Verführerische Unschuld

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Esme ist bereit, ihre Unschuld zu opfern: Sie bietet dem stadtbekannten Lebemann John Radwell an, seine Mätresse zu werden! Ist ihr Ruf erst ruiniert, dann ist es der Plan ihres hartherzigen Vaters ebenfalls: Er will, dass Esme den alten Earl of Halverston heiratet. Doch ihr unzüchtiges Angebot an John verfehlt seine Wirkung. Stattdessen bringt er die unschuldige Verführerin auf den Landsitz seiner Verwandten. Mit etwas Glück wird sie hier auf einem Ball einen passenden Ehemann finden. Aber zu spät: Esme hat ihre Wahl bereits getroffen ...


  • Erscheinungstag 28.10.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733765866
  • Seitenanzahl 224
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL
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„Ist Ihnen kalt, Miss Esme? Soll ich den Kamin anheizen lassen?“

Esme Canville widerstand der Regung, ihren Schal enger um die Schultern zu ziehen. „Nein, Meg, es ist schon recht so, ich brauche kein Feuer. Im Moment benötige ich gar nichts. Danke.“

Dessen ungeachtet huschte das Mädchen geschäftig im Zimmer umher und rückte unnötigerweise hier und da einen Gegenstand gerade. „Wirklich nicht, Miss? Ist es nicht ein wenig kühl?“

„Nein, Meg, vielen Dank. Du kannst gehen.“ Sie versuchte, entschieden, aber nicht zu bemüht zu klingen. „Ich möchte jetzt lesen“, erklärte sie, während sie sich auf das zierliche Sofa setzte und zu einem Buch griff.

Beobachtete die Kammerzofe sie zu interessiert? Sie war sich nicht sicher. Meg war neu und ihrem Arbeitgeber sehr ergeben. Sicher keine Verbündete, dachte Esme, doch hoffentlich mir auch nicht feindlich gesinnt. Allerdings sollte ich mich besser möglichst normal benehmen, falls sie Vater jedes ungewöhnliche Verhalten meinerseits hinterbringen muss.

Zögernd meinte Meg: „Nun, wenn Sie meinen. Aber es ist noch recht kalt heute Morgen.“

Esme durfte nicht zulassen, dass ihre Zofe sich querstellte, deshalb verkündete sie sehr herablassend: „Ich finde es belebend. Und äußerst ökonomisch. Mein Vater würde es sicher nicht billigen, am Morgen Kohlen zu verschwenden, wenn der Nachmittag angenehme Temperaturen verspricht.“

Daraufhin nickte Meg, bereit gutzuheißen, was der Hausherr guthieß. „Wenn Ihr Vater es so wünscht, Miss, dann natürlich. Aber Sie werden läuten, wenn …“

„Gewiss, wenn ich etwas brauche. Nun geh, Meg.“

Als das Mädchen endlich fort war, seufzte Esme erleichtert auf und eilte zum Kamin. Mit ihrer früheren Zofe war sie besser zurechtgekommen, doch die, fand ihr Vater, war ihr eine zu gute Freundin geworden, und als sie dann den Dienst an ihrer Herrin über den Gehorsam dem Hausherrn gegenüber stellte, musste sie gehen. Meg, die Neue, nahm ihre Pflichten viel zu ernst.

Esme faltete ihren Schal mehrfach, legte ihn sorgfältig auf den Boden vor dem Kamin und kniete sich darauf, wobei sie dankbar vermerkte, dass das Personal die Feuerstelle stets gründlich fegte; so fiel das bisschen Asche auf der grauen Wolle kaum auf. Sie betätigte die Zugklappe und legte das Ohr an die entstandene Öffnung. Aus dem unter ihrem Zimmer liegenden Raum drangen Stimmen herauf. Das Arbeitszimmer ihres Vaters und ihr eigener Raum teilten sich einen Rauchabzug, und auch dort unten wurde nicht geheizt. Esme schloss die Augen und versuchte, sich vorzustellen, was dort vor sich ging.

„… dass Sie gekommen sind. Wir werden gewiss zu einem für alle Beteilitgen befriedigenden Arrangement kommen.“ Das war ihr Vater.

„Aber ohne ein einziges Treffen? Sind Sie sicher?“ Die fremde Männerstimme wurde leiser, der Besucher schien sich vom Kamin zu entfernen.

Esme stieß ärgerlich die Luft aus. Konnten die da unten nicht still stehen?

„Das ist nicht notwendig.“ Sie sah förmlich, wie ihr Vater verächtlich abwinkte. „Sie wird tun, was ich ihr befehle. Und Sie sahen ja die Miniatur, nicht wahr? Ich versichere Ihnen, das Bild ist ihr sehr ähnlich.“

Esme strich sich übers Haar. Das erwähnte Porträt zeigte sie wirklich von ihrer besten Seite. Allerdings war es schon vor einigen Jahren gemalt worden. Natürlich war sie nun, mit zwanzig, noch kein Ladenhüter, aber die großäugige Unschuld von damals war sie auch nicht mehr.

„… entzückend.“ Ah, der Mann kam zum Kamin zurück, man hörte ihn wieder besser. „Sehr nach meinem Geschmack. Und sie wird ganz bestimmt einwilligen?“

„Das ist nicht von Bedeutung. Sie wird gehorchen oder die Folgen tragen. Und da es heißt, Sie oder keiner, wird sie bald einsehen, dass es weise ist, zuzustimmen. Sie wäre töricht, auf Besseres zu hoffen.“

Wieder verklangen die Stimmen unten. Esme presste die Lippen so fest zusammen, dass sie nur noch ein weißer Strich waren. Wie konnte sie auf Besseres hoffen? Man erlaubte ihr ja nicht einmal, an einer einzigen Saison teilzunehmen, oder gar, wie andere junge Damen, ohne Begleitung ihres Vaters zu Geselligkeiten zu gehen. Sie verbrachte ihre Abende zu Hause, entweder allein in ihrem Zimmer oder in Gesellschaft ihres Vaters und seiner Freunde, die alle nicht jünger als er selbst waren – und bestimmt keine Heiratskandidaten.

