Widerspenstige Braut - geraubte Küsse?

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Ihr hellblondes Haar, ihre eisblauen Augen, ihre zierliche Figur: Vom ersten Augenblick an ist Captain Lance Amberton von Violet Harper fasziniert. Aber er darf sie nicht erobern: Violet ist seinem Bruder Arthur, dem nächsten Viscount Scorborough, versprochen - bis das Schicksal zuschlägt: Sein Bruder ist auf See verschollen, Violet wird Lances Braut! Als reiche Erbin ist sie eine sehr gute Partie, als Frau so begehrenswert, dass Lance sie alsbald in sein Schlafgemach entführt. Doch da kehrt unerwartet Arthur zurück …


  • Erscheinungstag 26.11.2019
  • Bandnummer 599
  • ISBN / Artikelnummer 9783733736880
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Amberton Castle, North Yorkshire, 1862

Es gibt keinen Ausweg, Lance. Ich sitze in der Falle.“

Captain Lancelot „Lance“ Amberton wandte den Blick von dem attraktiven Rotschopf auf der Tanzfläche ab und betrachtete seinen Zwillingsbruder nachdenklich. Dessen Ton gab klar zu erkennen, dass er nicht vom Ballsaal sprach. Er hatte Arthur schon Hunderte Male über das dominante Verhalten ihres Vaters schimpfen hören, doch der neue verzweifelte Unterton beunruhigte ihn so sehr, dass er beinahe den Lakaien übersehen hätte, der mit einem Getränketablett die Runde machte. Beinahe.

„Du bist selbst schuld.“ Er griff nach dem Glas Brandy, von dem er wusste, dass es eigentlich für seinen Vater bestimmt war. „Sei doch nicht immer so verdammt verantwortungsvoll. Tu mal etwas Schockierendes. Versuch, hin und wieder Nein zu ihm zu sagen.“

„Leichter gesagt als getan.“ Der Ausdruck in Arthurs Augen, ebenso bernsteinfarben wie seine, war kläglich. „Ist ja nicht so, als könnten wir beide weglaufen und in die Armee eintreten.“

„Ich musste weglaufen.“ Lance strich sich das dunkelbraune Haar aus dem Gesicht. „Sonst hätte er mich rausgeschmissen.“

„Das ist nicht wahr.“

„Doch, und das weißt du auch. Vater und ich haben uns seit Mutters Tod nur gestritten. Wir kommen viel besser miteinander aus, wenn das ganze Land zwischen uns liegt.“

„Ich wünschte nur, du hättest mir erzählt, was du vorhast.“

„Damit du das Richtige tun und es ihm hättest erzählen können?“

Arthur senkte schuldbewusst den Blick. „Wenn du ihn darum gebeten hättest, hätte er dir ein Offizierspatent gekauft.“

„Darum geht es nicht. Ich wollte ihm nicht verpflichtet sein. Ich hatte das Geld, das Mutter uns hinterlassen hatte, und ich wollte mir mein Regiment selber aussuchen. Vater hätte mich doch nur in die Bürgermiliz vor Ort gesteckt, damit er mich weiter im Auge behalten kann.“

„Trotzdem, er ist froh, dass du heute Abend bei uns bist.“

„Du meinst, um mit seinem nichtsnutzigen Sohn in Uniform anzugeben?“

Verächtlich sah Lance sich im Ballsaal um. So sehr er sich auch freute, Arthur wiederzusehen – sein Zuhause wirkte auf ihn nicht mehr sonderlich anziehend. Nach nur zwei Tagen Urlaub brannte er schon wieder darauf, zu seinem Regiment zurückzukehren. Es ging das Gerücht, dass es ins Ausland geschickt werden sollte, und er konnte es kaum abwarten, Yorkshire zu verlassen.

„Mach dich nicht selbst schlecht.“ Arthur warf ihm einen teilnahmsvollen Blick zu. „Du bist mit zweiundzwanzig Hauptmann bei den Füsilieren, und nach allem, was man hört, machst du deine Sache ziemlich gut. Darauf kannst du stolz sein.“

„Ich bin froh, dass das wenigstens einem in der Familie aufgefallen ist.“

„Ihm ist es auch bewusst. Auf seine Art ist er ebenfalls stolz auf dich.“

Lance schnaubte verächtlich. „Das ist ja mal ganz was Neues. Zum Glück gehe ich nächste Woche zurück zu meinem Regiment, sonst würden wir uns nur wieder an die Kehle gehen – und diesmal bin ich bewaffnet.“

„Also, ich habe dich in den letzten sechs Monaten vermisst. Ich habe sogar die Streitereien vermisst. Seine Predigten sind zehnmal so schlimm geworden, seit du weg bist. Er redet den lieben langen Tag nur von Pflicht und Verantwortung, weswegen ich früh zu Bett gehe, um dem zu entkommen. Er sagt mir, wohin ich gehen soll, was ich anziehen soll, mit wem ich reden und was ich dabei sagen soll. Es ist anstrengend.“

„Ist mir aufgefallen.“

„Ich weiß nicht, wie lang ich das noch ertrage. Ich wünschte, ich hätte dein Stehvermögen, aber ich bin einfach nur … erschöpft.“

Lance nahm noch einen Schluck Brandy und suchte nach irgendeiner beruhigenden Bemerkung, doch es fiel ihm nichts ein. Arthur war in der Familie immer der Denker gewesen, der vernünftige, friedfertige Sohn, während er … Er war ihrem Vater zu ähnlich, er griff erst an und stellte die Fragen dann später. Alles, was er konnte, war kämpfen.

