Verbotenes Verlangen nach dem Wikinger

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„Begleiten Sie uns, Prinzessin!“ Die königliche Garde ist zur elterlichen Burg gekommen, um Livia zu holen: Sie soll den byzantinischen Herrscher heiraten, dem sie versprochen ist. Doch Livia ist auf den ersten Blick vom Anführer der Garde, dem hochgewachsenen Wikinger Destin, fasziniert. Beim Blick in seine dunklen Augen entbrennt in der jungen Prinzessin jäh ein heißes Verlangen, das Destin während ihrer gefahrvollen Reise leidenschaftlich erwidert. Dabei wissen sie beide: Sie werden niemals frei für diese Liebe sein, ohne ihr Leben zu riskieren …


  • Erscheinungstag 28.10.2025
  • Bandnummer 439
  • ISBN / Artikelnummer 9783751531757
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

Sarah Rodi

Verbotenes Verlangen nach dem Wikinger

1. KAPITEL

Schloss Harzburg, Sachsen

Zwölftes Jahrhundert

„Jetzt müssen Sie uns begleiten, Hoheit.“

O Gott, nein. Nein! Sie hatte gedacht, sie dürfte sich etwas länger Zeit nehmen …

Schweren Herzens, in wachsender Verzweiflung, beobachtete Prinzessin Livia die bewaffneten Männer, die durch die Halle zu ihr gingen. Sie hatte gewusst, der byzantinische Kaiser würde eines Tages nach ihr schicken. Davor hatte der Vater sie gewarnt. Trotzdem hatte sie sich an die trügerische Hoffnung geklammert, dieser Tag würde niemals anbrechen.

„Seine Kaiserliche Hoheit, Alexios Brasilenius, fordert Sie auf, die Vereinbarung einzuhalten, die Ihr Vater mit ihm in Konstantinopel getroffen hat, und ihn als seine Braut aufzusuchen“, verkündete der Anführer der gerüsteten Schar unter seinem Stahlhelm.

Hatte Alexios einen gewaltigen Geleitschutz die Flussstraße entlang und durch die Alpen hierhergesandt, um sein Recht durchzusetzen? Wenn er seine Braut in heißer Liebe ersehnte – warum war er nicht selbst erschienen? Statt Botschafter zu schicken, mit überzeugend Bekenntnissen seiner Zuneigung, hatte er seinen Kriegern befohlen, die künftige Gemahlin zu holen …

Beinahe brach Livia in Tränen aus.

Ihr Papa, der römische König, hatte sie dem Kaiser vor vier Jahren in Konstantinopel als Braut präsentiert, um dessen Gunst zu erringen. Denn damals hatte Byzanz sich geweigert, den Herrschaftsanspruch des Sachsen im Westen und dessen Eindringen ins südliche Italien anzuerkennen.

So lebhaft erinnerte Livia sich an die kühle Meeresbrise, die eisige Majestät des weißen kaiserlichen Palastes, während sie dem jungen Kaiser vorgestellt worden war. Sie hatte ihren Vater nicht enttäuschen wollen, aber verzweifelt gehofft, Alexios würde ihr keinen Blick gönnen.

Dennoch war genau das geschehen, ihr Schicksal besiegelt gewesen.

Beklommen dachte sie an die kalten blauen Augen des Kaisers, die langsam über ihren Körper geschweift waren, an ihren Schauder, die Gänsehaut … Ohne Zögern hatte er sie zu seiner Braut ernannt, die panische Angst erzeugt, ihre Freiheit, eine lebenswerte Zukunft zu verlieren. Immerhin war es ihrem Vater gelungen, eine vierjährige Frist auszuhandeln, bis das Paar die nötige Reife erlangen würde.

Livia hatte Zuflucht in Harzburg gesucht, im Schloss ihrer verstorbenen Mutter, und gehofft, der gefürchtete Zeitpunkt würde ereignislos verstreichen.

Doch in diesem Jahr war sie achtzehn geworden – und man hatte ihr Versteck offenkundig aufgespürt. Gleichwohl schätzte sie sich glücklicher als die meisten Mädchen ihres Standes, denn sie hatte die letzten Jahre für ihre eigenen Interessen nutzen dürfen. Nur zu gut wusste sie, welchen Platz eine Frau auf dieser Welt einnehmen und welche Pflichten sie erfüllen musste. In ihrem Fall ging es um eine Heirat, die eine vorteilhafte Allianz bildete, dem Reich ihres Papas und ihrer Familie nützte. Trotzdem würde es ihr unendlich schwerfallen, ihre Heimat zu verlassen, die Gattin eines Mannes zu werden, den sie kaum kannte.

„Zu dieser Vereinbarung kam es in meiner Kindheit.“ Den Kopf hoch erhoben, versuchte sie vor der uniformierten Truppe kühn und selbstsicher zu erscheinen. Würde ihr Vater die Abmachung jetzt immer noch einhalten? Inzwischen hatte er den Tod seines Erstgeborenen beklagen müssen, ihres Bruders Otto, und sie war die alleinige Erbin des Königreichs. An jenem kalten Wintertag war es eine Geste seines guten Willens gewesen, sie dem byzantinischen Kaiser als Braut anzubieten, eine Verbindung zweier großer Imperien. Neben der Königin würde Alexios, ein Fremder, auf dem Thron des Heiligen Römischen Reiches sitzen.

„Seither sind vier Jahre verstrichen“, entgegnete der Kommandant. „Also hatten Sie genug Zeit, um sich an die Tatsachen zu gewöhnen.“

Nicht einmal eine halbe Ewigkeit würde ausreichen, um sich an so etwas zu gewöhnen. Wer war dieser Mann, in ein Kettenhemd und einen Umhang gehüllt? Warum begegnete er ihr so frostig, so mitleidlos?