„Ein so junges schönes Mädchen wie Ihre Tochter würde mir sehr zusagen.“

Jung. Er fand ihre Jugend erwähnenswert. Sehr schlecht. Angestrengt lauschte sie, um etwas über den Mann zu erfahren, dessen Stimme zu ihr hinaufdrang, doch der Tonfall sagte nicht viel aus, wenn auch der Klang ihr nicht gefiel. Als er über ihr Bildnis sprach, hatte nicht Leidenschaft, sondern nur kühles Urteil darin gelegen, so, als wählte er ein Möbelstück aus und nicht eine Braut.

„Sie wird von Ihrem Antrag geehrt sein, Lord Halverston.“

Ein Lord also. Natürlich. Ihr Vater wünschte, dass sie durch die Heirat ihre gesellschaftliche Position verbesserte. Aber was bedeutete ihr der gesellschaftliche Rang, wenn ihr zukünftiger Gatte nicht ihr Herz erobern konnte?

Die Stimmen wurden wieder lauter. „… und gehorsam, sagen Sie? Heutzutage sind die Mädchen viel zu eigenwillig, was ich meiner zukünftigen Gemahlin nicht durchgehen lassen werde.“ Ein gehässiger Redestrom über die verworfene Jugend, besonders die weibliche, quoll aus ihm hervor, wobei er angesichts dieses Themas erregt die Stimme hob, sodass Esme seine Aufzählung der zahlreichen Fehler potenzieller Bräute voll und ganz mitbekam.

Das Herz sank ihr in der Brust.

„Ich bin sicher, dass Esme Sie nicht enttäuschen wird. Sie kennt Ihre Pflicht.“ Das war ihr Vater.

„Oder wird sie früh genug kennenlernen“, entgegnete Halverston.

Beide Männer lachten.

Mit schmerzhaft pochendem Herzen erhob Esme sich. Sie würde sich nicht wehren können. Ganz selbstverständlich wählte ihr Vater einen Gatten für sie, und er würde einen ihm gleichgesinnten wählen. Einen Mann, der die Faust für das richtige Mittel hielt, Pflichten nachdrücklich einzuprägen, und der fand, dass nichts das Gedächtnis einer ungehorsamen Tochter oder eines widerspenstigen Weibes besser auffrischte als Schläge mit dem Riemen.

Sie krallte die Finger in den Kaminsims und atmete tief durch. Vielleicht klang ja alles schlimmer, als es war. Sie durfte Lord Halverston nicht verurteilen, ohne mit ihm zusammengetroffen zu sein. Aus dem wenigen, das sie mitgehört hatte, durfte sie nicht zu viel schließen.

Anscheinend waren die beiden Männer zu einer Übereinkunft gekommen, sie schienen sich in die Halle zu begeben.

Rasch streifte Esme die Asche von ihrem Rock und eilte auf den Balkon hinaus, wo sie sich an die Wand drückte, um von der Straße aus nicht gesehen zu werden. Der Mann musste jeden Moment aus dem Portal treten, dann würde sie einen Blick auf ihn erhaschen können. Vor dem Haus wartete schon seine Kutsche. Esme bewunderte die perfekt zusammenpassenden Braunen und deren mit Silber beschlagenes Zaumzeug. Auch die Chaise selbst war prächtig und trug ein Wappen auf dem Wagenschlag. Ihr zukünftiger Gatte musste reich sein. Und sie würde an seinem Reichtum teilhaben. Also wäre sie nicht ganz schlecht dran. Sie würde schöne Kleider und Schmuck und ein imposantes Haus haben. Mehrere Häuser vielleicht gar.

Sie hörte, wie die Tür geschlossen wurde. Der Kutscher und die Lakaien nahmen Haltung an, als ihr Herr erschien. Aus Respekt, hoffte sie, nicht aus Furcht vor Strafe. Du wirst Bedienstete haben, sagte Esme sich. Vielleicht eine Zofe, die ihr gehorchte und nicht, wie hier, ihrem Vater.

Sie nagte an ihrer Unterlippe. Das war alles gut und schön. Aber war es zu viel verlangt zu hoffen, dass ihr Gemahl nicht nur wohlsituiert war, sondern auch zartfühlend und nett? Sie verdrängte den Gedanken; sie wollte sich nicht von den wenigen Gesprächsfetzen beeinflussen lassen.

Jetzt ging der Mann über den Gehsteig zur Kutsche. Rasch trat sie näher an das Geländer, um ihn besser sehen zu können.

Er war alt! Seine gebeugten Schultern sprachen eine deutliche Sprache. Zwar ging er festen Schrittes, doch steif und abgezirkelt, und er war groß von Statur, aber unnatürlich dünn, wie von einer zehrenden Krankheit gezeichnet. Die Hand, die den Spazierstock hielt, glich mit ihren knochigen gekrümmten Fingern eher einer Klaue.

Esme unterdrückte ihre Enttäuschung. Wie töricht sie gewesen war, auf einen jungen Mann zu hoffen!

Aber wenn er so alt war, wie er wirkte … ihr schauderte bei dem Gedanken, dass er des Nachts zu ihr kommen würde. Fast konnte sie fühlen, wie die knochigen, vom Alter gekrümmten Hände sich in ihr Haar gruben und über ihre nackte Haut glitten. Er war sogar älter als ihr Vater. Sie könnte bald Witwe sein.

