Versuchung auf Stonecliffe

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Sloane Rutherford ist zurück! Vor zwölf Jahren hat er Annabeth das Herz gebrochen. Nie wieder hat sie so ein aufregendes Prickeln verspürt wie damals in seinen Armen. Nun hat sie sich endlich mit einem ruhigen Leben und dem Gedanken an eine Vernunftehe angefreundet – da taucht Sloane plötzlich wieder auf und besteht darauf, dass sie mit ihm auf seinen Familiensitz Stonecliffe reist. Dunkle Mächte seien hinter ihr her, behauptet er und will sie um jeden Preis beschützen. Dabei drohen Annabeth auf Stonecliffe ganz andere Gefahren: Die enge Zusammenarbeit mit Sloane bei der nervenaufreibenden Jagd nach den Kriminellen führt sie in unwiderstehliche Versuchung …


  • Erscheinungstag 23.08.2025
  • Bandnummer 177
  • ISBN / Artikelnummer 9783751532259
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Candace Camp

Versuchung auf Stonecliffe

Candace Camp

Ihren ersten Roman hat Candace Camp noch als Studentin geschrieben. Damals hat sie zwei Dinge gelernt: Erstens, dass sie auch dann noch schreiben kann, wenn sie eigentlich lernen sollte, und zweitens, dass das Jurastudium ihr nicht liegt. So hat sie ihren Traumberuf als Autorin ergriffen und mittlerweile über siebzig Romane verfasst. Candace lebt mit ihrem Mann in Austin, Texas.

Ein besonderer Dank geht an Alexzandra, die Anastasia eine so wunderbare Freundin ist, und an Grandma Beth, die ihre Liebe zu Regency-Romanen mit Alexzandra teilt. Wir wünschen euch beiden nur das Beste, ebenso wie der jüngsten Leserin in der Familie – ganz gleich, welche Art von Büchern Norah später mal mag. Möge das Leben für euch alle voller Glück und Zufriedenheit sein.

PROLOG

1810

Sloane stemmte sich gegen den Wind, lehnte sich dann zurück, eine Hand am Ruder, und genoss einfach nur den Moment. Das Sonnenlicht glitzerte auf dem Wasser, und die Meeresbrise milderte die Hitze des Sommertages. Bauschige weiße Wolken zogen über den blauen Himmel. Sein Vater weilte momentan auf seinem Gut in Cornwall, daher musste Sloane sich nicht bang fragen, ob er gerade anderweitig Haus und Hof verspielte oder in einem Londoner Laden, dessen Betreiber immer noch dumm genug war, Marcus weiter Kredit zu gewähren, eine absurd hohe Rechnung auflaufen ließ.

Doch was diesen Moment wirklich perfekt machte, war Annabeth, die ihm gegenüber auf der Bank saß. Der Wind wirbelte durch ihr hellbraunes Haar und ließ die frei gepusteten Locken um ihr Gesicht tanzen. Die blonderen Strähnen, die von all den Tagen herrührten, die sie ohne ihr Bonnet im Freien verbracht hatte, schimmerten golden. Auf ihren Wangenknochen verteilten sich ein paar Sommersprossen, die ihre Mutter schimpfend versuchte, mit Gurkenmasken auszumerzen. Sloane wollte die zarten Pünktchen einfach nur küssen.

Aber natürlich wollte er alles an Annabeth einfach nur küssen. Ihm schwoll das Herz, weil er wusste, dass sie ihn liebte – nicht so sehr, wie er sie liebte, denn Sloane war sicher, dass niemand ihn dermaßen lieben konnte –, aber dennoch, sie liebte ihn bedingungslos.

„Ich habe dich von dem Moment an geliebt, in dem ich dich zum ersten Mal gesehen habe“, sagte er, denn er konnte Annabeth alles sagen, ihr jede Schwäche, jeden Makel offenbaren. Sie kannte alle seine Fehler, jeden einzelnen davon, seit dreizehn Jahren, und trotzdem liebte sie ihn.

Lachend richtete sie ihren Blick vom Meer auf Sloane. „Du hast mich an den Haaren gezogen.“

„Du hast mir gegen das Schienbein getreten.“

„Nun, du hattest Nathan umgeworfen. Völlig grundlos.“

„Reicht die Tatsache, dass er Nathan ist, nicht als Grund?“

Sie schnitt eine Grimasse, aber in ihrem Ton schwang kein Vorwurf mit. „Du bist unfair ihm gegenüber.“

Sloane schnaubte verächtlich. „Er ist so ein kleiner Gentleman. Immer dem Anlass entsprechend gekleidet, jedes Haar an seinem Platz, und er sagt immer genau das Richtige.“

„Die meisten Leute würden das für gute Eigenschaften halten.“

„Er liebt dich.“

„Ich liebe ihn auch“, erwiderte sie mit so viel platonischer Zuneigung, dass Sloane nicht allzu eifersüchtig sein konnte. „Aber nicht auf dieselbe Weise wie dich“, fügte sie hinzu, wobei ein sinnliches Lächeln um ihre Lippen spielte.

Dieses Lächeln vibrierte in ihm nach, als hätte sie ihn geschlagen. Sie brauchte nur so wenig zu tun, um sein Verlangen zu schüren. Allein sie anzuschauen ließ Erregung in ihm aufwallen. Sie zu küssen war ein fast unerträgliches Vergnügen, und wenn er sie in seinen Armen hielt … nun er war nicht sicher, welches Wort, welcher Satz beschreiben könnte, was er dann fühlte. Es war, als ob ihre Wärme, ihre Güte, ihre Schönheit in ihn hineinströmte und all die Wut und den Groll und die Einsamkeit vertrieb.

Annabeth legte eine Hand über ihre Augen, um sie vor der Sonne zu schützen, und schaute in den Himmel. „Es ist schon spät.“ Sie seufzte. „Ich muss zum Abendessen zurück sein, sonst unterzieht mich Großmutter einem Verhör.“

Obwohl er sich nichts sehnlicher wünschte, als dieses Beisammensein bis in alle Ewigkeit auszudehnen, begann Sloane, das Boot zu wenden. „Wie lange bleibt deine Großmutter denn noch zu Besuch?“

Sie kicherte. „Genau dasselbe hat Papa mich heute morgen auch gefragt. Der arme Mann wohnt seit ihrer Ankunft praktisch in seiner Werkstatt. Die Antwort ist, dass keiner es weiß. Sie wird abreisen, wann immer ihr danach ist. So, wie sie fast ohne Vorwarnung eintrifft, wird sie irgendwann aus heiterem Himmel verkünden, dass sie wieder verschwindet. Ich glaube, sie genießt es, alle im Ungewissen zu lassen.“

„Dessen bin ich ganz sicher. Wann immer ich sie sehe, verspüre ich den nahezu unkontrollierbaren Drang, mich unter dem nächstbesten Teetisch zu verstecken. Offensichtlich bin ich zu frech, meine Haare sind zu lang und meine Manieren zu ungeschliffen. Einmal hielt sie mir sogar vor, dass meine Augen zu blau sind.“ Er hielt kurz inne. „Allerdings bin ich nicht sicher, was sie diesbezüglich von mir erwartet hat.“

Er erwähnte nicht, dass Lady Lockwood ihn auch des Öfteren an die Fehler seines Vaters erinnerte – die er zwar durchaus erkannte, aber lieber nicht mit wem auch immer diskutieren wollte – und ihn, noch schlimmer, warnte, dass er ihm wahrscheinlich eines Tages nacheifern würde, eine Angst, die schon lange tief in Sloanes Seele verwurzelt war, so sehr er sich auch darum bemüht hatte, eine gänzlich andere Persönlichkeit zu entwickeln.