„Werden Sie mit uns kommen, Hoheit?“, fuhr er fort. „Es wäre mir sehr unangenehm, müsste ich zu meinem Kaiser zurückkehren und ihm erklären, das Wort Ihres Königs sei nicht vertrauenswürdig.“

Livias Herz hämmerte heftig gegen die Rippen. „Nein … Auf das Wort meines Vaters ist Verlass. Ich möchte nur betonen, er habe mich dazu erzogen, stets meiner eigenen Meinung zu folgen. Nun möchte ich einige Fragen stellen, bevor ich die Sicherheit meines Zuhauses mit jemandem verlasse, der nicht einmal so höflich ist, sich vorzustellen.“

Langsam nahm er seinen blank polierten Helm ab, schüttelte sein langes Nackenhaar, und beim Anblick seines Gesichts stockte ihr der Atem.

„Ich bin Destin, Hoheit, der Leibwächter des byzantinischen Kaisers und der Befehlshaber der Kaiserlichen Garde.“

Nur für einen kurzen Moment glaubte sie ihr Gleichgewicht zu verlieren, geblendet vom überwältigenden Aussehen dieses Mannes. Trotz silbriger Narben im gebräunten Gesicht, erschien er ihr auf düstere Art anziehend. Mit dichten Brauen, einem breiten Kinn voller Bartstoppeln und einer kraftvollen Gestalt stand er offensichtlich in der Blüte seines Lebens. Die stolze Haltung strahlte unerschütterliches Selbstvertrauen aus. Während sie in seine dunklen, fast schwarzen Augen sah, glaubte sie eine leichte Veränderung zu bemerken. Harte, abweisende Augen.

Livia erkannte die Uniform der Warägergarde – den burgunderroten Umhang und das Drachenemblem hatte sie bei ihrem Besuch in Konstantinopel gesehen. Ihr Vater hatte erklärt, der Großteil der kaiserlichen Leibgarde würde aus barbarischen Söldnern bestehen. War dieser Mann ein Heide aus dem Norden? Das würde seine raue, ungeschliffene Erscheinung erklären. Und da sie mehrere Sprachen studiert hatte, war ihr sein nordischer Akzent aufgefallen.

Zudem war er größer, stärker und imposanter als alle anderen Männer in der Halle – eigentlich als alle, die sie jemals gesehen hatte. Und er übte eine sonderbare Wirkung auf ihren Körper aus, wie ein plötzlicher Weckruf.

Fast verzweifelt versuchte sie wegzuschauen, nicht zu überlegen, ob sein angewinkelter, geschienter linker Arm, an den Körper gepresst, und die Gesichtsnarben von Verletzungen auf Schlachtfeldern herrührten.

Wie das Getuschel in der Königlichen Halle verriet, machte sein Anblick auch auf die Damen und Herren des Hofstaats einen gewissen Eindruck. Darauf schien er nicht zu achten. Ungerührt erwiderte er ihren Blick, was ihre Herzschläge erneut beschleunigte.

Inzwischen hatte seine Truppe eine Phalanx um Livia gebildet – als sollte sie zu einer Hinrichtung geleitet werden, nicht zu einer Hochzeit … Doch sie würde sich trotz dieser einschüchternden Strategie nirgendwohin führen lassen, ohne zu erfahren, ob ihr Vater es immer noch wünschte.

„Erhielt Kaiser Alexios eine Nachricht von unserem König, der Sie nach Harzburg sandte, Herr Destin?“ Herausfordernd reckte sie ihr Kinn empor.

„Vor sieben Tagen traf ich Ihren Vater, Hoheit, und er teilte mir mit, wo Sie zu finden wären.“

Da ihr letzter Hoffnungsschimmer erlosch, wusste sie in tiefster Not keine Antwort.

„Nun muss ich mit Ihnen sprechen, Hoheit. Unter vier Augen.“

Allein mit diesem Mann? Einer personifizierten Gefahr? Am ganzen Körper begann ihre Haut zu prickeln. „Was Sie zu sagen haben, kann ich auch hier hören.“

„Nein, es muss zwischen nur uns beiden geklärt werden, Prinzessin Livia“, drängte er, wobei er seine Stimme ein wenig senkte.

Die Lippen zusammengepresst, starrte sie ihn an. War er unfähig, Kompromisse zu schließen? Sollte sie sich weigern? Andererseits erwachte ihre Neugier. Was mochte es sein, das der Hofstaat nicht erfahren durfte? Eine Botschaft von ihrem Papa? Oder fand der Kommandant es einfacher, sie ohne Publikum hinauszubefördern?

Hastig sah sie sich um. Gab es einen Fluchtweg? Soll sie einfach weglaufen …? Nein, mittlerweile war sie erwachsen, die Erbin des Königreichs – die impulsive Flucht in ein Versteck geziemte sich nicht mehr. Zudem hatte der unwillkommene Besucher gewiss vor allen Krieger Türen postiert.

Da er natürlich eine Antwort erwartete, zwang sie ihre Lippen, sich zu bewegen. „Also gut.“ Sie stand von ihrem kunstvoll geschnitzten Stuhl auf und warf herausfordernd ihren Kopf in den Nacken. „Meine Damen und Herren, verlassen Sie uns“, befahl sie ihrem Hofstaat.

Mehrere Kehlen schnappten vernehmlich nach Luft.

