Verbotene Blicke, gefährliche Küsse

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Als Pfarrerstochter glaubt Octavia zu wissen, was gut und richtig ist … bis der unverschämt provokante Jago sie beim Nacktbaden im See ertappt - und heiß mit ihr flirtet! Doch damit nicht genug! Zu Tavias Ärger ist ausgerechnet er der neue Besitzer des alten Herrenhauses von Greenbrook - für das idyllische Dorf ein Skandal! Denn wer will als Nachbar einen sittenlosen Playboy haben? Tavia reicht es schon, dass sie in seiner Nähe vor Herzrasen kaum atmen kann. Erst als Jago sie besitzergreifend küsst, spürt sie, noch nie hat Gefahr so verboten süß geschmeckt …


  • Erscheinungstag 09.06.2015
  • Bandnummer 2183
  • ISBN / Artikelnummer 9783733701758
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Octavia Denison warf das letzte Schreiben in den letzten einer langen Reihe von Briefkästen und stieg dann seufzend auf ihr Fahrrad, um sich auf den weiten Weg zurück zum Pfarrhaus zu machen.

Wieder einmal wünschte sie, Reverend Lloyd Denison würde seinen monatlichen Rundbrief an die Gemeindemitglieder per E-Mail verschicken.

Ihr Vater bevorzugte jedoch den persönlichen Kontakt, und wenn sie an Menschen wie Mrs Lewis dachte, musste Tavy ihm recht geben. Die alte Dame hatte sie vorhin auf eine Tasse Tee eingeladen, weil sie sich nach ein wenig Unterhaltung sehnte. Sie besaß sicher keinen Computer.

Octavia strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Heute war definitiv nicht der beste Tag für eine Tour durchs Dorf auf einem alten Drahtesel.

Für Mai war es ungewöhnlich warm, was die Schüler von Greenbrook vermutlich freute, denn sie hatten gerade Ferien. Tavy hingegen musste morgen wieder zur Arbeit gehen. Da sie nicht über die erforderlichen Qualifikationen als Schulsekretärin verfügte und noch jung war, zahlte die Direktorin des örtlichen Mädcheninternats, Eunice Wilding, ihr nur, was sie in diesem Fall für angemessen hielt. Doch trotz der schlechten Bezahlung war der Job ihre Rettung gewesen. Ein Lichtblick in der Zeit der Trauer, in der Tavy und ihr Vater wie betäubt gewesen waren, nachdem ihre Mutter plötzlich an einem völlig unerwarteten Herzleiden gestorben war.

Natürlich hatte ihr Vater protestiert, als sie ihr Studium aufgegeben hatte und nach Hause zurückgekehrt war, um für ihn den Haushalt zu führen. Aber sie hatte seine Erleichterung gespürt und sich darauf konzentriert, ihnen beiden das Leben so schön wie möglich zu machen. Außerdem hatte sie die Aufgaben in der Gemeinde übernommen, die ihre Mutter mit so viel Engagement und Herzenswärme erledigt hatte.

Und obwohl sie sich eher wie Mrs Wildings Leibeigene als wie ihre Assistentin fühlte, bot ihr der Job eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit. Dafür musste sie fünfeinhalb Tage pro Woche arbeiten und hatte jeweils nur eine Woche Urlaub im Frühling und im Herbst. Dass sie an diesem Nachmittag freibekommen hatte, war eine Ausnahme. Mrs Wilding hielt unterdessen ihre übliche Besprechung mit den Lehrern ab, in der die anstehenden Projekte für die kommenden Wochen besprochen wurden.

Mit ihrem unerschütterlichen Ehrgeiz hatte Mrs Wilding die Schule trotz der hohen Gebühren zu unerwartetem Erfolg geführt.

Wenn sie irgendwann in den Ruhestand ging, würde Patrick, ihr einziger Sohn, ihre Aufgaben übernehmen. Obwohl Tavy das nie für möglich gehalten hatte, war er im vergangenen Jahr aus London zurückgekehrt und kümmerte sich inzwischen um die Buchhaltung der Schule.

Bei dem Gedanken an Patrick wurde Tavy warm ums Herz. Sie kannte ihn schon ihr ganzes Leben und hatte bereits als Teenager für ihn geschwärmt. Während ihre Klassenkameradinnen Popstars und Schauspieler anhimmelten, hatte ihr Interesse einzig und allein dem großen blonden blauäugigen Adonis aus der Nachbarschaft gegolten, der sie jedoch kaum wahrnahm.

