Süsse Herzensbrecherin

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Ein Schuss streckt Lord William vom Pferd! Glücklicherweise kommt in diesem Moment die ebenso hübsche wie engagierte Cassandra vorbeigeritten und bringt ihn ins Spital. Fortan kann der Lord nur noch an seine süße Retterin denken. Beim nächsten Ball bittet er Cassandra um einen Tanz - nicht ahnend, welch aufregendes Abenteuer zwischen Liebe und Gefahr für sie beide beginnen wird, noch bevor die Nacht vorüber ist ...


  • Erscheinungstag 13.04.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733766788
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL
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1813

William Lampard, Earl of Carlow, hatte es von jeher sehr genossen, bei Morgengrauen durch den menschenleeren Green Park zu sprengen, und auch an diesem Tag versetzte ihn der scharfe Galopp in einen regelrechten Rauschzustand. Eine schwache Brise löste den frühmorgendlichen Nebel auf, und vor ihm erstreckte sich der Park in graugrünen und braunen Farbtönen, die mit den ersten Sonnenstrahlen allmählich von goldenen Sprenkeln durchsetzt wurden. Die Vögel in den Bäumen erwachten, und leises Gezwitscher hallte über die Wiesen. In diesen wenigen Minuten, in denen William den Weg hinaufpreschte, gab es nur ihn und sein Pferd – keine Pflichten oder Erwartungen, die er zu erfüllen hatte, nur die Unbekümmertheit des Moments.

Er zügelte den Wallach zu einem ruhigeren Trab und strebte, den schmalen Weg verlassend, zu einer Baumgruppe hinüber. Wie gut es sich anfühlte, wieder in London zu sein, nachdem er diese drei Jahre in Spanien gewesen war! William hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als plötzlich ein Schuss der Unbeschwertheit seines morgendlichen Ausritts ein jähes Ende bereitete. Er verspürte einen sengenden Schmerz, als das Geschoss in seine Schulter eindrang, dann begann sich alles um ihn zu drehen. Im nächsten Augenblick stürzte er aus dem Sattel und fiel ins taufeuchte Gras, hinab in ein schwarzes Nichts. Die Welt um ihn stand still.

Cassandra Greenwood war an diesem Morgen früher als üblich aufgebrochen, um nach Soho zu gelangen, wo sie arbeitete, und hatte die Strecke durch den Park gewählt. Ihre Chaise bog gerade auf den Hauptweg ein, als ein Schuss durch die Luft knallte. Cassandra schrak zusammen, dann spähte sie vorsichtig aus dem Fenster. Sie sah, wie etwa eine Viertelmeile voraus ein Reiter durch das Unterholz brach und davongaloppierte, als sei der Leibhaftige hinter ihm her.

„Spornen Sie die Pferde an, und halten Sie bei der Stelle, an der der Mann aus dem Wald gekommen ist“, befahl sie ihrem Kutscher Clem. Da der Green Park zu dieser frühen Stunde häufig als Austragungsort fragwürdiger Ehrenhändel diente, wollte sie herausfinden, ob jemand verletzt worden war.

Clem und sie mussten nur wenige Schritte durch das Unterholz zurücklegen, dann gelangten sie auf eine Lichtung und erblickten den am Boden liegenden Verletzten. Der Kutscher ging neben dem reglosen Körper in die Hocke und drehte ihn auf den Rücken.

„Er lebt noch, Miss, Gott sei Dank.“

Allmählich kam William zur Besinnung. Wie durch einen Dunstschleier nahm er die junge Frau in dem dunkelgrauen Mantel wahr, die neben ihm kniete. Hinter ihr war ein stämmiger Mann damit beschäftigt, den verängstigten Wallach zu beruhigen. Ein dumpfes Hämmern in seinem Kopf drängte sich in Williams Bewusstsein, genau wie der pochende Schmerz in seiner Schulter.

Der Angeschossene hatte die Augen geöffnet. Sie waren von einem ungewöhnlich klaren Blau, wie Cassandra feststellte. Unter anderen Umständen mussten diese Augen vor Lebenslust und Leidenschaftlichkeit sprühen, doch im Moment erinnerten sie an einen fernen Ozean, über den gerade ein Sommersturm hinwegzog. „Ich bin froh, dass Sie noch unter uns weilen“, sagte sie mit ihrer kultivierten, ruhigen Stimme und neigte anmutig den Kopf zur Seite, sodass die Krempe ihrer Schute ihr Antlitz beschattete. „Man hat auf Sie geschossen. Wollen wir hoffen, dass Sie nicht ernsthaft verletzt sind.“

Ein wenig schief erwiderte William das ermutigende Lächeln, das ihren letzten Satz begleitet hatte, und versuchte sich aufzusetzen, um ihre Befürchtungen zu zerstreuen. Doch der Schmerz in der Schulter wurde so stechend, dass er zusammenfuhr, die Augen schloss und sich zurückfallen ließ. Ohne zu zögern, knöpfte sie seinen blutgetränkten Reitrock auf, löste das tadellos gebundene Krawattentuch und schob sein Hemd zur Seite, um das Einschussloch mit nonnenhaft unbewegter Miene zu betrachten, als sei sie an den Anblick derartiger Verletzungen gewöhnt.

Sie griff in ihr Retikül und zog ein fein zusammengefaltetes Taschentuch daraus hervor. Mit ihren schlanken Fingern presste sie es auf die Wunde, um die Blutung zu stoppen.

„Sie versorgen nicht zum ersten Mal einen Verletzten.“ Die tiefe Stimme des Fremden erzeugte Cassandra ein seltsames Gefühl in der Magengegend.

„Das stimmt“, gab sie zu. „Meine Patienten werden allerdings nicht angeschossen und sind deutlich jünger als Sie.“ Sie betrachtete die Garderobe des Fremden, die ausgesprochen elegant und aus feinem, teurem Tuch gefertigt war. Nur einer der vornehmsten Schneider des Londoner ton konnte ihn ausgestattet haben.

Durch den Sturz war sein dichtes dunkelbraunes Haar gehörig in Unordnung geraten. Es bedeckte seine hohe Stirn und streifte den Kragen seines Reitrocks. Er muss um die dreißig Jahre alt sein, überlegte Cassandra und musterte sein unverschämt hübsches Gesicht. Es hatte ebenmäßige Züge, die eine gewisse Rücksichtslosigkeit verrieten. Seine Nase war gerade, sein Kinn kantig, die dunklen Brauen besaßen einen perfekten Schwung und sein Mund einen entschlossenen Zug, der fast sinnlich anmutete. Der junge Mann bot die Erscheinung eines eleganten Aristokraten, der Macht gleichermaßen ausstrahlte wie Stärke.

Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Blutung zum Stillstand gekommen war, sah sie ihm wieder in die Augen. „Ich denke, Sie werden überleben. Sie haben keine schwere Verletzung davongetragen – höchstens Ihr Stolz, würde ich meinen.“ Sie seufzte. „Wann werden Gentlemen wie Sie endlich lernen, Ihre Zwiste zivilisierter auszutragen? Ein Duell ist mit Sicherheit keine Lösung.“ Ohne William die Möglichkeit einzuräumen, sich zu rechtfertigen, erhob sie sich. „Kommen Sie, versuchen Sie aufzustehen. Sie sollten einen Arzt aufsuchen, damit er sich Ihre Schulter ansieht.“

„Das ist nicht nötig. Wenn Sie Ihren Kutscher bitten würden, mir mein Pferd zu bringen, mache ich mich gleich auf den Heimweg.“

„Die Kugel steckt noch in Ihrer Schulter. Sie muss entfernt und die Wunde ordentlich versorgt werden.“ William wollte protestieren, doch es entfuhr ihm lediglich ein Krächzen, und als er versuchte sich zu bewegen, versagten ihm seine Glieder den Dienst. Cassandra warf ihm einen verärgerten Blick zu. „Keine Diskussion. In Ihrem Zustand können Sie es sich nicht erlauben zu widersprechen.“ Sie wandte sich Clem zu. „Helfen Sie mir, Mr. …“

„Captain. Ich bin Captain William Lampard.“

„Oh!“

Ein sonderbar abwehrender Ausdruck huschte über ihr Gesicht. Sie musterte ihn prüfend und wirkte zunächst beinahe scheu, dann bedachte sie ihn mit einem ausgesprochen kühlen Blick, als hege sie eine tiefe Abneigung gegen ihn.

„Sie haben von mir gehört?“, fragte er neugierig.

„Ja“, erwiderte sie fest. „Obwohl Sie besser bekannt sind unter dem Namen Lord Carlow.“

Cassandra hatte viel von Lord Carlow gehört. Er war ein arroganter Peer, der zu glauben schien, er könne tun, was er wolle und mit wem es ihm gerade beliebte. Seit Jahren gab es Gerüchte, die ihn mit jeder hübschen Frau in London in Verbindung brachten. Die Skandale um seine Person waren infam. Wann immer er Fronturlaub hatte und seinem Regiment fernblieb, war er Tagesgespräch im Londoner ton, und jede junge Dame, die etwas auf ihren guten Ruf hielt, ging ihm tunlichst aus dem Weg. Und das Gleiche galt für seinen Vetter Sir Edward, der, so hatte Cassandra entschieden, dieselben Charaktereigenschaften zu erkennen gab. Oder war der junge Mann nicht etwa im Begriff gewesen, ihre eigene Schwester zu kompromittieren – die ihn obendrein hätte gewähren lassen, wenn es nach ihr gegangen wäre?

„Sie sind erst kürzlich zurückgekehrt, wie ich hörte?“ Sie war freundlich, indes zurückhaltender als zuvor.

„Aus Spanien.“

„Nun, ich hätte mir denken können, dass Sie der Kämpfe überdrüssig geworden sind“, bemerkte sie in überheblichem Ton. „Bei den Annehmlichkeiten, die Sie in London erwarten.“

William musste sich daran hindern, ob ihrer spitzzüngigen Antwort zu schmunzeln. „Davon habe ich tatsächlich mehr als genug“, erwiderte er ruhig. „Und ich schließe aus Ihren Worten, dass mir mein Ruf vorausgeeilt ist. Seien Sie jedoch versichert, dass dieser mehr auf Gerüchten und Wunschträumen beruht als auf Tatsachen.“

„Wenn Sie es sagen, Captain Lampard. Doch das geht mich nichts an.“

„Würden Sie es für impertinent halten, wenn ich Sie nach Ihrem Namen frage?“

„Nicht im Geringsten. Ich heiße Cassandra Greenwood.“

„Miss Greenwood, ich bin hocherfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen – und dankbar, dass Sie zur rechten Zeit des Weges kamen.“

Zögernd hob Cassandra eine Braue und lächelte amüsiert. „Das sollten Sie auch sein. Aber jetzt kommen Sie. Ich werde Dr. Brookes bitten, einen Blick auf Ihre Wunde zu werfen.“

„Dr. Brookes?“

„Er ist Arzt im St. Bartholomew-Hospital. Er pflegt in unser Institut zu kommen, wenn ich seine Hilfe brauche. Wir sind heute Vormittag verabredet, weswegen Sie mich zu dieser frühen Stunde im Park antreffen. Keine Sorge, ich vertraue vollkommen in seine Fähigkeiten. Ehe Sie es sich versehen, wird er Sie wiederhergestellt haben.“

Als William gewahrte, wie sie das Kinn vorreckte und ihn mit unnachgiebiger Entschlossenheit ansah, war es an ihm, amüsiert die Braue zu heben. „Ich sehe, Sie haben nicht die Absicht, sich umstimmen zu lassen.“

„Richtig, Sir. Wenn Dr. Brookes Sie versorgt hat, wird Clem Sie mit der Kutsche zum Grosvenor Square bringen.“

William warf der jungen Frau einen verdutzten Blick zu. „Sie wissen, wo ich wohne?“

„Oh ja, Captain Lampard, und ich weiß noch einiges mehr“, gab sie mit sanfter Stimme zurück, worauf er verwirrt die Stirn in Falten legte. „Doch diesen Punkt werden wir jetzt nicht vertiefen. Es wäre nicht ratsam, wenn Sie mit Ihrer Verletzung hinter uns herritten. Schließlich könnten Sie ein zweites Mal die Besinnung verlieren, vom Pferd fallen und sich ernstere Blessuren zuziehen, die Sie dann für längere Zeit außer Gefecht setzen würden.“

„Gott behüte!“, erwiderte William trocken.