„Hoheit …“, begann Livias oberster Berater zu protestieren. „Sind Sie sicher?“

„Ja, verlassen Sie uns!“, wiederholte sie in strengerem Ton.

Ohne ein weiteres Wort verneigte er sich, eilte durch eine der Türen hinaus, gefolgt von den Damen und Herren.

Der Kommandant hielt Livias Blick fest, bis der letzte Höfling die Tür hinter sich geschlossen hatte. Durch einen anderen Ausgang verschwand seine Truppe.

Abwartend schaute sie zu dem hochgewachsenen Fremden auf. Das Schweigen zog sich in die Länge.

„Nun?“, fragte sie schließlich. „Was haben Sie mir zu sagen? Etwas Angenehmes würde ich vorziehen.“

Mit gebieterischen Schritten trat er näher. „Leider muss ich Sie vor Ihrer gefährdeten Position warnen, Hoheit. Demgemäß werden Sie mir unverzüglich aus dem Schloss folgen.“

„Da das Leben einer Königlichen Hoheit ist immer bedroht, erzählen Sie mir nichts Neues.“

„Ich bin noch nicht fertig!“, stieß er hervor. „Was ich ihnen mitteilen muss, wird Sie bestürzen. Deshalb sollten Sie sich wieder setzen“, fügte er hinzu und zeigte auf ihren Stuhl.

Eigensinnig schüttelte sie den Kopf.

„Also gut …“, begann er langsam. „Ihr Vater, Hoheit … Sosehr ich es auch bedaure, der Überbringer dieser Nachricht zu sein – der König liegt im Sterben.“

Bis der Sinn dieser Worte in ihr Bewusstsein drang, dauerte es eine Weile.

„Was?“ Zitternd presste Livia eine Hand auf ihre Brust. Eine solche Neuigkeit hatte sie am allerwenigsten erwartet. Sie schwankte, der Kommandant streckte eine Hand aus, stützte sie, und sie zuckte zusammen.

„Wurde Ihnen die Botschaft geschickt, Ihr Vater sei auf dem Feldzug nach Süditalien verletzt worden, Hoheit?“

„Ja – doch wir erfuhren nicht, es sei etwas Ernstes.“

„Weil Ihr Vater und seine Berater keine Unruhe in seinem Volk stiften wollten, bevor Ihre Sicherheit gewährleistet ist, Hoheit. Nur eine kleine Gruppe weiß Bescheid. Die Wunde wurde infiziert. So entsetzliche Schmerzen muss er erdulden.“

Qualvolle Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie entzog ihren Arm seiner Hand und sank auf den Stuhl zurück, weil die Beine sie nicht mehr trugen. „Sind – Sie sicher?“, würgte sie hervor.

„Ja, ich sah ihn aus nächster Nähe. Tut mir sehr leid, Hoheit.“

„Also gibt es keine Möglichkeit, ihn zu heilen?“

Livia war keineswegs bereit, den Verlust ihres geliebten Vaters hinzunehmen – geschweige denn, den Thron zu besteigen. Obwohl sie jahrelang darauf vorbereitet worden war, fragte sie sich, ob sie jemals dazu bereit wäre. Schon in früher Kindheit hatte sie die Mutter verloren. Und jetzt würde auch der Vater sie verlassen? Musste sie in so jungen Jahren Königin werden?

Allerdings wusste sie, dass die Thronfolge nach dem Tod eines Königs nicht erblich war. Den nächsten Herrscher würde eine kleine Fürstengruppe wählen. Wäre Otto noch am Leben, müsste man seinen Anspruch berücksichtigen. Aber – ich bin eine Frau … Welcher Mann könnte ihr den Titel streitig machen?

„Die Heilkundigen tun ihr Bestes“, versicherte der Kommandant. „Unglücklicherweise hat sich die Infektion ausgebreitet, und sie sind machtlos. Die Neuigkeit wird sich allmählich ausbreiten und das Volk beunruhigen. Deshalb soll ich Sie möglichst schnell und sicher nach Konstantinopel geleitet, Hoheit.“

Sicher? An seiner Seite? Wäre die Situation nicht so tragisch gewesen, hätte sie fast gelacht. An diesem Mann wirkte gar nichts sicher …

„Zweifellos werde ich in Rom gebraucht, in meinem Imperium“, behauptete sie, „nicht in Konstantinopel. An der Seite meines Vaters muss ich mich aufhalten, zum Nutzen unseres Volkes …“

„Auch in Rom wären Sie gefährdet, Hoheit“, unterbrach er sie, „weil wir von einem Komplott hörten, das Sie vom Thron stürzen soll. Bevor das geschehen kann, müssen Sie mit dem byzantinischen Herrscher vermählt sein.“

Die Halle begann sich um Livia zu drehen. Während ihr Vater auf dem Totenbett lag – ein Gerücht über einen Anschlag auf ihr Leben?

„Welche – Leute haben sich gegen mich verschworen?“, stammelte sie.

„Ihr Onkel, Hoheit – Fürst Lothair und seine Getreuen.“

„Nein!“, rief sie entsetzt. „Niemals würde er …“ Entschieden schüttelte sie den Kopf.

„Doch, genau das plant er. Etwa zur gleichen Zeit wie ich traf auch Fürst im Palast ein. Von der schweren Erkrankung des Königs hatte er wohl schon vor mir gehört. Wenig später reiste er ab, und wir glauben, dass er unter den Fürsten um Verbündete wirbt. Vermutlich wissen Sie, Hoheit, wie man in diesen Kreisen über eine Frau auf den Thron denkt – noch dazu eine blutjunge. Wegen dieses Problems haben sich einige Männer an das Wahlkollegium gewandt, sobald der Zustand Ihres Vaters bekannt wurde. Wahrscheinlich möchte Ihr Onkel mit aller Macht um die Krone kämpfen und Ihnen alle Chancen verbauen, so gering sie auch sein mögen.“

So gering …?