Nach seinem Aufbaustudium in den USA war er immer nur für Stippvisiten nach Greenbrook gekommen, bis er vor sechs Monaten für immer zurückgekehrt war.

„Ich weiß nicht, ob du dich noch an Octavia Denison erinnerst …“, hatte seine Mutter damals bei ihrer ersten erneuten Begegnung etwas steif begonnen.

„Doch, natürlich“, hatte er mit einem Lächeln erwidert, das zum ersten Mal wirklich ihr zu gelten schien, und hinzugefügt: „Wir sind alte Freunde. Du siehst toll aus, Tavy.“

Danach war er immer bei ihr vorbeigekommen, um mit ihr zu plaudern, wenn er an der Schule zu tun hatte. Sie gab sich bei seinen Besuchen Mühe, höflich, aber dennoch reserviert zu bleiben. Ihr Instinkt sagte ihr, dass seine Mutter es sicher nicht gutheißen würde, wenn sie sich zu gut mit Patrick verstand. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob sie selbst es überhaupt wollte.

Deshalb lehnte sie auch sofort ab, als er sie irgendwann zum Abendessen einlud. Als er jedoch nicht lockerließ, konnte sie seine Einladung trotz ihrer Bedenken nicht mehr ausschlagen und hatte zugesagt.

Während sie sich für den Abend fertig gemacht und das einzige schicke Kleid angezogen hatte, das sie besaß, war ihr klar geworden, dass sie seit ihrer nur wenige Monate andauernden Studienzeit mit keinem Mann mehr ausgegangen war.

Zum einen gab es hier in dieser Gegend nur wenige Singles, zum anderen hatte sie weder die Zeit noch die Energie, sich auf die Suche zu machen. Ihr Job, die Hausarbeit und die Arbeit in der Gemeinde erforderten ihre ganze Kraft.

Seit dem Abend, als Patrick sie in das schicke kleine französische Restaurant in Market Tranton ausgeführt hatte, trafen sie sich regelmäßig, während ihre Begegnungen in der Schule sich aufs Berufliche beschränkten.

Sie war fast ein bisschen enttäuscht, dass Patrick bisher nicht ernsthaft versucht hatte, sie zu verführen. Sie hatte schließlich nicht vor, ewig Jungfrau zu bleiben. Trotzdem hatte sie nicht das Gefühl, dass sein Interesse nur gespielt sein könnte.

Allerdings trafen Patrick und sie sich stets an verschwiegenen Orten. Als sie ihn nach einer Weile darauf angesprochen hatte, hatte er zugeben müssen, dass er ihre Treffen nicht an die große Glocke hängen wollte. Da seine Mutter momentan sehr beschäftigt sei, wolle er den richtigen Zeitpunkt abwarten, um es ihr zu erzählen.

Ob dieser Zeitpunkt je kommen würde?

Sie wusste, dass Mrs Wildings Höflichkeit nur aufgesetzt war. Wie sie wohl darauf reagieren würde, zu erfahren, dass ihre Handlangerin möglicherweise zu ihrer Schwiegertochter aufsteigen könnte?

Darüber würde sie sich den Kopf zerbrechen, wenn es so weit war, nahm Tavy sich vor, während sie sich die Schweißperlen von der Stirn wischte.

Ein lautes Hupen hinter ihr ließ sie vor Schreck zusammenzucken. Sie verriss den Lenker und fuhr prompt in den Graben.

Ein schnittiges Cabrio überholte sie und hielt einige Meter vor ihr an.

„Hallo, Octavia.“ Lässig schob die Fahrerin ihre Designerbrille in das lange blonde Haar. „Bewegen Sie sich immer noch mit diesem Museumsstück fort?“

Tavy hätte Fiona Culhams Stimme überall erkannt. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, sie allzu bald wieder zu hören.

