Wachgeküsst von Lady Georgiana

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Er ist maßlos arrogant! Georgiana verabscheut den verruchten Marquess of Westmorland, den sie flüchtig aus London kennt. Dass er nun auch noch das Herrenhaus ihrer besten Freundin beim Glücksspiel gewonnen hat, ist eine Katastrophe! Sicher ist er bereits auf dem Weg nach Derbyshire, um sie beide hinauszuwerfen - da entdeckt sie ihn kurz vor dem Landsitz bewusstlos auf der Straße, überfallen von Straßenräubern. Er hat sein Gedächtnis verloren, ist auf einmal so erstaunlich liebenswert! Kurzentschlossen gibt Georgiana ihn als ihren Verlobten Lord Sterling aus. Ein verhängnisvolles Lügenspiel um den Marquess beginnt …


  • Erscheinungstag 08.09.2020
  • Bandnummer 357
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749248
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

1819

Es sollte ein denkwürdiges Zechgelage werden.

Wie Heathercote richtig bemerkte, wurde ein Mann nur einmal im Leben einundzwanzig. Marlow, der von sich behauptete, ein Mathematikgenie zu sein, fand es nötig, hinzuzufügen, ein Mann werde auch nur einmal achtundzwanzig oder dreißig; aber an Marlows Wichtigtuerei war man gewöhnt und schenkte ihm keine weitere Beachtung.

Heathercote sprang auf den Tisch des separaten Speisesaals im White’s Club und verkündete, dies sei das Ereignis des Monats. Er habe einigen Herren Absagen erteilt, denen es an Geist, Stil oder an beidem fehle. „Damit willst du wohl sagen, die Knaben entsprechen nicht deinen Vorstellungen, Chaos zu verbreiten!“, rief einer, was Heathercote mit einem Tippen an seine Hutkrempe bestätigte.

Nach White’s stand ein Theaterbesuch an. Die Vorstellung hatte längst begonnen, als die Clique in die Loge stürmte, um sich zu amüsieren. Es wurde reichlich Brandy getrunken, Orangen flogen auf die Bühne, und bald verlor man Clifton mit einer Dame des horizontalen Gewerbes im Arm aus den Augen.

Danach wies das Gedächtnis der Nachtschwärmer einige Lücken auf, man erinnerte sich verschwommen an laute Gesänge in den Straßen und daran, dass Marlow irgendwo in Westminster seinen Mageninhalt von sich gab, aber schließlich traf man im Vega Club ein. Zu dieser späten Stunde wollte der Geschäftsführer die Gäste daran hindern, sich an die Spieltische zu setzen. Mr. Forbes befürchtete, die Herren würden stundenlang spielen, und der Vega Club schloss normalerweise im Morgengrauen seine Pforten.

Heathercote schaffte es, dass er ihnen den Whist-Salon überließ. „Wir gehen gegen Mittag“, versprach er, klopfte Forbes auf die Schulter und drückte ihm eine Handvoll Scheine in die Hand. Seine Aussprache war erstaunlich deutlich für einen Mann, der seit acht Stunden trank. Mit finsterer Miene gewährte Forbes den Herren Zutritt, man nahm den Haupttisch in Beschlag und bestellte Wein.

Ein paar unerschrockene Gäste aus dem Hauptraum folgten ihnen. Forbes versuchte, sie daran zu hindern, doch Forester, der einen erkannte, winkte sie herein. „Wir haben nichts dagegen, den Herren Geld abzunehmen“, sagte er glucksend, da ihm ein Schluckauf zu schaffen machte.

Man spielte Whist, anschließend Loo. Ein Verlierer wurde dazu verdonnert, eine volle Flasche in einem Zug zu leeren. Im Raum hingen graue Schwaden Zigarrenrauch, die Reden wurden derber, die Wetten tollkühner. Marlow gewann gegen Forester einen preisgekrönten Junghengst. Heathercote setzte seinen neuen Phaeton und endete mit einem Landauer. Sackville kassierte den höchsten Pot der Nacht, und die Jetons prasselten nur so auf ihn herein.

Und dann verdarb eine dieser Randfiguren den Spaß. Er sah aus wie ein Landei, war neu in London, prahlerisch und aufdringlich, was anfangs für Heiterkeit sorgte, bald aber lästig wurde. Er spielte recht passabel, gewann gelegentlich und verlor unter gotteslästerlichen Flüchen, was die Runde mit dröhnendem Gelächter quittierte. Doch plötzlich wurde allen klar, dass dieser Mr. Winston sich maßlos überschätzte: Er wollte sein Haus setzen.

Marlow lachte. Heathercote griff nach dem Zettel, auf den Winston gekritzelt hatte, und las mit einer hochgezogenen Braue. „Haus- und Grundbesitz ist als Wetteinsatz nicht zugelassen, Winslow.“

Der Mann, dessen Gesicht vom Wein bereits gerötet war, lief krebsrot an. „Das geht doch! Dein Kumpel hat ein Pferd gesetzt.“

„Pferde sind bewegliche Güter“, entgegnete Forester, dessen Liverpooler Akzent durchschimmerte. „Häuser sind es nicht.“

„Ein Haus ist mehr wert!“

„Ja, sehr viel mehr.“ Heathercote schob ihm den Zettel zu. „Jetons.“

„Ich habe keine Jetons mehr“, murmelte das Landei. Einen Moment starrte die Spielrunde in verblüfftem Schweigen auf den leeren Tisch vor ihm. Alle anderen hatten hohe Stapel Jetons vor sich.

„Dann steigen Sie aus“, riet ihm Forester. „Sie sind raus!“

Winston reckte eigensinnig das Kinn. Sein Freund wollte ihm ein paar Jetons zuschieben, die er unwirsch ablehnte. „Ich will eine Chance, meine Verluste wettzumachen.“

„Umso mehr Grund, aufzuhören, wenn Sie alles verloren haben.“ Marlow machte eine ausholende Armbewegung und wäre beinahe vom Stuhl gekippt. Mr. Forbes, der den Kartentisch aus einiger Entfernung beobachtete, trat heran. „Forbes, Windermere ist erledigt.“

„Mr. Winston“, murmelte der Geschäftsführer. „Es ist vielleicht Zeit, zu gehen.“

„Noch nicht!“ Winston warf finstere Blicke um sich und wischte die Bitte seines Begleiters, aufzugeben, mürrisch beiseite. „Jetzt nicht, Farley! Die anderen hatten ihre Chance, das Glück zu wenden. Wieso nicht ich?“

„Weil Glück wie der Wind ist“, meldete sich eine Stimme. Nicholas Dashwood, der Besitzer des Vega Clubs, trat aus dem Schatten. „Seine Gunst lässt sich nicht vorhersagen.“

Winston sank tiefer in seinen Stuhl. „Ich verdiene eine letzte Chance.“

Heathercote legte die Arme um seine Stuhllehne. „Na, West? Was meinst du? Soll er bleiben und seinen gesamten Besitz verspielen?“

In lässiger Haltung, das Glas Wein in einer Hand, die Karten in der anderen, hob der Marquess of Westmorland den Blick. „Sie sollten wirklich gehen, Winsmore.“

„Wins-less trifft es besser.“ Marlow kicherte.

Winston richtete sich kerzengerade auf, witterte im Marquess seine letzte Chance. „Bitte, Mylord.“

„Soll er sich doch ruinieren“, brummte Forester und mischte die Karten.

Der Marquess zog die Schultern hoch. „Was kümmert’s mich. Meinetwegen.“

Heathercote wandte sich an den Clubeigner. „Dashwood, Sie sorgen doch dafür, dass die Regeln eingehalten werden, nicht wahr?“

„Mr. Winston“, warnte Dashwood den Mann gelassen, „gehen Sie keine Wette ein, die Sie nicht einlösen können.“

Winston nahm den Zettel, fügte eine Zeile hinzu und setzte schwungvoll seinen Namen darunter. „Das tue ich nicht, Sir.“

Aber er irrte. In weiteren vier Runden gewann er ein paar Spiele, und dann verlor er alles – einschließlich des Schuldscheins. Plötzlich war er nicht mehr angriffslustig oder störrisch. Er wirkte wie ein geprügelter Hund. Entsetzt starrte er auf das Siegerblatt.

„Sie wollten ja nicht hören“, sagte Heathercote mitleidlos. „Jetzt haben Sie die Quittung.“

Winston plusterte sich auf. „Mit Leuten wie Ihnen hätte ich mich nicht an den Tisch setzen dürfen!“

„Wieso wussten Sie das nicht vorher?“, lallte Marlow mit schwerer Zunge. „Dämlicher Idiot!“

„Das ist mein Haus!“

„Das Sie soeben beim Kartenspiel verloren haben“, stellte Heath verächtlich schnaubend fest. „Vollidiot.“

Winston war dunkelrot angelaufen. „Nennen Sie mich nicht so.“

Sackville ließ eine Braue in die Höhe schießen. „Nein? Iss ja gar nich mehr Ihr Haus.“ Er fischte den Schuldschein aus dem Stapel Jetons, studierte ihn aufmerksam und kniff dabei ein Auge zu. „’scheinend gehört es jetzt Wess.“

Die Runde wieherte vor Lachen. „Er braucht es doch nicht!“, schrie Winston und wollte sich den Zettel schnappen, bevor sein einziger Freund am Tisch ihn am Arm zurückhielt. „Er hat Dutzende Häuser!“

„Mach ein Bordell draus, West“, schlug Forester vor. „Und gib deinen Freunden Mengenrabatt.“

„Freier Eintritt!“, johlte Marlow begeistert.