Wie entsetzlich, so etwas auch nur zu denken. Vielleicht war sie wirklich schlecht, und ihr Vater strafte sie ja zu Recht …

Aber ihre innere Stimme wollte nicht schweigen. Du bist nicht schlecht. Das weißt du genau. Der Mann ist alt, du bist jung. Und dein Vater macht das nur, damit du nie, niemals deine Jugend wirst genießen können.

Als ob der Mann, der inzwischen in die Kutsche gestiegen war, ihre Gegenwart gespürt hätte, hob er plötzlich den Blick und entdeckte sie auf dem Balkon. Sie blieb still stehen und bemühte sich, nicht ängstlich zu erscheinen.

Mit einem Zuruf hielt er den Kutscher zurück, der die Pferde antreiben wollte, und starrte sie, wie ihr schien, endlos lange an. Sie konnte seinen Blick nachgerade fühlen, wie er auf ihrem Körper verweilte, langsam über ihre Brust und ihre Kehle glitt, bis er auf ihrem Gesicht haften blieb. Dann lächelte er, jedoch ohne Wärme, so, als sei sie gar kein lebendes Wesen. Und dann sah sie, wie seine Hände zu zucken begannen, über das Leder des Sitzes strichen, sich in die Polster gruben und sie pressten und seine Finger sich tief in die Kissen bohrten. Abrupt rief er mit rauer erregter Stimme dem Kutscher einen Befehl zu, und die Pferde setzten sich in Bewegung.

Esme ließ sich gegen die Hauswand sinken; sie spürte ihre Knie zittern. Vielleicht hatte sie seinen Ausdruck falsch gedeutet? Der Mann war ja weit weg gewesen. Sicher hatte er an alles andere gedacht als an ihre Vermählung, er hatte vielleicht in den Falten des Polsters nach einem Schlüssel oder einer Münze gesucht, und es war nur der Teufel, der in ihr steckte, wie ihr Vater so oft behauptete, der ihr eingegeben hatte, die Hände des Mannes wären gierig und hart über ihren Körper geglitten.

Sie umklammerte das Geländer und atmete tief ein, um gegen die aufsteigende Übelkeit anzukämpfen. Nein, unmöglich! Dieses eine Mal musste ihr Vater ihre Bitte erhören. Wenn sie vielleicht versprach, von nun an immer gehorsam zu sein, ihn nicht zu verärgern, was ihr ja anscheinend immer wieder gelang. Wenn sie einwilligte, den von ihm ausgesuchten Mann zu heiraten, jeden Mann. Nur nicht den Earl of Halverston …

Ein plötzliches Klirren ließ sie aus ihren albtraumhaften Gedanken auffahren. Im Haus gegenüber war eine große Scheibe zersprungen. Nun flogen die beiden Flügel auf, und ein Mann erschien in der Öffnung der Balkontür, den Rücken Esme zugekehrt. Seine Haltung verriet den Soldaten, und als er nun etwas sagte, drang sein angenehmer Bariton laut und deutlich bis zu ihr hinüber.

„Wenn das kein Beweis ist! Lassen wir doch die Türen offen, damit der andere Flügel nicht auch noch unter deinen Launen leiden muss.“

Ein Wurfgeschoss segelte an ihm vorbei und landete auf der Straße, dann ein weiteres, das er, ausweichend, mit einer Hand auffing. Als er es in der Luft herumwedelte, sah Esme, dass es ein seidener Damenschuh war.

„Und was, bitte“, sagte er, „sollte das nun? Selbst ein Treffer hätte mir nichts angehabt. Da du mich verfehlt hast, musst du nun auf einem Bein nach Hause hüpfen, denn ich will verdammt sein, ehe ich auf die Straße gehe, um dir den anderen Schuh zu holen.“

Die Besitzerin der Schuhe antwortete mit einer wütenden Tirade, die für Esmes ungeübtes Ohr wie Spanisch klang.

Der Mann kreuzte die Arme über der Brust und lehnte sich an den Türrahmen, wodurch er sein edles Profil und sein sardonisches Lächeln für Esme deutlich sichtbar zur Schau stellte. „Nein“, entgegnete er auf einen weiteren Wortschwall, „du hast unrecht. Meine Mutter versicherte mir, dass ich ein legitimer Sprössling bin. Nicht, dass mir das bisher viel genützt hätte.“

Wieder wurde er auf Spanisch beschimpft, und wieder hörte man Glas klirren, dieses Mal im Innern der Wohnung.

„Nun hast du auch noch den Spiegel zerschlagen! Wie unangenehm für dich.“ Mit einer halbherzig gezielten Bewegung warf er seinem Gegenüber den Schuh wieder zu. „Warum ich mir um alles in der Welt ein so hirnloses Geschöpf wie dich nahm …“ Er warf einen Blick ins Innere des Raumes. „Nun ja, eigentlich ist es offensichtlich … aber nicht Grund genug, dich zu behalten. Cara, du kannst, wie ich ja sagte, das Apartment bis zum Monatsende behalten. Es wird dir nicht schwerfallen, einen neuen Beschützer zu finden, denn wenn du nicht gerade in deiner Wut mit den teuren Geschenken wirfst, die ich dir machte, bist du ganz charmant und außerordentlich schön dazu.“

Die Frau im Zimmer spie weitere unverständliche, aber eindeutig beleidigend gemeinte Sätze aus.

Verlegen, dass sie lauschte, verbarg Esme sich, so gut es ging, hinter der Balkoneinfassung. Das dort drüben war der skandalträchtige Captain St John Radwell, der wohl gerade aus Spanien zurückgekehrt war. Man munkelte, er sei einst wegen einer seiner unglückseligen Affären geflohen und habe sein Offizierspatent mit gestohlenem Familienschmuck bezahlt. Falls das die Wahrheit war, hatte allerdings nicht sein Bruder, der Duke of Haughleigh, die Gerüchte verbreitet, denn der leugnete inzwischen, einen Bruder zu haben.