Während sie noch damit kämpfte, sowohl ihr inneres als auch ihr äußeres Gleichgewicht wiederherzustellen, stieg sie widerstrebend ab und schob das Fahrrad zum Wagen. „Hallo, Mrs Latimer“, grüßte sie kühl, weil die nur zwei Jahre ältere Fiona sie auch beharrlich siezte. „Wie geht es Ihnen?“

„Gut. Aber haben Sie noch nicht mitbekommen, dass ich, seit die Scheidung läuft, wieder meinen Mädchennamen angenommen habe?“

Tavy war verblüfft. Fiona hatte doch erst vor Kurzem geheiratet? „Nein. Das tut mir leid.“

Fiona Culham zuckte die Schultern. „Bloß nicht! Es war ein Riesenfehler. Aber was soll’s, man kann eben nicht alles haben.“

Über diesen Riesenfehler – eine prunkvolle Hochzeit in London mit einem wohlhabenden Erben – war ausführlich in allen Klatschzeitschriften berichtet worden. Ihr Vater hatte damals sarkastisch bemerkt, dass er durchaus nachvollziehen könne, warum die Dorfkirche für ein solches Brautpaar nicht gut genug sei.

Umso besser, dachte Tavy nun, weil es ihren Vater immer schmerzte, mit anzusehen, wie eine von ihm geschlossene Ehe bereits nach kurzer Zeit scheiterte.

Sie räusperte sich. „Das muss eine schwierige Zeit für Sie sein. Machen Sie deshalb hier Urlaub?“

„Nein, ich komme für immer zurück“, erwiderte Fiona, während sie Tavy abschätzig von Kopf bis Fuß musterte.

Verlegen wurde Tavy der Kontrast zwischen ihnen beiden bewusst. Einige Strähnen ihres rotbraunen Haars hatten sich aus der lockeren Hochsteckfrisur gelöst, und das schlichte T-Shirt und die Shorts waren nichts Besonderes. Fionas Haare hingegen waren in einem perfekten Knoten frisiert, und ihr regenbogenfarbenes Seidentop mit den engen Designerjeans stellte den Inbegriff sportlicher Eleganz dar.

„Und was für ein Akt der Nächstenliebe führt Sie heute hierher?“, fuhr Fiona fort.

„Ich trage den Gemeindebrief aus“, antwortete Tavy ausdruckslos.

„Ganz die pflichtbewusste Tochter.“ Fiona legte den ersten Gang ein. „Wir sehen uns. Und gehen Sie für heute lieber aus der Sonne, Octavia. Sie wirken ziemlich mitgenommen.“

Wütend blickte Tavy ihr nach. Fiona war die einzige Tochter reicher Eltern und hoffnungslos verwöhnt. Als Tavy damals auf einer Gartenparty in White Gables, dem Familiensitz der Culhams, ausgeholfen hatte, war Fiona es gewesen, die sie vor allen Gästen als das „dünne rothaarige Kind aus dem Pfarramt“ vorgestellt hatte.

Ihr Vater Norton Culham hatte die Tochter eines Millionärs geheiratet. Mit dem Geld hatte er einen heruntergekommenen Bauernhof in Hazelton Parva gekauft und ein sehr angesehenes Gestüt daraus gemacht.

Er war erfolgreich und vermögend, aber nicht sehr beliebt. Mit seiner öffentlichen Weigerung, auch nur einen Penny zu der geplanten Restaurierung von Holy Trinity, der geliebten, aber baufälligen viktorianischen Dorfkirche, beizusteuern, und der Äußerung, dass das Christentum völlig überholt wäre, hatte er sich endgültig alle Sympathien der Dorfbewohner verscherzt.

Fiona hatte er es jedoch an nichts mangeln lassen. Sie hatte erst eines der teuersten Internate Englands und anschließend eine exklusive Hotelfachschule in der Schweiz besucht. Dass man auch finanziell schlechter gestellten Mitmenschen gegenüber eine gewisse Höflichkeit an den Tag legt, hat man ihr dort offenbar nicht beigebracht, überlegte Tavy, als sie dem Cabrio nachblickte.

In einem Punkt musste sie Fiona jedoch recht geben, als sie weiterradelte. Ihr war viel zu warm und sie musste furchtbar aussehen. Sie wusste jedoch, wie sie sich abkühlen konnte.

Als die Straße sich einige Hundert Meter weiter gabelte, schlug Tavy den Weg ein, der am Herrensitz Ladysmere Manor vorbeiführte.

Im Vorbeifahren sah sie das verblichene Schild mit der Aufschrift Zu verkaufen, das vorher am Seitentor gehangen hatte und nun im hohen Gras lag. Sie stieg ab und hob es auf, um es vorsichtig an die Mauer zu lehnen, auch wenn sie damit wohl nicht viel erreichen würde.