„Kommandant, Sie haben Ihre Meinung ziemlich freimütig geäußert. Wenn ich kaum Erfolgschancen habe, wieso sieht mein Onkel dennoch eine Bedrohung in mir? Warum ist er wild entschlossen, mich zu beseitigen?“

„Weil es einfacher ist, etwas von vorneherein zu verhindern …“

„… als mich später zu ermorden“, ergänzte sie.

Er nickte. „Deswegen müssen Sie möglichst schnell in die Obhut des Kaisers gelangen. Ein allmächtiger Gemahl wird Ihre Position endgültig festigen.“

Das war also der Grund, warum Alexios in aller Eile nach ihr geschickt hatte. Über den bevorstehenden Tod ihres Königs informiert, musste er um ihre Sicherheit bangen – und fürchten, das schöne Heilige Römische Reich einzubüßen.

O Gott, so inbrünstig hoffte sie, ihr geliebter Papa würde am Leben bleiben!

„Interessiert er sich für mich oder eher für mein Erbe?“

„Was die Gefühle des Kaisers angeht, maße ich mir kein Urteil an. Wie auch immer – eine Königin braucht einen Beschützer, der ihr hilft, ihr Volk zu regieren.“

„Den brauche ich keineswegs!“ Erneut sprang sie von ihrem Stuhl auf empört über die herablassenden Worte des Kommandanten. „Womöglich wünscht mein Volk diese Heirat gar nicht, aus lauter Angst vor einem Ausländer auf unserem Thron. Und vielleicht sollte der Kaiser eine andere Braut suchen.“

Die Lider des Kommandanten zogen sich zusammen. „Oder vielleicht sieht Ihr Volk im Herrscher von Konstantinopel einen wertvollen Verbündeten. Ihr Vater strebt diese Trauung an, Hoheit. Warum sind Sie dagegen? Möchten Sie nicht heiraten?“

Alexios will ich nicht heiraten, dachte sie und fühlte sich elend. An keinen Mann wollte sie ihre Autorität verlieren.

Nach dem Tod ihres Vaters, mit ihr vermählt, würde der Kaiser zwei Reiche beherrschen. Das missfiel ihr. Ebenso wenig gönnte sie den Thron ihrem Onkel. Doch darüber mochte sie nicht mit diesem respektlosen Fremden reden. Und so antwortete sie: „Das geht Sie nichts an.“

„Offenbar sehr viel, weil ich hierhergesandt wurde, um sie nach Konstantinopel zu bringen. Eventuell würde ich Ihre Weigerung verstehen, Hoheit, wenn Sie mir Ihre Beweggründe erklären.“

Die machtvolle Ausstrahlung dieses Mannes … Livia musste ihre Knie am Zittern hindern, sich irgendwie gegen ihn behaupten. „Gar nichts muss ich Ihnen erklären. Jedenfalls hat mein Papa Sie nicht zu mir geschickt, sonst wäre ich vom Palast verständigt worden. Um seine Erbin holen zu lassen, hätte er seine Gefolgsleute damit beauftragt – keinen ausländischen Gesandten.“

Der Kommandant griff unter seinem geschienten Arm in eine Ledertasche und entnahm ihr ein Stoffstück. „Bei diesem Anblick würden Sie mir vertrauen, sagte er. Das soll ich Ihnen geben, Hoheit.“

Livias Finger umschlossen die kleine quadratische Stickerei, die ihrer verstorbenen Mutter gehört hatte. Als Kind hatte sie damit geschlafen, eine Wange an den weichen Stoff gedrückt, und ein bisschen Trost gefunden. In ihrer Kehle stieg ein Schluchzen auf, hinter ihren Augen brannten Tränen. Mit aller Kraft riss sie sich zusammen, dieser Mann durfte ihre Seelenqualen nicht sehen.

„Zunächst wurde ich nach Rom beordert, um Sie zu holen, Hoheit“, fuhr er fort. „Statt der Prinzessin begegnete ich ihrem Vater. Auch er findet, derzeit wären Sie in Konstantinopel besser aufgehoben. Er begrüßt Alexios’ Entschluss, Sie zu beschützen. Außerdem glaubt er, auf der Reise würde meine Truppe nicht so auffallen wie sein Gefolge. Jetzt sollten wir keine weiteren Einzelheiten erörtern, nicht die Pflichten vergessen, die wir erfüllen müssen.“

Mühsam schluckte sie. Pflichten. Darum ging es immer wieder, und sie fühlte sich so beschwert, als würden Gewichte an ihren Füßen hängen und würden sie in schwarze Tiefen hinabziehen. Die Hoffnung, jenen gefürchteten Tag würde sie niemals erleiden, war endgültig geschwunden, weil sie das Versprechen ihres Vaters nicht brechen durfte.

„Sie sind sehr hartnäckig, Kommandant, Was springt für Sie bei alldem heraus? Werden Sie bezahlt, wenn Sie mich unversehrt in Konstantinopel abliefern? Sind Sie ein gedungener Söldner? Möglichst viele Münzen … Ist das Ihr Beweggrund?“

„Unter anderem.“

„Und wenn Sie erfolglos zurückkehren?“

„Dann würden wir beide unserem Pflichten verletzen. Was Sie wissen sollten, Hoheit, ich lebe nach drei Regeln – Mut, Ehre und Treue. Wenn Sie sich dem byzantinischen Kaiser verweigern, werden Sie Ihre Ehre verlieren. Und einen Verbündeten, den sie in diesen unheilvollen Zeiten dringend brauchen.“

„Ist das eine Drohung?“ Livias Augen verengten sich.