Captain Radwells skandalöses Betragen gehörte zu den Themen, über die ihr Vater sich regelmäßig in Rage redete. Er hatte sie ausdrücklich vor ihm gewarnt. Und nun stand dieser Teufel dort in Person und schickte am helllichten Tage seine Mätresse davon, und mit einer Lautstärke, dass es die ganze ehrbare Nachbarschaft hören konnte.

Unfähig, den Blick abzuwenden, lugte Esme über die Brüstung.

Als die wütende Frau drinnen schwieg, antwortete Radwell: „Dann verkauf das Armband oder die Ohrringe. Sie waren teuer genug und sollten dich bequem über Wasser halten, bis du einen Narren findest, der meinen Platz einnimmt. Wir sind fertig miteinander.“

Von drinnen drang wütendes Schluchzen herüber, dann knallten Türen.

Ganz ihre eigenen Sorgen vergessend, lächelte Esme boshaft in sich hinein. Wie schön zu sehen, dass zumindest eine der irrationalen Schimpfkanonaden ihres Vaters auf Tatsachen gründete.

Unvermittelt drehte Radwell sich um und erwischte sie dabei, wie sie ihn anstarrte.

Er war nicht nur ein Teufel. Er war ein gefallener Erzengel! Sein Haar leuchtete golden im Sonnenlicht und fiel ihm in Wellen über die Schläfen. Er hatte eine gerade Nase und ein einnehmendes amüsiertes Lächeln. Zwar konnte sie die Farbe seiner Augen auf diese Entfernung nicht erkennen, doch vermutlich waren sie blau, das würde zu seinem Typ passen. Sein hervorragend geschnittenes Jackett und die eng anliegenden Hosen betonten seinen muskulösen Körper. Wie er da an der Balkontür seines Apartments lehnte, bot er den Anblick vollendeter männlicher Schönheit. Esme stockte der Atem.

Unversehens sah er ihr in die Augen und hielt ihren Blick einen Moment fest, ehe er sich dem Rest ihrer Erscheinung widmete. Er begutachtete sie ausgiebig, und als er schließlich lächelte, spürte sie, wie der Sturm in ihrem Innern zu einer Brise abflaute.

Ihr Gegenüber tippte sich an die Nase und nickte bedeutungsvoll. Was meinte er nur? Gewiss war es keine scheltende Geste, die ihrer Neugier galt, nein, er wollte auf etwas hinweisen. Verwirrt schüttelte sie den Kopf.

Mit pantomimischer Geste zog er ein Taschentuch hervor, schlug es auseinander und wischte sich damit übers Gesicht, dann deutete er auf sie selbst.

Hastig hob sie ihre Hände an die Wangen, rieb und betrachtete dann ihre Handflächen – Ruß! Nicht nur, dass sie ihre Nachbarn belauschte, nein, sie war auch noch dazu schmutzig wie ein Schornsteinfeger!

Als er sah, dass sie ihn verstanden hatte, winkte er triumphierend mit dem Taschentuch, verneigte sich breit lächelnd und verschwand in seiner Wohnung, nachdem er die Balkontüren hinter sich zugezogen hatte.

Mit klopfendem Herzen ging sie in ihr Zimmer zurück und schloss ebenfalls die Tür. Oh, dieser grässliche Mensch! Erst machte er eine solche unziemliche Szene, und dann neckte er sie auch noch wegen ihrer ungehörigen Neugier. Es schien ihn nicht im Mindesten zu irritieren, dass sie ihn in einer so peinlichen Situation erwischt hatte, beziehungsweise umgekehrt er sie.

Wie herrlich musste es sein, sich so frei zu fühlen, kein Jota um die Gesellschaft zu geben und zu tun, was man wollte.

Ehe sie sich noch wirklich darüber im Klaren war, formte sich ein Plan in ihrem Kopf. Ein verwegener Plan, und viel anstößiger als alles, was ihr je in den Sinn gekommen war. Da ihr Vater behauptete, sie sei schamlos, sollte es auch die ganze Welt erfahren. Es geschähe ihm nur recht, und der Heirat mit dem Earl würde es gewiss einen Riegel vorschieben.

Ja, sie würde es tun! Am einfachsten wäre ihr Plan durchzuführen, wenn sie die Nacht abwartete, und dann, in ein paar Stunden, würde sie, mit Hilfe des skandalösen Captain Radwell, von ihrem Vater, diesem Haus und dem Earl befreit sein.

2. KAPITEL
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„Nein, danke, Toby. Ich brauche dich heute nicht mehr. Es wird wieder einmal ein ruhiger Abend daheim vor dem Kamin werden. Vielleicht ein Brandy vor dem Schlafengehen. Lass nur, ich hol ihn mir selbst. Nach unserer Zeit in Portugal solltest du wissen, dass ich allein zurechtkomme.“

Der Diener ging hinaus, und Radwell warf sich in einen Sessel und starrte ins Feuer. Ha, ein ruhiger Abend! Ein langweiliger Abend. Aber mehr konnte man sich eben mit leerer Börse nicht erlauben. Schon längst war er nicht mehr kreditwürdig, und wenn er zu White’s ging, würde er seine Schulden beim Spiel eher vergrößern, als dass er gewann und sein Säckel füllte.