„Mach dir heute Abend mal nichts daraus.“ Er klopfte Arthur auf die Schulter in der Absicht, die Stimmung ein wenig aufzuhellen. „Hier gibt es genug hübsche Mädchen für uns beide. Genießen wir den Abend.“

„Davon hält Vater nichts, das solltest du inzwischen wissen, und ich habe keine Lust auf eine weitere Predigt darüber, wie man sich nicht benimmt.“

„Das ist ganz leicht. Sieh einfach zu.“

„Was dachtest du wohl, was ich gemeint habe?“ Arthur warf ihm einen Blick zu, der halb Tadel, halb Flehen ausdrückte. „Tu bloß nichts Skandalöses, so wie bei den Kendalls letztes Jahr. Er wird es dir nie verzeihen, wenn du ihm den Ball ruinierst.“

„Ich habe nicht die Absicht. Und was den Skandal angeht, wie du es ausdrückst, so habe ich Olivia Kendall kaum angerührt. Jedenfalls nicht mehr, als sie wollte.“

„Sie war verlobt! Wenn irgendwer anders als ich euch auf der Terrasse ertappt hätte …“

„Und mir dabei den Abend ruiniert hast, meinst du?“

„Das auch. Versuch doch, dich einmal im Leben zu benehmen, Lance, ich bitte dich. So sehr es mir auch gefiele, wenn du Vaters Aufmerksamkeit auf dich lenken würdest – ich habe heute Abend schon genug zu tun.“

„Es ist doch nur ein Ball, Arthur.“

„Es ist eben nicht nur ein Ball.“ Arthur seufzte schwer. „Hast du dich nicht gefragt, warum Vater plötzlich einen so großen Ball veranstalten wollte?“

„Nein.“ Wenn er es sich recht überlegte, war das tatsächlich seltsam, vor allem, wenn man an den prekären Zustand ihrer Finanzen dachte. Der eichengetäfelte Ballsaal wurde sonst nur einmal im Jahr geöffnet, zum Frühlingsball, den ihr Vater als gesellschaftliche Pflicht erachtete. An diesem Abend jedoch schien er in ungewohnt großzügiger Stimmung. Selten noch hatte der Raum so glänzend gewirkt, auf jeder freien Oberfläche standen in Rot-Weiß gehaltene Blumengebinde, und in dem auf Hochglanz polierten Boden spiegelte sich das Licht Hunderter von Kerzen, die in den Kronleuchtern steckten.

„Also, ich schon. Ich hatte zwar den Verdacht, dass er etwas plant, aber ich hätte nie erwartet …“ Arthur atmete tief durch. „Hör zu, eigentlich soll ich es dir ja nicht sagen, aber Vater hat mich heute Nachmittag in sein Arbeitszimmer gerufen. Er möchte, dass ich Jeremy Harpers Tochter heirate.“

„Du meinst Harper, den Schiffbauer?“ Beinahe hätte Lance den Brandy ausgespuckt. „Dieser elende alte Geizhals? Seit wann hat der denn eine Tochter?“

„Seit sie vor achtzehn Jahren geboren wurde.“

„Ich wusste nicht mal, dass der verheiratet ist.“

„Ist er auch nicht. Seine Frau ist ein paar Jahre vor Mutter gestorben. Hörst du denn nie zu?“

„Nicht, wenn es um derartiges Zeugs geht.“

„Lance …“

„Ach, nun sieh mich nicht so an. Du weißt doch, dass ich lieber an der Oberfläche bleibe.“

Arthur schüttelte tadelnd den Kopf. „Na, hin und wieder solltest du auch mal in die Tiefe blicken.“

„Ist notiert. Gleich morgen werde ich die Nachrufe lesen.“

„Das habe ich nicht gemeint.“

„Ich weiß, aber mehr habe ich nicht zu bieten.“ Lance trank den Brandy aus und stellte das Glas bei einem der Kellner ab. „Und, wie ist sie so, deine neue Braut?“

„Sie heißt Violet, und sie ist nicht meine Braut, noch nicht jedenfalls. Ich habe keine Ahnung, wie sie aussieht, von allem anderen ganz zu schweigen, und auch sonst scheint es niemand zu wissen. Harper hat sie schon das ganze Leben in seinem Backsteinmausoleum eingesperrt. Soweit ich weiß, ist das heute das erste Mal, dass sie sich in Gesellschaft begibt.“

„Na, wenn sie Harper auch nur im Geringsten ähnelt …“ Lance begann zu lachen, bezähmte sich dann aber rasch. „Entschuldige. Aber wenigstens weißt du, dass sie gehorsam ist. Bei dem Vater ist das anders gar nicht vorstellbar. War bestimmt nicht leicht.“

„Allerdings“, stimmte Arthur zu. „Ich habe nie verstanden, wie Vater mit diesem alten Tyrannen befreundet sein konnte.“

„Hat wohl was mit Geld zu tun, nehme ich an. Die wird einmal so reich sein wie Krösus. Aber weißt du, wenn dir deine zukünftige Braut vorgestellt wird, solltest du Lydia Webster nicht so anstarren. Du benimmst dich schon den ganzen Abend wie ein liebeskrankes Mondkalb.“

„Ist es so offensichtlich?“ Arthurs Wangen färbten sich rot.

„Nur für mich und alle anderen Anwesenden.“

„Ich kann nicht anders, Lance. Sie ist das herrlichste Geschöpf, das ich je gesehen habe. Ich bin verliebt.“

„In Lydia Webster?“ Lance sah noch einmal auf die andere Seite des Ballsaals, um sich zu vergewissern, dass sie über dieselbe Frau sprachen. „Sie ist kokett und geldgierig und dazu noch ziemlich schamlos. Sobald sie von unseren Finanzen beziehungsweise den nicht vorhandenen Finanzen erfährt, lässt sie dich fallen, da bin ich mir sicher. Probiere es lieber mit Miss Harper.“

„Hör auf!“ Arthurs sonst so sanfte Miene zeigte einen seltenen Anflug von Ärger. „Sprich nicht so von ihr.“

„Ich versuche nur, dich von einem Fehler abzuhalten.“

„Nein, du behandelst mich genau wie Vater, als könnte ich selbst nicht denken. Nun, ich kann es aber, und ich sollte mir meine Braut selbst aussuchen dürfen.“