„‚Die Frau ist eine Heimsuchung‘“, zitierte Annabeth. „Das sagt mein Vater immer. Aber die arme Mama knickt natürlich immer vor ihr ein. Sie kann einfach nicht Nein sagen oder sich widersetzen. Ich bin der einziger Mensch, der Großmutter je widerspricht.“

„Ah, aber dich wird sie auch nicht niedermachen. Du bist der einzige Mensch, den sie liebt. Du und dieser dämliche Köter Petunia.“

„Ich glaube, sie liebt ihre Kinder“, entgegnete Annabeth. „Nein, wirklich“, fügte sie hinzu, als Sloane nur abfällig schnaubte. „Sie liebt Adeline und Mama, und ich habe das Gefühl, sie vergöttert Sterling.“

„Dann hat sie aber eine merkwürdige Art, das zu zeigen.“

„Das stimmt.“

Als ihr kleines Boot das Ufer fast erreicht hatte, warf Sloane den Anker und watete mit Annabeth auf den Armen durchs Wasser.

„Du brauchst mich nicht zu tragen“, sagte sie, machte aber keine Anstalten, sich aus seinen Armen zu winden. „Ich könnte meine Röcke hochbinden und auf eigenen Füßen gehen.“

„Das wäre zwar ein schöner Anblick, aber ich trage dich trotzdem lieber.“

Sie erreichten den Strand, und als Sloane sie absetzte, glitt ihr Körper auf eine Art an seinem entlang, die seine Sinne erregte. Annabeth rührte sich nicht vom Fleck, schlang ihm die Arme um den Hals und legte den Kopf in den Nacken, um Sloane ins Gesicht schauen zu können. Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden, und er würde es nicht mal dann tun, wenn er es könnte. Es wäre so leicht, in ihren klaren grünen Augen zu ertrinken, dachte er, und er hätte nicht den Wunsch, sich zu retten.

Sloane neigte den Kopf und küsste Annabeth. Ihr Mund öffnete sich unter seinem, sie schmiegte sich an ihn, und er verlor sich in dem Kuss, verlor sich in ihr. Er wollte mehr, wolle so viel mehr als Küsse und Liebkosungen, wollte in ihr versinken, sie ganz und gar einnehmen. Wollte, dass er zu ihr gehörte und sie zu ihm.

„Für immer“, murmelte er an ihren Lippen und ließ seinen Mund dann an ihrem Hals entlanggleiten.

Sein Hunger nach ihr lauerte immer ganz dicht unter der Oberfläche und erwachte brüllend zum Leben, wann immer er sie schmeckte, sie berührte. Aber natürlich konnte er diesen Hunger nicht befriedigen. Annabeth wäre willig, sogar begierig; wenn es um Herzensdinge ging, hatte sie ein strahlendes Vertrauen, das er nicht besaß. Sie glaubte, dass die Liebe alle Hindernisse überwinden und alle Wunden heilen würde. Sie glaubte, dass die Welt sie gut behandeln würde und dass sie etwas nur inbrünstig genug wollen müsste, um es schließlich auch zu bekommen.

Sloane wusste es besser. Und er würde niemals etwas tun, das Annabeth entehren oder ihr Schaden zufügen könnte. Egal, wie sehr sein Verlangen ihn umtrieb, er würde warten.

Annabeth fuhr ihm mit den Händen durchs Haar und zog daran. Diese kleine Berührung reichte aus, um ihn zu erregen, doch als er den Kopf hob, um ein wenig auf Distanz zu gehen, stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um ihn erneut zu küssen. Ihre Lippen waren warm und nachgiebig, und das Begehren drohte ihn zu überwältigen. Mit einer Hand umschloss er ihre Brust, spürte durch den Stoff ihres Kleides hindurch, wie sich ihre Brustwarze aufrichtete. Das leise Seufzen, das Annabeth entfuhr, fachte seine Leidenschaft nur noch weiter an.

Wieder versuchte er, sich ein Stück zurückzuziehen. Sein Atem kam keuchend, stoßweise. Annabeths Augen blickten verträumt, ihre Lippen waren rot und leicht geschwollen, und Sloane sehnte sich danach, sie erneut zu küssen, sie mit sich auf den Boden zu ziehen und ihren Körper zu erkunden.

Doch stattdessen holte er tief Luft und legte seine Stirn an ihre. „Dauert es wirklich noch vier Jahre, bis wir heiraten können?“

Mit einem bemerkenswerten Mangel an Mitgefühl kicherte sie. „Also, ich wäre jederzeit bereit für einen Ausflug nach Gretna Green.“

„Du weißt, dass ich das nicht tun werde.“

„Ich weiß. Du brauchst ein richtiges Aufgebot und all das.“ Sie tätschelte seine Brust. „Es macht mir einfach Spaß, dich zu ärgern.“

Er lächelte. „Kleine Hexe“, sagte er liebevoll.

„Und doch willst du mich heiraten.“

„Unbedingt.“

„Es sind tatsächlich nur noch drei Jahre und zehn Monate, bis ich einundzwanzig werde.“

„Ah. Klar, das ist ein signifikanter Unterschied.“ Er nahm sie bei der Hand, und sie gingen weiter den Pfad entlang.

„Aber ich bin sicher, dass Papa seine Zustimmung gibt, darum müssen wir wohl gar nicht so lange warten.“

„Ich weiß nicht. Dein Vater ist ein wirklich netter Mensch, aber kein Vater würde in mir einen vielversprechenden künftigen Ehemann seiner Tochter sehen. Ich muss erst in der Lage sein, dich zu ernähren.“

„Du meinst, Schmuggeln bringt nicht genug ein?“

„Was?“, fragte er unschuldig und schaute sie von der Seite an.

„Denkst du, ich weiß das nicht? Einer der Stallburschen hat es mir erzählt. Er dachte, ich weiß Bescheid, also sprich ihn nicht darauf an. Offenbar betreibt er dasselbe Geschäft.“

Sloane zuckte andeutungsweise mit den Schultern. „Ich fahre manchmal mit dem Boot raus, um die Fässer vom Schiff zu holen. Damit verdient man nicht genug, um angemessen zu leben.“

„Außerdem wäre es höchst bedauerlich, wenn mein Gatte wegen Schmuggels hinter Gitter käme.“

„Dafür müssten sie mich erst mal erwischen.“ Er grinste mutwillig. „Aber wie auch immer, ich werde das nicht mehr lange machen. Ich versuche nur, Geld für ein eigenes Schiff zusammenzukriegen. Und dann …“ Wieder hob er die Schultern „Nun, du kennst meine Träume. Ich habe dir oft genug davon vorgeplappert, dass ich ein Schifffahrtsunternehmen gründen will, mit einer ganzen Flotte von Handelsschiffen. Und damit so reich werden, dass ich dich mit Perlen und Diamanten überschütten kann und allem, was dein Herz sonst noch begehrt.“

Lächelnd drückte Annabeth seine Hand. „Ich brauche keine Perlen und Diamanten. Ich brauche nur dich.“

Sloane spürte, dass sie noch mehr sagen wollte, und konnte sich auch denken, was das war. „Nein“, kam er ihr zuvor. „Ich werde nicht zu meinem Onkel gehen und ihn um Geld für ein Schiff bitten.“

„Aber der Earl würde dir bestimmt gerne helfen, mit einem Darlehen, wenn du zu stolz bist, ein Geschenk anzunehmen.“

„Er will mich nach Oxford schicken. Damit ich sein Anwalt oder Sekretär werden kann.“

„Nein, weil er weiß, wie klug du bist, und dir helfen möchte.“

„Du denkst immer nur das Beste von den Menschen.“ Er verzog das Gesicht. „Aber ich werde kein Geld von Drewsbury annehmen.“

Annabeth argumentierte nicht weiter, zweifellos hatte sie gewusst, wie seine Antwort lauten würde. Schweigend gingen sie den Weg entlang, die Finger ineinander verschränkt und ab und zu für einen Kuss innehaltend, bis sie die Baumgruppe erreichten, wo sie Annabeths Pferd angebunden hatten. Sloane sattelte die Stute, doch sie blieben noch einen Moment lang beisammen, unwillig sich zu trennen. „Ich kann morgen Abend im Garten auf dich warten, wenn du es schaffst rauszukommen“, sagte er.