Winston knurrte wütend, statt jedoch weiterzustreiten, kam er wankend auf die Füße, stürmte unsicheren Schrittes davon, kämpfte mit der Türklinke und geriet ins Stolpern, begleitet vom grölenden Gelächter der Kartenrunde. Sein Freund half ihm, das Gleichgewicht wiederzufinden, und dann fiel die Tür hinter den beiden ins Schloss.

„Wer hat diesen Trottel eingeladen?“, fragte Heathercote verächtlich.

„Marlow.“

„Blödsinn“, brummte Marlow und ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. „Ich nicht. Das war Forester.“

Forester zeigte ihm einen Vogel. „Ich meinte den anderen, Farley.“

„Sie pflegen einen ausgesprochen schlechten Umgang“, erklärte Sackville.

Forester verzog das Gesicht, sprang auf, schwenkte sein Weinglas durch die Luft und verschüttete die Hälfte. „Ich bedanke mich für diesen höchst vergnüglichen Abend, Gentlemen.“ Dabei verbeugte er sich ostentativ vor Viscount Heathercote und Lord Westmorland. Sackville machte eine unflätige Geste hinter Foresters Rücken.

Heathercote wollte Einspruch erheben, aber Forester gebot ihm mit einem Wink zu schweigen und ging. Marlow war auf dem Tisch eingeschlafen, Sackville kicherte betrunken in sich hinein, West legte die flachen Hände auf den Tisch, zögerte, als gälte es, Kraft zu sammeln, und hievte sich schwer auf die Füße. „Den Wagen, Dashwood.“

Mit versteinerter Miene ging der Eigentümer. West – der Marquess of Westmorland – blickte auf die verbliebene Tischrunde. „Habe ich die letzte Runde gewonnen?“

„Ja“, antwortete Heathercote gähnend.

„Schreiben Sie alles gut, Forbes“, sagte der Marquess. „Gott im Himmel, bin ich müde.“

Mit ausdrucksloser Miene trat der Geschäftsführer an den Tisch und hielt den Schuldschein mit spitzen Fingern hoch. „Den kann ich nicht gutschreiben, Mylord.“

West starrte auf den Zettel. „Verdammt. Richtig.“ Er steckte ihn in die Jackentasche und wankte mit Heathercote in die grelle Morgensonne.

2. KAPITEL

Georgiana Lucas verbrachte wunderschöne Tage in Derbyshire – bis der Brief eintraf. Ein Schreiben, das unwissentlich und unbeabsichtigt ihr beschauliches Leben auf den Kopf stellte und dafür sorgte, dass alles aus dem Ruder zu laufen begann.

Davon konnte sie natürlich noch nichts ahnen.

Das Unheil begann beim Frühstück. Georgiana überlegte, wie sie den Tag in Freiheit verbringen wollte, da ihre steife Gouvernante Lady Sidlow es vorgezogen hatte, in London zu bleiben, während sie selbst das ländliche Leben in Maryfield liebte. Ihre Schulfreundin Kitty, verheiratete Lady Winston, die sie eingeladen hatte, saß am Kopfende des Tisches und wiegte mit einem seligen Lächeln ihr drei Monate altes Baby, ein entzückendes Töchterchen, in den Armen. Geneva, Kittys Schwägerin, las zur allgemeinen Erheiterung einen Artikel aus dem lokalen Kirchenblättchen vor. Mr. Potts Schweine waren ausgebrochen und hatten für Aufruhr in der Dorfstraße gesorgt. Die Dowager Baronetess, Lady Winston, Genevas Mama, die von der ganzen Familie Mutter genannt wurde, hörte ihrer Tochter mit halbem Ohr zu, während sie die Speisenfolge für das Dinner durchging, zu dem der Vikar nebst Familie erwartet wurde.

Der Butler, Mr. Williams, brachte die Post. „Von Sir Charles.“

„Oh!“ Mit einem erfreuten Lächeln legte Kitty das Baby in die Wiege neben sich, nahm den Brief entgegen und brach das Siegel.

Geneva schenkte Georgiana Tee nach. Durch die offenen Fenster wehte eine laue Sommerbrise den Duft nach frisch gemähtem Gras, Wiesenblumen und das Summen der Bienen aus dem Garten herein. Georgiana überlegte, ob sie einen langen Spaziergang oder einen Ausritt machen wollte. Das Landleben bot zwar nicht die Zerstreuungen der Großstadt, dafür aber reichlich Gelegenheit, sich im Freien an der frischen Luft zu bewegen.

Lautes Klirren unterbrach ihre Träumerei. Kitty hatte den Teelöffel fallen gelassen und saß kerzengerade da. „Was ist?“, fragte Georgiana besorgt.

Kittys Finger krallten sich um den Brief. „Charles“, stieß sie hervor.

Geneva schwieg bang. „Was ist mit Charles?“, fragte Mutter Winston zerstreut.

„Etwas Schreckliches ist passiert.“ Kitty blickte mit gefurchter Stirn auf. „Meine geliebte Kitty“, begann sie vorzulesen. „‚Es liegt mir fern, Dich zu beunruhigen, aber ich schreibe Dir in höchster Eile und großer Not. Durch widrige Umstände hatte ich das Missgeschick, einer Clique gerissene …“ Sie stockte und hob bestürzt den Kopf.

„Ist er tot?“, entfuhr es Geneva entsetzt.

„Wäre er tot, könnte er kaum einen Brief schreiben“, wandte Georgiana ein, beugte sich vor, um das Baby zu beruhigen, das zu wimmern begonnen hatte. „Lies weiter, Kitty. Was ist passiert?“

„Er ist nicht tot.“ Kitty ließ den Brief sinken und starrte aus dem Fenster.

„Nun rede schon, meine Liebe“, drängte Mutter Winston. „Wurde er ausgeraubt? Ist er verletzt? Die Straßen Londons sind ja so unsicher.“

Kitty nahm den Brief wieder auf und las weiter: „‚Ich hatte das schreckliche Missgeschick, einer Clique gerissener Gauner in die Hände zu fallen, und habe durch sie furchtbaren Schaden erlitten. Nicht an meiner Person, aber mein Stolz und meine Würde wurden tief verletzt.‘“

„Er wurde verprügelt!“, rief Geneva. „In einem Boxkampf?“

Kittys Miene blieb rätselhaft. „Ich denke nicht. Weiter schreibt er: ‚Der Erzschurke, der mich betrogen hat, ist Lord Westmorland, und ich habe die Befürchtung, er wird persönlich in Osbourne House vorsprechen. Sollte er an unsere Pforte klopfen, verweigere ihm den Zutritt, meine über alles geliebte Kitty. Er hat die Absicht, uns alle in den Ruin zu treiben.‘“

Geneva rang nach Luft. Mutter Winston fiel vor Schreck die Kinnlade herunter. „Was?“

Kitty drehte das Blatt um und las weiter. „Er schreibt, er will alles unternehmen, um das Unglück von uns abzuwenden, und später mehr darüber berichten. Der Rest ist lediglich die dringende Ermahnung, Lord Westmorland auf keinen Fall ins Haus zu lassen.“

„Er hat sich duelliert!“, platzte Geneva heraus.

„Still!“, wies ihre Mutter sie zurecht. „Dazu würde Charles sich niemals hinreißen lassen.“

„Selbst wenn, er ist wohlauf, um den Brief zu schreiben, und das ist ein gutes Zeichen“, versuchte Georgiana zu beschwichtigen. „Wäre er verletzt, würde er Kitty bitten, umgehend zu ihm zu kommen.“

„Warum in aller Welt sollte Westmorland uns besuchen, wenn er Streit mit Charles hatte?“, fragte Kitty verwundert. Sie drehte das Schreiben wieder um. „Charles schreibt, er wurde hintergangen …“

„Vielleicht etwas Geschäftliches“, vermutete Mutter Winston. „Charles ist so gutgläubig. Ich mache mir oft Sorgen, dass er ausgenutzt wird wie sein Vater.“

„Aber was könnte er mit einem Marquess geschäftlich zu tun haben?“ Kitty fuhr sich mit der Hand über die gefurchte Stirn. „Darüber hätte er doch mit mir gesprochen. Und falls der Marquess ihn in unlautere Geschäfte verwickeln wollte, würde Mr. Jackson Einspruch erheben.“ Mr. Jackson war der langjährige Rechtsanwalt der Familie.

„Ich bezweifle, dass der Marquess auch nur die geringste Ahnung von geschäftlichen Dingen hat“, erklärte Georgiana abfällig. „Sein Vater, der Duke of Rowland, verwaltet das Vermögen, wie jeder weiß.“

Aller Blicke richteten sich auf sie. „Aber natürlich“, sagte Kitty staunend. „Du musst Lord Westmorland kennen! Du lebst seit drei Jahren in London.“

Georgiana, die immer noch das greinende Baby tätschelte, verzog das Gesicht. „Ich kenne Westmorland nicht persönlich. Ich weiß nur, was über ihn geredet wird.“

Man verkehrte in den gleichen Kreisen, und es war buchstäblich unmöglich, nichts über alle anderen zu wissen, noch dazu über eine schillernde Person wie den Marquess of Westmorland. Georgianas Gouvernante Lady Sidlow hatte ein umfassendes Wissen über jeden unverheirateten Gentleman in London und neigte dazu, dieses Thema mit der Begeisterung eines Pferdenarren über die Rennen in Ascot zu erörtern.