„Eher ein Ratschlag, Hoheit. Der Kaiser möchte Ihren Thron retten. Und wenn Sie Ihr Königreich nicht verlieren wollen, sollten Sie gemeinsam mit ihm regieren.“

Ich habe wohl keine Wahl … Forschend sah sie zu ihm auf. „Da er Ihnen diesen Auftrag erteilt hat, muss er Ihnen bedingungslos vertrauen.“

„Ja.“ Mehr verriet er nicht.

„Also gut, ich werde Sie begleiten. Aber ich stelle Bedingungen.“

Prompt öffnete er den Mund, um zu protestieren, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Wenn ich Ihren Herrscher heirate, müssen Sie auch vor mir das Knie beugen, nicht wahr?“

Statt zu antworten, umfasste er mit seiner gesunden Hand den Schwertgriff an seiner Seite.

„Bevor wir nach Konstantinopel reisen, will ich meinen Vater in Rom aufsuchen und feststellen, ob Sie die Wahrheit gesagt haben, Kommandant.“

Und sehen, ob er wirklich im Sterben liegt – und mich verabschieden … Energisch schluckte sie neue Tränen hinunter.

Zu ihrer Verblüffung nickte er. „Bei Tagesanbruch verlassen wir das Schloss. Ohne Ihr Gefolge, Hoheit.“

„Aber …“

Sofort hob er seine Hand und brachte sie zum Schweigen. „Ihr Geleit würde Aufsehen erregen. In Konstantinopel können wir nach Ihren Zofen, Hofdamen und Beratern schicken.“

„Werden Sie mit Ihren Männern zur Abendmahlzeit hierbleiben – auch über Nacht?“

„Ja“, bestätigte er und trat ein paar Schritte zurück. „Selbstverständlich werden wir Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten, Hoheit.“ Nach einer knappen Verbeugung wandte er sich ab und ging zur Vordertür.

Unglücklich starrte sie seinem breiten Rücken nach.

Keine Unannehmlichkeiten … In der kurzen Zeit seit seiner Ankunft hatte er ihre ganze Welt durcheinandergebracht.

Destin war beeindruckt. Eigentlich hatte er Tränen erwartet, einen Fluchtversuch der Prinzessin. Nicht diese stoische Gelassenheit.

Aufmerksam hatte er sich in der kleinen Halle umgeschaut. Schlichte Wandbehänge, ein paar Schilde, eine Hofgesellschaft, die angeregt plauderte … Eher bescheiden für die Tochter des römischen Königs. Offenbar bevorzugte sie kein majestätisches Schloss, sondern eine Art Zuhause. Dass sie in Konstantinopel eine verschwenderische Pracht vorfinden würde, musste sie nach ihrem damaligen Besuch wissen.

Warum versteckt sie sich in diesem abgeschiedenen bergigen Gebiet, überlegte er im Speisesaal, beim Abendessen mit Prinzessin Livia und dem Hofstaat. Weit weg vom glanzvollen Palast in Rom? Normalerweise wollte eine Frau ihres Alters und Standes gesehen werden. Stattdessen war sie in dieser rauen Gegend erblüht wie die alpine Flora, die er auf der Reise hier gesehen hatte.

Während er sein Stück Fleisch und das Gemüse verzehrte, warf er ihr immer wieder verstohlene Blicke zu. Sie nahm kaum etwas zu sich, schob das Essen in ihrer Schüssel mit dem Löffel hin und her. In Byzanz, anlässlich der Brautschau vor Kaiser Alexios, hatte er ein unscheinbares, ungelenkes vierzehnjähriges Mädchen gemustert. Inzwischen war sie zu einer anmutigen Schönheit herangewachsen. Der Kaiser würde sich freuen – und seine Abneigung gegen die Ehe vielleicht überdenken angesichts dieser glatten olivefarbenen Haut und hohen Wangenknochen, dieser funkelnden goldbraunen Augen, des seidigen dunklen Haars, dessen Farbe den Feigen von Byzanz glich.

Und wie elegant sie aussah … Sie trug eine schlichte blaue Seidentunika, darüber einen dunkelblauen Schal, von einer Brosche zusammengehalten. Obwohl sich der schlanke Körper darunter nur erahnen ließ, lief das Wasser in Destins Mund zusammen.

Helvete – zur Hölle!

Diese unwillkommene Wirkung hatte er sofort verspürt. Als wäre seine Brust von einer Pfeilspitze getroffen worden. Sehr unangenehm. Das Letzte, was er brauchte – den viel zu intensiven Liebreiz der kaiserlichen Braut. Da er verpflichtet war, seinem Herrscher die unbeschadete Prinzessin zu übergeben, konnten allein schon solche anzüglichen Hirngespinste zu einer Todesstrafe führen.

Eine verbotene Frucht … Das durfte er nie vergessen.