Doch einmal musste ja das Glück sich ihm zuneigen. Es war ihm sogar so gut wie versprochen – wenn er sich nichts mehr zuschulden kommen ließe. Als er bei Hofe vorgestellt wurde, um seine Auszeichnung entgegenzunehmen, hatte der Prinzregent angedeutet, dass mit reichem Lohn rechnen könne, wer seinem Lande so gut gedient hatte, vorausgesetzt, man sei imstande, sich in der Gesellschaft zu bewegen, ohne sich selbst oder seinen Gönner in Verlegenheit zu bringen. Wie hatte er sich doch geäußert?

„Wenn Sie die Attacken der Franzosen überstehen konnten, müssen Sie auch eine Londoner Saison überstehen können, ohne dass ein eifersüchtiger Ehemann oder Ihr eigener Bruder Sie wegen skandalösen Betragens erschießen will. Halten Sie sich aus Schwierigkeiten heraus. Der Earl of Stanton geht auf die achtzig zu und hat keinen Erben. Ein schönes Stück Land ist mit dem Titel verbunden, und ich möchte ihn jemandem weitergeben, der sich der Ehre würdig erweist.“

St John Radwell, Earl of Stanton. An Abenden wie diesem, wenn die alten Gewohnheiten lockten, sprach er sich diese Worte immer wieder vor. Aber noch war er kein Earl und würde nie einer sein, wenn er wieder einen Skandal entfachte oder gar ein Erbe verspielte, ehe es ihm übereignet wurde. Er sollte sich besser eine Weile vorsehen. Immer wieder sagte er sich, dass er ein respektables Mitglied der Gesellschaft war, ein verdienter ehemaliger Offizier, der nur noch das geruhsame Landleben im Sinn hatte. Für den Taugenichts, als der er, der Bruder des Duke of Haughleigh, sich bisher erwiesen hatte, würde es keine Belohnung geben, nicht, solange er von fremdem Geld lebte und sein Sündenregister lang genug war, um ihn für immer vom Familienbesitz zu verbannen.

Er seufzte. Nach fünf Jahren in Portugal und Spanien fehlte ihm sein Zuhause und, wie er feststellen musste, sogar sein Bruder, was er nie für möglich gehalten hätte. In den Stunden vor einer Schlacht hatte er oft an all das gedacht, was er, sollte ihn der Tod ereilen, seinem Bruder und dessen Frau Miranda nie mehr würde sagen können. Allerdings war er entgegen seinen Erwartungen immer mit heiler Haut davongekommen, auch wenn er es oft für unverdient gehalten hatte. Also gab es wohl immer noch die Chance, sich mit seiner Familie zu versöhnen.

Vermutlich würden seine Entschuldigungen sogar echter klingen, wenn er mit einem Titel und eventuell gar mit einer Gattin an seiner Seite auf Haughleigh erschien. Natürlich war er nicht erpicht darauf, zu heiraten, aber es wäre nicht zu umgehen. Er würde einen Erben brauchen, außerdem wäre eine eigene Familie der Beweis dafür, dass er die Ehe seines Bruders nicht mehr gefährdete und dass die alten Rivalitäten wegen der Nachfolge auf Haugleigh für immer begraben waren.

Aber darüber musste er sich jetzt noch nicht den Kopf zerbrechen; diese Pläne würden möglicherweise erst in Jahren Frucht tragen, besser, man wünschte es nicht zu sehr. Damit seine Skandale und sein schlechter Ruf in Vergessenheit gerieten, musste er noch viele ruhige Abende daheim verbringen, und da er der launenhaften und viel zu kostspieligen Cara den Laufpass gegeben hatte, auch ganz ohne weibliche Zerstreuung.

Selbstverständlich hätte der alte Radwell seinen Bruder gebeten, ihm über die Flaute hinwegzuhelfen, hätte seinen geläuterten Charakter als Gewähr angeführt. Der Gedanke erheiterte ihn derart, dass er laut auflachte.

Hinter ihm hüstelte jemand.

„Ja, Toby?“

„Es ist Besuch gekommen, Sir. Eine Dame.“

„Eine Dame?“ Bestimmt keine Dame, wenn sie zu dieser Zeit Besuche machte. Allerdings ließ Tobys Tonfall keine Interpretation zu. „Führ sie herein. Und bitte bring den Brandy doch noch.“

Radwell las Missbilligung in der Haltung seines Dieners, weil er die Dame hier in seinem Salon empfangen wollte. Aber wer sie auch war, sie musste sehr genau wissen, auf was sie sich eingelassen hatte. Ihr Ruf schien ihr nicht wichtig zu sein, und Toby war sehr wohl in der Lage, den Mund zu halten.

Kurz darauf öffnete Toby die Tür und verkündete: „Miss Esme Canville.“

„Wer?“ Das war unhöflich, aber es war ihm herausgerutscht. Der Name sagte ihm überhaupt nichts, erinnerte ihn nicht einmal im Entferntesten an die eine oder andere diskrete Witwe oder fehlgeleitete Gattin, die er vielleicht auf seiner Schwelle erwartet hätte.

Als die Dame eintrat und höflich knickste, sprang er, seine Verwirrung rasch verbergend, auf und bot ihr einen Stuhl an. Es war der neugierige kleine Fratz von gegenüber! „Sie mögen verzeihen, Miss Canville, aber mir scheint, ich bin nicht ganz im Bilde. Toby?“ Er hätte den Diener lieber im Zimmer behalten, auch wenn dessen Anwesenheit die unschickliche Situation nicht völlig entschärfen konnte. Aber Toby hatte nur den Brandy abgestellt und sich sofort in die Küche im unteren Stockwerk zurückgezogen.