Georgiana hätte Kitty eine ziemlich genaue Beschreibung von ihm geben können. Der Marquess war hochgewachsen, gut aussehend, athletisch gebaut und umwerfend charmant, wenn er wollte. Sein dunkles Haar und seine leuchtend braunen Augen entzückten alle Frauen. Dem Nachfolger des Duke of Rowland würden einmal einer der ältesten Titel und die damit verbundenen Reichtümer zufallen, wobei er bereits jetzt ein hohes Einkommen aus Erträgen seiner Landgüter hatte. Unter diesen Aspekten war Westmorland einer der begehrtesten Junggesellen im Königreich, und Lady Sidlow hatte nicht nur einmal ihr Bedauern darüber kundgetan, dass Georgiana mit Lord Sterling verlobt war, dessen Rang eines Viscount unter dem eines Marquess stand, wenn Männer wie Westmorland frei herumliefen und sich in ihrem Junggesellendasein sonnten.

Georgiana wusste allerdings Dinge über ihn, die kein gutes Licht auf ihn warfen.

„Was ist er für ein Mensch?“, fragte Kitty und musterte Georgiana aufmerksam. „Ist er ein Bösewicht?“

„Ein Betrüger?“, hakte Geneva nach.

„Jedenfalls scheint er ausgesprochen ehrlos zu sein, wenn er Charles hinters Licht geführt hat!“, erklärte Mutter Winston.

Georgiana hielt Westmorland für einen der schlimmsten Schurken. „Ich wäre die Letzte, die seine Ehre verteidigt.“

Mutter Winston bekam große Augen. „Was hat er sich zuschulden kommen lassen?“, fragte Geneva, die vor Neugier beinahe platzte.

Georgiana rührte in ihrer Teetasse. Da sie aus persönlichen Gründen eine schlechte Meinung über den Marquess hatte, meldete sich ihr Gewissen. Allein ihre Abneigung gegen ihn berechtigte sie nicht dazu, seinen Namen zu beschmutzen.

Wenn sie allerdings an Charles’ Andeutungen dachte, Westmorland habe ihn übers Ohr gehauen und werde demnächst hier auftauchen, fragte sie sich, welchen Grund es dafür geben könnte. Charles hatte eindeutig große Befürchtungen vor nachteiligen Konsequenzen. Was immer Charles widerfahren sein mochte, sollte der Marquess es darauf abgesehen haben, Kitty und ihrem Baby Schaden zuzufügen, oder Geneva und ihrer Mutter, würde Georgiana nicht tatenlos zusehen.

„Er ist ein gewissenloser Lebemann.“ Damit bestätigte sie nur die Gerüchte, die in London über ihn im Umlauf waren. „Er pflegt Umgang mit ausgesprochen skandalösen Nichtsnutzen: mit Viscount Heathercote und Lord Marlow und sogar mit dem fürchterlichen Mr. Clifton. Du erinnerst dich an ihn, Kitty. Der junge Mann, der auf den Kirchturm von St. Martin kletterte und sich dabei beinahe den Hals gebrochen hätte.“

„Du meine Güte“, hauchte Geneva.

„Wie konnte Charles an einen solchen Unhold geraten?“, jammerte Mutter Winston.

„Man muss dem unschuldigen Charles ordentlich zugesetzt haben. Dafür ist der Marquess berüchtigt“, fuhr Georgiana fort. „Über ihn und seine Clique wird ständig in den Klatschblättern wegen ihrer üblen Streiche berichtet. Einmal setzten sie einen betrunkenen Mann in ein Boot, das sie die Themse flussabwärts treiben ließen, bis es schließlich in Greenwich gegen den Landungssteg prallte und der Trunkenbold davon aufwachte. Er hätte aus dem Boot fallen und ertrinken können.“

„Und diese Kerle haben Charles übel mitgespielt?“ In Genevas Gesicht spiegelten sich Entsetzen und Begeisterung zugleich. „Wie furchtbar! Der arme Charles!“

„Dieser Westmorland passt nicht zu Charles’ sonstigem Umgang“, sagte Kitty nachdenklich. „Und wieso kannst du ihn nicht leiden, Georgiana?“ Ihr Blick gab zu verstehen, dass sie Schlimmeres vermutete als Lausbubenstreiche, zu denen sich junge Heißsporne der gehobenen Kreise gern hinreißen ließen, über die Georgiana sich im Übrigen gerne erheiterte.

„Ich will nicht indiskret sein“, entgegnete sie pikiert.

„Ach wirklich?“, murmelte Kitty trocken.

„Bitte sei indiskret!“, bat Geneva und erntete einen strengen Blick von Mutter Winston.

Georgiana nahm einen Schluck Tee. „Nun, wenn ihr darauf besteht …“

„Oh ja, bitte!“ Geneva beugte sich so weit vor, dass sie beinahe vom Stuhl rutschte.

„Geneva!“, tadelte ihre Mutter.

„Aber er könnte kommen und uns in Angst und Schrecken versetzen“, verteidigte Geneva sich. „Ich finde, wir müssen auf das Schlimmste gefasst sein.“

Mutter Winston spitzte die Lippen. „Wie auch immer, diese Neugier schickt sich nicht.“ Geneva kicherte, und Kitty unterdrückte ein Schmunzeln.

„Westmorland ist ein unangenehmer, böswilliger Mensch “, erklärte Georgiana freimütig. „Er hat schlechte Manieren und ist gemein. Er und sein nichtsnutziger Freund Lord Heathercote machen sich einen Spaß daraus, gehässige Bemerkungen über andere Leute von sich zu geben. Während einer Soiree vor ein paar Wochen standen die beiden abseits, blickten hochnäsig auf die Gäste herab und mokierten sich über alles, angefangen von den Speisen bis zur Tischdekoration. Joanna Hotchkiss nannte er eine einfältige Ziege. Von Lady Telford behauptete er, sie sei eine schlechte Gastgeberin und ihre geschmacklosen Blumenarrangements würden ihm Kopfschmerzen bereiten.“ Georgiana erboste sich auch nach Wochen über die abfälligen Bemerkungen des betrunkenen Lebemanns. „Mich nannte er eine alberne, leichtfertige Person, die mit ihrem koketten Gehabe Männer an der Nase herumführt.“ Wobei er sich wesentlich vulgärer ausgedrückt hatte.

Kitty blieb der Mund offen stehen. Genevas Augen schossen wütende Blitze. „Du, und albern? Wie kann er es wagen!“

„Ausgesprochen ungeschliffen!“, sagte Mutter Winston eifrig mit dem Kopf nickend. „Abscheulicher Mensch!“

„Ja, er ist ungehobelt und abscheulich, ein Mensch, der nur an sich selbst denkt“, bestätigte Georgiana. „Und bösartig, wie ich meine.“

„Ich hasse ihn“, erklärte Geneva.

„Ich auch“, murmelte Georgiana.

„Und nun belästigt er unseren lieben Charles.“ Mutter Winston wandte sich an Kitty. „Was sollen wir tun, meine Liebe?“

„Im Moment können wir gar nichts tun.“ Kitty hatte sich wieder gefasst und faltete den Brief. „Merkwürdig finde ich, dass Charles befürchtet, Westmorland könne hier erscheinen. Wieso in aller Welt sollte er?“

„Um uns zu verhöhnen, zweifellos! Aber wir sind nicht verpflichtet, ihn zu empfangen, hab ich recht, Mutter?“

„Auf keinen Fall!“ Mutter Winston erhob sich, Kampfeslust im Blick. „Und auch sonst niemand in Maryfield. Ich werde alle vor ihm warnen, allen voran Mrs. Tapp im Bull and Dog. Diesem Schuft ist nicht nur der Zutritt zu unserem Haus verwehrt, er wird auch keine Unterkunft im Dorf finden.“

„Ich helfe dir!“ Geneva begleitete ihre Mutter aus dem Zimmer und überschüttete sie mit Vorschlägen, wie man den Marquess abfertigen und vor den Kopf stoßen könnte.

In dem Schweigen am Frühstückstisch wandte Georgiana sich an Kitty. „Was schreibt Charles sonst noch?“

„Nicht viel.“ Kittys grübelnder Blick fiel auf den Brief. „Das beunruhigt mich.“

„Ich begreife nicht, was die beiden miteinander zu schaffen gehabt haben könnten“, gestand Georgiana. „Westmorland ist ein völlig anderer Typ als Charles. Was auch zwischen ihnen vorgefallen sein mag, ich kann mir nicht denken, welches Interesse Westmorland daran haben könnte, Charles zu schaden.“

„Wir beide kennen einen Ort, wo sie sich begegnet sein könnten.“ Kitty presste sich die Finger an die Schläfen. „Charles liebt das Glücksspiel mehr als ihm guttut.“

Das hatte Georgiana vergessen. Charles sah leidlich gut aus, war liebenswürdig und manierlich, ohne besonderen Charme zu versprühen. Man könnte einen ganzen Abend mit ihm verbringen, ohne sich am nächsten Tag an ein einziges Wort von ihm zu erinnern. Eigentlich war man in Gesellschaftskreisen überrascht, dass Kitty ihn heiratete, aber als Baronet war er ein geeigneter Heiratskandidat. In Kitty steckte eine erstaunliche Willenskraft, und Georgiana vermutete, dass ihr ein Ehemann gelegen kam, der ihr die Zügel überließ. Kitty wäre nicht die erste Frau gewesen, die sich eine dominante Position in der Ehe wünschte, und da sie ein beträchtliches Vermögen in die Ehe mit dem nicht gerade wohlhabenden Charles brachte, fühlte sie sich berechtigt, die erste Geige zu spielen. Und mit Sicherheit hatte sie mehr Verstand als Charles.