Sie nickte ernst. „Nachdem man Ihre Rückkehr aus Spanien so sehnsüchtig erwartet hat, wäre es ungünstig, wenn Sie das Bett hüten müssten. Schließlich bestünde die Möglichkeit, dass die eine oder andere Dame aus der Schar Ihrer Verehrerinnen sich von Ihnen abwendet. Kommen Sie jetzt. Schauen Sie, ob Sie stehen können.“ Wie gern hätte sie ihm schnurstracks in den Sattel seines Pferdes geholfen und ihn nach Hause geschickt, doch ihn allein seines fragwürdigen Rufs wegen so zu behandeln wäre ihr feige vorgekommen.

Beeindruckt von ihrer Tüchtigkeit und dem gebieterischen Ton, den sie an den Tag legte, bemühte William sich, auf die Beine zu kommen, aber die Schwäche in seinen Gliedern hinderte ihn daran, ihrem Wunsch Folge zu leisten.

Clem sah sich den kläglichen Anblick, den Lord Carlow bot, nicht lange an. Kurzerhand schritt er auf ihn zu, zog ihn auf die Füße und legte sich seinen Arm um die Schultern, um ihn schnurstracks in Miss Greenwoods Chaise zu verfrachten. Er half Cassandra beim Einsteigen und band das reiterlose Pferd am Heck fest. Dann kletterte er auf den Kutschbock und fuhr los.

Sie verließen den Park in Richtung Soho, dem Viertel, wo Armut und Krankheit Hand in Hand gingen, und steuerten ein düster wirkendes Gebäude an, vor dessen Eingang unterernährte Kinder mit schmalen Gesichtern und übergroßen Augen herumlungerten.

Clem brachte den Zweispänner vor dem Eingang zum Halten und half Lord Carlow aus der Kutsche. Miss Greenwood ging den beiden Männern voraus in das Gebäude. Sie führte sie in einen Raum und zu einem schmalen Bett, auf das der Kutscher den Captain herunterließ.

William sank auf die Matratze und atmete tief, um bei Bewusstsein zu bleiben. Verschwommen gewahrte er, dass irgendwelche Gestalten sich in dem Raum bewegten. Er drehte den Kopf zur Seite und erblickte ein weiteres schmales Bett. Der Junge, der darin lag, konnte nicht älter als sieben Jahre sein. Er wimmerte im Schlaf. Seine dünnen, langen Beine ragten unter der Decke hervor, und William sah, dass beide Füße bandagiert waren. Die Gesichtsfarbe des Kindes wirkte ungesund grau, und sein Hals und die Arme waren schmutzig.

Er zwang sich, den Blick von dem bedauernswerten Geschöpf abzuwenden, und konzentrierte sich stattdessen auf das Krankenzimmer. Außer seinem und dem Bett des Knaben befanden sich noch drei weitere in dem Raum, der jedoch ansonsten spärlich und nüchtern möbliert war. Neben dem Herd, in dem ein munteres Feuer loderte, stand eine junge, weiß beschürzte Frau vor einem steinernen Waschbecken und wusch ab.

Plötzlich schob ihm jemand einen Arm unter die Schultern und hob ihn in eine halb sitzende Position.

„Trinken Sie.“ Miss Greenwood drückte ihm eine Tasse an die Lippen.

William tat wie ihm befohlen und trank in durstigen Schlucken. Dennoch war er dankbar, als er wieder auf das Kissen sinken durfte. „Wo zur Hölle haben Sie mich hingebracht?“, fragte er, ohne seine Neugier verhehlen zu können.

„Bitte fluchen Sie nicht“, schalt Cassandra. Sie hatte sich ihres Mantels entledigt und trug stattdessen eine schmucklose Schürze über dem Kleid. „Ich dulde keine unanständige Sprache in diesen vier Wänden. Sie befinden sich nicht in der Hölle, sondern im Krankenzimmer eines Hauses, das Not leidenden Kindern Zuflucht bietet.“

Williams Mundwinkel hoben sich leicht. „Es geschieht mir recht, dass Sie mich zurechtweisen. Ich wollte nicht respektlos sein.“

„Nun, dann hüten Sie Ihre Zunge, Captain Lampard, damit die Kinder Ihnen nicht etwas ablauschen – obwohl einige von ihnen zu meinem Bedauern gelegentlich Worte in den Mund nehmen, die vermutlich nicht einmal Sie kennen dürften. Ah, hier ist Dr. Brookes.“ Sie wich zurück, um einem gut aussehenden Mann, der Mitte vierzig sein mochte, Platz zu machen.

„Guten Tag, Lord Carlow.“ Der Arzt besaß eine forsche, fröhliche Art, die William nicht unangenehm war. „Ich habe nicht jeden Tag einen so vornehmen Patienten wie Sie, und erst recht keinen, der angeschossen wurde, wie ich höre.“

Dr. Brookes nahm die Wunde in Augenschein und runzelte die Stirn. „Das sieht ziemlich hässlich aus, und ich denke, wir machen uns besser gleich an die Arbeit, damit Sie mir nicht verbluten. Ich glaube nicht, dass die Kugel tief sitzt, daher sollte es nicht sonderlich schwierig sein, sie zu entfernen. Ich werde allerdings ein wenig nach ihr graben müssen. Können Sie das aushalten?“

„Lord Carlow ist erst kürzlich aus dem Spanienfeldzug zurückgekehrt, Dr. Brookes“, kam Cassandra einer Antwort Williams zuvor. „Er wird Schlimmeres erlebt haben als diese Blessur.“

„In Spanien waren Sie also“, versetzte der Arzt beeindruckt und half seinem Patienten, das Hemd auszuziehen. „Ich hätte mich auch gemeldet, wenn ich ein paar Jahre jünger gewesen wäre.“

„Es ist wahr, was Miss Greenwood sagt – ich habe im Krieg tatsächlich weit größeres Elend gesehen und erlebt, aber dies hier ist meine erste Schussverletzung. Also legen Sie los, Dr. Brookes.“ William sah zu Cassandra hoch, die inzwischen neben dem Arzt Stellung bezogen hatte. „Werden Sie bleiben und meine Hand halten, Miss Greenwood?“, fragte er mutwillig.

„Nein“, erwiderte sie steif. „Ich werde bleiben und Dr. Brookes assistieren.“

„Schade. Ich bin im Begriff, mein letztes bisschen Würde zu verlieren. Genießen Sie es, wenn Sie können, aber ich würde Ihnen den Rat geben, einen Schritt zurückzutreten.“ Mit Bestürzung beäugte William die lange Pinzette, die Dr. Brookes zur Hand genommen hatte. „Meine Gemütsverfassung wird in wenigen Augenblicken nicht mehr die beste sein.“

Cassandra antwortete nicht. Unbeirrt blieb sie an der Seite des Arztes stehen, als dieser sein Instrument ansetzte und sich an der Wunde zu schaffen machte.