„Nein, bitte, Captain Radwell, es wäre mir lieb, wenn unser Gespräch unter vier Augen stattfinden könnte.“

Lieber Himmel, er konnte nicht mit ihr allein bleiben! Aber wenn er sie ihr Sprüchlein aufsagen ließ, wurde er sie vielleicht rasch wieder los, ehe jemand herausbekam, wo sie sich herumtrieb. „Nun gut. Zugegeben, ich bin schon ein wenig neugierig zu erfahren, was eine vornehme junge Dame zu dieser Stunde zu mir führt. Soweit ich weiß, wurden wir einander nie vorgestellt.“

„Nein.“ Zumindest hatte sie den Anstand, verlegen zu werden. „Wir kennen uns nicht. Obwohl, heute Vormittag … ich konnte nicht vermeiden zu lauschen … Und ich kenne natürlich Ihren Ruf, Captain Radwell.“

„Vermutlich sollte ich nun sagen, dass ich diesen Ruf nicht verdiene, aber leider, leider habe ich das meiste, das man mir nachsagt, auch getan. Nun, vielleicht habe ich sogar noch Schlimmeres getan und wurde nur nicht erwischt.“ Beinahe hätte er gelächelt, doch dann fiel ihm ein, dass es keinen Grund gab, sich auch noch damit zu brüsten. „Ihnen ist klar, Miss Canville, dass Sie sich sehr gefährden, indem Sie unbegleitet herkamen?“

Entschlossen hob sie ein wenig das Kinn und sah ihm fest in die Augen. „Ja, das wäre so, wenn ich etwas um meinen Ruf gäbe. Jedoch zwingen mich die Umstände zu drastischen Schritten, Captain Radwell. Ich befinde mich in einer schwierigen Lage und hoffe, dass Sie mir vielleicht helfen könnten.“

„Ihnen helfen?“ Er richtete sich auf. „Warum Sie gerade mich um Beistand bitten, ist mir schleierhaft. Aber als Offizier und …“, er räusperte sich ob der ungewohnten Vorstellung, „äh … Ehrenmann werde ich gewiss alles in meiner Macht Stehende tun, Ihnen zu helfen.“

Ihre Kühnheit währte nur kurz. Sie zog ein Taschentuch aus ihrem Retikül und knetete es nervös in den Händen. „Nun, ja. Ich erhoffe in gewisser Weise Ihren Beistand, aber nicht unbedingt von dem Offizier und Ehrenmann. Beschützer wäre, glaube ich, eher der Begriff.“ Sie sah ihm hoffnungsvoll in die Augen. „Wenn Sie sich in der Lage sähen, mir Ihren Schutz anzubieten?“

Zuerst hatte er die abwegige Vorstellung, sie erwarte von ihm, dass er sie mit seinem Säbel gegen einen Feind verteidigen sollte. Er als Beschützer? Wovor musste sie beschützt werden?

Beschützer. Er als ihr unehrenhafter Beschützer?

Er sprang von seinem Stuhl hoch, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und die junge Dame zu bringen. „Also nein! Sie meinen doch nicht … Glauben Sie etwa, ich würde …“

„Ich konnte Ihre Auseinandersetzung mit Ihrer …“, sie suchte ein passendes Wort, „… Mätresse kaum überhören. Ganz fraglos brachen sie mit ihr. Also nahm ich an, dass diese Stellung nun möglicherweise frei wäre …“

„Stellung? Um Himmels willen! Sie verdingen sich doch nicht als Gouvernante!“

„Das weiß ich natürlich. Ich könnte nicht ohne Wissen meines Vaters als Gouvernante arbeiten. Nicht einmal die nötigen Zeugnisse könnte ich beibringen“, erklärte sie, als wäre das ganz offensichtlich.

„Ich hege die größten Zweifel, dass Sie Zeugnisse für die nun von Ihnen gewünschte Stellung vorlegen können.“

„Braucht man dafür Zeugnisse?“ Die Vorstellung schien sie stärker zu beunruhigen als ihre momentane Situation, die Radwell allerdings als beunruhigend genug für zwei empfand.

„An sich nicht. Aber ich möchte doch hoffen, dass Ihnen frühere Erfahrungen fehlen.“ Er ließ sich neben ihr auf einem Stuhl nieder und sah ihr ernst ins Gesicht. „Ich meine, Miss Canville …“

„Sagen Sie doch bitte Esme.“

„Miss Canville“, fuhr er entschieden fort, „haben Sie wirklich eine genaue Vorstellung davon, welche Pflichten Ihnen in einer solchen Stellung obliegen?“

„Genau?“ Sie errötete. „Nein, nicht genau. Ist das hinderlich?“

„Dass eine junge Dame wie Sie das nicht weiß? Nein. Bestimmt nicht. Wenn Sie es wüssten, wäre ich sehr entsetzt.“

Sie hob ratlos die Hände. „Eigentlich hatte ich gehofft, man könnte so etwas durch Erfahrung lernen. Habe ich etwas an mir, das Sie vermuten lässt, ich wäre zu der erforderlichen Tätigkeit nicht in der Lage?“

Es war, als nähme er sie erst jetzt richtig wahr. Ihr reizendes Gesicht mit den vollen weichen Lippen war bleich, ließ aber den normalerweise rosigen Teint erahnen. Ihren Umhang hatte sie abgelegt und saß in einem hochgeschlossenen, ziemlich scheußlichen Kleid vor ihm, das aber dennoch verriet, dass seine Trägerin einen hübschen Busen besaß. Wie es sich wohl anfühlen mochte, die Hände in ihrem gelöstes Blondhaar zu vergraben, wenn ihr Mund sich dem seinen näherte …

Rasch stand er auf und entfernte sich von ihr. „Nein. Nein. Sie wären sicherlich geeignet, nichts an Ihnen spricht dagegen. Aber darum geht es nicht. Wie ich darüber denke, sollte Sie nicht interessieren, da ich ein niederträchtiger, wenig vertrauenswürdiger Bursche bin und ein zartes Lämmchen wie Sie mit einem Biss verspeisen könnte, ohne mir ein Gewissen daraus zu machen.“