„Du könntest einfach zu der Party kommen, weißt du“, erwiderte sie. „Du musst dich nicht in den Gärten herumtreiben, um mich zu sehen.“

„Während Lady Lockwood bei euch residiert? Ich glaube nicht.“

„Sie hat nichts gegen dich“, versicherte Annabeth und lachte über den ungläubigen Blick, den Sloane ihr zuwarf. „Nun ja, zumindest nicht mehr als gegen jeden anderen Meschen.“

„Ich kann ihr nicht verübeln, dass sie sich für dich einen besseren Ehemann wünscht als mich. Aber ich habe auch keine Lust, mir von ihr den Marsch blasen zu lassen.“

„Na schön, du Dickschädel. Natürlich werde ich rauskommen. Ich schleiche mich vom Tanz weg, sobald Großmutter sich an den Whist-Tisch zurückgezogen hat.“

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn sanft zu küssen, doch er zog sie für einen leidenschaftlicheren, längeren Kuss an sich heran. Dann half er ihr aufs Pferd und blickte ihr nach, bis sie außer Sichtweite war, mit dieser quälenden Leere im Herzen, die sie bei jedem Abschied hinterließ.

Als er nach Hause kam, wartete ein Mann in der Eingangshalle auf ihn. Unwillkürlich ging Sloane langsamer. Der Tag war zu schön gewesen, um jetzt von einem der zahlreichen Gläubiger seines Vaters ruiniert zu werden. Dennoch hielt er weiter auf den Kerl zu – er würde ja nicht einfach verschwinden, wenn man ihn ignorierte, das taten diese Leute nie.

„Sloane Rutherford?“, sagte der Mann.

„Ja“, erwiderte Sloane einsilbig. Bereits vor langer Zeit hatte er sich angewöhnt, mit eisiger Zurückhaltung auf derlei Besuche zu reagieren.

„Mein Name ist Harold Asquith.“

Asquith sah nicht aus wie ein typischer Gläubiger – er wirkte wie ein Gentleman, nicht wie ein düpierter Händler oder wie ein Raufbold, den man angeheuert hatte, um die Schulden einzutreiben. Aber er konnte auch keiner der Freunde seines Vaters sein, dafür war er zu ernst und entschieden zu nüchtern gekleidet. Auf jeden Fall hatte Sloane ihn noch nie getroffen. Das weckte seine Neugier.

„Können wir irgendwo unter vier Augen reden?“, fragte Asquith.

Sloane runzelte skeptisch die Stirn, aber seine Neugier siegte, daher führte er den ungebetenen Gast ins kleine Wohnzimmer, deutete auffordernd auf einen der Sessel, zog die Tür hinter sich zu und bezog auf dem Sofa Stellung, mit ausgestreckten Beinen und verschränkten Armen – eine Pose, die üblicherweise jeden Gentleman abschreckte, der ihn belehren wollte.

„Wie ich höre, haben sie gelegentlich geschäftlich mit Sam Redding zu tun“, begann Asquith.

„Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.“

„Lassen Sie uns offen reden, Mr. Rutherford. Mir ist bekannt, dass sie den örtlichen Schmugglern helfen, daher weiß ich, dass sie ein Mann sind, der das Risiko nicht scheut. Und daran interessiert ist, Geld zu machen.“

„Kommen Sie bitte auf den Punkt. Falls Sie einen haben.“

„Ich möchte Ihnen ein Angebot machen.“ Asquith beugte sich leicht vor, und seine kühle Miene wurde etwas lebhafter. „Ich kann Ihnen ein Schiff zur Verfügung stellen.“

„Sie möchten, dass ich für Sie schmuggele?“

Sloane hatte nicht gewusst, was er von diesem unscheinbaren, ernsthaften – sogar ein wenig biederen – Mann erwarten sollte, aber das war es ganz bestimmt nicht gewesen.

„Nein, aber natürlich ist Schmuggeln eine hervorragende und zudem auch noch profitable Tarnung. Und in Anbetracht Ihrer derzeitigen Beziehung zu Redding nehme ich an, dass Sie keine moralischen Bedenken haben.“ Asquith hielt einen Moment inne. „Was ich brauche“, fuhr er dann fort, „ist ein Mann, der die Mittel hat, sich unbemerkt zwischen hier und Frankreich zu bewegen. Zum Beispiel, um Nachrichten oder gewisse Personen nach Frankreich und zurück zu transportieren. Vielleicht sogar, um einige Aufgaben für mich zu erledigen.“

„Als Spion?“

„Kurz gesagt, ja. Allerdings ziehe ich es vor, von meinen Agenten zu sprechen.“

„Warum sollte ich das tun wollen?“, fragte Sloane rundheraus.

„Nun, man könnte die Hoffnung hegen, dass sie ein wenig Patriotismus mitbringen. Loyalität England und der Krone gegenüber.“

„Ich schere mich einen feuchten Dreck um die Krone. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob mir genug an England liegt. Spionage ist kein Kavaliersdelikt. Man kann dafür an den Galgen kommen.“

„Wenn man erwischt wird, ja.“ Herausfordernd musterte Asquith ihn.

„Falls Sie glauben, mich dazu provozieren zu können, muss ich Sie enttäuschen. Diese Art Spielchen habe ich aufgegeben, sobald ich alt genug war, Vernunft zu zeigen.“

„Das Schiff würde natürlich Ihnen gehören, ohne Wenn und Aber, ebenso alle Gewinne, die Sie einstreichen. Und selbstverständlich würden Sie auch eine Entschädigung vom Foreign Office erhalten.“

Sloane konnte nicht leugnen, dass er versucht war. Geld und ein Schiff. Das war der direkte Weg zu dem Reichtum, den er anstrebte. Er könnte für eine Ehefrau sorgen, könnte Annabeth das Leben ermöglichen, das er sich für sie wünschte. Und er hätte die Möglichkeit, sie viel früher zu heiraten, als er es sich in seinen kühnsten Träumen vorgestellt hatte.

„Aber Geld nützt einem nichts, wenn man tot ist.“

„Ich hörte, dass ein gewisses Mädchen Ihr Interesse geweckt hat. Dass Sie sie gern heiraten würden. Miss Winfield wäre doch sicher …“

Sloane sprang vom Sofa und baute sich drohend vor dem Mann auf. „Wagen Sie es nicht, ihren Namen in den Mund zu nehmen. Glauben Sie ernsthaft, ich würde sie zur Frau eines Schmugglers machen? Zur Witwe eines Spions?“

„Niemand muss erfahren, womit Sie Ihr Geld verdienen. Schließlich findet Schmuggel nicht in der Öffentlichkeit statt.“

„Ich hoffe um Englands willen, dass Sie nicht wirklich so naiv sind, andernfalls zieht Napoleon bald im St James’s Palace ein. Natürlich gäbe es Gerüchte und Verdächtigungen. ‚Woher hat er plötzlich so viel Geld?‘, würde man sich fragen. Und warum hat er ein Schiff gekauft? Aber er ist schon immer ein wilder Junge gewesen. Lord Drewsbury verzweifelte an ihm. Es wäre ein niemals endender Skandal, und Annabeth und ihre Familie wären diejenigen, die darunter zu leiden hätten. Sogar noch mehr, wenn ich verhaftet und aufgeknüpft werde.“

„Wir könnten den Steuereintreibern einen Wink geben.“

Sloane schnaubte. „Dann wäre es nicht mehr besonders geheim, was? Außerdem könnte ich in Frankreich als Spion enttarnt und hingerichtet werden, und Annabeth wüsste nicht mal, was mit mir passiert ist. Dieser Art von Angst, Unglück und Unsicherheit würde ich sie niemals aussetzen. Und auch nicht den Spekulationen, die nach meinem Verschwinden die Runde machen würden. Völlig undenkbar.“

„Aber wenn sie …“

„Lassen Sie Annabeth aus dem Spiel“, herrschte Sloane ihn an.

Eine Weile sagte Asquith nichts, seine Miene blieb so gelassen, als hätte Sloane ihn gefragt, ob er Tee haben wollte.

„Das könnte ein bisschen schwierig werden“, erwiderte er schließlich milde.

