, revidierte er sein Urteil über Lady Hesters Garderobe: Da sie mit den Kindern und Kindermädchen am anderen Ende der Tafel saß, an dem nahezu arktische Bedingungen herrschen mussten, war ein hoch geschlossenes Wollkleid sicher eine kluge Wahl. Gedankenverloren zog sie das farblich passende Schultertuch fest und verknotete die Enden hinter ihrer Taille, die kaum dicker sein durfte als einer seiner Oberschenkel.

„Sie kann fantastisch mit Kindern umgehen“, bemerkte Lady Moulton, die seinem Blick gefolgt war. „Umso trauriger.“

„Bitte?“ Zum ersten Mal ließ eine Äußerung seiner überaus gesprächigen Tischdame ihn aufhorchen.

„Nun, es ist doch bedauerlich, dass sie wahrscheinlich nie eigene Kinder haben wird.“ Sie sah ihn an, als wäre er geistig minderbemittelt.

Er zog fragend die Braue hoch, um Lady Moulton zu einer Erläuterung zu ermutigen. Sobald die Lakaien die Platten mit allerlei Braten, gefüllten Pasteten und Gemüse der Saison abgesetzt hatten, fuhr sie fort: „Es muss Ihnen doch aufgefallen sein, als sie Ihnen und Ihrem charmanten jungen Freund vorgestellt wurde.“ Sie schnalzte mit der Zunge, während er ihr eine Scheibe von der Hammelfleischpastete abschnitt. „Es ist immer dasselbe, wenn man sie unverheirateten Männern vorstellt. Ihre Saison war natürlich eine Katastrophe, so schüchtern, wie sie ist.“

Er ließ sein Messer in eine Sauciere mit Béchamelsoße fallen. Schüchtern? Diese gluthaarige Furie, die – kaum dem Graben entstiegen – wie ein Rohrspatz geschimpft hatte, während er die Pferde zu beruhigen versuchte? Nicht Scheu, sondern Zorn hatte sie vorhin im Salon verstummen lassen, als sie einander vorgestellt worden waren. Zorn und schlechte Manieren.

„Sie hat gleichzeitig mit Sir Thomas’ Ältester debütiert, meiner Nichte Henrietta.“ Lady Moulton zeigte mit der Gabel auf die Schwangere. „Um Kosten zu sparen, wissen Sie. Henrietta wurde Mrs. Davenport …“, sie richtete die Zinken auf den rotwangigen jungen Mann auf dem nächsten Platz, „… aber Hester hat sich völlig unmöglich gemacht.“ Sie beugte sich zu ihm hinüber und senkte die Stimme. „Ist auf Lady Jesboroughs Ball tränenüberströmt aus dem Saal gestürmt, zur allgemeinen Belustigung. Sie ist in London geblieben, aber kaum noch in Erscheinung getreten. Hat sich …“, Lady Moulton schüttelte sich, „… der Wohltätigkeit gewidmet. Seit sie wieder in Yorkshire ist, macht sie sich hier im Hause sehr nützlich, keine Frage. Aber sie wird wohl nie einen Mann finden. Bedauernswertes Mädchen.“

Aha. Lady Hester war offenbar eines jener Geschöpfe, die es am Rande selbst der besten Familien gab: eine arme Verwandte. Alles passte zusammen: die schäbige Kleidung, ihre Rolle als unbezahlte Haushälterin … Sie war ganz auf die Generosität ihres Onkels und ihrer Tante angewiesen. Und wie dankte sie es ihnen? Als sie das verarmte Mädchen auf eigene Kosten als Debütantin in die Gesellschaft einführten, hatte sie durch ihre Launenhaftigkeit jede Chance vertan. Genau, wie sie sich heute als unzuverlässig erwiesen hatte, indem sie sich draußen herumgetrieben hatte, anstatt hier die Gäste in Empfang zu nehmen.

„Ich hoffe nur, Mylord, das Sie ihr seltsames Betragen nicht ihren Cousinen anlasten. Ich kann ihnen versichern, dass die beiden völlig unkompliziert sind.“

Er warf einen flüchtigen Blick auf die andere Seite der Tafel und erntete sofort hoffnungsfrohes Lächeln. Unwahrscheinlich, das diese beiden je zur Mode-Avantgarde gehören würden, aber seiner Mutter würde es mühelos gelingen, eine von ihnen vorzeigbar zu machen.

Lady Hester hingegen würde nie gesellschaftsfähig werden. Sie benahm sich unmöglich und dankte ihrer Familie ihre Großherzigkeit nicht im Geringsten. Doch er hatte keinen Grund, noch weitere Gedanken an eine Frau zu verschwenden, die er die Woche über vermutlich kaum zu Gesicht bekommen würde. Sir Thomas hatte betont, dass nur am ersten Abend des traditionellen Familientreffens wirklich alle Gäste verpflichtet waren, auf gleicher Ebene miteinander zu verkehren. Er sah erneut zu ihr hinüber und musste feststellen, dass sie ihm ebenfalls gerade einen Giftblick zuwarf. Errötend wandte sie sich wieder dem Kalbfleisch zu, das sie für das goldlockige Engelchen an ihrer Seite mundgerecht zerteilte.

Während er sich noch an der Aussicht labte, ab morgen früh von allen Dienern, armen Verwandten und Kindern in Ruhe gelassen zu werden, tauchte an ihrer anderen Seite ein sommersprossiger Junge auf und drängte sie: „Erzähl uns was über den Spieß, Tante Hetty!“

„Ach je“, murmelte Lady Moulton und griff nach ihrem Weinglas.

„Ja, den Spieß, den Spieß!“, forderten zwei weitere Jungen und hüpften auf der Bank auf und nieder.

Hester sah ihren Onkel fragend an, der sein Glas hob, um ihr seinen Segen zu geben.

„Also“, hub sie an. „Es gab einst einen Ritter in den Diensten von Sir Mortimer Gregory, im Jahre 1485 …“

Lady Moulton wandte sich ihrem Bruder zu. „Müssen wir uns diese blutrünstige Geschichte anhören, während wir essen, Tom? Sie dämpft meinen Appetit.“

Autor

Annie Burrows
Annie Burrows wurde in Suffolk, England, geboren als Tochter von Eltern, die viel lasen und das Haus voller Bücher hatten. Schon als Mädchen dachte sie sich auf ihrem langen Schulweg oder wenn sie krank im Bett lag, Geschichten aus. Ihre Liebe zu Historischem entdeckte sie in den Herrenhäusern, die sie...
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Annie Burrows
Annie Burrows wurde in Suffolk, England, geboren als Tochter von Eltern, die viel lasen und das Haus voller Bücher hatten. Schon als Mädchen dachte sie sich auf ihrem langen Schulweg oder wenn sie krank im Bett lag, Geschichten aus. Ihre Liebe zu Historischem entdeckte sie in den Herrenhäusern, die sie...
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