All diese Gedanken behielt Georgiana wohlweislich für sich, während sie die Decke des strampelnden Babys zurechtzupfte.

„Sag mir die Wahrheit. Ist Westmorland ein Spieler?“ Kittys Stimme klang gepresst.

Georgiana streichelte das seidige Köpfchen des Babys. „Nun ja, das ist anzunehmen.“ Sie kannte zwar Westmorlands Gewohnheiten nicht, aber einige seiner Freunde waren für ihre enorm hohen Einsätze bei Glücksspielen berüchtigt. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er den Spieltischen fernblieb.

Eine steile Falte bildete sich auf Kittys Stirn. „Das macht mir Sorgen. Charles mokiert sich gern über die geringen Einsätze unserer Nachbarn, die ihn langweilen. Ich kann nur hoffen, er war klug genug, sich nicht an einer solchen Spielrunde zu beteiligen, wenn allerdings der Marquess sich an den Tisch setzte, an dem Charles spielte …“

Der Marquess of Westmorland würde sich nicht zu Charles Winston an einen Tisch setzen, eher war der umgekehrte Fall zu befürchten. Mit Rowlands Reichtum im Hintergrund konnte der Marquess weit höhere und riskantere Einsätze wagen als Charles.

Da der übersättigte Marquess die Crème de la Crème der Londoner Müßiggänger, Lebemänner und Taugenichtse als Gesellschaft vorzog, wäre ihm Charles Winston, der einfache Baronet aus Derbyshire, zu langweilig. Es war ohnehin verwunderlich, dass die beiden sich über den Weg gelaufen waren.

Allerdings war es nicht verwunderlich, dass Charles bei diesem Aufeinandertreffen schlecht weggekommen war.

„Was auch geschehen sein mag, ich zweifle keine Sekunde daran, dass Westmorland der Schuldige ist“, sagte Georgiana, um einen sorglosen Tonfall bemüht. „Er ist ein Müßiggänger der schlimmsten Sorte, aber ich bin mir sicher, dass er den Vorfall längst vergessen hat … Er hatte vermutlich bereits eine Sauftour hinter sich, bevor es zur Begegnung mit Charles kam.“

Kitty ließ sich nicht beschwichtigen. „Charles schreibt, er habe großen Schaden erlitten. Nicht an seiner Person, aber an seiner Ehre. Es muss sich um Glücksspiel gehandelt haben.“

Wahrscheinlich.

„Und es ist sehr besorgniserregend, dass er befürchtet, der Mann könne hier auftauchen“, endete Kitty bedächtig.

Das Baby weinte lauter. Kitty hob das Kind aus der Wiege, bettete die Kleine an ihre Schulter und tätschelte ihr sanft den Rücken.

„Mach dir keine Sorgen“, versuchte Georgiana, sie zu beruhigen. „Sollte Westmorland die Unverfrorenheit besitzen, hier zu erscheinen, versperren wir alle Türen und lassen ihn im Regen stehen, bewerfen ihn mit Unrat und beleidigen seinen Schneider. Ein solcher Empfang verschreckt auch den infamsten Lebemann, und er kehrt schleunigst nach London zurück.“

Kitty entspannte sich ein wenig. „Und du würdest dich nicht scheuen, einen Marquess im Regen stehen zu lassen?“

„Keine Sekunde“, betonte sie und lächelte vergnügt. „Ich hätte sogar einen Riesenspaß dabei.“

Endlich lachte ihre Freundin. „Das sehe ich dir an.“ Sie lehnte ihre Wange an das seidige Köpfchen ihres Babys. „Trotzdem hoffe ich inständig, dass er nicht kommt.“

„Glaube mir, Kitty“, sagte Georgiana im Brustton der Überzeugung. „Er kommt nicht.“

3. KAPITEL

Der Vorbote der Apokalypse erschien in Gestalt eines Rechtsanwalts.

Davon war Robert Churchill-Gray, Marquess of Westmorland, überzeugt. Schlimmer noch, es handelte sich um den Rechtsberater seines Vaters, Sir Algernon Sneed, der nicht nur in Wests Haus eindrang, sondern ihn auch noch in seinem Ankleidezimmer überfiel, in das er sich geflüchtet hatte, weil sein Kammerdiener Hobbes dem Eindringling den Zutritt zu seinem Schlafgemach unter Androhung eines Blutbades verweigert hatte.

Dafür war er Hobbes dankbar, auch wenn ihm nur eine kurze Gnadenfrist gewährt war. Unsanft aus dem Bett gerissen, war er gezwungen, eine qualvolle Strafpredigt seiner Mutter über sich ergehen zu lassen, vorgetragen in Sir Algernons kühlem, gewähltem Tonfall, der den Unmut der Duchess zwar milderte, keineswegs jedoch seine Tragweite. Ihr waren Gerüchte seiner letzten Umtriebe zu Ohren gekommen, die ihr – milde gesprochen – nicht gefallen hatten.

Rob für seinen Teil hatte nur vage Erinnerungen an jene Nacht der Ausschweifungen, die seine Mutter in Rage versetzte. Es war sein Geburtstag gewesen – daran erinnerte er sich deutlich –, der ausgiebig gefeiert worden war, sorgfältig geplant und arrangiert von Heathercote. Er erinnerte sich an seine Freunde, Wein, erlesene Speisen, Brandy, Frauen, mehr Wein, Spielcasino … Möglicherweise hatten sie God Save the King gegrölt und ihre Hinterteile vor Carlton House entblößt.

Bedauerlicherweise hatte er nur eine verschwommene Erinnerung an jene Ereignisse, die Sir Algernons Besuch zur Folge hatten, dank einer klatschsüchtigen Freundin seiner Mutter, die ihr einen empörten und vermutlich maßlos übertriebenen Bericht darüber hatte zukommen lassen.

„‚Ich gehe davon aus, dass du die nötigen Schritte unternimmst, um diese haarsträubende Situation zu bereinigen‘“, las Sir Algernon vor, dessen Nickelbrille am Ende seines Nasenrückens balancierte. „‚Umgehend. Ich würde höchst ungern deinen Vater bitten, nach London zu reisen, um ein ernstes Wort mit dir zu reden. Er wäre darüber ausgesprochen ungehalten, da die Fischereisaison in diesem Jahr sich gut anlässt.‘“

„Es reicht. Ich verstehe, was sie meint.“ Rob streckte die Hand nach dem Brief aus. Wenn seine Mutter ihre Drohung wahr machte, seinen Vater nach London zu beordern, war es um sein Seelenheil geschehen. Der Duke of Rowland war im Grunde ein liebenswürdiger und umgänglicher Mensch, wenn er allerdings in Zorn geriet – was mit Sicherheit zu erwarten war, wenn ihm seine Lieblingsbeschäftigung, der Angelsport, verdorben wurde –, dann gnade dem Mann Gott, der ihm in die Quere kam, einschließlich und in erster Linie seinem erstgeborenen Sohn und Erben.

Sir Algernon reichte ihm das Schreiben. „Wenn ich Ihnen in dieser Sache von Nutzen sein kann, Mylord, stehe ich Ihnen zu Diensten.“

Um zweifellos meiner Mutter haarklein darüber zu berichten, dachte Rob. „Natürlich.“

Der Anwalt blieb sitzen. „Darf ich fragen, welche Schritte Sie zu unternehmen gedenken, Sir?“

Rob beäugte ihn. Er glaubte zu spüren, wie sein Gehirn träge im Brandy der vergangenen Nacht hin und her schwappte. Auch so ein Vorschlag von Heathercote. Sie hatten die Oper besucht mit Forester und einigen seiner Kumpane, die offenbar ihr Körpergewicht in Brandy aufzuwiegen gedachten. Da musste man natürlich mithalten. Wäre er nicht so müde und weniger verkatert gewesen, hätte er Sneed eine intelligente Antwort gegeben, aber in seinem Zustand schaffte er nur die kargen Worte: „Ich denke darüber nach.“

Sneed war nicht zufrieden. „Mylord, es handelt sich um Grundbesitz. So etwas ist nicht mit einem Handschlag und einer Entschuldigung aus der Welt zu schaffen.“

„Nein?“ Rob presste sich den Handballen an sein linkes Auge. „Mist! Das war mein Plan.“

„Tatsächlich?“, fragte Sneed trocken.