Seit dem Tod von Sir George Manning vor drei Jahren stand das Herrenhaus leer und verfiel zusehends. Sein einziger Erbe, ein entfernter Cousin, der in Spanien lebte, hatte es nur räumen und das Inventar versteigern lassen. Das Haus hatte er entgegen dem Rat der Maklerfirma Abbot & Co. zu einem astronomischen Preis zum Kauf angeboten.

Angeblich stammte es aus dem siebzehnten Jahrhundert, aber war im Laufe der folgenden Jahrhunderte unzählige Male erweitert und umgebaut worden, sodass der ursprüngliche Stil kaum noch zu erkennen war.

Sir George war ein netter und sehr gastfreundlicher Mensch gewesen, sein Haus hatte für alle offen gestanden. Er hatte den Pfadfindern erlaubt, auf seinem Grundstück zu zelten, es für das alljährliche Dorffest zur Verfügung gestellt, und seine Weihnachtsfeiern waren legendär gewesen. Inzwischen stand das Haus einsam und vernachlässigt auf seinem großen Grundstück.

Zuerst hatte es einige Kaufinteressenten für das Herrenhaus gegeben. Ein Investor hatte es in ein Tagungszentrum umwandeln wollen, ein anderer in eine exklusive Seniorenresidenz. Auch eine Hotelkette hatte Interesse bekundet.

Der frischgebackene Besitzer hatte sich allerdings geweigert, mit dem Preis hinunterzugehen, und irgendwann waren auch die Besichtigungen immer weniger geworden. So hatte sich das Anwesen vom Mittelpunkt des Dorflebens zum Schandfleck verwandelt.

Tavy hatte das Haus immer geliebt. Für sie war es immer wie ein verzaubertes Schloss gewesen.

Als sie sich nun an dem Tor vorbeischob und sich einen Weg durch den verwilderten Garten bahnte, dachte sie traurig daran, dass hier nicht nur Magie, sondern ein echtes Wunder nötig war, um das Herrenhaus wieder zum Leben zu erwecken.

Durch die Zweige der wild wuchernden Büsche und Sträucher konnte sie das Grün der Weiden erkennen, die den See säumten. Zuerst hatten zahlreiche Freiwillige den Garten in Schuss gehalten, die Arbeit mit der Zeit aber wieder eingestellt, weil Abbot & Co. darauf hingewiesen hatten, dass im Falle eines Unfalls niemand haften würde.

Tavy ließ sich durch das Gestrüpp jedoch nicht abschrecken, ihr Ziel war das erfrischend kühle Wasser des Sees. Und da sie den See stets für sich hatte, verzichtete sie auf einen Badeanzug.

Für sie waren diese Momente zu einem heimlichen, wenn auch seltenen Vergnügen geworden. Fast schien es ihr, als würde sie dem Haus dadurch zeigen, dass es nicht vollkommen in Vergessenheit geraten war.

Genauso wie die Marmorstatue, die schon seit fast dreihundert Jahren dort stand, einen Arm über den Brüsten, die andere Hand keusch zwischen den Schenkeln.

„Dein Glück, dass du nicht mit den anderen Antiquitäten unter den Hammer gekommen bist, Aphrodite, oder wer du auch sein magst“, sagte Tavy leise, bevor sie sich auszog und ihre Sachen ordentlich auf den Sockel legte. „Ohne dich wäre der See nicht mehr derselbe.“ Dann nahm sie die Spange aus ihrem Haar, sodass ihr die rotbraune Mähne über die Schultern fiel.

Himmel! Das Wasser war eiskalt! Tavy sog scharf die Luft ein, als sie vorsichtig hineinwatete. Sobald sie sich an die Kälte gewöhnt hatte, tauchte sie unter. Die Augen immer noch geöffnet, sah sie über sich die Sonne matt durch das grünliche Wasser schimmern. Schwungvoll tauchte sie wieder auf.

Statt der Marmorstatue sah sie nun eine dunkle Gestalt am Ufer stehen.

Fast panisch strich sie sich das nasse Haar aus dem Gesicht und rieb sich die Augen, weil sie dachte, sie hätte sich getäuscht.

Das war jedoch nicht der Fall. Vor ihr stand ein Mann, groß und muskulös. Das enge schwarze T-Shirt und die dunkle Jeans betonten seinen athletischen Körper zusätzlich. Wie ein mythischer dunkler Herrscher stand er vor der Statue und beobachtete sie.