„Da hast du recht. Sag Vater das. Weigere dich, Miss Harper zu heiraten.“

Arthurs Miene wurde mürrisch. „Dich höre ich auch nicht oft Nein zu einer Frau sagen.“

„Brauche ich auch nicht. Ich bin nicht der Erbe. Den nichtsnutzigen jüngeren Bruder will sich keine angeln.“

Nicht dass es sie davon abgehalten hätte, andere Dinge mit ihm anfangen zu wollen, dachte er zynisch … Cordelia Braithwaite zum Beispiel warf ihm verführerische Blicke zu, seit ihr Gatte sich ins Kartenzimmer verabschiedet hatte. Ganz zu schweigen von dem hübschen und im Moment partnerlosen Rotschopf. Auch wenn er gerade erst versprochen hatte, sich zu benehmen, waren manche Gelegenheiten doch einfach zu gut, als dass er sie hätte verstreichen lassen wollen. Sobald er seinen Bruder getröstet hatte, würde er sie nutzen.

„Gerade einmal zehn Minuten jünger.“ Arthur klang bitter. „Manchmal wünschte ich, wir könnten einfach die Plätze tauschen. Dann könntest du Vater an meiner Stelle Bescheid stoßen.“

„Das würde nicht funktionieren, fürchte ich. Ich würde es nie hinbekommen, so verantwortungsbewusst und intelligent auszusehen wie du. Zehn Minuten machen anscheinend doch einen Riesenunterschied.“

„Vielleicht hast du ja recht.“ Arthurs klagender Ton wandelte sich plötzlich. „Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, dass ich ihm die Stirn biete.“

„So ist es recht.“

„Ich muss nur offen und direkt sein.“

„Richtig.“

„Ich sage ihm, dass ich eigene Pläne habe.“

„Ganz genau.“

„Ich sage ihm … Moment!“ Arthur packte ihn an der Schulter. „Da ist sie.“

„Wer?“

„Violet Harper.“

Lance wandte sich unauffällig zur Tür um, wobei es eine Weile dauerte, bis er die fragliche junge Dame zwischen den beiden Vätern entdeckte. Sie war die winzigste, ungewöhnlichste Frau, die er je gesehen hatte, ganz anders, als er erwartet hatte – ein unschuldiges Gänseblümchen zwischen zwei stacheligen Disteln. Sie war ganz in Weiß gekleidet und sah eher aus wie eine Märchenfee als wie eine Frau, schien im Kerzenlicht fast durchscheinend zu leuchten. Selbst ihr Haar war bleich, eine schimmernde silberblonde Fülle, die ihr ganz glatt bis zur Taille fiel. Sie reichte seinem Vater kaum bis an die Schulter, der seinen Söhnen seine mächtige Gestalt vererbt hatte. Wie sollte man eine solche Frau küssen, ohne Rückenschmerzen zu bekommen, fragte er sich, ganz zu schweigen von anderen Dingen. Nicht dass er einer derartigen Herausforderung aus dem Weg gehen würde …

„Es könnte schlimmer sein.“ Er stieß Arthur nicht allzu subtil in die Rippen.

„Was, dein Benehmen?“

„Sehr witzig. Ich meine die Braut, die Vater ausgesucht hat. Sie sieht aus wie ein Kätzchen.“ Er grinste. „Am liebsten würde ich ihr den Kopf tätscheln.“

„Heirate du sie doch.“

„Sollen wir es vorschlagen? Da möchte ich Vaters Gesicht sehen. Harpers auch. Die würde beide doch auf der Stelle der Schlag treffen.“

„Dann sollten wir es vielleicht vorschlagen.“

„Sie ist hübsch.“

„Findest du?“

„Ungewöhnlich. Mir gefallen ungewöhnliche Frauen.“

„Typisch. Ist dir je eine Frau begegnet, die dir nicht gefallen hat?“

Lance zuckte mit den Achseln. Es stimmte, er fühlte sich nicht zu einem speziellen Typ Frau hingezogen. Ihm gefiel die Vielfalt – je größer, desto besser –, obwohl Miss Harper etwas besonders Faszinierendes an sich hatte, etwas, was ihn unerwartet reizte. Beifällig ließ er den Blick über ihr Gesicht und ihre Gestalt wandern. Ihre winzige Körpergröße und ihre ungewöhnliche Haut- und Haarfarbe ließen sie merkwürdig ätherisch wirken, als wäre sie im Raum anwesend und gleichzeitig irgendwie abgehoben. Anders könnte er es nicht erklären, doch dieser Widerspruch vergrößerte nur ihren Reiz.

Je länger er sie ansah, desto mehr Gegensätze nahm er wahr. Sie mochte winzig sein, doch ihre Hüften und Brüste waren unverhältnismäßig üppig, verwirrend üppig. Auch ihre Gesichtszüge waren übermäßig groß, vor allem ihre Augen waren riesig und von einem so strahlenden Blau, dass es sogar auf diese Entfernung auffiel. Und was ihre Lippen anging – er ertappte sich dabei, wie er sich instinktiv die eigenen Lippen leckte –, so waren sie gewiss die sinnlichsten, die er je gesehen hatte, voll und üppig geschwungen und einladend.

Von einem der Lakaien nahm er eine Sektflöte in Empfang und leerte den Inhalt in einem Zug, betroffen von der starken Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte. Wenn nicht die Ehe im Hintergrund gestanden hätte, hätte er fast eifersüchtig auf seinen Bruder sein können.

„Was sie wohl davon hält, dich zu heiraten?“ Endlich riss er den Blick von ihr los.