Rob schnaubte verächtlich. „Natürlich nicht. Ich erinnere mich nicht mal an diesen Winslow …“

„Winston.“

„… Und ich erinnere mich auch nicht daran, einen Schuldschein von ihm angenommen zu haben. Außerdem habe ich nicht den leisesten Schimmer einer Ahnung, gesagt zu haben, ich hätte ungehörige Pläne mit seinem Haus.“ Dieser Punkt hatte seine Mutter am meisten empört. Jemand hatte ihr hinterbracht, er habe diesem bedauernswerten Winslow nicht nur sein Haus abgeluchst, sondern auch erklärt, er wolle darin ein Bordell eröffnen.

Da besagtes Haus sich offenbar in Derbyshire befand, konnte Rob sich nicht vorstellen, es in Besitz zu nehmen, geschweige denn, es zu besichtigen. Und wen interessierte schon ein Bordell in Derbyshire? Es hätte genauso gut in China stehen können.

Sir Algernon rückte seine Brille zurecht. „Wie ich höre, ist Sir Charles Winston ein junger Mann, dem das Armenhaus droht, falls er besagtes Anwesen verliert, seinen einzigen Besitz. Darf ich vorschlagen, Sie setzen sich mit ihm in Verbindung und geben ihm den Schuldschein zurück, da Sie sich ohnehin nicht daran erinnern, das Anwesen gewonnen zu haben?“

Rob hatte nicht die geringste Erinnerung an diesen Charles Winston, was ihn nicht daran hinderte, den Kerl zu hassen. Wie konnte jemand so dämlich sein, sein Haus zu setzen und es dann auch noch zu verlieren. Nun war er gezwungen, die Sache auszubügeln und seine Mutter zu besänftigen. „Ihm droht also die Verarmung. Dass ich nicht lache. Er bringt meinen guten Namen in Verruf, Sneed, behauptet, ich hätte ihn betrogen und ihm sein Haus abgeluchst, und Sie finden, ich hätte mich bei ihm zu entschuldigen und ihn zu bitten, es zurückzunehmen?“

„Es wäre die beste und eine diskrete Lösung.“

Rob lachte und glaubte, ihm platzte der Schädel. „Tatsächlich? Winslow nennt mich in ganz London einen Betrüger und Schurken, dass sogar meine Mutter in Lancashire davon Wind bekommt. So etwas lasse ich mir nicht bieten.“

„Mylord“, erklärte Sneed streng. „Ich rate Ihnen von übereilten Schritten ab.“

„Zur Kenntnis genommen“, entgegnete Rob. „Zum Glück sind Sie nicht mein Rechtsberater.“

„Ihr Herr Vater würde mir beipflichten“, warnte Sneed.

Rob hob den Zeigefinger. „Das ist nicht gesagt. Erstens schrieb meine Mutter diesen Brief, nicht Seine Gnaden. Ich gehe davon aus, mein Vater hat noch nichts davon erfahren.“ Rowland interessierte sich nicht für Klatsch im Gegensatz zu seiner Gemahlin. „Zweitens, rät sie mir lediglich, die Sache in Ordnung zu bringen. Und ich habe keineswegs die Absicht, mir Winslows Haus anzueignen“, fügte er hinzu, als der Advokat den Atem missbilligend einsog. „Aber ich lasse mich verdammt noch mal nicht von diesem Kerl verleumden und krieche auch noch vor ihm zu Kreuze und bitte ihn, sein Eigentum zurückzunehmen. Wenn er es sich nicht leisten kann zu verlieren, soll er nicht damit wetten.“

„Ich bin völlig Ihrer Meinung, Mylord“, sagte Sir Algernon. „Andererseits …“

„Ich kümmere mich darum.“ Rob wurde kurz schwindelig, fasste sich aber rasch wieder. „Wenn Sie den Auftrag haben, Ihrer Gnaden Bericht zu erstatten, versichern Sie ihr, ich werde mich der Angelegenheit mit größter Sorgfalt annehmen.“

Der Rechtsanwalt presste die Lippen aufeinander. Er war mit dieser Auskunft nicht zufrieden, ließ es jedoch dabei bewenden. „Sehr wohl, Mylord. Wenn ich Ihnen behilflich sein …“

„Ja, ja.“ Rob entließ ihn mit einer lässigen Handbewegung und kehrte in sein Schlafgemach zurück. „Guten Tag, Sir Algernon.“

Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, warf er sich bäuchlings auf sein Bett. Die Versuchung, weiterzuschlafen, war überwältigend, aber die Aussicht auf einen Besuch seines Vaters wirkte ernüchternd. Die Worte seiner Mutter waren keine leeren Drohungen; sie würde den Duke zwingen, nach London zu reisen, und dann würde Rob sein blaues Wunder erleben. Was war zu tun?

Nach einigem Nachdenken kristallisierten sich drei Fragen heraus. Erstens, hatte er tatsächlich ein Haus am Spieltisch gewonnen? Diese Frage ließ sich relativ leicht beantworten. Irgendwo in seiner Kleidung müsste ein Schuldschein zu finden sein. Falls nicht, konnte er behaupten, die ganze Sache sei ein Lügengespinst, und er müsste sich nicht weiter darum kümmern.

Zweitens, hatte dieser Winslow tatsächlich Verleumdungen über ihn verbreitet? Auch diese Frage ließ sich leicht beantworten. Seine Freunde müssten darüber Bescheid wissen und wären gerne bereit, einen Racheplan zu schmieden.

Und drittens: Angenommen, die beiden ersten Fragen waren positiv zu beantworten, wie konnte er sich gebührend an dem dreisten Blödian rächen? Rob war zwar kein Heiliger, aber beileibe kein Betrüger und nicht bereit, diese ehrenrührige Schmach auf sich sitzen zu lassen.

Er quälte sich fluchend aus dem Bett, da er das Gefühl hatte, der Schädel würde ihm zerspringen, wankte zur Klingelschnur und zog heftig daran. Als Hobbes erschien, massierte Rob sich angestrengt die Schläfen. „Wieso wurde Sneed vorgelassen?“, fragte er. „Ich gab strikte Anweisungen, keine Besucher …“

„Ich hatte keine andere Wahl, Mylord. Entweder ich missachte Ihre Anweisungen oder verweigere einem Gesandten Ihrer Frau Mutter den Zutritt.“

„Ich sollte Sie auf der Stelle entlassen.“

„Sehr wohl“, murmelte Hobbes. „Mr. Bigby zog bereits in Erwägung, ihn vorzulassen, als er um halb acht Uhr morgens zum ersten Mal vorsprach.“

Grundgütiger. Er musste ein ernstes Wort mit seinem Butler sprechen. Rob bedachte seinen Kammerdiener mit einem finsteren Blick, der Wasser in die Waschschüssel goss. „Kommen Sie mir nie wieder mit solchen Erpressungen.“

„Nein, Sir. Ich konnte ihn nur mit Mühe davon überzeugen, um zehn erneut vorzusprechen.“ Hobbes stand mit dem Handtuch bereit, als Rob tief Luft holte und seinen Brummschädel ins kalte Wasser tauchte. Nicht das beste Rezept, aber es waren schwere Zeiten.

„Schicken Sie nach Tipton“, stieß er prustend aus, als er wieder auftauchte. „Ich will ihn in einer Stunde sprechen.“

„Sehr wohl, Mylord.“

„Und Heathercote“, fügte er hinzu. Wenn er wach sein und sich Gedanken über seinen guten Ruf machen musste, sollte Heath ihm verdammt noch mal dabei helfen.

„Sehr wohl, Mylord.“

Eine Stunde später saß Rob am Frühstückstisch und beäugte argwöhnisch die Kur der Köchin gegen die bösen Folgen einer durchzechten Nacht. Eine riesige Kanne Kräutertee, eine Tasse starken Kaffee und ein weich gekochtes Ei standen in dieser Reihenfolge vor ihm. Sein Kopf fühlte sich immer noch an, als hämmerte ihm ein wütender Zwerg von innen gegen die Schädeldecke. Mit grimmiger Miene griff er nach dem Tee.

„Du hast mich rufen lassen?“, fragte Heath grußlos mit schleppender Stimme. Sein unsicherer Gang ließ darauf schließen, dass auch ihm die Folgen der nächtlichen Ausschweifungen zu schaffen machten.

„Du hast mir eine Menge Scherereien eingebracht.“ Er leerte die erste Tasse Tee. Der Diener trat vor und schenkte nach. „Gehen Sie“, befahl Rob, und der Diener zog sich mit einer Verneigung zurück. „Haben wir letzte Nacht um Häuser gewettet?“

„Woher zum Teufel soll ich das wissen?“, knurrte Heath und beäugte angeekelt die Kur.

„Hast du ein Haus gewonnen?“

„Nein.“ Er dachte einen Moment nach. „In meinen Stallungen steht allerdings eine fremde Kutsche. Keine Ahnung, wieso.“

Rob stöhnte. „Wir tauschen – die Kutsche gegen das Haus.“

„Nie im Leben.“ Heath konzentrierte sich. „Moment … ja, ich erinnere mich. Im Vega Club. Du hast Winstons Haus gewonnen. Marlow schlug vor, du sollst ein Bordell daraus machen.“ Er lachte dreckig.