„Wer sind Sie?“, fragte Tavy schockiert. „Und was machen Sie hier?“

„Komisch, das Gleiche wollte ich Sie auch gerade fragen.“ Seine Stimme war rau, und in diesem Moment schwang ein amüsierter Unterton in ihr mit.

„Ich muss Ihnen überhaupt nichts erklären!“ Entsetzt stellte sie fest, dass er ihre nackten Brüste sehen konnte, und tauchte schnell wieder bis zum Hals in das kühle Wasser. „Das hier ist Privatgelände, und Sie sind unbefugt eingedrungen.“

„Damit wären wir schon zu zweit.“ Nun lächelte der Fremde, wobei seine weißen Zähne einen faszinierenden Kontrast zu seinem dunklen Teint bildeten. Er hatte schwarzes, welliges Haar, das dringend geschnitten werden musste. Eine Uhr mit Metallarmband, offenbar ein billiges Modell, und ein Gürtel mit einer silbernen Schnalle lockerten das viele Schwarz ein wenig auf. „Und ich weiß nicht, wer von uns beiden stärker überrascht ist.“

Er sieht aus, als gehöre er zu dem fahrenden Volk, das hier im vergangenen Winter nach verwertbarem Metall gesucht hat und nun wohl zurückgekommen ist, schoss es Tavy durch den Kopf.

„Wenn Sie sofort verschwinden, erzähle ich niemandem, dass Sie hier waren“, erklärte sie. „Außerdem ist das Gelände videoüberwacht. Es ist also sinnlos, hier etwas zu stehlen.“

„Vielen Dank für die Warnung, aber ich habe auf meinem Weg hierher keine Kameras gesehen. Sie müssen sehr gut versteckt sein.“ Lässig schob er ihre Sachen beiseite und ließ sich auf dem Sockel nieder. „Vielleicht können Sie mir ja einen sicheren Weg zeigen, auf dem ich wieder hier herauskomme. Wie wäre es mit der Stelle, durch die Sie sich hier hereingeschlichen haben?“

„Ich schlage vor, Sie nehmen einfach denselben Weg, auf dem Sie gekommen sind, und zwar möglichst schnell.“ Ihre Zähne begannen zu klappern. Sie war sich nicht sicher, ob vor Kälte oder Nervosität, und kam zu dem Schluss, dass es an beidem liegen musste.

„Auf der anderen Seite … ich finde es hier eigentlich ganz nett, und ich habe heute eigentlich nichts mehr vor“, meinte der Fremde.

„Ich aber“, erklärte sie betont ruhig, obwohl sie sich fühlte wie in einem Albtraum. „Und deshalb würde ich mich jetzt gerne wieder anziehen.“

Seelenruhig deutete er auf ihre Sachen, die neben ihm auf dem Sockel lagen. „Tun Sie sich keinen Zwang an.“

„Ich brauche dabei keine Zuschauer.“ Sie würde lieber erfrieren, als nackt vor ihm aus dem Wasser zu steigen.

Wieder lächelte der Mann. „Woher wollen Sie wissen, dass ich Sie nicht schon beobachtet habe, als Sie Ihre Sachen ausgezogen haben?“

Tavy schluckte schwer. „Und, haben Sie?“

„Nein.“ Es klang bedauernd. „Aber ich werde bestimmt noch Gelegenheit dazu bekommen …“ Er verstummte, als ein Klingeln ertönte, und fischte dann sein Mobiltelefon aus der Hosentasche.

„Hallo“, meldete er sich. „Ja, alles in Ordnung. Ich bin gleich bei dir.“

Er beendete das Gespräch und stand auf. „Noch mal Glück gehabt“, rief er ihr zu.

„Sie auf jeden Fall“, konterte Tavy. „Ich hatte schon überlegt, ob ich Sie wegen sexueller Belästigung anzeigen sollte.“

„Nur, weil ich Sie ein bisschen aufgezogen habe?“ Der Fremde schüttelte den Kopf. „Ich glaube kaum. Denn dann hätten Sie der Polizei erklären müssen, wo Sie waren und was Sie hier gemacht haben. Wir sehen uns.“ Er warf ihr eine Kusshand zu und schlenderte, ohne sich noch einmal umzudrehen, davon.

2. KAPITEL

Tavy wartete, bis sie sicher sein konnte, dass der Fremde tatsächlich verschwunden war. Erst dann schwamm sie zum Ufer und ging mit weichen Knien zu der Statue.