William biss die Zähne zusammen. Der Schmerz war schier unerträglich. Zum Glück fand Dr. Brookes die Kugel nach wenigen Minuten und zog sie heraus.

„Da ist sie“, verkündete er zufrieden lächelnd und zeigte William das Geschoss. „Die Wunde ist sauber, also dürfte sie ohne Komplikationen verheilen. Allerdings sollten Sie Ihre Schulter eine Zeit lang schonen.“

„Vielen Dank für alles, was Sie für mich getan haben. Seien Sie versichert, dass ich mich erkenntlich zeigen werde.“

Dr. Brookes nickte und wandte sich zu Cassandra um. „Eine bescheidene Spende für dieses Haus käme gerade recht, ist es nicht so, Cassandra?“, sagte er und drehte sich wieder zu William. „Ihr Leibarzt sollte die Wundheilung kontrollieren. Wenn die Schmerzen zu stark werden, nehmen Sie ein wenig Laudanum. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich übergebe Sie den fähigen Händen von Miss Greenwood, denn ich muss mich beeilen – meine Patienten warten auf mich.“ Er warf noch einen Blick auf den Knaben, der sich im Schlaf unruhig hin und her warf, und befühlte dessen Stirn. „Ich sehe morgen wieder nach ihm.“ Er zögerte. „Wird Ihre Mutter auch hier sein, Cassandra?“

Cassandra senkte den Kopf, um ihr Lächeln zu verbergen. Sie wusste längst, dass nicht nur die Kinder Dr. Brookes immer wieder in das Institut führten. „Ja, so hat sie es geplant. Gegen Mittag dürfte sie eintreffen.“

Der Arzt nickte erfreut und eilte aus dem Zimmer.

Cassandra trat an Lord Carlows Bett, um seine Wunde zu verbinden. Insgeheim staunte sie, wie gefasst er die schmerzhafte Prozedur erduldet hatte.

„Können Sie sich aufsetzen?“

Er nickte und schwang die Beine über die Bettkante. Dann biss er die Zähne zusammen und brachte sich mit einem unterdrückten Schmerzenslaut in eine aufrechte Position.

„Was ist dem Jungen zugestoßen?“ Mit dem Kinn deutete er auf das Bett neben ihm. „Wer hat ihn so zugerichtet?“

„Das ist Archie“, antwortete sie und betrachtete den Knaben mit zärtlicher Miene. „Seine Mutter hat ihn für ein paar Shillinge an einen Schornsteinfegermeister verkauft. Armes Kerlchen.“

„Wie alt ist er?“

„Sechs. Kletterjungen wie er haben kaum eine Chance. Viele von ihnen sterben an Schwindsucht, und die meisten werden den Ruß höchstens dann einmal los, wenn sie in einen Platzregen geraten. Niemand ahnt, welchen Grausamkeiten diese Kinder ausgesetzt sind. Sie werden von ihren Meistern tyrannisiert und geschlagen; und damit sie sich ihre Knie und Ellbogen nicht ständig aufschürfen, wenn sie die dunklen Rauchfänge hinaufklettern, reiben sie diese Hautpartien mit Salzlauge ein, um sie abzuhärten. Doch oft dauert es Jahre, bis die Haut ledern wird – wenn die Kinder bis dahin nicht gestorben sind.“

„Und Archies Füße?“

„Die hat er sich verbrannt. Oft sind die Kaminfeuer nicht erloschen, wenn die Jungen in den Schacht geschickt werden.“

William schwieg. Was Miss Greenwood da erzählte, verstörte ihn. Als sie sich zu ihm umwandte, bemerkte er erschrocken, dass sie Tränen in den Augen hatte. Ihr Mienenspiel verriet große Anteilnahme für den Jungen.

„Er beschwert sich nicht, aber ich weiß, dass er schreckliche Schmerzen hat. Ich habe mir vorgenommen, ihm eine neue Stelle zu beschaffen, doch es wird Wochen dauern, bis er wieder auf den Beinen ist. Jedenfalls schicke ich ihn nicht zu dem Schornsteinfeger zurück, auch wenn es ein wenig schwierig sein wird, ihn woanders unterzubringen. Ihr Reitrock ist ruiniert, fürchte ich“, wechselte sie abrupt das Thema, hob das zu Boden gefallene Kleidungsstück auf und legte es ans Fußende des Bettes.

„Ich werde mir einen neuen anfertigen lassen.“

„Davon bin ich überzeugt.“ Sie lächelte und zwang sich, den Blick von seiner sonnengebräunten, muskulösen Brust abzuwenden und sich stattdessen auf die Schulter zu konzentrieren, deren Muskeln sich zusammenzogen, als sie damit begann, den Verband anzulegen. Der Duft von Seife und Sandelholz stieg ihr in die Nase, und sie spürte die Stärke, die von ihm ausging. Um sich von ihren verwirrenden Empfindungen abzulenken, hielt sie sich die zahlreichen skandalösen Geschichten, die ihr über ihn zu Ohren gekommen waren, vor Augen und mahnte sich, zügig ihre Aufgabe zu beenden, damit sie ihn endlich fortschicken konnte.

William war erstaunt, als er das seltsame Kribbeln verspürte, das die Berührung ihrer Finger durch ihn hindurchsandte. Er hielt den Atem an und betrachtete die Frau neben ihm. Ihr Lächeln war bezaubernd. Das Sonnenlicht erhellte ihr Antlitz, das nur wenige Zoll von seinem entfernt war, und verlieh ihrer betörend duftenden Haut einen seidigen Schimmer. Ihre vollen, sinnlichen Lippen leuchteten korallenrosa, und ihr Haar, das sie am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengefasst hatte, glänzte in einem warmen Goldton. Und wenn sie lächelte, funkelten ihre blaugrünen Augen wie kostbare Edelsteine.

„Verbringen Sie Ihre ganze Zeit mit der Krankenpflege?“

„Nein, das nicht. Ich habe noch ein Leben neben meiner Aufgabe hier.“

„Ich bin froh, das zu hören. Es wäre ein Verbrechen, wenn Sie niemals aus dieser tristen Umgebung herauskämen. Es gibt angenehmere und interessantere Zerstreuungen, möchte ich meinen, mit denen junge Damen sich den Tag versüßen.“ Er bedachte sie mit einem langen, trägen Blick, und seine Mundwinkel bogen sich fast unmerklich nach oben. Sein Lächeln wirkte sich vorteilhaft auf seine strenge Kinnpartie aus, wie Cassandra feststellte. Sie musste sich insgeheim sogar eingestehen, dass er in diesem Moment der ansehnlichste Mann war, den sie je gesehen hatte – auch wenn sie seine männliche Selbstsicherheit beunruhigend fand. Sie war sich seiner Nähe überdeutlich bewusst und spürte, wie ihr das Blut in den Adern rauschte.