Sloane starrte ihn an. Eisige Kälte kroch plötzlich an seiner Wirbelsäule entlang. „Wie meinen Sie das?“

„Es könnte schwierig für Annabeth und ihre Familie werden, einen Skandal zu vermeiden, wenn ihr Vater verhaftet wird.“

„Verhaftet!“ Sloane ließ sich aufs Sofa zurückfallen. Ein nervöses Kribbeln breitete sich in ihm aus, und die Härchen an seinen Armen und im Nacken stellten sich auf, Gefahr signalisierend. Er bemühte sich um einen verächtlichen Tonfall. „Wovon reden Sie? Mr. Winfield …“

„Mr. Winfield ist ein Spion.“

„Was?“

„Er arbeitet für die Franzosen.“

Wieder konnte Sloane den Mann nur anstarren. „Was?“ Er stand auf. „Sie sind wahnsinnig.“

„Nein. Sie wissen doch, dass er für die Regierung tätig ist.“

„Ja. Aber er ist kein hohes Tier … Was sollte er denn groß weitergeben?“

„Jeden Tag gehen Unterlagen durch seine Hände. Für die meisten Menschen mögen sie unbedeutend sein, aber sie enthalten Informationen über Lieferungen, Bewegungen und eine Reihe anderer Dinge, die für den Feind äußerst wertvoll sind. Zudem genießt er das Vertrauen eines höheren Beamten, zu dessen Büro er jederzeit Zugang hat. Mr. Winfield ist ein umgänglicher Mensch, mit dem jeder gern plaudert und Klatsch und Tratsch austauscht.“

„Aber … aber …“ Sloane fuhr sich durchs Haar und begann, auf und ab zu gehen. Noch immer erschien es ihm völlig unvorstellbar, aber weshalb sollte dieser Mann sonst hier sein? „Warum? Was würde Hunter Winfield dazu bewegen, für den Feind zu spionieren?“

„Es heißt, er sei chronisch knapp bei Kasse.“

„Aber von plötzlichem Reichtum habe ich bei ihm nichts bemerkt.“

„Das stimmt. Ich vermute, in seinem Fall handelt es sich um Erpressung.“

„Womit könnte man ihn erpressen?“

„Warum er sich überhaupt darauf eingelassen hat, weiß ich nicht genau. Es spielt im Grunde auch keine Rolle. Tatsache ist, dass die Franzosen über das Dokument verfügen, das er beim ersten Mal für sie gestohlen hat, und es als Druckmittel verwendet haben, um ihn dazu zu bringen, ihnen weitere und wichtigere Informationen zukommen zu lassen. Tatsache ist, dass er eine Bedrohung für unser Land darstellt.“

„Annabeth – Gott, der Skandal! Muss es denn enthüllt werden? Könnten Sie ihn nicht einfach mit falschen Informationen füttern?“

„Das tun wir, seit wir von seinem Verrat erfahren haben. Aber ich mag mir gar nicht ausmalen, was passieren würde, wenn Paris herausfindet, dass er ein Doppelagent ist.“

„Dann entziehen Sie ihm doch einfach den Zugang zu Informationen“, blaffte Sloane. „Sorgen Sie dafür, dass er von seinem Posten zurücktritt.“

„Vielleicht könnten wir das … wenn die Franzosen das fragliche Dokument, das sie gegen ihn verwenden, nicht mehr hätten. Wenn ein kühner Mensch sich bei ihnen einschleichen und es stehlen würde …“ Asquith schaute ihn vielsagend an.

Sloane zog die Brauen hoch. „Schlagen Sie etwa vor, dass ich das mache?“

„Das dürfte davon abhängen, wie mutig Sie sind. Und wie viel Ihnen daran liegt, Winfield und seine Familie vor einem Skandal zu bewahren.“

„Also erpressen Sie mich. Wenn ich Hunter aus den Klauen der Franzosen befreie, dann werden Sie seine Taten nicht enthüllen?“

„Es gäbe dann keinen Grund dafür.“

„Sie Dreckskerl. Sie machen dasselbe mit mir, was die Franzosen mit Annabeths Vater getan haben.“

Asquith erhob sich, und zum ersten Mal schimmerte so etwas wie Gefühl in seinen grauen Augen. „Ich bin Engländer. Ein Engländer, der alles Notwendige tun wird, um sein Land zu schützen. Es spielt keine Rolle, ob Sie mich schmähen, ob Sie mich hassen. Ich werde meine Pflicht erfüllen.“ Er musterte Sloane eindringlich. „Und ich will wissen, ob Sie dasselbe aus Liebe zu Miss Winfield tun werden.“

„Sie wissen, dass ich es mache“, erwiderte Sloane. „Ich werde dieses Dokument zurückholen.“

„Und danach weiter für Ihr Land arbeiten?“, vergewisserte sich Asquith.

„Ja. Unter einer Bedingung – Sie stellen sicher, dass Hunter Winfield seinen Posten aufgibt.“

„Dann haben wir eine Abmachung. Ich melde mich wieder.“ Damit wandte er sich zum Gehen.

Sloane schaute ihm nach. Wut brodelte durch seine Adern. Auf den verdammten Asquith und seine Pflicht. Auf den verdammten Hunter Winfield, weil er seine Tochter einem solchen Skandal ausgesetzt hatte.

All seine Träume lagen in Trümmern vor ihm. Was Sloane wirklich wollte, war kein Schifffahrtsunternehmen, kein Vermögen. Er wollte nur Annabeth, sonst nichts.

Aber tief in seinem Inneren hatte er gewusst, dass so etwas wie das hier unvermeidlich war. Dass das Leben sie ihm auf irgendeine Weise stehlen würde. Annabeth war schon immer außerhalb seiner Reichweite gewesen. Sie war eine Frau, die einen Gentleman verdiente, der ihr ein Leben im Wohlstand bieten konnte – und nicht den mittellosen Erben eines zweiten Sohns.

Und nun saß er in einer Falle, aus der es kein Entkommen gab. Er musste Asquith zu Willen sein, um zu verhindern, dass Annabeth durch den Verrat ihres Vaters befleckt und von allen, die sie kannte, verachtet wurde. Um das zu erreichen, musste er zu einem Mann werden, den sie nicht heiraten konnte. Einem Schurken, Galgenvogel, Verbrecher. Damit würde er sich als genau das entpuppen, was alle Welt ihm immer prophezeit hatte.

Und er konnte ihr nicht mal erklären, warum. Denn dann hätte er ihr vom Verrat ihres Vaters erzählen müssen. Annabeth vergötterte Hunter, und es würde ihr das Herz brechen, wenn sie wüsste, was er getan hatte. Und welchen Sinn hätte es, für Hunter die Kastanien aus dem Feuer zu holen, wenn Annabeth trotzdem zugrunde gerichtet wäre?

Eine tiefe, kalte Traurigkeit stieg in Sloane hoch, und er spürte, dass er darin ertrinken würde. Um die Frau, die er liebte, zu retten, musste er sie aufgeben.

1. KAPITEL

1822

Sloane Rutherford war kein zögerlicher Mensch. Er traf seine Entscheidungen, im Guten wie im Schlechten, und er lebte damit. Doch heute saß er zusammengesunken vor seinem unberührten Teller am Frühstückstisch und drehte unentschlossen eine Karte hin und her. Sollte er zu dieser Hochzeit gehen oder nicht?

Genau genommen musste die Frage, die er sich stellte, anders lauten. Nicht, ob er hingehen sollte – denn das sollte er ganz gewiss nicht. Sondern, ob er hingehen würde. Dabei ging es ihm nicht um die Veranstaltung als solche. Zwar war er überrascht und sogar ein wenig erfreut darüber, dass Noelle ihn eingeladen hatte. Doch die meisten Mitglieder seiner Familie betrachtete er mit Missachtung … und sie mochten ihn sogar noch weniger. Entfremdet war nicht das richtige Wort für sein Verhältnis zu den Rutherfords. Ausgestoßen wäre wohl zutreffender.

Also, nein, er hatte kein Interesse an der Hochzeit selbst und keinerlei Gründe, sich dort blicken zu lassen, und normalerweise hätte er die Einladung in den Ascheneimer geworfen. Doch was ihn mit beinahe schmerzhafter Macht dorthin zog, war exakt dasselbe, was ihn mit gleichermaßen quälendem Widerwillen erfüllte. Sie würde da sein.