„Sie weiß nichts davon.“

„Was?“

Arthur kehrte der Tür betont den Rücken zu. „Die ganze Sache ist völlig bizarr. Vater und Harper haben schon den ganzen Schriftkram aufgesetzt. Nach der Vereinbarung, die sie getroffen haben, soll ich sie erst nach Harpers Tod zur Frau nehmen. Er hat spät geheiratet, wer weiß, wie alt er jetzt ist. Wir sind verlobt, aber davon soll sie erst nach der Beerdigung erfahren. Wenn wir dann heiraten, bekomme ich das Vermögen und sie einen Titel.“

„Und sie wird nicht gefragt?“

„Wir werden beide nicht gefragt.“

„Und wenn Harper noch zwanzig Jahre lang lebt? Er sieht aus, als könnte er ewig so weitermachen.“

„Vermutlich wird das von irgendeiner Klausel abgedeckt. Vater erwartet zweifellos von mir, dass ich ihm einen Erben schenke, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er so lange warten will.“

„Dann gibt es vielleicht doch einen Ausweg aus alledem.“ Lance hob die Augenbrauen, als Harper den Arm seiner Tochter losließ und sie wie auf ein vorher vereinbartes Zeichen ihrem Vater zuschob. „Du musst den alten Teufel nur am Leben halten.“

„Trotzdem ist das alles morbid.“

„Was erwartest du von den beiden?“

Arthur schüttelte verächtlich den Kopf. „Du weißt, dass Vater den Ball nur abhält, um ihn zu beeindrucken. Er nimmt an, dass ich ihrem Plan einfach zustimme. Manchmal behandelt er mich wie einen Hund.“

„Dann beiß ihn doch.“ Lance’ Blick fühlte sich unweigerlich von ihr angezogen. „Glaubst du wirklich, dass er sie ihr ganzes Leben lang eingesperrt hat? Irgendetwas Märchenhaftes hat sie ja wirklich an sich. Sieh dir nur das Haar an.“

„Es ist weiß.“

„Es ist silber.“

„Wenn sie alt genug ist, sich zu verloben, sollte sie es nicht offen tragen.“

„Vielleicht erlaubt er nicht, dass sie es aufsteckt. Oh, hier kommen sie. Gib dir Mühe, charmant zu sein.“

„Ich will nicht …“

Arthur verstummte, als ihr Vater neben ihnen auftauchte, Miss Harpers Ellbogen fest im Griff.

„Vater.“ Lance lächelte unschuldig, während Arthur sich steif verbeugte. „Möchtest du uns nicht mit deiner reizenden Begleitung bekannt machen?“

„Hatte ich gerade vor.“ Ihr Vater beäugte ihn misstrauisch. „Miss Harper, das sind meine Söhne, der ehrenwerte Arthur Amberton und …“, er legte eine kurze, aber augenfällige Pause ein, „… Captain Lance Amberton.“

„Nicht ganz so ehrenwert.“

Lance schenkte ihr sein charmantestes Lächeln, griff nach ihrer Hand und streifte die zarten Knöchel mit den Lippen. Von Nahem sah er, dass ihre Augen von einem irisierenden Blau waren, heller in der Mitte und am Rand dunkler, umgeben von einem schwarzen Ring, der sie nur noch größer wirken ließ.

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Harper.“

„Oh … danke.“ Sie versank in einem unsicheren Knicks und sah rasch zu ihrem Vater hinüber, der sie von der anderen Seite des Saals aus beobachtete.

„Miss Harper …“, sein eigener Vater warf ihm einen warnenden Blick zu, „… ist gekommen, um Arthur zum Souper zu begleiten.“

„Ach ja?“ Sie sah rasch auf. Ihre Stimme klang ein wenig atemlos, als überraschte es sie, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen.

„Ja, meine Liebe. Ihr Vater hat die Erlaubnis dazu gegeben.“

„Wirklich?“ Diesmal klang sie nachgerade schockiert.

„Ich fürchte, das geht nicht, Sir“, meldete sich Arthur schließlich zu Wort. „Ich habe schon Miss Webster versprochen, sie zum Essen zu geleiten. Tut mir leid, Miss Harper.“

„Dann musst du dein Versprechen eben rückgängig machen.“ Ein verblüffter Ausdruck huschte über das Gesicht des alten Amberton. „Ich habe vereinbart, dass du Miss Harper begleitest.“

„Dann hättest du mich vielleicht ein wenig früher mit deinen Wünschen vertraut machen müssen, Vater. Oder mich zumindest fragen müssen. Ich habe nicht die Absicht, ungalant zu sein.“

„Aber du bist ungalant.“

„Vielleicht könnte ich Miss Harper zum Souper begleiten?“, unterbrach Lance sanft. „Damit sie in der Familie bleibt, sozusagen?“

„Du kannst dich raushalten!“ Das Gesicht ihres Vaters nahm das altvertraute Puterrot an.

„Wie du möchtest. Ich wollte nur behilflich sein.“

„Wir wissen alle nur zu gut, welche Formen deine Hilfe annimmt!“

Der alte Amberton zuckte zusammen, als wäre ihm jetzt erst klar geworden, was er da gesagt hatte und wer alles zuhörte. Doch anscheinend fiel ihm nichts ein, womit er die Lage hätte retten können, und so stand er mit bebendem Kinn vor ihnen, halb wutentbrannt, halb verlegen.

„Mein Angebot steht jedenfalls, Miss Harper“, durchbrach Lance das nachfolgende peinliche Schweigen und bedachte seinen Vater mit einem belustigten Blick. „Obwohl ich Sie vielleicht nicht so geistreich unterhalten kann wie mein Bruder hier. Wie Sie sicher bemerkt haben, laufen Sie Gefahr, dass er Sie gar nicht zu Wort kommen ließe.“

„Arthur.“ Ihr Vater klang bedrohlich. „Auf ein Wort.“

Lance warf seinem Bruder einen unterstützenden Blick zu, als die beiden Männer zur Seite traten. Er blieb mit der sichtlich verlegenen jungen Dame zurück. Wenigstens hat sie jetzt ein wenig Farbe bekommen, dachte er spöttisch, als er die leuchtend roten Wangen bemerkte. Sie schien die Situation noch beschämender zu finden als sein Vater.

„Ich wollte keinen Ärger machen.“ Ihre Stimme war so leise, dass er sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen.