Rob fluchte und leerte die zweite Tasse Tee. Sein Magen drohte dagegen zu rebellieren, aber sein Kopf begann sich zu klären. „Ich will weder ein Bordell noch ein Haus.“

Heath lachte wieder, und Rob warf den Teelöffel nach ihm. Zu spät wurde ihm klar, dass er damit Zucker in das bittere Gebräu hätte rühren können, das schmeckte wie ein Aufguss aus alten Socken, fauligen Gemüseresten und Heu. „Meine Mutter verlangt, dass ich die Sache ausbügle“, erklärte er düster und starrte in die dritte Tasse. Zwei weitere standen ihm seiner Berechnung nach noch bevor.

Heath blieb das Lachen im Hals stecken. „Grundgütiger. Woher weiß sie es?“

„Klatsch.“ Rob hob die Tasse an den Mund. „Anscheinend wurde ich als kaltschnäuziger Nichtsnutz hingestellt, und nun muss ich die Sache wieder in Ordnung bringen.“

Heath setzte sich. „Das wird Ärger geben, West.“

„Den gibt es bereits“, entgegnete Rob schnaubend und schüttete den Tee in sich hinein.

„Nein, nein.“ Heath beugte sich vor und senkte die Stimme. „Mein Onkel ist ziemlich angetan von unseren Fortschritten mit Forester. Er wäre nicht sehr erbaut darüber, wenn du dich von albernem Klatsch ablenken lässt.“

Rob runzelte die Stirn. Er wollte Lord Beresford, Heath’ Onkel, nicht enttäuschen. Sie hatten eine stillschweigende Übereinkunft: Rob sollte Frederick Forester, einen Kaufmann aus Liverpool, observieren. Foresters Reederei verstieß gegen die vom Parlament beschlossenen Gesetze, und alle Bemühungen Beresfords, ihn zur Rechenschaft zu ziehen, waren bisher gescheitert. So oft Foresters Schiffe auch mit verbotener Fracht erwischt wurden, der Reeder schaffte es immer wieder, ungeschoren davonzukommen. Da Beresford vermutete, dass Forester Verbündete in der Regierung hatte, hatte er seinen Neffen auf den Fall angesetzt, um herauszufinden, ob man dem Mann mit raffinierteren Mitteln das Handwerk legen konnte, und Heath hatte Rob um Unterstützung gebeten.

Und es hätte kaum eine aufregendere Aufgabe für einen jungen Mann geben können, als in die Rolle eines Spions zu schlüpfen. Im Übrigen kam der Auftrag auch seinen – wenn auch vagen – Plänen zugute, eine Karriere als Parlamentarier anzustreben. Und alles, was er zu tun hatte, war sich als Lebemann und Nachtschwärmer in Londons einschlägigen Etablissements herumzutreiben. Rob musste nicht zweimal um Hilfe gebeten werden.

„Ihre Gnaden wird den Schreck bald überwinden“, meinte Heath hoffnungsvoll.

„Du kennst meine Mutter nicht. Wenn ich zwischen ihrem und Beresfords Unmut wählen muss … entschuldige mich bei deinem Onkel.“ Er goss Tee nach, um es endlich hinter sich zu bringen. „Der Anwalt meinte, ich soll Winslow den Schuldschein zurückgeben.“

„Zurückgeben!“ Heath richtete sich entrüstet auf. „Es ist eine Ehrenschuld!“

„Heath“, erklärte Rob ehrlich, „ich will das dämliche Haus nicht. Je früher ich es loswerde, desto eher kann ich mich wieder um Forester kümmern.“ Er schüttete die letzte Tasse Tee in sich hinein.

„Mr. Tipton, Mylord“, verkündete der Butler, keine Minute zu früh. Der Rechtsanwalt, diesmal Robs, erschien in der Tür, und Rob bot ihm an, sich zu setzen.

„Ich habe ein Problem“, begann er und umklammerte die Kaffeetasse, als wäre sie sein Rettungsanker. Nach dem gallebitteren Tee war Kaffee ein Geschenk des Himmels. „Offenbar wurde mir ein Haus durch eine verlorene Wette übertragen.“

„Tatsächlich, Mylord“, sagte Tipton, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Ich will es nicht haben.“ Er trank vorsichtig einen Schluck Kaffee und atmete bei dem Wohlgeschmack erleichtert auf. „Ich will es dem Mann, der es verloren hat, zurückgeben.“

Ungerührt wiederholte Tipton: „Tatsächlich, Mylord.“

Rob trank einen weiteren Schluck Kaffee und spürte, wie er wieder zu Kräften kam. „Wie gehe ich vor?“

„Nun.“ Tipton verlagerte sein Gewicht und räusperte sich. „Ich vermute, diese Immobilie wurde am Spieltisch erworben.“ Rob nickte. Tipton breitete die Hände aus. „Dann dürfte die Sache höchst einfach sein, verbunden mit einer scharfen Zurechtweisung, wertvollen Grundbesitz im Glücksspiel riskiert zu haben.“

„Dann kann ich den Wisch zurückgeben?“

Tipton nickte. „Nichts spricht dagegen.“

„Fabelhaft. Genau das wollte ich hören.“ Er warf Heath einen Blick zu, der ihn mit einer Mischung aus Bestürzung und Ratlosigkeit musterte. „Den Schuldschein einfach zurückzugeben, macht es dem Idioten eigentlich zu leicht, findest du nicht?“

„Und ob“, murmelte Heathercote.

„Zumal dieser Idiot in ganz London verbreitet, ich hätte ihn übervorteilt“, ergänzte Rob finster.

Tipton zog die Brauen hoch. „Betrug, Mylord?“

„Das behauptet der Mistkerl!“, rief Heathercote empört.

„Ja, so ist es.“ Winslow sollte im Staub vor ihm kriechen und sich in aller Öffentlichkeit für seine rufschädigenden Verleumdungen entschuldigen.

„Dem Kerl würde ich nicht mal mein benutztes Taschentuch überlassen“, erklärte Heath kämpferisch. „Man kann ihn nicht ungeschoren davonkommen lassen!“

„Nein.“ Rob starrte in seinen Kaffee. Die Rosskur schien tatsächlich Wirkung zu zeigen; er fühlte sich wieder einigermaßen bei Kräften. „Ich gebe ihm den Wisch nicht zurück. Der verdammte Kerl wäre imstande, das Haus wieder zu versetzen. Nein … Ich überreiche den Schuldschein seiner Familie, damit sie wissen, wozu er fähig ist.“ Wenn seine Familie auch nur annähernd der seinen glich, würde Winslow unter seinem Leichtsinn weit mehr und wesentlich länger zu leiden haben, sobald seine Ehefrau oder Mutter wussten, was er verbrochen hatte.

Heath lachte wiehernd. „Oh ja, das ist gut! West, das ist ein verteufelt guter Plan.“

Rob grinste in seinen Kaffee. „Tipton, finden Sie heraus, wo dieser Winslow lebt.“

Und so kam es, dass er am nächsten Tag nordwärts nach Derbyshire rumpelte. Der Name seines Widersachers lautete Winston, nicht Winslow – Sir Charles Winston, Baronet, aus dem Dorf Maryfield. Das Anwesen, das er am Kartentisch verwettet hatte, war Osbourne House, ein hübscher Besitz, wie Tipton herausgefunden hatte. Winston hatte eine Erbin geheiratet, eine Miss Catherine Lewis, die Haus und Grundbesitz in die Ehe gebracht hatte. Lady Winston hatte vor Kurzem ihr erstes Kind geboren, all das gefiel Rob ausnehmend gut. Er wollte das Haus nicht, aber er freute sich diebisch darauf, diesem Winston quälende Gewissensnöte zu bereiten.

Aus diesem Grund hatte er Winstons teils gekränkten, teils flehenden Brief unbeantwortet gelassen, aber Tipton angewiesen, Winstons Anwalt ausfindig zu machen und eine offizielle Überschreibung des Hauses auf seinen Namen anhand des handgeschriebenen Zettels, den Hobbes in Robs Jackentasche gefunden hatte, zu verlangen. Zu seinem Erstaunen erklärte sich der Anwalt widerspruchslos dazu bereit. Im Stillen hatte Rob sich eine Weigerung des Anwalts erhofft, was ihn in die Lage versetzt hätte, zu behaupten, die Angelegenheit sei ein Missverständnis. Sobald er jedoch das Dokument in Händen hielt, fand er es nur gerecht, seinen Rachefeldzug durchzuführen. Sollte Winston sich in schlaflosen Nächten den Kopf darüber zerbrechen, was er vorhatte.

Heath hänselte ihn und hielt es für unnötig, die Sache persönlich zu regeln, aber Rob wusste, dass er damit seine Mutter beschwichtigen konnte. Er teilte ihr seine Absicht mit, den Winstons den Schuldschein persönlich zu überbringen, um sie vor weiterem Ungemach zu schützen, insbesondere die wehrlosen Frauen und unmündigen Kinder, die das Pech hatten, von Winston abhängig zu sein.

Wie sich herausstellte, lag Osbourne House kaum fünfzig Meilen von Salmsbury Abbey, dem Anwesen der Rowlands, entfernt. Rob schloss sein Schreiben mit der Zusage seines baldigen Besuchs, bei dem er die wahre Geschichte seines Abenteuers berichten wolle, und versäumte nicht zu erwähnen, dass er zu Unrecht durch üble Nachrede verleumdet und geschmäht worden war. Dieser Brief würde seine Mutter so weit besänftigen, dass sie davon absah, ihm seinen Vater an den Hals zu hetzen. Er würde sich lieber in einem Ochsenfuhrwerk nach Schottland und zurück karren lassen, als seinem wütenden Vater Rede und Antwort stehen zu müssen.