„Annabeth?“, fragte Marcus von der Tür her. Erschrocken blickte Sloane auf und funkelte seinen Vater finster an. „Kannst du jetzt auch noch Gedanken lesen? Dann müsstest du eigentlich an den Kartentischen besser abschneiden.“

„Ja, sollte man meinen, nicht wahr?“ erwiderte Marcus friedlich und kam an den Tisch. „Aber leider scheint es nicht zu funktionieren. Aber in deinem Fall brauchte es nicht besonders viel Einfühlungsvermögen. Es steht dir ins Gesicht geschrieben.“

Er setzte sich auf den Stuhl gegenüber. In seinem makellos geschnittenen Brokatmorgenrock und den weichen Pantoffeln war Marcus die Verkörperung des trägen Aristokraten, die üppige weiße Mähne stilvoll zurückgekämmt, das Kinn sorgfältig von seinem Kammerdiener glattrasiert. Auch wenn er nach Jahren der Ausschweifung etwas verlebter aussah als es seinem Alter entsprach, war Marcus Rutherford noch immer ein stattlicher Mann.

Unwillkürlich überlegte Sloane, ob sein Vater einer wohlhabenden Witwe ins Auge fallen könnte, die ihm den Mann vielleicht abnehmen würde … aber nein, der ton hatte Marcus ebenfalls verbannt – was allerdings mehr an der früheren Tätigkeit seines Sohns lag als an seinen eigenen zahllosen Lastern.

„Warum bist du denn schon so früh auf den Beinen?“ erkundigte er sich, Marcus’ Bemerkung ignorierend. „Normalerweise rührst du dich doch nicht vor zehn oder elf Uhr aus deinem Zimmer.“

„Leider hatte Harriman nur um neun Uhr Zeit. Es ist ziemlich schwierig, überhaupt kurzfristig einen Termin bei ihm zu bekommen.“

„Ah, dein Schneider. Na klar, das reicht natürlich, um dich aus den Federn zu locken.“ Sloanes Mundwinkel zuckten. Marcus war auch in seinen reiferen Jahren noch immer ein eitler Pfau. Zweifellos würde die Rechnung des Schneiders gigantisch sein, aber das war Sloane egal. Er gab sein Geld lieber für die modischen Launen seines Vaters aus als für dessen andere Gewohnheiten.

„Aber ich will mich nicht beschweren. Ich kann von Glück sagen, dass er mich überhaupt noch einschieben konnte.“

„Vermutlich ist er dankbar, dass ich deine Rechnungen pünktlich begleiche, anders als die meisten seiner aristokratischen Kunden“, bemerkte Sloane trocken.

„Und ich werde den ganzen Nachmittag meiner Vorfreude auf die Hochzeit widmen können“, fuhr Marcus fort.

„Auf die Hochzeit?“, fragte Sloane skeptisch. „Du freust dich auf Hochzeiten?“

„Nicht jeder ist so ein Einsiedler wie du. Manche Menschen empfinden gesellschaftliche Anlässe als angenehme Abwechslung.“

„Ich bin kein Einsiedler.“

„Hm, doch. Was zweifellos der Grund ist, warum du so viel Zeit allein und mit Grübeln verbringst. Cornwall passt perfekt zu dir.“ Marcus hob die Teetasse, die ihm der Diener gerade hingestellt hatte, und trank einen Schluck. Seine blauen Augen funkelten amüsiert. „Aber ich muss zugeben, dass diese spezielle Hochzeit deutlich mehr Unterhaltungspotenzial hat als die übliche Variante.“

Sloane schwieg. Besagte Hochzeit war nun wirklich das Letzte, worüber er reden wollte.

Doch sein Vater brauchte keine Antwort. „Da wäre zum einen Noelle selbst, die reizende Braut, und der mögliche Tratsch über ihre skandalöse Vergangenheit.“

„Ich kann nicht nachvollziehen, warum es skandalös sein soll, vor Thorne wegzulaufen“, warf Sloane ein. „Das würde jeder tun. Ich finde es sehr viel seltsamer, dass sie damit aufgehört hat.“

Marcus kicherte zustimmend. „Ja, er ist ein echter Langweiler, nicht wahr? Aber ich nehme an, dass Noelle ihn ein bisschen aufmuntert. Aber die Hochzeit hat noch mehr Aufregendes zu bieten. Lady Lockwood ist stets für interessante Zwischenfälle gut … aber hoffentlich bringt sie ihren Hund nicht mit. Lord Edgerton wird natürlich auch dort sein. Ich glaube, er geht Ihrer Ladyschaft sogar noch mehr auf die Nerven als ihr anderer Schwiegersohn – wer weiß, welche Gemeinheiten sie ihm entgegenschleudern wird?“ Er hielt kurz inne. „Und stell dir nur mal vor, was los ist, wenn du dort auftauchst“, fügte er dann hinzu.

Sloane schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. „Genau deshalb werde ich nicht hingehen.“

„Natürlich nicht. Deshalb hast du die Einladung auch nicht weggeschmissen, sondern den ganzen Morgen darüber gebrütet.“

„Ich habe über gar nichts gebrütet. Ich habe nur …“ Er ließ den Satz ausklingen und schnitt eine Grimasse.

„Du hast gerade überlegt, ob die drohende Konfrontation mit deinen Verwandten schwerer wiegt als die Aussicht, Annabeth Winfield zu sehen.“

„Die Konfrontation mit meinen Verwandten ist mir scheißegal.“

„Ah … dann hast du überlegt, ob das Wiedersehen mit Annabeth den Schmerz wert ist, den diese Begegnung erzeugen wird.“

„Sei nicht albern.“ Sloanes Stimme klang wenig überzeugend, und er wandte sich ab und ging zum Fenster, wo er die Arme verschränkte und auf die Straße hinausstarrte. „Es wäre töricht, sie zu sehen“, erklärte er nach einer Weile ruhig.

„Zweifellos“, bestätigte Marcus und stieß einen Seufzer aus. „Es sind immer die dummen Dinge, die man sich am meisten wünscht.“

„Elf Jahre lang bin ich gut damit gefahren, sie nicht zu sehen.“ Dass er die meiste Zeit außer Landes gewesen war, hatte geholfen. Doch auch seit seiner Rückkehr nach England war er ihr aus dem Weg gegangen – nun ja, abgesehen von jenem einen Mal kurz nach seiner Ankunft, als er möglicherweise im Dunkeln vor Lady Lockwoods Haus herumlungerte, um einen Blick auf Annabeth zu erhaschen, die die Treppe hinunterkam und in eine Kutsche stieg. Mit Nathan. Bei der Erinnerung daran presste Sloane die Lippen zusammen.

Daher war es ein ziemlicher Schock gewesen, ihr vor zwei Monaten auf Stonecliffe zu begegnen. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass sie und Lady Lockwood gerade dort zu Besuch waren.

Doch als er mit Noelle und den anderen in der Eingangshalle stand, hatte sich eine Tür am Ende des Flurs geöffnet, und da stand sie plötzlich, das weiche braune Haar ein bisschen windzerzaust, die Wangen leicht gerötet von der frischen Luft, mit einem Korb voller Blumen. In dem Moment konnte Sloane nicht sprechen, sich nicht bewegen, er konnte sie nur wortlos anstarren. Sie war schön wie immer. Und er war so überwältigt wie immer.

Als hätte jemand auf ihn geschossen, wirbelte er herum und ging. Hinterher war er nicht mal sicher, ob er sich irgendwie von Noelle und Carlisle verabschiedet hatte. Und der verdammte Nathan war natürlich auch da gewesen. Dieser eine kurze Augenblick hatte Sloanes sorgfältig gepflegten Gleichmut gesprengt. Auch, nachdem sein Herz aufgehört hatte zu rasen wie verrückt und er sich in Erinnerung rief, dass er schon vor Jahren über sie hinweggekommen war, vermochte er seine Gedanken nicht mehr im Zaum zu halten. Immer wieder kehrten sie zu Annabeth zurück, wie eine Zunge, die nicht von einem kaputten Zahn lassen kann.