„Das haben Sie auch nicht.“ Er trat einen Schritt zur Seite, um seinen Vater und Bruder vor ihrem Blick zu verbergen. „In unserer Familie ist man erst glücklich, wenn man sich die Köpfe einschlägt.“

„Ihr Bruder sieht aber nicht sehr glücklich aus“, sagte sie stirnrunzelnd, während sie um ihn herumblickte. „Er sieht sehr unglücklich aus.“

Lance wandte den Kopf. Es stimmte. So ungern er es auch zugab, Arthur sah wirklich unglücklich aus. Seine Schultern waren zusammengesackt, als trüge er ein schweres Gewand, das er nicht abstreifen konnte. Nicht dass er daran etwas hätte ändern können – außer seinem Bruder zu raten, dass er ihrem Vater die Stirn bieten sollte, und das hatte er oft genug getan –, doch Miss Harper war aufmerksamer, als er gedacht hätte. Wenn er nicht aufpasste, brachte sie ihn noch dazu, ernsthaft zu sein.

„Wenn er es Miss Webster versprochen hat, sollte er sie auch zum Souper führen.“ Sie sah ihn mit großen Augen an. „Ich verstehe gar nicht, warum Ihr Vater so beharrlich ist.“

Er zuckte mit den Achseln und hoffte, sie mit dieser lässigen Geste zu überzeugen. „Unsere Väter sind alte Freunde. Sie werden wollen, dass Sie beide sich kennenlernen.“

„Und Sie nicht?“

„Nein.“ Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Mir eilt mein Ruf voraus, fürchte ich.“

„Was für ein Ruf denn?“

Er öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder, kämpfte gegen das aufsteigende Gelächter. Es passierte ihm nicht oft, dass er sprachlos war, doch in diesem Fall wusste er wirklich nicht, was er sagen sollte. War sie wirklich so unschuldig, dass sie nicht wusste, was er meinte? Er war versucht, es ihr zu sagen oder gar zu zeigen, doch er spürte bereits den missbilligenden Blick ihres Vaters im Nacken. Lang würde es nicht dauern, bis der alte Mann herüberkam, um sie zu unterbrechen, und er wollte sie noch nicht so bald gehen lassen.

„Wollen wir vor dem Souper tanzen?“ Mit einer eleganten Bewegung bot er ihr den Arm.

„Tanzen?“ Sie sah aus, als hätte er etwas Unanständiges vorgeschlagen. „Oh nein, das kann ich nicht.“

„Warum nicht?“ Er tat, als blickte er sich um. „Das hier ist doch ein Ball, wenn ich mich nicht irre.“

„Ich bin nur nicht sehr gut darin. Also, ich hatte zwar Unterricht, aber nur von Frauen und nie in der Öffentlichkeit. Ich glaube wirklich nicht, dass ich es fertigbrächte.“

„Sie meinen, Sie haben noch nie mit einem Mann getanzt?“

„Nein. Mein Vater sagt …“

„Aber das ist doch perfekt. Irgendwann müssen Sie doch damit anfangen.“

Schwungvoll nahm er sie bei der Hand und zog sie auf die Tanzfläche. Den wilden Blick ihres Vaters ignorierte er dabei geflissentlich. Die Vorstellung, bei irgendetwas ihr Erster zu sein, hatte etwas merkwürdig Anziehendes, selbst wenn es sich dabei nur um einen Tanz handelte, und es konnte nicht schaden, seine eventuelle Schwägerin näher kennenzulernen. Es war ja nicht so, als flirtete er mit ihr, jedenfalls nicht über Gebühr, und Arthur würde sich nicht daran stören – oder es überhaupt bemerken. Wenn er nach der hitzigen Diskussion ging, die sich soeben am Rand der Tanzfläche entspann, so hatte sein Bruder diesen öffentlichsten aller Orte gewählt, um ihrem Vater endlich die Stirn zu bieten. Es sah nicht so aus, als würden die beiden demnächst zum Ende kommen. Je länger er den Gegenstand dieser Auseinandersetzung ablenkte, desto besser. Eigentlich war das direkt selbstlos von ihm …

„Nein.“ Sie stemmte die Fersen in den Boden und entriss ihm abrupt die Hand.

„Miss Harper?“

Überrascht fuhr er zu ihr herum. Plötzlich sah sie trotzig aus, wie eine Katze, die einen Buckel machte, ihn anfunkelte und anfauchte. Die Wirkung war ebenso beeindruckend wie entwaffnend, und er verspürte aufkeimenden Respekt. Anscheinend war sie nicht so gehorsam, wie er angenommen hatte, und würde sich weder durch Schmeicheleien noch durch Einschüchterungen auf die Tanzfläche locken lassen. Hinter der harmlosen Fassade lauerten Krallen. Verdammt, das ließ sie nur noch attraktiver wirken!

„Bitte entschuldigen Sie mein Ungestüm, Miss Harper.“ Er verneigte sich und bemühte sich um eine zerknirschte Miene. „Ich kann dafür nur meine übertriebene Begeisterung verantwortlich machen.“

„Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nicht gut genug tanzen kann.“

„Ich schon, auch wenn ich das selbst sage. Ich habe noch keine Frau zu Boden gehen lassen.“ Er wandte sich zu ihr zurück und legte mit gespielter Ernsthaftigkeit die Hand auf sein Herz. „Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie auch nicht fallen lasse. Das heißt, wenn Sie mir die Ehre erweisen, diesen Tanz mit mir zu absolvieren?“

Ihre Augen weiteten sich ein wenig, als wüsste sie nicht, wie sie darauf reagieren sollte, und er ertappte sich dabei, wie er sie innerlich beschwor, doch Ja zu sagen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie ihr Vater auf sie zustürmte, vermutlich, um sie ihm zu entreißen. Aus der leichten Neigung ihres Kopfes schloss er, dass sie ihn ebenfalls bemerkt hatte. Zu Lance’ Überraschung schien sein Anblick für sie den Ausschlag zu geben. Nach kurzem Zögern ergriff sie seinen Arm und folgte ihm auf die Tanzfläche.