Nachdem Meile um Meile zurückgelegt war, begann das Vergnügen, das er an seinem Plan gefunden hatte, abzuflauen. Die Reise nach Derbyshire dauerte drei Tage in seiner mit allem Luxus ausgestatteten Karosse, dennoch fühlte Rob sich wie in einen Käfig eingesperrt.

Heath hatte sich geweigert, ihn zu begleiten, behauptete aber, er beneide Rob um die Genugtuung seiner Vergeltung. Marlow schützte Familienverpflichtungen vor. Clifton konnte gar nicht aufgetrieben werden, und Sackville sagte, er würde lieber das härene Gewand eines Mönchs tragen, als diese beschwerliche Reise zu unternehmen.

Er reiste also allein. Staub drang durch die Ritzen der Fenster, die Sonne brannte durch die Stoffrouleaus. Er legte die Füße auf die andere Bank, verfluchte die Enge in der Kutsche und wünschte, sein Pferd mitgenommen zu haben. Allerdings hätte er seinem Lieblingswallach diesen endlos langen Ritt nicht zugemutet. Der Wagen holperte über eine Wurzel oder einen Gesteinsbrocken und schleuderte ihn so gewaltig nach hinten, dass er mit dem Kopf gegen die Dachverkleidung stieß. Er fluchte wieder und sank seufzend in die Polster zurück. Sein teuflisch brillant ausgeklügelter Plan hatte auch seine Schattenseiten.

Die Strapazen und Unannehmlichkeit wollte er seiner Mutter ausführlich schildern, um zu unterstreichen, wie sehr ihm daran gelegen war, ihre Anweisungen zu befolgen.

Am frühen Morgen des dritten Tages lagen noch etwa zwanzig Meilen vor ihm. Er beäugte seine Karosse skeptisch, die seit Antritt der Reise geschrumpft zu sein schien, und entschloss sich, ein Pferd zu mieten. Der Stallmeister führte ihm einen kräftig gebauten Gaul vor, den er akzeptierte.

Die Sonne brannte noch immer, aber wenigstens befand er sich an der frischen Luft. Er packte das Nötigste in die Satteltaschen, empfahl dem Kutscher und seinem Kammerdiener, sich eine Unterkunft in Macclesfield, der nächstgrößeren Stadt, zu suchen. Er hatte vor, ein paar Tage in Maryfield zu bleiben und dann nach Salmsbury Abbey weiterzureiten, wo er eine Woche zu verbringen gedachte. Wie sein Vater fischte auch er gerne, und nach dieser langen anstrengenden Reise hatte er sich ein paar erholsame Tage verdient. Und sein Bruder Will, der Salmsburys weithin berühmtes Pferdegestüt leitete, würde ihm mit Sicherheit eines seiner besten Pferde für die Rückreise zur Verfügung stellen.

Am frühen Nachmittag erreichte er die Abzweigung nach Maryfield. Nach einer weiteren Meile tauchte das Dorf vor ihm auf, ein winziges Nest. Eine kurze Rast in einem Gasthaus, genannt Bull and Dog, um das Pferd zu tränken, bestätigte ihm, dass er bald am Ziel war. Noch eine Meile bis Osbourne House.

Vielleicht würde ich Winston einen Gefallen tun, wenn ich sein Haus behielte, dachte er. Der Besitz lag nicht nur Meilen entfernt von jeglicher Zivilisation, die Dorfbewohner waren mürrisch und träge. Seine Frage nach dem Weg traf auf Argwohn und Feindseligkeit. Man wollte wissen, wer er sei, und als Rob sich zu erkennen gab, stieß er auf völlige Ablehnung, keine Spur der sonstigen Beflissenheit der Landbevölkerung, nicht die geringste Hilfsbereitschaft, ihm den Weg zu zeigen.

An so etwas war Rob nicht gewöhnt. Sein Titel öffnete ihm normalerweise alle Türen und brachte auch den faulsten Dienstboten auf Trab. In diesem gottverlassenen Nest rümpfte man nur die Nase und kehrte ihm den Rücken zu. Schleunigst verwarf er seinen Plan, im Gasthaus zu übernachten, um sich zu erholen und den Abend mit einigen Humpen süffigen Ales zu verbringen.

Die Straße nach Osbourne House war nichts weiter als ein schmaler Hohlweg, auf einer Seite gesäumt von wucherndem Dornengestrüpp und auf der anderen von einem morastigen Graben und offenem Weideland dahinter. Die Sonne brannte noch sengender vom Himmel, seit er das Dorf hinter sich gelassen hatte. An einem Wegweiser im Schatten eines knorrigen Weißdornbaums hielt er an, nahm den Hut ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war nicht daran gewöhnt, so lange im Sattel zu sitzen. Hätte er doch nur die Kutsche genommen. Seine ausgetrocknete Kehle lechzte nach einem Krug Ale oder einem schönen Glas Rotwein.

Heath hatte recht. Es war eine idiotische Idee. Seufzend setzte er den Gaul wieder in Bewegung. Nur noch eine Meile.

Den drei Reitern, die sich von hinten näherten, schenkte er keine Beachtung. Sie passierten ihn im raschen Trab, einer nach dem andern, und zügelten ihre Pferde kaum zwanzig Schritte entfernt.

„Wohin, der Herr?“, fragte einer.

Er hielt sein Pferd an, argwöhnisch geworden. „Das geht Sie kaum etwas an.“

Ein bulliger Kerl sprang vom Pferd. „Das war sehr unhöflich. Antworten Sie.“

„Ich fürchte, wir wurden einander nicht vorgestellt.“

Der dritte Mann lachte glucksend. „Das kannst du haben, Meister.“

Der Bullige griff nach den Zügeln seines Pferdes. Rob riss im letzten Moment den Kopf des Gauls zur Seite. Der Kerl musterte ihn finster. Die zwei anderen stiegen nun auch ab.

Robs Pistole steckte in der Satteltasche. Er hatte nicht damit gerechnet, Gebrauch davon zu machen, fernab von einer Landstraße oder einer größeren Ortschaft. Er warf einen flüchtigen Blick zu den Weiden hinüber und überlegte, ob sein Gaul schneller wäre als die Pferde der drei Gauner. Er fürchtete sich nicht vor einem Kampf, aber bei drei gegen einen standen seine Chancen denkbar schlecht. Und wieder einmal verfluchte er seine Freunde, ihn im Stich gelassen zu haben.

„Vermutlich wollt Ihr mein Geld“, sagte er kalt. „Damit kommt Ihr aber nicht weit.“ Er trug nie viele Münzen bei sich. Sein Vater hatte Kredit in ganz England.

Einer der Schurken grinste. „Das lass mal unsere Sorge sein.“ Er machte eine ruckartige Kopfbewegung, und der Kerl, der die Zügel hielt, wollte ihn packen. Rob trieb sein Pferd scharf nach links und drückte ihm die Stiefelabsätze in die Flanken, doch der Gauner war schneller. Er bekam Robs Mantel zu fassen und zerrte grob daran. Der Gaul gab ein angstvolles Wiehern von sich und schlug mit den Vorderläufen aus.

Und mit einem markerschütternden Krach landete der Marquess of Westmorland kopfüber auf dem steinigen Hohlweg.

4. KAPITEL

Georgiana jagte im gestreckten Galopp querfeldein. In London bot sich dazu keine Gelegenheit, da eine Dame nur sanftmütige Stuten im leichten Trab ritt, aber Georgiana liebte die Geschwindigkeit.

Die Sonne strahlte vom blauen Himmel, es hatte seit einer Woche nicht geregnet, und der Boden war fest und trocken. Geneva und ihre Mutter waren mit der Kutsche unterwegs. Kitty hatte mit dem Baby zu Hause bleiben wollen, das schon den ganzen Vormittag unruhig quengelte und greinte. Georgiana konnte also tun, was ihr beliebte.

Adam, der Stallbursche, der sie begleitete, ritt neben ihr her. Sie warf ihm einen fragenden Blick zu, den er grinsend mit einem Nicken beantwortete. Georgiana berührte die Flanke ihres Wallachs mit der Reitgerte, lehnte sich dicht an seinen Hals, als er losgaloppierte, und genoss den Wind, der ihr ins Gesicht wehte.

Sie jagten im Galopp über die Wiesen, setzten im weiten Sprung über eine niedrige Steinmauer. Gott im Himmel, ist das Leben schön, dachte sie, innerlich jauchzend. Sie preschten auf Maryfield zu, in Sichtweite des gewundenen Hohlwegs zwischen wucherndem Gesträuch. Irgendwann schlugen sie eine langsamere Gangart ein, um die Pferde zu schonen. Georgiana seufzte, am liebsten wäre sie noch eine Stunde im gestreckten Galopp geritten.

„Sie sind eine ausgezeichnete Reiterin, Mylady“, sagte Adam bewundernd.