„Warum machst du so weiter?“, fragte sein Vater hinter ihm. „Warum gehst du nicht zu ihr und offenbarst deine Gefühle?“

Sloane schnaubte geringschätzig. „Ich müsste mich erst am Butler und dann vermutlich an Lady Lockwood vorbeikämpfen, um überhaupt mit ihr reden zu können.“

„Ich habe noch nie erlebt, dass du einem Kampf ausgewichten bist.“

„Mag sein. Aber ich kann nicht gegen Annabeth kämpfen. Und sie ist diejenige, die mich hasst.“

„Woher willst du das wissen?“, beharrte Marcus. „Immerhin ist sie nach all den Jahren noch immer unverheiratet. Natürlich hat sie kein Geld, aber bei einem hübschen, süßen Mädchen wie ihr dürfte kein Mangel an Anträgen geherrscht haben.“

„Zweifellos.“ Sloane spürte, wie sein Kiefer sich anspannte. „Aber das bedeutet nicht, dass sie sich nach mir verzehrt hat. Ich habe ihr das Herz gebrochen. Ich wusste, dass ich ihr das Herz breche. Und die Tatsache, dass ich meines ebenfalls gebrochen habe, dürfte sie kaum getröstet oder dazu geführt haben, dass sie mich weniger verabscheut.

„Warum sagst du ihr nicht die Wahrheit?“, fragte sein Vater scharf, ohne eine Spur seiner üblichen Freundlichkeit. „Erklär ihr, was du getan hast. Warum du es getan hast. Sag ihr, dass dieser Mistkerl Asquith dich erpresst hat.“

Sloane wirbelte herum. Seine Augen blitzten. „Das kann ich ihr nicht sagen. Die Wahrheit würde ihr heute genauso viel Schmerz bereiten wie damals. Als ich mich darauf einließ, wusste ich, dass ich ihre Liebe für den Rest meines Lebens opfere. Ich dachte nur nicht, dass dieser Rest so lange dauern würde.“

Er stieß einen angewiderten Laut aus und verließ das Zimmer. Doch er kam nicht weit, denn plötzlich ertönte lautes Klopfen. Stirnrunzelnd drehte Sloane sich um und ging Richtung Haustür. Das Hämmern wurde immer heftiger, gleichzeitig rief jemand seinen Namen. Gerade als er die Eingangshalle erreichte, öffnete ein Diener die Tür und begann, den Jungen, der auf der Schwelle stand, entrüstet abzukanzeln.

Doch der Junge hörte gar nicht hin, sondern schob sich an dem Mann vorbei. „Mr. Rutherford!“, rief er noch einmal.

„Timmy.“ Erschrocken ging Sloane zur Tür. „Was ist los? Was zum Teufel machst du …“

„Es geht um die Docks, Sir. Mr. Haskell schickt mich. Sie müssen schnell kommen. Das neue Lagerhaus steht in Flammen.“

2. KAPITEL

Ohne sich Zeit zu nehmen, eine Jacke überzuwerfen, rannte Sloane aus dem Haus. Gott sei Dank war Timmy so vorausschauend gewesen, die Droschke warten zu lassen. Er sprang hinein, der Junge folgte ihm. Der Kutscher holte alles aus den Pferden heraus, angespornt von Sloanes Versprechen, den doppelten Preis zu bezahlen, wenn sie schnell beim Lagerhaus ankamen.

„Was ist passiert?“, fragte Sloane den Jungen.

„Keine Ahnung, Sir.“ Es hat schon gebrannt, als ich zur Arbeit kam, und Mr. Haskell hat mich gleich losgejagt, um es Ihnen zu sagen.

Bei seinem Eintreffen stand das Lagerhaus fast vollständig in Flammen, dunkler Rauch stieg auf. Die Feuerwehrleute der Versicherungsgesellschaft und einige seiner Angestellten waren vor Ort und taten ihr Bestes, um zu verhindern, dass das Feuer auf die umliegenden Gebäude übergriff. Es war klar, dass das Lagerhaus selbst nicht mehr gerettet werden konnte. Wie zum Beweis dieser pessimistischen These stürzte der hintere Teil gerade krachend in sich zusammen. Die Vorderseite stand noch, aber das würde offensichtlich nicht mehr lange so bleiben.

Sloane machte Anstalten, den anderen zu helfen, doch Haskell fing ihn ab. „Mr. Rutherford, ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Als ich hier ankam, war es …“

„Wer hat letzte Nacht Wache gehalten? Wo ist er?“

Einen Moment lang starrte Haskell ihn ausdrucklos an, dann zeichnete sich Panik in seinem Gesicht ab. „Baker! Den habe ich ganz vergessen.“ Hektisch schaute er sich um. „Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nicht gesehen.“ Er schaute zum Lagerhaus. „Glauben Sie …“

„Ist er noch da drin?“, fragte Sloane grimmig.

„Ja. Ich habe nicht nachgedacht. Ich hätte nachsehen müssen.“ Haskell richtete seinen angstvollen Blick auf Sloane, doch der rannte bereits auf das Gebäude zu. Haskell folgte ihm. „Sir! Warten Sie!“, rief er. „Das ist zu gefährlich.“

Sloane erreichte die nächstgelegene Tür des Lagerhauses. Die Hitze strömte ihm in Wellen entgegen und fraß sich durchs ganze Gebäude. Mit einem Rück riss er die Tür auf und ging hinein. Rauch erfüllte die Luft, und nur wenige Meter entfernt leckten die Flammen an den Kisten und Wänden.

Hustend zog Sloane sein Taschentuch hervor, um es sich vor Mund und Nase zu halten. Angespannt schaute er sich um. Es war nahezu unmöglich, in dem dichten Qualm etwas zu erkennen. Er stolperte über eine Kiste und fiel auf die Knie. Und dann sah er in einiger Entfernung die Beine eines Mannes, teilweise verborgen von einer anderen Kiste.

Er schlug sich bis dorthin durch, packte die Beine und zerrte den Mann hinter der Kiste hervor. Es war Baker, der Wachmann. Sloane schaffte es, ihn in eine fast sitzende Position zu bringen, sodass er ihn unter den Achseln zu fassen bekam. Sloane war wahrlich kein Schwächling, aber Baker war groß, und da er bewusstlos war, fühlte er sich doppelt so schwer. Da Sloane sich mit seiner Last rückwärts zur Tür bewegte, hatte er Mühe, die Richtung beizubehalten. Die Flammen mied er nach Möglichkeit, dennoch fühlte seine Haut sich an, als würde sie Blasen werfen. Plötzlich gab es einen lauten Knall, der wie ein Kanonenschlag klang, und das Feuer jagte auf sie zu, rollte über Sloanes Kopf übers Dach und an der Wand herunter.

Ein zweiter Knall ertönte, sogar noch lauter als das erste, und ein Dachbalken krachte rechts von ihnen funkensprühend zu Boden. Glut regnete auf sie herunter und brannte kleine Löcher durch Sloanes Hemd bis zu seiner Haut. Das Gebäude gab ein weiteres Ächzen und Krachen von sich, und in dem Moment, in dem Sloane durch die Türöffnung nach draußen taumelte, gaben die Wände endgültig nach. Mit donnerndem Getöse brachen die Reste der Lagerhalle hinter ihnen in einer Feuerkaskade in sich zusammen.

Haskell rannte auf Sloane zu, dicht gefolgt von Timmy. Zu dritt trugen sie Baker weg von den brüllenden Flammen.

„Ich bin ziemlich sicher, dass er noch atmet“, sagte Sloane. Er beugte sich über den Wachmann und drehte dessen Kopf vorsichtig zur Seite. Seitlich an seinem Gesicht und seinem Hals klebte geronnenes Blut. Behutsam wischte Sloane Ruß und Asche weg. „Er hat einen Schlag auf den Kopf bekommen.“

„Glauben Sie, dass etwas auf ihn gefallen ist?“ Haskell klang skeptisch.

„Das bezweifle ich. Die Wunde ist hier, direkt über seinem Ohr“, erwiderte Sloane grimmig. „Sieht eher danach aus, als ob ihm einer eins von der Seite über den Schädel gezogen hat.“ Er wandte sich Timmy zu. „Hol Dr. Borden. Sag ihm, dass ich dich geschickt habe.“ Er nannte ihm die Adresse, und der Junge eilte davon.