Normalerweise hätte sie sich an der Sonne trocknen lassen, doch diesmal schlüpfte sie schnell mit noch nasser Haut in ihre Kleider. Der Zauber dieses für sie ganz besonderen Ortes war für immer verloren. Die Angst, erneut überrascht zu werden, war einfach zu groß.

In diesem Moment fühlte sie sich alles andere als erfrischt. Sie war völlig durcheinander. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und ihr war übel.

Wir sehen uns …

Es war das zweite Mal an diesem Tag gewesen, dass jemand diesen Satz zu ihr gesagt hatte. Das könnte dir so passen! hatte sie beide Male gedacht.

Wahrscheinlich würde es sich nicht vermeiden lassen, dass sie Fiona Culham über den Weg lief, aber sie könnte zumindest der Polizei melden, dass sich wieder Unbekannte in der Gegend herumtrieben.

Ein bisschen aufgezogen … von wegen! dachte Tavy, als sie in ihre schäbigen Canvasschuhe schlüpfte. Der Mann hätte ihr wirklich gefährlich werden können.

Nachdem sie das nasse Haar zu einem Zopf geflochten hatte, fühlte sie sich mehr oder weniger bereit, wieder unter Menschen zu gehen.

Als sie das Tor erreichte, stellte sie beinah überrascht fest, dass ihr Fahrrad noch dort stand. Erleichtert stieg sie auf und machte sich so schnell sie konnte auf den Heimweg.

Zurück im Pfarrhaus, traf sie in der Küche auf ihren Vater, der es sich über einem Kreuzworträtsel bei Tee und Kuchen gemütlich gemacht hatte.

„Hallo, Dad“, grüßte sie ihn fröhlich. „Der sieht aber lecker aus.“

„Ingwerkuchen“, erwiderte Lloyd Denison genauso gut gelaunt. „Mrs Harris vom Landfrauenverein hat ihn für mich gebacken, weil ich ihn letzte Woche auf dem Treffen so gelobt habe.“

„Du wirst vielleicht verwöhnt“, sagte Tavy ernst. „Wahrscheinlich haben sie irgendwie herausbekommen, dass meine Kuchen ungenießbar sind.“

Ihr Vater lächelte. „Das war doch nur bei deinem ersten Versuch. Die anderen haben hervorragend geschmeckt.“

„Du Schmeichler.“ Nach einer Pause fügte Tavy hinzu: „Dad, hast du gehört, ob das fahrende Volk zurückgekehrt ist?“

„Nein“, erwiderte er überrascht. „Ich hatte gehofft, dass man sie auf dem Platz in Lower Kynton untergebracht hat.“

Schön wärs, dachte Tavy, während vor ihrem geistigen Auge unvermutet das Gesicht des dunkelhaarigen Fremden mit den braunen Augen auftauchte, in denen Belustigung und noch etwas weitaus Beunruhigenderes aufblitzten.

Sie atmete tief durch und verscheuchte das Bild aus ihren Gedanken. „Und, was macht deine Predigt?“

„Die ist fertig. Aber wenn die Wohnwagen zurückgekehrt sind, sollte ich vielleicht eine neue über das Thema Nächstenliebe schreiben.“ Forschend betrachtete er seine Tochter. „Du siehst ein bisschen blass aus.“

Na, wenigstens sprach er sie nicht auf das nasse Haar an!

Tavy zuckte die Schultern. „Vielleicht bekommt mir das Wetter nicht so gut.“

„Komm, setz dich“, forderte er sie auf. „Ich mach uns neuen Tee.“

„Gern. Und wenn du ein Stück von dem Kuchen für mich übrig hast, nehme ich auch eins.“

Am nächsten Morgen machte Tavy sich früher als sonst auf den Weg zur Arbeit. Sie hatte nicht besonders gut geschlafen, führte es aber auf die unerträgliche Hitze zurück.

Während sie die Begegnung mit Fiona nun etwas lockerer sah, machte sie der Gedanke an das Gespräch mit dem Fremden auch jetzt noch nervös.

Als sie sich am Vorabend fürs Bett fertig machte, hatte sie sich sogar dabei ertappt, wie sie sich im Spiegel betrachtete und sich dabei vorstellte, wie sie nackt aus dem Wasser stieg, ihre Sachen nahm und ihn dabei einfach ignorierte.