Verwirrt wandte sie den Blick ab. Er hinterließ einen viel zu starken Eindruck bei ihr, und sie musste befürchten, dass er ihre Gedanken erriet, wenn er sie noch länger mit seinen klugen blauen Augen betrachtete. Sie errötete, als sie wieder zu ihm hinsah. Sein vielsagendes Lächeln ließ keinen Zweifel daran, dass er zumindest ahnte, was in ihr vorging.

„Sie haben sicher recht, Captain Lampard, doch Beschäftigungen, wie sie Ihnen vorschweben, sind weder lohnenswert noch befriedigend. Was ich hier tue, ist mehr als ein Zeitvertreib für mich. Die Arbeit füllt mich aus. Mein Vater hat dieses Institut gegründet, um Not leidenden Kindern zu helfen – als einen Ort christlicher Mildtätigkeit. Er starb vor drei Jahren. Wie Dr. Brookes war er Arzt im Bartholomew-Hospital. Jetzt ist es noch ruhig im Haus, doch gegen Mittag herrscht hier geschäftiges Treiben. Meiner Mutter liegt viel daran, die Arbeit meines Vaters fortzusetzen, und sie opfert viel Zeit für diese Einrichtung. Wir haben Hilfskräfte, die uns unterstützen, wo sie nur können, auch wenn sie keine Entlohnung erhalten. Wir kämen nicht aus ohne sie und die Wohltäter, die uns finanziell unter die Arme greifen. Wir ernähren die Kinder, versorgen sie medizinisch und statten sie mit Kleidung aus, die uns gespendet wurde.“

„Auch wenn einige von ihnen kriminell sind, sich unzivilisiert benehmen und mit Ungeziefer und Krankheiten belastet sind, dürfen sie sich Ihrer Hilfe gewiss sein?“, wollte William wissen und beugte sich etwas vor, damit sie den Verband um seine Schulter wickeln konnte.

„Ja, und da es sich überwiegend um solche Kinder handelt, die bei uns vor der Tür stehen, bemühen wir uns umso mehr, ihnen das Leben erträglicher zu machen. Die Räumlichkeiten mögen nicht besonders ansprechend aussehen, aber wir haben harte Zeiten. Nichtsdestoweniger verfolgen wir ehrgeizige Pläne, wie die Errichtung eines Waisenhauses, und tun, was wir können, um die nötigen Mittel dafür aufzutreiben.“

„Und sind Sie erfolgreich mit der Beschaffung des Geldes?“

„Manchmal. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, bei wohlhabenden Herrschaften vorzusprechen, die ich mit meinem Anliegen behelligen kann.“ Sie lächelte, als er ein überraschtes Gesicht machte. „Sie müssen denken, dass es sich für eine junge Frau nicht schickt, den Leuten gezielt das Geld aus der Tasche zu ziehen, aber ich kann nicht anders, weil mir diese Kinder nicht gleichgültig sind.“

„Sie sind sehr auf derartige Spenden angewiesen, habe ich recht?“

„Oh ja, und ich schäme mich nicht, es zuzugeben.“

„Vergessen Sie nicht, dass Gier ein verwerflicher Charakterzug ist, Miss Greenwood.“

Obwohl Cassandra bei der Bemerkung zusammengezuckt war, blickte sie ihm fest in die Augen. „Bitte sehen Sie mich nicht so missbilligend an, Captain. Ich bin nicht gierig. Oder wenigstens nicht um meinetwillen. Ich erlaube mir ein solch unkonventionelles Vorgehen nur den Kindern zuliebe. Geld bedeutet mir nichts, doch Sie werden mir zustimmen, dass es nützlich und hilfreich ist, wenn man welches besitzt. Bereits wenige Pennies können darüber entscheiden, ob ein hungerndes Kind stirbt oder am Leben bleibt.“

„Das mag sein, aber es verstößt gegen sämtliche Anstandsregeln, wenn eine junge Dame Geld eintreibt, meine ich. Und es ist auch ein gefährliches Spiel, das Sie spielen.“

„Es ist kein Spiel.“ Das Leuchten in ihren Augen war einem frostigen Ausdruck gewichen. „Vielen Leuten mutet es gleichermaßen außergewöhnlich wie lächerlich an, wenn ich sie auf eine Spende anspreche – und abstoßend, wenn sie gewahren, dass ich es wahrhaftig ernst meine.“

„Meinen Sie nicht, Sie sollten sich mit dem begnügen, was Gott für Sie bereithält, und dankbar dafür sein?“

Lord Carlow hatte seine Frage so oberflächlich hingeworfen, dass Cassandra ihn nur konsterniert anstarren konnte. „Versuchen Sie das den Kindern beizubringen. Sie scheinen überrascht zu sein darüber, was ich tue, Captain.“

„Überrascht, ja – und in gewisser Weise entsetzt. Sie sind eine attraktive junge Frau, und weshalb Ihre Familie es Ihnen gestattet, sich auf eine keineswegs ungefährliche Angelegenheit einzulassen, ist mir ein Rätsel.“

„Was ich hier tue, ist oft anstrengend und nimmt mich sehr in Anspruch. Aber ich bin stolz auf das, was mein Vater geschaffen hat – und auf meine Arbeit. Die Kinder verlassen unser Haus mit einem vollen Magen und, wenn sie Glück haben, mit neuen Schuhen. Dass sie sie aller Wahrscheinlichkeit nach umgehend verkaufen, wenn sie wieder auf der Straße sind, schmälert meinen Enthusiasmus nicht. Nicht wenige von ihnen sind Waisenkinder, andere kamen ungewollt auf die Welt und wurden von ihren Eltern, die genug Mäuler zu stopfen haben, ausgesetzt. Und wieder andere hat man für wenige Shillinge an Schornsteinfeger verkauft. Die Kinder, die zu uns kommen, besitzen nichts und sind ohne Hoffnung. Irgendjemand muss ein Auge auf sie haben.“

„Und Sie glauben, dass Sie ihr Leben verändern können?“

„Das von einigen wenigen, ja.“

„Es gibt Armenhäuser, Armenschulen und Armenspitäler.“

„Die Armenhäuser sind entsetzliche Einrichtungen, aber dort zu leben ist allemal besser, als auf der Straße sein Dasein zu fristen, darin stimme ich mit Ihnen überein. Allerdings nehmen sie dort nicht alle Kinder auf, und die Hospitäler schicken Kinder unter sieben Jahren fort, es sei denn, es ist eine Amputation vonnöten.“ Cassandra lächelte bitter. „Was für traurige Zustände! Sind Sie sich bewusst, dass von sämtlichen in der Stadt zu Tode kommenden Menschen fast die Hälfte Kinder sind?“

„Nein, das war mir nicht bewusst“, erklärte William steif.