„Kommen Sie.“ Sloane richtete sich auf. „Wir reden später darüber. Jetzt brauchen sie hier mit dem Feuer erst mal jede Hilfe, die sie kriegen können.“

In den nächsten zwei Stunden kämpften sie darum, die Flammen davon abzuhalten, auf die anderen Lagerhäuser überzugreifen. Zum Glück konnte der Schaden am Nachbargebäude auf eine einzige verbrannte Mauer beschränkt werden.

Als das Feuer schließlich zu einer schwelenden Glut heruntergebrannt war, schmerzten Sloanes Arme vom Eimertragen, er war mit Ruß und Asche bedeckt. Wo Funken ihn getroffen hatten, war seine Kleidung durchlöchert. Er ließ mehrere Männer zurück, um ein erneutes Aufflammen der Glut zu verhindern, und zog seinen Vorarbeiter von der Menge weg, die sich versammelt hatte, um das Spektakel zu beobachten.

„Wie geht es Baker?“

„Er ist zu sich gekommen, Sir. Der Arzt hat die Wunde gesäubert und verbunden. Baker hat schlimme Kopfschmerzen, scheint aber noch bei Sinnen zu sein. Ich habe Timmy gebeten dafür zu sorgen, dass er nach Hause kommt und sich hinlegen kann.“

„Gut.“ Sloane verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf das zerstörte Gebäude. „Was war in dem Lagerhaus?“

„Seide, Tee, Hanf. Brandy. Wir haben erst gestern eine Schiffsladung gelöscht.“

„Alles prima Brennmaterial für ein Feuer“, sagte Sloane finster.

„Ja, Sir, das würde ich auch sagen.“

„Da unser Wachmann einen Schlag auf den Kopf bekommen hat, können wir wohl davon ausgehen, dass die Wahrscheinlichkeit einer natürlichen Brandursache verschwindend gering ist“, fuhr Sloane fort. „Ich nehme an, es war Parker. Offenbar glaubt er, mich so einschüchtern zu können, dass ich ihm die Werft überlasse.“

„Das muss wohl so sein.“ Haskell nickte. „Verdammter Mistkerl. Erst neulich hat er dem Zoll einen Tipp gegeben, dass die ‚Marie Claire‘ Schmuggelware transportiert. Davor waren die Diebstähle in der anderen Lagerhalle. Und die zertrümmerten Tische in Ihrem Club und im Wirtshaus. Und die Schlägereien mit Ihren Leuten.“

„Ja, er ist offenbar wild entschlossen, meinen Teil der Docks unter seinen ‚Schutz‘ zu stellen. Aber diese anderen Vorfälle waren unerheblich im Vergleich zu dem hier. Brandstiftung, der Angriff auf Baker … Der Mann hätte in dem Feuer umkommen können, bewusstlos wie er war.“

„Es ist schlimmer“, stimmte Haskell zu. „Und irgendwie viel persönlicher, nicht wahr? Jeder weiß, wie stolz Sie auf das neue Lagerhaus waren – ich meine, es ist Ihr zweites gewesen und das erste, das Sie selbst gebaut haben. Glauben Sie, er wusste, dass Sie sich dort ein Büro einrichten wollten?“

„Es wäre nicht schwierig gewesen, das herauszufinden. Diesmal wollte Parker nicht nur Schaden anrichten, sondern mich auch beleidigen. Seine anderen Versuche konnte ich mehr oder weniger abschütteln, ich habe einfach mehr Wachleute eingestellt. Aber das hier … das ist mehr als eine Drohung.“

„Er weiß, dass alle anderen hier am Hafen einknicken werden, wenn er Sie kleinkriegt. Denn jeder weiß, wenn Sie sich nicht gegen ihn wehren können, dann kann es keiner.“

„Dann trifft es sich ja gut, dass ich keineswegs vorhabe, ihm nachzugeben, nicht wahr?“ Sloanes Lächeln war furchterregend. „Wir werden noch mehr Wachleute anheuern und noch häufiger patrouillieren. Kontaktieren Sie die Cole Agency. Ich hätte gerne mehr Informationen über diesen Kerl.“

„In der Agentur ist niemand, wahrscheinlich sind alle mit Aufträgen unterwegs.“

„Bleiben Sie dran. Ich will viele Männer hier und im Holzlager haben. Verlässliche, kompetente Männer. Und ich überlege, die gesamte Werft zu überwachen, meine Schutzmaßnamen auf die anderen Schiffseigner auszudehnen, damit sie nicht einknicken.“

„Aye Sir. Aber seien Sie vorsichtig. Er hat es auf Sie abgesehen. Und Sie persönlich zu verletzen wäre der sicherste Weg, Sie zu Fall zu bringen.“

„Glauben Sie mir, ich habe nicht vor, mich von ihm in die Enge treiben zu lassen.“

Die Heimfahrt verbrachte Sloane in Gedanken versunken. Er musste Entscheidungen treffen, Pläne schmieden. Denn es war klar, dass er und Parker auf eine direkte Konfrontation zusteuerten. Im Grunde war diese Entwicklung unvermeidlich gewesen, seit Parker in diese Gegend gezogen war und seine Geschäfte ausgebaut hatte. Der Mann betrieb verschiedene illegale Unternehmen, von Diebstahl über Prostitution bis hin zu betrügerischen Spielhöllen. Aber sein vielleicht lukrativstes Unterfangen war es, anderen Geschäftsleuten „Schutz“ anzubieten, den sie nicht nötig gehabt hatten, bevor er mit seinen Verbrecherbanden aufgetaucht war.

Doch an Sloane hatte Parker sich bislang die Zähne ausgebissen. Dies hier war Sloanes Territorium, sein Geschäft, und mit seinen regelmäßigen Patrouillen hatte er die gesamte Werft abgesichert. Er würde ganz bestimmt nicht zulassen, dass dieser kriminelle Schläger die Gegend in ein Risikogebiet verwandelte, und ganz gewiss würde er ihm keine wie auch immer geartete Kontrolle über seine Besitztümer einräumen. Sloane Rutherford mochte das sein, was manche Leute für einen Halunken hielten, aber er kümmerte sich immer um seine Leute.

In dieser Stimmung betrat er ein paar Minuten später sein Haus, schlug die Tür hinter sich zu und ging zur Treppe. Marcus kam aus dem Salon. Als er seinen Sohn sah, klappte ihm buchstäblich die Kinnlade herunter.

„Meine Güte, Junge.“ Angeekelt musterte er Sloanes rußiges Gesicht und seine durchlöcherte Kleidung. „Bist du unter die Schornsteinfeger gegangen?“

„Mein neues Lagerhaus ist niedergebrannt“, erklärte Sloane.

„Großer Gott.“

Sloane ging weiter, blieb dann aber noch einmal stehen und drehte sich zu seinem Vater um. „Ich glaube, es ist besser, wenn du wieder aufs Land ziehst.“

„Was? Warum? Du glaubst doch nicht etwas, dass ich irgendwas damit zu tun habe?“

„Natürlich nicht. Die Sache ist nur die, dass es hier einen Mann gibt, der all diese Dinge inszeniert. Vor dem heutigen Tag gab es bereits eine Reihe geringfügigerer Vorfälle. Er versucht, mir Geld abzupressen. Die Docks zu kontrollieren. Und ich beabsichtige nicht, ihn gewähren zu lassen.“

„Aber was hat das mit mir zu tun? Ich habe nichts Skandalöses getan, kein Geld verloren, an niemanden. Seit wir hier sind, habe ich kein einziges Mal gespielt. Das sind immerhin schon zwei ganze Wochen.“

„Ja, ich weiß.“ Sloane gab sich Mühe, nicht allzu sarkastisch zu klingen. Bei der Veranlagung seines Vaters waren zwei Wochen vermutlich wirklich eine beeindruckend lange Zeit. „Es ist nur …“

„Das habe ich dir versprochen, und ich habe vor, dieses Versprechen zu halten. Also werde ich auch künftig nichts tun, was er gegen dich verwenden kann.“

„Ich weiß“, wiederholte Sloane, obwohl er so seine Zweifel hatte, wie lange Marcus sein gutes Betragen durchhalten würde. „Und ich weiß es zu schätzen. Aber es geht mir nicht um Schulden. Es geht mir um deine Sicherheit.“