Nachdem er seinen Helm abgenommen hatte, waren ihm Prinzessin Livia geweitete Augen nicht entgangen. Ihr Blick war über die Narben in seinem Gesicht geglitten, den angewinkelten, geschienten Arm. Zweifellos gehörte dies zu den Gründen, weshalb er für den Auftrag erwählt worden war. Ein kaiserlicher Kommandant, in zahlreichen Schlachten erprobt – zu unansehnlich, um Frauen zu gefallen, geschweige denn der Braut des Regenten …

Anscheinend in düstere Gedanken verloren, starrte die Prinzessin ins Leere. Destin fühlte sich schuldig, weil er ihre Melancholie verschuldete – ein Fremder, der ihre friedvolle, glückliche Welt plötzlich mit der Nachricht vom baldigen Tod ihres Vaters und dem Täuschungsmanöver des Onkels störte.

So energisch hatte sie sich geweigert, ihr Schloss zu verlassen, Alexios zu ehelichen. Das verstand er nicht. Die meisten Frauen würden sich auf eine so vorteilhafte Heirat und den Genuss solcher Privilegien geradewegs stürzen.

Nur mit aller Mühe war es ihm gelungen, Livia umzustimmen.

Plötzlich stürmten einige der Kundschafter, die er ausgesandt hatte, in den Saal. „Kommandant, sie sind hier!“

Destin griff instinktiv nach dem Schwert an seiner rechten Seite. Gleichzeitig spürte er den Blick der Prinzessin, der von ihrem Tisch zu seinem schweifte. Er sprang auf, eilte den Männern entgegen und bedeutete ihrem Anführer, mit gedämpfter Stimme zu sprechen.

„Ringsum, im Wald und auf den Feldern, war anfangs alles ruhig. Gerade wollten wir hierher zurückkehren, da entdeckten wir eine Truppe, die sich von Osten her näherte. Noch vor dem Ende dieser Mahlzeit wird sie das vordere Haupttor erreichen.“

„Wie viele?“

„Vierzig. Vielleicht fünfzig.“

Der zarte, blumige Duft der Prinzessin stieg in Destins Nase, noch bevor er merkte, dass sie ihm gefolgt war.

„Wer kommt zu uns?“, fragte sie. „Was stimmt denn nicht?“

„Wir haben Männer unter dem Banner des Phönix gesichtet, Hoheit“, erwiderte der Kundschafter.

„O Gott, mein Onkel!“, wisperte sie.

„Bemannen Sie sämtliche Mauern“, befahl Destin dem Anführer, „bereiten Sie alle unsere Männer auf eine Schlacht vor.“

„Nein!“, protestierte Prinzessin Livia. „Hier wird nicht gekämpft. Um meinetwillen darf niemand verletzt werden. Ich werde mit meinem Onkel reden und versuchen …“

„So ehrenwert das auch sein mag, Hoheit“, fiel Destin ihr ins Wort, „Fürst Lothair und seine Krieger dürfen Sie keinesfalls sehen. Wie weit er gehen würde, um seinen Anspruch auf die Krone zu fördern, wissen wir nicht. Also werden wir kein Risiko eingehen. Man wird ihm mitteilen, Sie seien abgereist, und dann müssen wir unverzüglich mit Ihnen verschwinden.“

„Sollten wir nicht besser hier ausharren?“, flehte sie ihn an, mit schönen großen Goldaugen. „Harzburg ist uneinnehmbar. In diesen Wänden sind wir sicher, meine Männer werden mich verteidigen. Und ich verstecke mich …“

Unbeirrt schüttelte er den Kopf. „Falls Ihre Gegner das Schloss belagern, werden Sie ziemlich lange gefangen gehalten – bis Ihr Onkel den Thron bestiegen hat. Wir müssen Sie schleunigst von hier wegbringen.“

„Aber ich habe keine Sachen gepackt. Und – mein Volk …“

„Ihre Untertanen geraten in eine viel schlimmere Gefahr, wenn Sie hierbleiben, Hoheit. Dadurch würden Sie Fürst Lothairs Mannen zur Belagerung veranlassen. Es gibt keinen anderen Ausweg, Sie müssen mir nach Konstantinopel folgen.“ Zu seinen Soldaten gewandt, befahl er: „Zäumt die Pferde auf, ermahnt die Torhüter zur Wachsamkeit. Und sie sollen diesen Besuchern mitteilen, Prinzessin Livia sei vor mehreren Tagen abgereist.“

In aller Eile entfernten sie sich, und Destin ließ seinen Schwertgriff los, um den Arm der Prinzessin zu umfassen. „Packen Sie das Nötigste zusammen, dann brechen wir auf.“

Ihre weiche Haut zu berühren, erzeugte die gleiche verstörende Hitze in seinen Adern wie jene, als er sie nach der traurigen Nachricht über ihren Vater gestützt hatte.

Sobald er sie aus dem Saal in einen Korridor geführt hatte, schüttelte sie seine Hand ab. „Ich kann allen gehen!“, zischte sie. „Und es missfällt mir, herumkommandiert zu werden. Hier gebe ich den Ton an!“

„Was immer ich sage oder tue, geschieht zu Ihrem Besten, Hoheit.“

„In der Tat?“

Leichtfüßig eilte sie den Gang entlang, in dem mehrere Wandleuchten zwischen kleinen Fenstern brannten. Destin bemühte sich, in seinem schweren Kettenhemd mit ihr Schritt zu halten. Neben einer Tür blieb sie stehen, und er stieß beinahe mit ihr zusammen.

Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, überquerte sie die Schwelle und drehte sich zögernd zu ihm um.

Er spähte in beide Richtungen des Flurs, dann zog er seinen Kopf unter dem oberen Türrahmen ein und inspizierte den Raum, um festzustellen, dass keine Gefahr darin drohte. „Ist das Ihr Zimmer?“

„Ja.“

In der Mitte des Gemachs stand ein großes Bett voller Pelzdecken, aus mehreren Truhen quollen Kleider. Seidentücher und Umhänge bedeckten den Boden – wo immer die Bewohnerin das alles fallen gelassen hatte.