Er hatte sich bislang noch nie Gedanken über das Elend der Armen gemacht, zumal er bis zum heutigen Tag nicht mit Not leidenden Kindern in Berührung gekommen war. Sein Blick wurde düster. Miss Cassandra Greenwood hatte es tatsächlich geschafft, ihm ein schlechtes Gewissen zu bereiten und ihm das unerfreuliche Gefühl zu vermitteln, dass sein Lebensstil in gewisser Weise unangemessen war.

Sie begutachtete den fertigen Verband, bevor sie sich aufrichtete und ihm erneut fest in die Augen sah. „Ich bin nicht hochmütig, Sir, nur fest entschlossen, fortzuführen, was mein Vater begonnen hat. Und wenn Sie darin einen Fehler sehen, tut es mir leid.“

„Nein, Miss Greenwood, ich kann keinen Fehler darin sehen. Ihre Worte zeugen von Mut und Tapferkeit. Diese Eigenschaften sind höchst löblich, um nicht zu sagen bewundernswert.“ Er stemmte sich von der Matratze hoch und stellte zu seiner Erleichterung fest, dass der letzte Anflug von Schwindel vorüber war.

Cassandra hielt den Atem an, als er plötzlich in voller Größe vor ihr stand. Seine schlanke, hohe Gestalt überragte sie um mehr als Haupteslänge. Ohne ihn anzusehen, half sie ihm in seinen ruinierten Reitrock. Dann sammelte sie geschäftig die von Dr. Brookes verwendeten Instrumente ein.

William beobachtete sie dabei. Sein Blick glitt anerkennend über ihre schlanke Figur, ruhte auf den reizend gewölbten Brüsten, die selbst der strenge Schnitt ihres Kleides nicht zu verbergen vermochte, und wanderte schließlich zu ihrem honigblonden Haar. Verblüfft stellte er fest, dass es ihm förmlich in den Fingern juckte, den straffen Knoten zu lösen, durch die seidig weichen Locken zu fahren und die entzückende Wölbung an ihrer Kehle zu liebkosen, die von der kleinen Brosche am Halsausschnitt des Kleides vorteilhaft betont wurde. Er kannte sich aus mit dem anderen Geschlecht, Frauen ihres Standes indes waren ihm nicht vertraut. Er hatte sich bewusst nie mit ihnen abgegeben, doch diese hier weckte seine Neugierde.

Kaum war er zu dieser Einsicht gelangt, hörte er die Warnglocken in seinem Kopf in ohrenbetäubender Lautstärke läuten. Er wusste, er würde diesen Ort auf der Stelle verlassen müssen, um die unwillkommenen und alles andere als freudvollen Gedanken zu zerstreuen, die sich ihm aufdrängten, sobald er zu verstehen versuchte, weshalb eine attraktive Frau wie Cassandra Greenwood ihr Leben in diesem traurigen Institut für Straßenkinder vergeudete.

Er war ein gescheiter und vernünftig denkender Mann – ein Gentleman aus gutem Hause, der zu dem stand, was er tat, und seine Ziele kannte. Er war stolz auf seinen gesunden Menschenverstand, der ihn vor Gefühlsduseleien bewahrte. Umso größer war der Schock ob der Erkenntnis, dass er mehr über Miss Greenwood erfahren wollte. Er, William Lampard, der weltgewandte und zu militärischen Ehren gelangte Earl of Carlow, der den Londoner Klatsch am Leben hielt durch seine Skandale, hatte Angst vor den Auswirkungen, die die Bekanntschaft mit Cassandra Greenwood womöglich auf ihn haben würde.

„Sagen Sie, gibt es kein Kuratorium, dem Sie Rechenschaft ablegen müssen?“

Cassandra hielt in ihrer Arbeit inne und sah ihn mit ihren blaugrünen Augen freimütig an. „Kuratorium? Oh ja, es gibt vier Treuhänder, die das Kuratorium bilden: Dr. Brookes, einer seiner Kollegen aus dem Krankenhaus, meine Mutter und ich.“

„Ich verstehe. Ich dachte mir bereits, dass Sie sehr selbstständig sind, Miss Greenwood.“

„So ist es. Ich bin niemandem rechenschaftspflichtig, weder in dieser noch in irgendeiner anderen Angelegenheit.“

„Es steht nicht einmal ein potenzieller Ehemann in Aussicht?“

„Nein. Ich schätze meine Freiheit und Unabhängigkeit – die ich mit einem Ehemann an meiner Seite höchstwahrscheinlich einbüßen würde.“

„Das hängt von dem Ehemann ab. Ohne Zweifel werden die Dinge sich zu gegebener Zeit ändern.“

Ihre Blicke trafen sich, und plötzlich hatte Cassandra das Gefühl, ihn seit Langem zu kennen. Er betrachtete sie mit schmalen Augen und einem wissenden Lächeln, das ihr durch und durch ging und sie gleichzeitig erschreckte. Ihr war, als versuche er, hinter ihr Antlitz und in ihre Seele zu schauen. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte sie sich völlig schutzlos und verletzlich – Züge, die sie nicht an sich kannte und ebenso wenig mochte.

„Nicht, wenn ich meinen Willen durchsetzen kann, Captain Lampard. Und das gelingt mir fast immer.“

„Das sehe ich. Aber ich bin nicht hier, um mich von den Vorzügen der Mildtätigkeit gegenüber Kindern überzeugen zu lassen. Ich bin hier, weil ich angeschossen wurde und es mir nicht erlauben konnte, Ihnen zu widersprechen – obwohl ich Ihnen und Dr. Brookes natürlich für alles danke, was Sie für mich getan haben.“

„Mögen Sie keine Kinder, Captain?“, fragte sie unverblümt und stemmte die Hände in die Hüften.