Marcus schaute ihn verblüfft an. „Meine Sicherheit?“

„Ja. Parkers Angriffe sind immer schlimmer geworden. Ich glaube, er hat sich bewusst dafür entschieden, das Lagerhaus zu zerstören, weil er wusste, dass ich in gewisser Weise stolz darauf war. Wenn ich nun weiterhin nicht auf seine Forderungen eingehe, wird er schlussfolgern, dass er stärkere Druckmittel einsetzen muss, nämlich jemanden, den ich … der mir wichtig ist. Deshalb möchte ich, dass du London verlässt. Parker wird nicht den ganzen Weg nach Cornwall auf sich nehmen.“

„Nun.“ Marcus zog die Augenbrauen hoch. „Ich bin etwas überrascht. Und fühle mich durchaus geschmeichelt, dass ich für dich in diese Kategorie falle.“

„Du bist mein Vater“, presste Sloane hervor. „Natürlich will ich nicht, dass dir etwas passiert.“

Marcus’ Mundwinkel zuckten. „Na ja, nicht immer führen familiäre Bindungen dazu, dass einem jemand am Herzen liegt.“

Sloane schaute in finster an. „Willst du damit sagen, dass ich wie der Earl bin?“

„Um Gottes willen, nein, du bist längst nicht so prüde. Aber das spielt keine Rolle.“ Marcus wedelte mit der Hand, als wollte er das Thema vom Tisch fegen. „Du solltest vielmehr daran denken, dass es hier in London jemanden gibt, der dir sehr viel wichtiger ist als ich oder sonst jemand.“

Als Sloane begriff, worauf sein Vater hinauswollte, zog sich etwas in seiner Brust schmerzhaft zusammen. „Du meinst Annabeth? Sie ist nicht … Das war …“

Schweigend hob Marcus eine Braue.

„Woher sollte er von Annabeth und mir wissen?“, fuhr Sloane fort.

Marcus zuckte mit den Schultern. „Bei Tratsch und Klatsch haben die Leute ein langes Gedächtnis. Und was damals zwischen dir und Annabeth vorgefallen ist, hat sich wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet.“

Einen langen Moment starrte Sloane seinen Vater einfach nur an. Er wollte widersprechen, wollte es abstreiten, aber er konnte nicht. War Annabeth in Gefahr?

Damit war sein Entschluss gefallen.

Er würde heute Abend zu der Hochzeit gehen.

3. KAPITEL

Annabeth schaute zu Nathan, der auf der anderen Seite des Bräutigams stand. Er lächelte ihr zu, und sie spürte dieses vertraute kleine Ziehen in der Brust. Niemals würde sie es irgendwem gegenüber zugeben, aber manchmal fragte sie sich, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Nicht, dass es wirklich einen Unterschied machte – sie würde ihr Versprechen niemals brechen.

Sie ließ ihren Blick wieder zu Noelle und Carlisle wandern. Die beiden standen vorm Altar, und ihre Gesichter leuchteten förmlich vor Liebe. Annabeth wusste, wie sie sich fühlte, auch sie hatte sich einmal so gefühlt. Und ihr war klar geworden, dass sie wahrscheinlich nie wieder dergleichen empfinden würde. Doch darüber wollte sie nicht nachdenken. Im Laufe der Jahre war sie ziemlich gut darin geworden, ihre Vergangenheit tief in sich zu verschließen und aus ihren Gedanken zu verbannen. Es war einfach nur dieser Anlass heute, der die Erinnerungen zurückbrachte. Das, und das unerwartete Zusammentreffen mit Sloane vor ein paar Wochen auf Stonecliffe. Du liebe Zeit, was war das für ein grässlicher Moment gewesen. Der Schock, ins Haus zu kommen und ihn dort stehen zu sehen … seine versteinerte Miene, als er ihrer ansichtig wurde … die Art, wie er sich abgewandt hatte und davongeeilt war, ohne auch nur ein Wort an sie zu richten.

Annabeth hatte gewusst, dass er sie nicht liebte. Und ganz gewiss liebte sie ihn nicht mehr, sie hatte vor langer Zeit aufgehört, sich nach ihm zu verzehren. Doch irgendwie hatte diese abrupte, offensichtliche Zurückweisung dennoch geschmerzt. Deshalb dachte sie in letzter Zeit viel zu oft an ihn.

Plötzlich entstand ein Rascheln im Publikum, eine Welle der Bewegung und leises Raunen, das Annabeth dazu bewog, sich umzudrehen. Und als hätten ihre Gedanken ihn heraufbeschworen, stand dort in der Kirchentür Sloane Rutherford.

Rasch wandte Annabeth den Kopf ab. Was hatte er hier zu suchen? Nachdem er mehr als deutlich gemacht hatte, was er von seiner Familie hielt. Kein Wunder, dass sein Erscheinen für Aufruhr unter den Gästen sorgte.

Annabeth war froh, dass sie ihre ausdruckslose Miene beibehalten konnte. Für den Rest der Zeremonie richtete sie ihre Aufmerksamkeit allein auf das Brautpaar. Sie schaute nicht mal Nathan an, der sicher wütend war. Als das Ehegelübde gesprochen war und Noelle und Carlisle sich umdrehten, um den Gang hinunterzuschreiten, war Sloane verschwunden. Annabeth seufzte erleichtert. Wenigstens hatte er seine Anwesenheit auf ein Minimum beschränkt.

An Nathans Arm folgte sie den Frischvermählten, aber sie schafften es kaum zum hinteren Teil der Kirche, als die anderen Gäste bereits aufstanden und zu den Ausgängen strömten. Alle waren begierig darauf, einen Blick auf den berüchtigten Sloane Rutherford zu erhaschen.

„Was zum Teufel macht er hier?“ murmelte Nathan.

„Noelle hat ihn eingeladen“, erwiderte Annabeth leise.

„Ja, aber niemand hat geglaubt, dass er tatsächlich kommen würde.“

Sie standen jetzt oben auf der Kirchentreppe, und Annabeth hatte einen guten Überblick über die sich zerstreuenden Gäste. „Sieht so aus, als ob er schon wieder weg ist.“

„Gut, dass wir ihn los sind.“

Hier seid ihr also“, trompetete eine Frauenstimme hinter ihnen. Sie drehten sich um.

„Hallo, Großmutter.“ Man hätte meinen können, Annabeth und Nathan hätten unter einer Hecke gekauert, um sich vor ihr zu verstecken. Was Nathan vermutlich gern getan hätte. Annabeth lächelte dem sympathisch aussehenden Mann neben Lady Lockwood zu. „Onkel Russell.“

Russell Feringham war nicht wirklich Annabeths Onkel, aber er war der beste Freund ihres Vaters gewesen und ein Nachbar. Sie war praktisch mit ihm aufgewachsen und hatte ihn immer als Mitglied der Familie betrachtet. Höflich und umgänglich, war er einer der ungebundenen älteren Gentlemen, die ihre Großmutter regelmäßig dazu nötigten, sie auf Partys oder ins Theater zu begleiten.

„Annabeth, meine Liebe, du siehst hinreißend aus. Aber es ist nicht nett, die Braut zu überstrahlen.“ Russell nahm ihre Hand und machte darüber eine elegante Verbeugung.

„Lügner.“ Annabeth lachte. „Jeder weiß, dass Noelle die schönste Frau in London ist.“

„Nun, nun. Verzeih mir bitte, wenn ich das bezweifle. Ich wage sogar zu behaupten, dass der junge Dunbridge hier mir zustimmt.“

„In der Tat, Sir“, bestätigte Nathan. Dann wandte er sich Lady Lockwood zu. „Sie sehen gut aus heute Abend.“

„Unsinn.“ Die alte Frau klopfte mit ihrem Gehstock auf die Steinstufen. „Ich habe seit Ewigkeiten nicht mehr richtig geschlafen. Da draußen jault jede Nacht so eine verflixte Katze und stört Petunia. Man sollte meinen, dass die Leute ihre Haustiere besser unter Kontrolle haben und nicht hemmungslos herumlaufen lassen, um ganz Mayfair aufzuwecken.“

„Mmm-hmm.“ Nathan hielt seine Lippen fest geschlossen.

„In der Tat“, bemerkte Mr. F...

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