Das Orchester stimmte eine Melodie an, und er lächelte zufrieden. Es war eine Polka, ein lebhafterer Tanz als der Walzer, aber doch ein Paartanz, bei dem er ihr eine Hand auf die Schulter legen durfte, während er mit der anderen Hand ihre behandschuhten Finger umfasste.

„Mein Vater hat gesagt, ich dürfe mit niemand anderem tanzen als mit Ihrem Bruder.“ Sie verspannte sich, als er flüchtig ihren Rücken streifte.

„Dann sind Sie rebellischer, als ich dachte, Miss Harper.“

„Ich bin kein bisschen rebellisch.“ Ihre Miene änderte sich kaum merklich. „Obwohl ich manchmal denke, dass ich es gern wäre.“

„Wirklich? Dann sind Sie bei mir an der richtigen Adresse. Ich wäre Ihnen sehr gern dabei behilflich.“

„Oh.“ Verwirrt runzelte sie die Stirn. „Danke.“

Er unterdrückte ein Lachen, flirtete aus reiner Gewohnheit mit ihr, obwohl er überrascht war, was ihm alles in den Sinn kam – ausnahmslos unschicklich für den Umgang mit der zukünftigen Gattin seines Bruders. Über ihren Kopf hinweg sah er, wie Cordelia Braithwaite ihn anschmollte, doch der Anblick ließ ihn kalt. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund zog er die weltfremde, ungewöhnliche Miss Harper vor.

„Die Musik ist sehr schnell.“ Sie klang nervös.

„Lassen Sie sich einfach von mir führen.“

Er drückte ihr beruhigend die Hand und führte sie dann auf die Tanzfläche. Zuerst strauchelte sie ein wenig, fand dann aber rasch in den lebhaften Rhythmus der Musik und entspannte sich allmählich in seinen Armen. Anders als er erwartet hatte, war es überraschend leicht, mit ihr zu tanzen. Er bekam keineswegs Rückenschmerzen dabei. Sie war so leicht, dass er sie bei jedem Hüpfer regelrecht hochhob, und durch ihre natürliche Anmut schwebte sie wie eine Feder in seinen Armen.

„Ich hätte Sie nicht als Lügnerin eingeschätzt, Miss Harper.“ Vorwurfsvoll hob er eine Augenbraue.

„Wie meinen Sie das?“ Nun wirkte sie wieder erschrocken.

„Sie sagten, Sie könnten nicht tanzen. Dabei sind Sie ein Naturtalent.“

Sie lächelte, was ihr ganzes Gesicht aufleuchten ließ. „Es macht mir auch Spaß. Zu Hause haben wir einen Ballsaal, auch wenn wir noch nie einen Ball veranstaltet haben.“

„Was für eine Verschwendung.“

„Manchmal tanze ich dort allein.“

„Ohne Musik?“

„Ich singe dann.“ Sie biss sich unvermittelt auf die Unterlippe, als bereute sie dieses Geständnis. „Das klingt in Ihren Ohren wohl ziemlich lächerlich.“

„Im Gegenteil, ich bin sicher, dass Sie dabei ein reizendes Bild abgeben. Ich würde es gern sehen und hören.“

Wieder lächelte sie, und er verstärkte seinen Griff um ihre Schulter, ebenso amüsiert wie fasziniert. Er hatte das Anwesen der Harpers in Whitby nie betreten, doch es hieß, es sei riesig und im Aussehen ebenso kalt, wie ihr Besitzer es in Wirklichkeit war. Die Tochter schien wirklich einem Märchen entsprungen. An diesem Punkt hätte es ihn nicht überrascht zu erfahren, dass sie in einem Elfenbeinturm aufgewachsen sei.

„Dies ist also Ihr erster Ball?“

Sie nickte begeistert. „Es ist überhaupt mein erstes Mal. Ich habe noch nie so viele Leute auf einmal gesehen. Und die Damen sehen alle so schön aus.“

„Vermutlich.“ Er sah sich um, obwohl der restliche Saal ein wenig an Glanz verloren zu haben schien. All die anderen Frauen wirkten neben ihr ein wenig grau.

„Würden Sie mir ein paar vorstellen?“

„Von den Damen?“ Diesmal hob er beide Augenbrauen gleichzeitig. „Kennen Sie denn keine?“

„Die einzigen Leute, die ich hier kenne, sind mein Vater und Ihrer und nun Sie. Ich habe nicht viele Bekannte.“

„Nicht mal in Whitby?“

„Nein.“ Sie sah ihn entschuldigend an. „Mein Vater macht nicht gern Besuche und missbilligt es, wenn ich allein ausgehe.“

„Wirklich?“ Er verspürte leisen Zorn gegen ihren Vater. War sie wirklich eine Gefangene gewesen? Und doch sprach sie ganz nüchtern darüber, als hätte sie nichts anderes erwartet. „In dem Fall würde es mich freuen, Sie mit ein paar Leuten bekanntzumachen. Vielleicht könnten Sie Ihren Vater ermutigen, auch einen Ball zu veranstalten? Damit Sie in Ihrem eigenen Haus tanzen können, meine ich.“

„Vater?“ Ihr Lachen klang wie ein Silberglöckchen. „Das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Nicht einmal für Ihr Debüt?“ Plötzlich verspürte er den Wunsch, sie auf die Probe zu stellen und herauszufinden, ob sie von den Plänen ihrer Väter etwas wusste. „Ich bin mir sicher, dass Sie jede Menge Verehrer finden.“

Das silberne Leuchten, das sie bisher zu umgeben schien, verblasste, als wäre ein Schatten auf ihr Gesicht gefallen. „Mein Vater hält nichts von Verehrern.“

„Vielleicht nicht, aber nach dem heutigen Abend werden sich bestimmt jede Menge junge Männer einfinden, die nur zu begierig sind, die Bekanntschaft mit Ihnen zu vertiefen.“

„Begierig nach dem Geld meines Vaters, meinen Sie?“

Er wäre beinahe gestolpert, so sehr hatte ihn ihre unverblümte Bemerkung aus dem Tritt gebracht. Es war eine bedauerliche Wahrheit, dass ihr Vermögen in den Augen der Welt wohl ihr attraktivstes Attribut war. Ihr Aussehen war zu ungewöhnlich, als dass sie als schön hätte gelten können – es hätte ihn nicht überrascht, wenn sein Vater nur Münzen sah, wenn er sie ansah –, doch so etwas sprach man normalerweise nicht laut aus.