Esme widersprach: „Und genau das glaube ich Ihnen nicht. Ich sah heute, wie Sie sich mit der Dame hier stritten. Deren Verhalten hätte einen weniger edlen Mann zu Gewalttaten gereizt, Sie jedoch waren ein Muster an Vernunft. Auch machten Sie klar, dass Sie ihr die nötigen Mittel zum Lebensunterhalt ließen, als Sie sie fortschickten.“ Sie lächelte. „Und sie benahm sich sehr übertrieben, möchte ich hinzufügen. Wenn Sie meiner später überdrüssig wären, müssten Sie nicht fürchten, dass ich Ihnen derart undamenhafte Szenen mache.“

„Sie fortschicken? Meine Güte! Darüber brauchen Sie sich nicht zu sorgen, denn ich habe nicht vor, Sie anzustellen.“ Er machte mit den Händen eine scheuchende Geste. „Los, laufen Sie heim zu Ihrem Vater, ehe jemand merkt, dass Sie fort waren. Dann säßen wir nämlich beide schön in der Tinte.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, unmöglich, ich gehe nicht zurück, was Sie auch sagen!“

„Dann trage ich Sie auf meinen eigenen Armen heim.“

Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Wagen Sie es nicht! Sonst erzähle ich meinem Vater, wo ich war, und füge ein paar farbige, wenn auch unwahre Einzelheiten hinzu. Dann sitzen nämlich Sie ganz allein in der Tinte, Captain Radwell. Mein Leben kann sowieso nicht elender werden, als es schon ist, aber Sie müssten damit rechnen, mich am Hals zu haben, und zwar, wie die Gesellschaft es verlangt, durch ein wesentlich dauerhafteres Band als das von mir vorgeschlagene.“

Verflixt, sie hatte recht, und es war noch schlimmer, als sie es ausmalte, denn wenn das hier bekannt wurde, spielte es keine Rolle mehr, ob er sie heiratete oder nicht, sein Titel wäre futsch, und das wäre noch seine kleinste Sorge. Er konnte sich lebhaft das Gesicht seines Bruders vorstellen, wenn er in den Schoß der Familie zurückkehren wollte – mit leeren Taschen und endgültig ruiniertem Ruf, beim Regenten in Ungnade und mit Esme Canvilles wütendem Papa auf den Fersen – und behauptete, die Sache sei nur ein großes Missverständnis. „Sie sagen also, ich könnte zu einer Heirat mit Ihnen gezwungen werden, wenn ich Sie heimbringe; wenn ich Sie jedoch hierbehalte, darf ich mit Ihnen nach Belieben verfahren, ohne dass Sie den Vorteil einer Eheschließung genießen möchten?“ Einen Moment fühlte er sich wirklich versucht, dann schüttelte er den Kopf. Zwar besaß sie beträchtliche Reize, aber der Preis war ihm denn doch zu hoch.

„Natürlich würde ich die gleiche Abgleichung erwarten wie die Frau, die Sie heute aus Ihrem Dienst entließen. Vielleicht nicht ganz so viel, da ich so unerfahren bin“, schränkte sie ein.

„Nein.“

„Ich esse nicht viel, und ich mache mir nicht viel aus Kleidern und Schmuck. Und ich bin auch mit wenig Raum glücklich. Bestimmt bin ich viel weniger kostspielig als Ihre vorherige Mätresse.“

„Nein!“

„Könnten Sie mich denn wenigstens einem Ihrer Freunde vorstellen? Jemandem mit ähnlicher Gemütsart, der gerade eine Gefährtin sucht?“

„Jetzt wollen Sie mich auch noch zum Kuppler machen? Das ist ein starkes Stück, Madam. Dass mein Ruf nicht der beste ist, weiß ich, aber noch nie hat man von mir verlangt, als Zuhälter zu fungieren!“

„Entschuldigen Sie vielmals, ich wollte Sie nicht beleidigen“, murmelte sie kleinlaut.

„Noch dazu ist sie Jungfrau“, murmelte er und griff mit bebenden Fingern nach dem Brandy. Als er sah, dass sie der Bewegung folgte, fragte er. „Möchten Sie ein Glas?“

„Nein, danke. Ich nehme keine geistigen Getränke zu mir.“

„Es verblüfft mich allerdings, dass Sie mir in stocknüchternem Zustand einen so hirnverbrannten Vorschlag machen. Davon abgesehen kommt für mich in der Stellung, die Sie anstreben, keine Antialkoholikerin in Betracht.“

Sie reckte energisch das Kinn. „Dann schenken Sie mir ein Glas ein, Sir, denn ich versichere Ihnen, mein Ersuchen ist ernst gemeint. Zwar würde ich Sie allen anderen vorziehen, da ich Sie sehr bewundere, aber ich werde auf jeden Fall jemanden finden, der mich bereitwillig nimmt.“ Sie ließ den Kopf hängen und flüsterte: „Jemand muss mich doch wollen, so schlimm kann ich doch nicht sein. Aber was auch kommt, nach Hause werde ich nicht wieder gehen.“

Er goss Brandy in sein Glas und fügte ein paar sorgfältig abgezählte Tropfen aus einem Fläschchen hinzu, das er aus der Tasche gezogen hatte, dann mischte er den Inhalt, indem er das Gefäß ein wenig schwenkte.