„Warten Sie draußen“, verlangte sie.

„Sieht wohl kaum so aus, als könnte ich irgendwohin treten“, spöttelte er.

Mit schmalen Augen starrte sie ihn an und öffnete den Mund. Doch die beabsichtigte schroffe Entgegnung erklang nicht, weil plötzlich ein gewaltiger Lärm außerhalb der Mauern erklang, gefolgt von gellendem Geschrei in der Halle und im Speisesaal.

„Zurück!“ Er schob Prinzessin Livia weiter ins Zimmer hinein, sprang hinterher und warf die Tür hinter sich zu.

„Was machen Sie?“, kreischte sie. „Hier herein – dürfen Sie nicht kommen!“

„Vorläufig sollte die Schicklichkeit Ihre geringste Sorge sein, Hoheit. Raffen Sie möglichst viele Kleidungsstücke zusammen, dann fliehen wir.“

Ja, möglichst dicke Stoffschichten mussten ihre reizvollen Kurven verdecken, auf der gemeinsamen Reise seinen von ihrem trennen …

Destin stand am Rand des breiten Betts, während seine Schutzbefohlene auf der anderen Seite einen Ranzen vollstopfte und ihr Blumenduft zu ihm herüberwehte … Irgendwie musste er alle unvernünftigen Gedanken verbannen.

Was ist nur los mit mir? Er musste sich zusammenreißen, statt die lockenden Pelzdecken zu mustern. Um sich abzulenken, erläuterte er: Auf der Via Imperii und dem Pass über die Alpen gelangen wir nach Rom. Gewiss eine riskante Route. Und es wird kalt sein. Trotz des baldigen Sommers könnte an manchen Stellen immer noch Schnee liegen …

„Diese Reise habe ich oft genug unternommen“, unterbrach sie ihn.

„Zu Pferd?“

„Und im Wagen.“

„Ah …“

„Was hat dieser Lärm zu bedeuten?“ Sie wühlte in einer Truhe, zerrte einen pelzbesetzten Umhang heraus, und Destin sah ihre zarten Finger beben.

„Das weiß ich nicht. Aber ich vermute, die Leute Ihres Onkels vergeuden keine Zeit. Wahrscheinlich zweifeln sie an Ihrer Abwesenheit und wollen das Schloss nach Ihnen absuchen …“ Beim Anblick eines leuchtend bunten Seidenschals in ihrer Hand runzelte er die Stirn. „Nehmen Sie – etwas Unauffälligeres mit. Wir dürfen nirgendwo Aufsehen erregen.“

Falls das überhaupt möglich war, angesichts ihrer atemberaubenden Schönheit …

Er ging zur Tür, öffnete sie einen Spaltbreit und sah sich im Korridor um. Einerseits drängte es ihn, seinen Leuten beizustehen, hinauszulaufen und herauszufinden, was vorging. Andererseits durfte er die Sicherheit der kaiserlichen Braut keinem anvertrauen außer sich selber. Und er war beauftragt worden, sie von hier wegzubringen. Diese Pflicht musste er erfüllen. Nur er allein.

Als er die Tür wieder schloss und sich umdrehte, saß Prinzessin Livia auf der Bettkante, schlüpfte in ihre Stiefel und entblößte, nur ganz kurz, die milchweiße Haut eines Knöchels.

Destins Mund wurde trocken. „Beeilen Sie sich!“

Endlich stand sie neben ihm, in einen dunklen Umhang gehüllt.

„Fertig?“, fragte er.

„Wenn es sein muss …“

Er nahm ihr den Ranzen ab und bugsierte den Riemen über seine Schultern, sodass er am Rücken hing. Langsam und vorsichtig öffnete er die Tür, sah sich wieder im Flur um. Metallisches Klirren und markerschütternde Schreie jagten einen Schauer über seinen Rücken; auch das Pfeifen fliegender Pfeife, mit dumpfen Geräuschen in Menschenkörper gebohrt, nur für geschulte Ohren vernehmlich. Eine so fürchterliche Situation hatte er nicht erwartet, eher geglaubt, Fürst Lothair würde die Nichte nur bis zu seiner Inthronisation gefangen halten.

„Wenigstens helfen meine Männer Ihrer Wache, Widerstand zu leisten, Hoheit. Dadurch wird der Feind abgelenkt, und wir können fliehen. Gibt es außer dem Haupttor noch einen Weg ins Freie?“

„Heißt das – Ihre Soldaten begleiten uns nicht?“ In sichtlicher Panik schnappte sie nach Luft. „Nur – wir beide verlassen das Schloss?“

„Im Moment sieht es danach aus. Sobald die Lage geklärt ist, werden sie uns einholen.“

Widerstrebend nickte sie und schien sich in ihr Schicksal zu fügen. „Es gibt einen Geheimgang, der würde uns in den Wald am Fuß des Gebirges führen, nahe einem Brunnen.“

„Dann werden wir diese Richtung einschlagen.“

„Und – Pferde? Zu Fuß können wir Rom unmöglich erreichen.“

„Erst einmal müssen wir unbemerkt von hier verschwinden. Um Pferde kümmern wir uns später. Wohin gehen wir?“

Sie wies mit dem Kinn in die Richtung, der sie bisher gefolgt waren, und er ergriff wieder ihren Arm. Sofort riss sie sich los. „Rühren Sie mich nicht an …“, begann sie und verstummte, weil einige Krieger an ihnen vorbeiliefen.