„Es ist nicht so, dass ich sie nicht mag; ich hatte schlicht noch nie etwas mit Kindern zu tun.“

William wurde nachdenklich. Miss Cassandra Greenwood war eine Frau, die zutiefst überzeugt war von dem, was sie tat. Er hatte keine Ahnung, wie er darauf kam, doch er wusste, dass sie einer der Menschen war, die jeden zum Teufel schicken würden, der sich ihnen in den Weg stellte.

Sein Spürsinn, jene innere Stimme, die den Soldaten in ihm zu neuem Leben erweckte und die unerlässlich war, wenn man im Krieg überleben wollte, sagte ihm, dass diese Frau mit Hingabe und Ehrgeiz ans Werk ging, um zu bekommen, was sie wollte, und dabei mit beiden Beinen im Leben stand. Niemand konnte daran zweifeln, dass sie das, was sie sich vornahm, erfolgreich in die Tat umsetzte. Sie besaß eine derart hartnäckige und ausdrückliche Entschlossenheit, dass es ihm schwerfiel, sich nicht von ihrer leidenschaftlichen Begeisterung für ihr Institut anstecken zu lassen.

Er wandte sich von ihr ab, um einen flüchtigen Blick auf das Kind zu werfen. „Schicken Sie den Jungen – Archie – zu mir, sobald er wieder auf den Beinen ist. Ich werde mit meinem Stallmeister Thomas sprechen. Wenn der kleine Bursche Pferde leiden kann, wird man in den Ställen eine Aufgabe für ihn finden, die ihn von der Straße fernhält. Und, wie ich bereits sagte, ich werde außerdem dafür sorgen, dass Sie für Ihre Hilfeleistung entschädigt werden.“

„Vielen Dank“, erwiderte sie überrascht, als er sich zum Gehen wandte. „Wir wissen Ihre Freundlichkeit sehr zu schätzen.“ Er schien ihre letzten Worte nicht mehr zu vernehmen, denn er drehte sich nicht zu ihr um. Einigermaßen fassungslos über seine Ankündigung, Archie Arbeit und eine Unterkunft zu bieten, starrte sie auf die Tür, die sich eben hinter ihm geschlossen hatte.

Wie es schien, besaß Lord Carlow mehr Qualitäten als nur die Fähigkeit, Frauen zu verführen. Indem er Archie eine bessere Zukunft in Aussicht stellte, wog er so manche seiner schlechten Eigenschaften wieder auf. Konnte es sein, dass dieser stadtbekannte Frauenheld geläutert nach England zurückgekehrt war? Verwundert machte Cassandra sich wieder an ihre Arbeit.

Während Miss Greenwoods Kutsche ihn zum Grosvenor Square brachte, versuchte William zu ergründen, weshalb er sich so angezogen fühlte von der jungen Dame. Sie war keineswegs ein unscheinbares Geschöpf; ihre Contenance, die von gesundem Selbstvertrauen zeugte, mutete ihn geradezu sinnlich an. Und in ihrem Lächeln lag eine gewisse unschuldige Eitelkeit. Er musste schmunzeln, als ihr lächelndes Antlitz vor seinem geistigen Auge erschien, doch plötzlich kam ihm das unerfreuliche Ereignis von heute früh wieder in den Sinn. Wer trachtete ihm nach dem Leben und aus welchem Grund? Je länger er darüber nachgrübelte, desto deutlicher spürte er Empörung in sich aufsteigen, die schließlich alle angenehmen Gefühle verdrängte, die er zuvor empfunden hatte. Besessen von dem Gedanken, den Attentäter zu finden, blickte er aus dem Kutschenfenster. Er konnte es kaum erwarten, wieder daheim zu sein.

Verglichen mit der Residenz ihrer Tante Elizabeth in Mayfair, war das Haus in Kensington, in dem Cassandra, ihre achtzehnjährige Schwester Emma und ihre Mutter lebten, eher bescheiden.

Cassandras Eltern hatten charakterlich gut miteinander harmoniert, doch sie waren unterschiedlicher Herkunft gewesen. Die Greenwoods gehörten der Unternehmerschicht des Landes und den höheren Berufsständen an. Ihre Mutter hingegen stammte vom niederen Landadel ab. Beide hatte verbunden, dass sie dem verarmten Zweig ihrer jeweiligen Familie entsprungen waren. Weder ihr Vater noch ihre Mutter hatten Vermögen in die Ehe einbringen können.

Tief besorgt über die elenden Zustände, in denen die Straßenkinder in London lebten, hatte ihr Vater James eine kleine Einrichtung in Soho eröffnet. Doch seit seinem Tod vor drei Jahren mussten Cassandra und ihre Mutter für den Erhalt dieses Hauses kämpfen, denn es mangelte ihnen fortwährend am nötigen Geld.

Der Tod ihres Gemahls war ein schrecklicher Verlust für Harriet Greenwood. Dennoch gab sie sich nicht damit zufrieden, ein zurückgezogenes Leben zu führen, und übernahm viele Pflichten, die in der Einrichtung anfielen. Sie gestattete ihrer ältesten Tochter sogar, an ihrer Seite zu arbeiten, obwohl die jetzt zwanzig Jahre alte Cassandra mit diesem Schritt wider die Konventionen handelte und Freunde und Bekannte mit ihrem Tun brüskierte. Nicht wenig Verachtung war ihr seither entgegengebracht worden. Cassandra jedoch ließ sich nicht beirren und von engstirnigen Kleingeistern nehmen, was sie und ihre Mutter zu vollenden versuchten.

Harriets Cousine Lady Elizabeth Monkton, eine kinderlose, sehr wohlhabende Witwe, die hoch angesehen war im Londoner ton, hatte die beiden Mädchen Cassandra und Emma unter ihre Fittiche genommen, als Dr. Greenwood gestorben war, und getan, was in ihrer Macht stand, um sie so anzuleiten, wie sie es für richtig hielt. Erpicht darauf, ihre Großnichten in die Gesellschaft einzuführen, war sie enttäuscht gewesen, als Cassandra, mit ihren eigenen Vorstellungen im Kopf und abgestoßen von der nutzlosen Frivolität des haute ton, ihr Angebot ausgeschlagen hatte – obwohl die junge Frau seither keineswegs abgeneigt war, Lady Elizabeth’ Stellung in der beau monde zu ihrem Vorteil zu nutzen. Mit ihrer raffinierten und charmanten Art gelang es Cassandra immer wieder, betuchten Leuten auf Bällen und Partys das Versprechen zu entlocken, ihrem Institut eine Geldspende zukommen zu lassen.