Sie sah interessiert zu und fragte: „Was ist das?“

„Das muss Sie nicht interessieren. Von Zeit zu Zeit brauche ich Laudanum, um zur Ruhe zu kommen, und ehrlich gesagt könnte Ihr Betragen auch jemanden beunruhigen, der stärker als ich ist.“

Sie lachte. „Was könnte Sie denn beunruhigen? Sie scheinen mir von außerordentlich stetiger Natur. Wenn Sie so arg sind, wie Sie behaupten, dürfte eine Frau in Ihren Gemächern für Sie nicht allzu beängstigend sein.“

Sein Atem ging schwer, als sie dichter an ihn herantrat. Natürlich hatte sie recht. Nichts war beängstigend daran, eine Frau, weich und willig, in den Armen zu halten. Und die Nächte machten ihm weniger zu schaffen, wenn er nicht allein war.

Mit leiser Stimme sagte sie: „Wie Sie mir deutlich machten, sollte ich vor Ihnen Angst haben, denn Sie wissen, was mir heute Nacht widerfahren würde, wohingegen ich von dem, was zwischen Mann und Frau passiert, nur aus heimlichem Getuschel weiß.“

Als sie dicht an ihn herantrat, stand er wie angewurzelt und betrachtete sie fasziniert. „Stimmt es“, fragte sie, zu ihm aufblickend, „dass es genüsslich und schmerzhaft zugleich ist? Wie kann das sein, frage ich mich. Schmerzen kenne ich nur zu gut, Genuss jedoch gar nicht.“

Genuss konnte er ihr sicherlich verschaffen, wenn sie denn danach strebte. Es war spät, sie waren allein, niemand würde die junge Dame hier suchen. Er konnte ihr geben, was sie wollte, und sie ungesehen nach Hause schicken. Das Angebot lag ihm auf der Zunge, doch er sprach es nicht aus. Als sie so nahe kam, dass der Stoff ihres Kleides seine Hemdbrust streifte, brachte er es auch nicht über sich, zurückzutreten.

„Da Sie ja, wie Sie sagten, Offizier und Ehrenmann sind, hoffe ich, dass Sie meine Unerfahrenheit berücksichtigen und möglichst sanft vorgehen, denn ich muss gestehen, dass ich nun, wo es so weit ist, ein wenig Angst habe. Wahrscheinlich bin ich nicht weniger beunruhigt als Sie.“

Urplötzlich riss sie ihm das Glas aus der Hand und leerte den gesamten Inhalt auf einen Zug. Sie hustete, Tränen schossen ihr ob des scharfen Getränks in die Augen, dann stellte sie das leere Glas sorgsam auf einem Tischchen ab, ehe sie sich auf dem ein paar Schritt entfernt stehenden Sofa niederließ und den Kopf an das Polster lehnte.

„Du lieber Himmel, Miss Canville.“ Verzweifelt ließ er die Arme sinken, er glaubte noch die Wärme ihres Körpers zu spüren. Im Geiste schimpfte er sich einen Narren; er hatte nur die willige Frau gesehen, ihren scharfen, listig planenden Verstand jedoch nicht bemerkt, hatte ihn auch bei einer so jungen Frau nicht vermutet. Nun hatte ihn dieses unerfahrene Ding überlistet.

Mit seinem schönsten verführerischsten Lächeln beugte er sich zu ihr und sagte: „Also gut, wenn Sie darauf bestehen, Ihren Wunsch durchzusetzen! Da diese Erfahrung für Sie ein wenig schmerzhaft sein könnte, ist es sicher für uns beide einfacher, wenn wir warten, bis Sie durch das Laudanum ganz ruhig und entspannt sind.“

Mit großen angsterfüllten Augen sah sie ihn an. „Tun Sie, was Ihnen gefällt. Ich bin bereit.“

Wie abscheulich er sich fühlte, weil er eben noch eine kühne Verführerin in ihr gesehen hatte! Dabei fürchtete sie sich schrecklich vor dem, was ihr geschehen sollte, und dass er ihr Angebot tatsächlich einen Augenblick in Erwägung gezogen hatte, bewies, dass seine Seele so schwarz war, wie man behauptete. Er setzte sich neben sie auf das Sofa und ergriff ihre Hand. „Warten wir noch ein wenig.“

Er beobachtete sie. Ihre Glieder lockerten sich, und der Brandy brachte Farbe in ihre Wangen. „Wie lange denn? Wann spüre ich die Wirkung?“ Ihr Atem ging langsamer, sie fuhr mit der Zunge über ihre geöffneten Lippen. Zu seiner Schande spürte er, wie sein Körper darauf reagierte.

Als das Laudanum zu wirken begann, wurde ihre Hand in der seinen schwerer, und er drückte sie ermutigend. „Bald.“

„Gut. Ich glaube, Sie haben recht. So wird es leichter sein.“ Esme schüttelte leicht den Kopf und lächelte. „Ach, wie seltsam, ich kann meinen Körper kaum noch spüren. Wie schön es ist, nichts mehr zu fühlen.“

Er lächelte zustimmend. „Wie gut Sie verstehen, Kleines.“

Die Augen schließend murmelte sie: „Wenn Ihr Fläschchen in meinem Besitz gewesen wäre, ehe ich herkam, hätte das hier wohl nicht sein müssen. Allerdings bezweifle ich, dass mir ein paar Tropfen genügt hätten. Ich hätte es wahrscheinlich ganz geleert.“ Mit diesen Worten sank ihr Kopf zur Seite, sie war in tiefen Schlaf gesunken.

Autor

Christine Merrill

Christine Merril lebt zusammen mit ihrer High School-Liebe, zwei Söhnen, einem großen Golden Retriever und zwei Katzen im ländlichen Wisconsin. Häufig spricht sie davon, sich ein paar Schafe oder auch ein Lama anzuschaffen. Jeder seufzt vor Erleichterung, wenn sie aufhört davon zu reden. Seit sie sich erinnern kann, wollte sie...

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