„Ajax ist ein Prachtkerl!“ Sie tätschelte dem Tier den Hals, als sie im Schritt gingen. „Ich würde ihn gerne mit nach London nehmen.“

Adam kicherte. „Das würde Sir Charles nicht gefallen. Ajax ist eines seiner Lieblingspferde.“

Georgiana schüttelte lachend den Kopf. „Keine Sorge, ich entführe ihn nicht.“

Adam wollte etwas sagen, dann horchte er auf und richtete den Blick wachsam auf den Weg. „Lady Georgiana“, sagte er leise. „Wir sollten uns beeilen.“

„Wieso?“ Nun suchte auch sie den Weg mit Blicken ab. In einiger Entfernung war das ängstliche Wiehern eines Pferdes zu hören, worauf Ajax seitwärts an Adams Pferd heran tänzelte. „Was ist los?“

„Da vorne könnte es Ärger geben“, sagte Adam grimmig, holte eine Pistole aus der Satteltasche und prüfte sie, ohne den Blick vom Weg zu wenden. Dann prüfte er eine zweite Waffe, nachdem er die erste in den Gürtel gesteckt hatte.

Unruhig geworden, folgte Georgiana seinem Blick. Auf dem eingesunkenen Hohlweg konnte sie schemenhaft Pferde und Männer durch das Gestrüpp erkennen. „Was geht da vorne vor?“

„Wahrscheinlich ein Überfall.“ Adam lenkte sein Pferd vor das ihre und versperrte ihr die Sicht. „So etwas ist neulich schon mal vorgefallen. Wir sollten umkehren.“

Mayfield war ein kleines Dorf, abseits der befahrenen Landstraße. Auf diesem Weg wurden keine Reisenden überfallen, höchstens eine Frau aus dem Dorf auf dem Weg zum Markt, die ihrer wenigen Münzen beraubt werden könnte. Einer Lehrerin in Georgianas Schule war so etwas einmal zugestoßen. Die Frau war geschändet, bespuckt und ihres Monatslohns beraubt worden, den sie ihrer Schwester bringen wollte, die mit vier kleinen Kindern in der nächsten Stadt wohnte und krank das Bett hüten musste. Sie kam völlig verstört mit blutendem Gesicht in die Schule zurück und wagte sich seither nie wieder ohne Begleitung aus dem Haus.

Georgiana ritt vor den Stallburschen. „Noch nicht.“

„Mylady“, protestierte er, ritt erneut an ihr vorbei und stellte sein Pferd quer vor sie hin. Wieder hörte man verängstigtes Wiehern. „Es ist zu gefährlich!“

„Sie haben eine Pistole“, hielt sie ihm entgegen. „Und für das bedauernswerte Opfer ist es viel gefährlicher.“

„Reiten Sie nicht näher“, flehte der Stallbursche. „Bitte, Mylady!“

Georgiana gehorchte, hielt aber den Blick weiterhin auf den Weg gerichtet. Nun hörte man Männer schreien und wiehernde Pferde. „Schauen Sie nach“, befahl sie Adam. „Bitte. Wenn jemand verletzt ist und wir tun nichts, könnte ich mir das nie verzeihen.“

Er machte ein finsteres Gesicht. „Ich habe die Aufgabe, auf Sie aufzupassen, Mylady. Sir Charles wirft mich auf der Stelle raus, wenn ich Sie nicht beschütze.“

„Ich verbürge mich für Sie bei Sir Charles.“

Der Stallbursche rührte sich nicht vom Fleck. „Nein, Madam. Es ist zu gefährlich.“

Sie zögerte, doch in der nächsten Sekunde brach ein Pferd durch das Gestrüpp der Böschung und floh querfeldein, ohne Reiter, eindeutig völlig verängstigt. Ein wütender Schrei ertönte, dann tauchte ein Mann auf und rannte hinter dem Pferd her. Entdeckte die beiden Reiter, stutzte und rannte wieder zur Straße zurück.

„Herrgott, wir sitzen in der Patsche“, stellte Adam grimmig fest. „Fangen Sie den Gaul ein!“ Damit galoppierte er los, mit der Pistole in der Hand.

Adam wollte sie damit nur vom Tatort weglocken, dennoch jagte sie hinter dem Tier her. Ein Schuss krachte, hoffentlich aus Adams Pistole, dann war es still.

Sie holte das scheuende Pferd rasch ein, redete beruhigend mit dem erschöpften Tier, nahm die Zügel auf und ritt zurück zum Ort des Überfalls.

Sie näherte sich vorsichtig. Adam stand breitbeinig auf dem Weg mit der Pistole in der Hand. „Die Kerle sind geflohen, als ich sie verfolgte. Wir wollen nach Hause.“

Hinter ihm lag ein Mann mit dem Gesicht nach unten auf dem Weg. Georgiana erstickte ihren Entsetzensschrei mit vorgehaltener Hand. „Ist er …? Haben die …?“

Adam suchte den Weg in beiden Richtungen mit scharfen Blicken ab, ohne den leblosen Mann zu beachten. „Die Halunken könnten umkehren. Wenn wir in Osbourne House sind, verständige ich die Konstabler.“

„Ist er tot?“, brachte sie schließlich hervor. Der Mann auf der Erde hatte sich nicht gerührt. Georgiana krampfte sich der Magen zusammen. Er war tot, das wusste sie, und Adam ignorierte ihn, weil auch er es wusste.

Und dann zuckte die Hand des Mannes. Eine winzige Bewegung, aber ein Zeichen, dass er lebte. Mit einem Ausruf der Erleichterung glitt sie aus dem Sattel. „Wir müssen ihn mitnehmen“, sagte sie. „Helfen Sie mir, ihn auf sein Pferd zu legen.“ Der durchgegangene Gaul gehörte ihm; seine prall gefüllten Satteltaschen hatten die Straßenräuber nicht geplündert.

„Wir sollten uns nicht einmischen“, beharrte Adam. „Die Räuber könnten jeden Moment wieder auftauchen! Vielleicht gehört er zu ihnen. Ich habe die Kerle nur erschreckt, Madam, wir müssen weg von hier …“

„Und das tun wir auch“, erklärte sie mit Bestimmtheit. „Mit dem Verletzten.“ Sie warf Adam die Zügel zu, die er mürrisch auffing. „Ich lasse keinen Menschen auf der Straße verbluten.“

Es war viel Blut. Das Opfer lag mit dem Gesicht nach unten. Aus einer Wunde seitlich am Hinterkopf sickerte Blut in sein dunkles Haar. Georgiana atmet tief durch, um ihr Zittern zu unterdrücken, legte ihm vorsichtig eine Hand auf den Rücken und spürte, dass er atmete. „Helfen Sie mir!“, befahl sie dem Stallburschen, der immer noch tatenlos dastand.

„Eine schlimme Sache, Lady Georgiana.“

„Es wäre noch schlimmer, wenn wir ihn hier liegen ließen.“ Sie nahm ihm die Zügel des fremden Pferdes aus der Hand und schlang sie über einen tiefhängenden Ast. „Wir bringen ihn nach Osbourne House.“ Bis zum Dorf waren es zwei Meilen, Osbourne House lag nur eine Meile entfernt.

„Mir gefällt das nicht“, murmelte Adam, bückte sich jedoch und drehte den leblosen Mann auf den Rücken.

Blut lief ihm über Gesicht und Hals, sickerte in Kragen und Halsbinde und die zerrissene Weste. Die Gauner hatten ihn auf den Kopf geschlagen, sein dunkles Haar klebte ihm blutig an der Stirn. Bei dem Anblick wurde Georgiana übel.

Sie versuchte, den Verletzten nicht anzusehen, als sie ihn gemeinsam zum Sitzen aufrichteten. Dann zerrte Adam ihn hoch und hievte ihn mit Georgianas Hilfe bäuchlings quer über den Rücken des Pferdes. Sie hielt den großen, schweren Mann an den Schenkeln und schob mit aller Kraft von hinten an. Was für ein Witz, dachte sie in einem Anflug von schwarzem Humor, es ist das erste Mal, dass ich einen Mann intim berühre, und dann ist es ein halb tot Geprügelter.

„Dann also los!“ Adam suchte den Weg in beiden Richtungen mit Blicken ab, als würden jeden Moment bewaffnete Mörder auf sie losstürmen. Er half Georgiana in Ajax’ Sattel, stieg auf sein Pferd und zog den fremden Gaul mit seiner blutüberströmten Last hinter sich her.

Georgiana beobachtete die leblose Gestalt den ganzen Weg zum Haus. Ein Arm hing leblos herab, der andere war unter ihm eingeklemmt. Der schaukelnde Pferderücken ließ den Arm kläglich hin und her schwingen, als bäte er um Hilfe. Du darfst nicht sterben, flehte sie innerlich. Georgiana hatte ihren Vater sterben gesehen, ein schreckliches Erlebnis, das sie nie vergessen hatte. Als sie die elegant geschwungene Auffahrt von Osbourne House erreichten, fühlte sie sich bereits persönlich verantwortlich für den armen Mann, dessen Leben am seidenen Faden hing und der auf ihre Hilfe angewiesen war.

Autor

Caroline Linden

Caroline Linden studierte Mathematik in Harvard und arbeitete als Programmiererin, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Ihre Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und gewannen zahlreiche Preise, unter anderem den Daphne-du-Maurier- und den renommierten RITA-Award. Die Autorin lebt in Neuengland.

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