Heute Abend würde Tante Elizabeth anlässlich ihres fünfzigsten Geburtstages einen Ball geben. Cassandra hatte natürlich eine Einladung erhalten – wie ausnahmsweise auch Emma, obwohl die jüngere Schwester noch nicht in die Gesellschaft eingeführt worden war.

Sie waren ein wenig zu früh in Monkton House eingetroffen und nutzten die Zeit, um sich den letzten Schliff für das Fest zu verleihen. Emma wirkte ungewöhnlich niedergeschlagen, was zu einem guten Teil von der Schelte herrührte, die sie von ihrer Mutter zuvor bekommen hatte, weil sie trotz des strömenden Regens ausgeritten und völlig durchnässt nach Hause gekommen war.

„Alles ist so ungerecht“, schmollte das Mädchen düster und plumpste neben der Schwester auf die Polsterbank vor dem Frisiertisch. Sie besah sich den Sitz ihrer Frisur, um anschließend wieder eine finstere Miene aufzusetzen und sich ausführlich darüber zu beschweren, dass Edward Lampard, für den sie zärtliche Gefühle hegte, nicht auf dem Ball erscheinen würde. Seit der junge Mann vor drei Wochen London verlassen hatte, war sie rastlos und gereizt und erwartete seine Wiederkehr voller Ungeduld.

Schließlich wurde es Cassandra zu viel. „Hör bitte auf damit, Emma“, verlangte sie ungehalten. „Es kann nichts Gutes bringen, wenn du diesen Gentleman wiedersiehst. Und ich bin es leid, mit dir darüber zu diskutieren. Ich habe dir gesagt, dass er ein notorischer Wüstling ist. Und er wird nicht eher zufrieden sein, bis er dich vollständig kompromittiert hat und dein guter Ruf in Scherben liegt. Dann wird kein ehrenwerter Junggeselle dich mehr zur Frau haben wollen“, schloss sie streng.

Emma liebte Cassandra über alle Maßen und bewunderte sie für ihre Charakterstärke, doch nun starrte sie die große Schwester aufsässig an. Rote Flecken erschienen auf ihren Wangen. „Ein Wüstling?“, entgegnete sie hitzig. „Wie kommst du nur darauf?“

„Weil er zufällig der Vetter des berüchtigten Frauenhelden William Lampard, Earl of Carlow, ist, der den Frauen reihenweise das Herz gebrochen und unzählige Hochzeitspläne zunichtegemacht hat, sodass jede vernünftige junge Dame sich von ihm fernhält.“

„Wie kannst du so etwas Scheußliches äußern, Cassy“, versetzte Emma empört. „Nur weil sein Cousin ein Schürzenjäger ist, heißt das noch lange nicht, dass Edward in seine Fußstapfen tritt. Er ist ein überaus rechtschaffener und ehrenwerter Mann – ein Gentleman eben.“ Was Cassandra gesagt hatte, kränkte und schmerzte Emma umso mehr, da sie so viel Wert auf die Anerkennung der älteren Schwester legte und deren Unnachgiebigkeit in dieser Angelegenheit nicht verstand. „Edward liebt mich und schätzt, was ich denke und fühle – und ich bin ihm wichtiger als alles andere“, setzte sie trotzig hinzu.

„Deinen Beteuerungen zufolge muss er ein geradezu einzigartiger Mensch sein“, erwiderte Cassandra trocken und keineswegs überzeugt von Emmas Verteidigungsrede. „Dennoch sollte er solche Dinge nicht zu dir sagen, und du tätest gut daran, nicht darauf zu antworten, solange seine Absichten nicht bekannt sind. Andernfalls gibst du dich der Lächerlichkeit preis. Ich wünschte wirklich, dass du dich schicklicher benehmen würdest, Emma.“

„Also weißt du, Cassy! Du bist selber viel zu unerfahren in diesen Dingen, als dass du mir Rat und Anweisungen geben solltest, wie ich mich in der Gesellschaft zu benehmen habe.“

„Nicht dein Auftreten in der Öffentlichkeit sorgt mich, und das weißt du. Ich fürchte, dass du durch deine häufigen Begegnungen mit Edward Lampard noch vor deinem Debüt im Londoner ton sämtliche akzeptablen Junggesellen abgeschreckt haben wirst. Dabei hofft Tante Elizabeth so sehr, dass du eine gute Partie machst. Allerdings kann ich nicht verstehen, dass sie dich so oft in Begleitung dieses Herrn ausgehen lässt, obwohl dein erster offizieller Ball noch nicht stattgefunden hat.“

Emma sah sie mit großen Augen an und erkannte, dass die Unterhaltung zu nichts führte. „Wirklich, Cassy, welcher Mann könnte akzeptabler sein als Edward?“

„Ich versuche dich lediglich davor zu warnen, einen bestimmten Gentleman zu favorisieren, bevor du nicht in die Gesellschaft eingeführt wurdest. Vor allem kannst du es dir nicht erlauben, allein mit ihm zu sein.“

„Sei so freundlich und behalte deine Warnungen für dich. Ich bin durchaus in der Lage, auf mich selbst achtzugeben.“

„Woher weißt du denn, dass seine Absichten ernsthaft sind, Emma?“

„Weil ich ihm etwas bedeute. Jeder, der dich hört, würde denken, dass du nur eifersüchtig auf mich bist, weil es dir bislang nicht gelungen ist, die Leidenschaft eines Mannes zu wecken“, gab das Mädchen aufgebracht zurück.

„Leidenschaft? Meine liebe Emma, ich hoffe inständig, dass Edward seine Gelüste unter Kontrolle hat, wenn ihr zusammen seid.“

„Cassy, wirst du mir bitte zuhören? Ich bin verliebt. Wirklich und wahrhaftig verliebt.“

Autor

Helen Dickson
Helen Dickson lebt seit ihrer Geburt in South Yorkshire, England, und ist seit über 30 Jahren glücklich verheiratet. Ihre Krankenschwesterausbildung unterbrach sie, um eine Familie zu gründen.
Nach der Geburt ihres zweiten Sohnes begann Helen Liebesromane zu schreiben und hatte auch sehr schnell ihren ersten Erfolg.
Sie bevorzugt zwar persönlich sehr die...
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