„Verstehe.“ Etwas von seinen Gedankengängen musste sich in seinem Gesicht gespiegelt haben, denn in ihrem zeigte sich nun leise Kränkung. „Ich glaube, ich möchte jetzt aufhören zu tanzen.“

Er blinzelte. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie ihn nun zum zweiten Mal überrascht. Bisher hatte noch keine Frau aufhören wollen, mit ihm zu tanzen. Die meisten wollten im Gegenteil sehr viel mehr von ihm. Sie hätte ihn nicht mehr verblüffen können, wenn sie ihn ins Gesicht geschlagen hätte.

„Miss Harper, wenn ich Sie beleidigt haben sollte, dann bitte ich um Entschuldigung.“

„Das haben Sie nicht.“ Sie blieb mitten auf der Tanzfläche stehen, erstarrte von Kopf bis Fuß. „Ich weiß, was ich bin.“

„Was Sie sind?“ Er entschuldigte sich mit einer Geste bei dem nächsten Paar, das direkt in ihn hineingetanzt war.

„Ja. Und ich weigere mich, hier zu stehen und mich deswegen verspotten zu lassen.“

„Was …?“

Weiter kam er nicht. Sie entwand sich ihm und bahnte sich einen Weg durch die tanzenden Paare, während er ihr sprachlos hinterhersah. Was um alles in der Welt hatte er nur gesagt, um eine so extreme Reaktion hervorzurufen? Dass sie Verehrer haben könnte? Frauen gefiel es doch, wenn man ihnen sagte, dass sie Verehrer haben würden, oder nicht? Und doch schien sie zu glauben, dass er sich über sie lustig machte, als ob schon die Vorstellung ein Witz wäre – als ob sie ein Witz wäre. Warum zum Teufel sollte sie das denken?

Er setzte sich in Bewegung, folgte ihr auf einem anderen Weg durch die Menge. Er musste wieder in Ordnung bringen, was auch immer er verbrochen hatte. Wenn sein Vater wirklich so entschlossen war, sie zur Schwiegertochter zu bekommen, wollte er die üble Lage nicht noch verschlimmern – obwohl er, wie er erkannte, die junge Frau ebenfalls nicht verärgern wollte. Ihr verletzter Blick hatte ihm ungewohnte Gewissensbisse bereitet. Da ihm dieses Gefühl ziemlich fremd war, hatte er es anfangs gar nicht einordnen können, und er wollte es schnellstmöglich wieder loswerden.

„Miss Harper.“ Er fing sie ab, bevor sie ihren Vater erreicht hatte. „Ich habe mich nicht über Sie lustig gemacht. Ich habe nur Konversation machen wollen.“

„Nun, ich fand es nicht amüsant.“

„Dann schieben Sie es auf meine lausigen Manieren.“ Er streckte den Arm aus, während sie versuchte, sich an ihm vorbeizudrücken. „Ich war zu dreist, aber ich glaube wirklich, dass Sie jede Menge Verehrer haben könnten. Es gibt nicht viele Frauen, denen ich quer durch einen Ballsaal nachlaufen würde.“

Sie hob das Kinn, begegnete seinem Blick mit einer Würde, angesichts derer er nur noch schuldbewusster wurde. „Es mangelt mir nicht an Intelligenz, Captain Amberton. Mein Vater sagte mir, eine Ehe käme für mich nicht infrage, darüber bräuchte ich gar nicht nachzudenken, also tue ich es nicht. Er warnte mich, dass etwaige Verehrer es nur auf mein Vermögen abgesehen hätten.“

„Aber das ist doch absurd!“ Spontan wallte Zorn in ihm empor. Was für ein Vater würde denn eine solche Gemeinheit von sich geben, ganz als hätte sie selbst nichts Anziehendes an sich? Er jedenfalls fand sie ziemlich attraktiv, nicht dass es ihm anstand, dergleichen zu äußern. Das war die Aufgabe seines Bruders. Wo war Arthur überhaupt? Inzwischen blickte eine ganze Reihe von Gästen zu ihnen hinüber, doch Arthur war nicht dabei.

Ihre Augen blitzten. „Mein Vater will nur mein Bestes. Er versucht, mich zu schützen.“

„Er ist ein Lügner!“

„Ach, wirklich?“

Beim Klang der Stimme ihres Vaters biss Lance die Zähne zusammen und unterdrückte einen Fluch. So viel dazu, dass er sich benehmen wollte. Irgendwie hatte er es fertiggebracht, eine Szene zu machen und obendrein einen der ältesten Freunde seines Vaters zu beleidigen. Nicht dass ihm das sonderlich leidgetan hätte. Im Gegenteil, jetzt wo er den Skandal losgetreten hatte, hätte es wenig Sinn gehabt, damit aufzuhören.