Schließlich brauchte sie sich nicht zu schämen. Sie war vielleicht etwas zu schlank, und ihre Brüste hätten ruhig ein bisschen größer sein können, aber sie hatte einen flachen Bauch und runde Hüften.

Trotzdem war sie froh, dass sie im See geblieben war. Der erste Mann, der sie nackt sehen sollte, würde Patrick sein und kein dahergelaufener Spanner, der sie beim Baden überraschte.

Als Tavy die Schule jetzt durch den Hintereingang betrat, hörte sie die aufgebrachte Stimme von Mrs Wilding, und zwischendurch Patrick, der beruhigend auf sie einzureden schien.

Vielleicht hat er ihr endlich von unserer Beziehung erzählt, überlegte sie kurz und wäre am liebsten sofort wieder umgekehrt.

„Sei doch nicht so naiv“, tobte Mrs Wilding gerade. „Das könnte unser Ende sein. Sobald es sich herumspricht, gibt es einen Aufruhr unter den Eltern, und das zu Recht.“

Es ging also doch nicht um Patrick und sie. Also trat Tavy zögernd über die Schwelle zum Wohnzimmer. Patrick drehte sich sichtlich erleichtert zu ihr um. „Machst du meiner Mutter bitte einen Tee, Tavy? Sie ist … ziemlich außer sich.“

„Was hast du denn erwartet?“, brauste seine Mutter auf. „Kein vernünftiger Mensch wird seine Tochter guten Gewissens auf eine Schule schicken, in der er sie in der Nähe eines Junkies weiß!“

Tavy eilte in die Küche, um Tee aufzubrühen.

„Was ist los?“, flüsterte sie Patrick zu, als er zu ihr in die kleine Schulküche kam.

„Ich war gestern Abend mit Chris Abbott etwas trinken.“ Er atmete tief durch. „Ob du es glaubst oder nicht, er hat das Herrenhaus endlich verkauft.“

„Das ist doch toll.“ Sie goss Wasser auf und stellte die Kanne mit zwei Porzellantassen und dem silbernen Filter auf das Tablett. „Es muss endlich jemand dort einziehen, bevor die Plünderer es völlig auseinandernehmen.“

Patrick schüttelte den Kopf. „Nicht wenn der Käufer Jago Marsh ist.“ Als er ihren fragenden Gesichtsausdruck sah, seufzte er. „Meine Güte, Tavy, selbst du müsstest wenigstens mal von ihm gehört haben. Er ist ein Rockstar und Multimillionär. Er war Leadgitarrist bei Descent, bevor sie sich getrennt haben.“

Nun erinnerte sie sich dunkel an ein Gespräch ihrer Kommilitoninnen, die nach einem Konzert der Band über die erotische Ausstrahlung der verschiedenen Bandmitglieder diskutiert hatten. Dabei war unter enthusiastischen Schwärmereien auch der Name Jago Marsh gefallen.

Tavy unterdrückte einen Schauder. „Warum sollte ein Typ wie er in einem Kaff wie diesem hier leben wollen?“

Patrick zuckte die Schultern, bevor er das Tablett vom Tisch nahm. „Vielleicht ist das Landleben gerade angesagt. Chris meinte, Jago hätte Sir Georges Cousin auf einer Party in Spanien kennengelernt, und der habe ihm vorgejammert, dass er einen Landsitz hätte, den er nicht loswerde, obwohl er ein angemessenes Kaufangebot nicht ausschlagen würde.“

„Er hat es sich also anders überlegt.“ Tavy folgte ihm den Flur entlang zum Wohnzimmer.

„Ja, sieht so aus. Chris sagt, der Besitzer brauchte unbedingt Geld. Jago Marsh hat sich das Anwesen neulich angesehen. Es hat ihm gefallen, und er hat es gekauft.“ Patrick seufzte. „Und wir müssen jetzt damit leben.“

Mrs Wilding saß in einer Ecke auf dem Sofa und zerknüllte ein Papiertaschentuch in den fahrigen Fingern. „Ich hätte es gekauft, als es damals auf den Markt kam. Ich möchte ja schon seit einer Weile expandieren, aber er hat mein Angebot abgelehnt. Und jetzt hat er es doch zu einem Spottpreis verscherbelt.“

„Der Preis war trotzdem noch höher, als du es dir hättest leisten können“, erklärte Patrick.