„Bemannt alle Ausgänge!“, befahl Destin. „Bringt die Frauen und Kinder in Sicherheit. Und verratet nicht, dass euch Ihre Hoheit begegnet ist!“

Sie nickten, rannten weiter, und er eilte mit Prinzessin Livia zu einer Wendeltreppe, die in scheinbar endlose Tiefen hinabführte. Immer wieder spähte sie hinter sich, lauschte den immer leiseren Geräuschen der Scharmützel in den oberen Räumen.

„Keine Bange, Hoheit“, versuchte er sie zu beschwichtigen. „Mein Schwert wird Sie schützen.“

„Können Sie überhaupt kämpfen?“, fragte sie mit gepresster Stimme.

Unvermittelt blieb er stehen, zwang sie ebenfalls innezuhalten. „Was meinen Sie?“

„Nun, ich wundere mich, warum der Kaiser und mein Vater erwarten, Sie würden mich unversehrt nach Konstantinopel bringen. Wie können Sie Angreifer abwehren, wenn einer Ihrer Arme verletzt ist?“

Alter Zorn stieg in ihm auf. Verdammt, wie er solche Zweifel an seiner Kampfkraft hasste! Stets war er als schwach und behindert eingeschätzt worden. Aber wie sollte die Prinzessin etwas anderes glauben? Verständlicherweise nahm sie an, er wäre erst neulich auf einem Schlachtfeld verletzt worden. Diesen falschen Eindruck müsste er korrigieren – aber wozu? Er wollte weder ihr Mitleid erregen – noch Abscheu in ihrer Miene lesen… Und wenn sie die Wahrheit kannte, würde sie gewiss das bisschen Zutrauen zu ihm verlieren, das vielleicht entstanden war.

„Um zu fechten, brauche ich nicht zwei Arme, oder?“

„Das weiß ich nicht … Würden Sie die brauchen?“

„Nein!“

Seit er zu denken vermochte, stählte er seinen Körper, um den Geburtsfehler auszugleichen. Wegen der Missbildung des linken Arms war er von seiner Familie ausgestoßen worden. Vermutlich, weil seine Angehörigen sich seiner schämten … Für einen kleinen Jungen – unerwünscht, verachtet und verhöhnt – war es sehr schmerzlich gewesen, bei fremden Pflegeeltern aufzuwachsen.

Seinen eigenen Körper hatte er gehasst. Doch er lernte, den rechten Arm zu gebrauchen, während der linke leblos hinabhing. Sobald er alt genug war, lernte er fechten und begann seine Muskeln zu stärken. Nie wieder wollte er sich schwach und untüchtig fühlen, alle Kritiker verstummen lassen. Deshalb war er von Norwegen nach Konstantinopel gezogen, um bei der kaiserlichen Armee anzuheuern, in der er schon bald die ersehnte Anerkennung gefunden hatte …

Sie stiegen die restlichen Stufen hinab und erreichten eine wuchtige Tür, die Prinzessin Livia vergeblich zu öffnen trachtete.

„Aus dem Weg!“, befahl ihr Destin. Vom Zorn über ihre Verachtung entflammt, warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Holz, und die Tür sprang auf.

Dahinter folgten sie einem schmalen Tunnel, wo es feucht und moderig roch. Aus dem Treppenhaus drang nur schwaches Licht bis hierher. Wasser begann um ihre Füße zu plätschern. Jetzt ging Destin voraus. Weil es immer finsterer wurde, tastete er sich mit einer Hand an der Mauer entlang, und die Prinzessin blieb dicht hinter ihm.

„Wie weit müssen wir hier waten, Hoheit?“, fragte er.

„Etwa eine Meile.“

„Kennt Ihr Onkel diesen Gang?“

„Das bezweifle ich.“

„Gut.“

Der Tunnel erschien ihm endlos. Nur mehr gedämpft drang der Lärm der Scharmützel heran. Umso deutlicher hörte er die Schritte hinter sich, die beschleunigten Atemzüge der Prinzessin. Ein paarmal stolperte sie, er hielt inne, stützte sie immer wieder. Nach einer Weile legte er ihre Hand auf seine Schulter neben dem Kettenhemd, Zu seiner Verblüffung ließ sie es geschehen, und er versuchte ihre warmen Finger zu ignorieren, all die verbotenen Gefühle, die ihre Nähe erzeugte. 

Schließlich erreichten sie steinerne Stufen. Durch die Ritzen einer Falltür schimmerte schwacher Mondschein. Sie stiegen hinauf, Destin stemmte die Tür hoch und kletterte auf eine grasbewachsene Lichtung voller kleiner Felsen. Erleichtert atmete er die frische Luft ein und stellte den Ranzen ab, bevor er der Prinzessin eine hilfreiche Hand reichte.

Aber sie bestand darauf, aus eigener Kraft ins Freie zu gelangen. Er seufzte resignierend und begann die Umgebung zu sondieren. Dann hörte er einen halb erstickten Schrei und drehte sich zu Prinzessin Livia um, sah weit aufgerissene Augen und fand heraus, was sie anstarrte.

Auf diesen Anblick hatte ihn nichts vorbereitet. Schloss Harzburg, auf einem steilen Berghang errichtet, brannte lichterloh. Aus den Schutzwällen schossen flackernde Flammen, der Wind wehte Schmerzens- und Schreckensgeschrei heran. Wie Ameisen rannten Menschen hinter den Zinnen umher, mit grellem, stählernem Klang prallten Schwerter aufeinander.

Krampfhaft schnappte die Prinzessin nach Luft. „Wir – müssen umkehren!“

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