„Aber es hätte doch noch andere Angebote gegeben“, erwiderte sie. „Warum überprüft Christopher Abbot nicht, ob die Leute noch interessiert sind? Dann könnte man wenigstens etwas Vernünftiges aus dem alten Kasten machen.“

„Ich glaube, der Vertrag ist schon unterzeichnet.“

„Oh, ich möchte gar nicht daran denken.“ Mrs Wilding nahm eine Tasse Tee von Tavy entgegen. „Die Regenbogenpresse und die Fans werden bei uns einfallen. Wahrscheinlich wird er ständig wilde Partys feiern und der Polizei wird nichts anderes übrigbleiben, als Drogenrazzien durchzuführen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Das ist unser Untergang.“ Dann wandte sie sich an Tavy. „Was wird Ihr Vater dagegen unternehmen?“

Tavy war verblüfft. „Na ja, ich denke, den Verkauf kann er nicht verhindern. Und er will sicher kein vorschnelles Urteil fällen“, fügte sie vorsichtig hinzu.

Mrs Wilding schnaufte verächtlich. „Mit anderen Worten, er wird keinen Finger krumm machen, um den Ruf der Gemeinde zu schützen. Was ist bloß aus dem Kirchenrebellen geworden?“ Sie stellte ihre Tasse weg. „Sie sollten jetzt mit Ihrer Arbeit anfangen, Octavia. Wenn Sie die Korrespondenz von gestern erledigt haben, sehen Sie mit Mrs Smith die Wäsche durch. Und wir brauchen einen neuen Gemüselieferanten. Holen Sie einige Angebote ein.“

Also wieder alles wie gehabt, dachte Tavy, als sie in ihr Büro ging. Fairerweise musste sie jedoch zugeben, dass Mrs Wildings Sorge nicht ganz unbegründet war, und sie fragte sich, ob der unangenehme Typ am See ein Vorbote der kommenden Katastrophe gewesen war. Wahrscheinlich gehört er zum Sicherheitspersonal, überlegte sie. Und ich habe von Überwachungskameras gesprochen. Kein Wunder, dass er sich über mich lustig gemacht hat. Hoffentlich rät er seinem Chef, die Mauer noch höher zu ziehen, und sich dahinter zu verschanzen.

An diesem Vormittag war viel zu tun, und Mrs Wildings Laune besserte sich nicht, als Tavy ihr die Liste mit der Wäsche gab, die vor Beginn des neuen Schuljahres dringend ersetzt werden musste, und ihr mitteilte, dass kein Lieferant bessere und günstigere Ware liefern konnte als der jetzige.

„Vielleicht sollte ich erst mal abwarten, ob wir im Herbst überhaupt noch Schülerinnen haben“, sagte Mrs Wilding, bevor sie Tavy in den Feierabend schickte.

Auch Tavys Stimmung war nicht die beste, nachdem Patrick ihr im Vorübergehen zugeflüstert hatte, dass er ihre Verabredung für den Abend absagen musste.

„Mutter will heute Abend eine Lagebesprechung mit mir abhalten, und ich glaube, unter den gegebenen Umständen sollte ich ihr das nicht abschlagen.“ Mit einem nervösen Blick auf die Tür hatte er sie zum Abschied nur flüchtig auf die Wange geküsst. „Ich rufe dich morgen an.“

Auf dem Weg nach Hause grübelte sie darüber nach, dass sie ausnahmsweise einmal voll und ganz die Meinung ihrer Arbeitgeberin teilte. Es war durchaus möglich, dass die Ankunft von Jago Marsh eine schreckliche Veränderung für das verschlafene Hazelton Magna nach sich ziehen würde. Und selbst wenn er sich nur für kurze Zeit hier niederließ, würde das Dorf danach wohl nie wieder dasselbe sein.

Wäre er bloß geblieben, wo er herkommt! dachte Tavy, während sie das Fahrrad an die rückwärtige Hauswand des Pfarrhauses lehnte und in die Küche trat.

Wie versteinert blieb sie stehen, als sie erkannte, wer mit ihrem Vater an dem rustikalen Pinientisch saß und sich bei ihrem Eintreten höflich erhob.

Autor

Sara Craven

Sara Craven war bis zu ihrem Tod im November 2017 als Autorin für Harlequin / Mills & Boon tätig. In über 40 Jahren hat sie knapp hundert Romane verfasst. Mit mehr als 30 Millionen verkauften Büchern rund um den Globus hinterlässt sie ein fantastisches Vermächtnis.

In ihren Romanen entführt sie...

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