Er wandte sich um und blickte dem älteren Mann direkt in die Augen. „Wenn Sie Ihrer Tochter gesagt haben, dass kein Mann sie um ihrer selbst willen heiraten würde, dann, Sir, sind Sie ein Lügner.“

„Was ich zu meiner Tochter sage, geht Sie nichts an.“ Harpers Knopfaugen verengten sich boshaft. „Und ich möchte Sie bitten, sich in Zukunft von ihr fernzuhalten. Mit einem Schuft wie Ihnen wird sie nicht wieder tanzen.“

„Lieber ein Schuft als ein Lügner.“

„Captain Amberton!“ Miss Harper schob sich zwischen sie, auch wenn ihre winzige Gestalt nicht viel dabei ausrichten konnte, sie voreinander zu verdecken. „Sie haben kein Recht, meinen Vater zu beleidigen!“

„Wenn er Sie beleidigt, schon.“

„Ich habe ihr nur die Wahrheit gesagt.“ Harper reckte das Kinn, als wollte er ihn herausfordern, doch zuzuschlagen, wenn er sich traute. „Oder wollen Sie etwa sagen, dass Sie sie heiraten würden ohne mein Geld?“

„Was?“ Lance sagte das Wort im selben Augenblick wie Miss Harper, und es war unmöglich festzustellen, wer von beiden entsetzter klang.

„Ich fragte, ob Sie sie um ihrer selbst willen heiraten würden. Nachdem Sie ja so großes Interesse zeigen.“

Lance senkte den Blick zu ihrem Gesicht, doch sie hatte sich schon abgewandt, die Arme eng um die Taille geschlungen, als wollte sie sich so klein und unauffällig wie möglich machen. Würde er sie denn heiraten? Nein. Natürlich nicht. Er hatte nicht die geringste Absicht, sich an irgendeine Frau zu binden, egal wie attraktiv oder faszinierend er sie fand, aber das konnte er wohl kaum sagen, ohne sie noch mehr in Verlegenheit zu bringen. Aber immer noch besser als eine Verlobung …

„Ich kehre demnächst zu meinem Regiment zurück, Sir.“ Es war die erste Ausrede, die ihm in den Kopf kam. „Ich kann für eine Frau nicht sorgen.“

„Ha!“ Harpers Gesicht verzog sich zu einer Grimasse hämischen Frohlockens. „Dachte ich es mir.“

Irgendwie widerstand Lance dem Drang, den älteren Mann bei den Rockaufschlägen zu packen und mit dem Kopf voran aus dem nächstbesten Fenster zu werfen. Was um alles in der Welt war nur mit ihm los? Alle Blicke im Saal waren auf sie gerichtet, jeder lauschte aufmerksam auf jedes Wort – sogar das Orchester hatte zu spielen aufgehört, um zuzuhören –, und doch schien Harper so erpicht darauf, in diesem Streit den Sieg davonzutragen, dass er keinerlei Skrupel hatte, seine Tochter in aller Öffentlichkeit zu demütigen. Was für ein Ungeheuer war er eigentlich?

„Was ist hier los?“ Plötzlich brach sein Vater über sie herein, im Schlepptau den niedergeschlagen wirkenden Arthur. „Lance, ich hab dir doch gesagt, du sollst dich benehmen.“

„Ich habe mich auch benommen.“

Er fuhr sich durch die Haare, hin- und hergerissen zwischen Verzweiflung und dumpfem Zorn. Wie genau war er nun wieder in diese Lage geraten, zwischen zwei wutschnaubenden Vätern, einem schweigenden Bruder und einem Kätzchen von einer Frau, die aussah, als wünschte sie sich, die Erde möge sich auftun und sie verschlucken? Und warum zum Teufel war er derjenige, der sie verteidigte?

„Er hat mich einen Lügner geheißen.“ Harpers Ton war entrüstet.

„Und Sie haben mich einen Schuft genannt.“ Lance warf ihm einen wutfunkelnden Blick zu. „Ich glaube, wir sind jetzt quitt.“

„Entschuldige dich!“, zischte sein Vater. „Entschuldige dich auf der Stelle bei unserem Gast.“

„Möchtest du nicht auch meine Seite der Geschichte hören?“

„Deine Seite der Geschichte ist immer dieselbe. Er hat dich einen Schuft genannt, weil du genau das bist. Und jetzt entschuldige dich oder verlasse auf der Stelle mein Haus!“

„Aufhören!“ Diesmal unterbrach sie Miss Harper. „Bitte hören Sie auf. Das ist alles meine Schuld. Ich habe überreagiert, bestimmt.“

„Das bezweifle ich, mein Liebes.“ Ihr Vater machte sich nicht mal die Mühe, sie anzusehen. „Bekümmere dich nicht.“

„Aber Sie dürfen das nicht tun! Nicht meinetwegen. Das ist zu schrecklich.“

„Er hat nichts anderes verdient. Das bringt das Fass zum Überlaufen, Lance.“

„Für dich auch, Vater.“ Er wartete keinen Moment länger, drehte sich abrupt um und stürmte durch die Menschenmenge zur Tür. „Erwarte nicht, dass ich je wieder einen Fuß in dieses Haus setze!“

„Gut!“ Die Stimme seines Vaters dröhnte durch den Saal. „Ich würde dich auch nicht mehr reinlassen. Du bist als Sohn für mich gestorben!“

Lance blieb in der Tür stehen, öffnete den Mund, um eine letzte Beleidigung loszuwerden, schloss ihn dann jedoch wieder, als er seinen Bruder sah. Arthur stand ein wenig abseits, ein Bild solch grenzenlosen Jammers, dass er versucht war umzukehren und ihn einfach mitzunehmen. Doch er musste zu seinem Regiment zurück, und Arthur … nun, Arthur würde Violet Harper heiraten.

Er sah ihr ein letztes Mal ins Gesicht, in die großen blauen Augen, die vor Schreck noch größer geworden waren. In einem hatte sie recht. Das alles war ihre Schuld. Wenn sie nicht so verdammt empfindlich gewesen wäre, hätte er ihr nicht nachlaufen müssen, um sich bei ihr zu entschuldigen, wäre ihrem Vater nicht begegnet, hätte sie nicht gegen ihn verteidigt, nicht dass sie ihm das gedankt hätte! Seine Lippe kräuselte sich verächtlich. Von nun an würde er sich an die Cordelia Braithwaites dieser Welt halten. Frauen wie Violet Harper trugen einem mehr Probleme ein, als sie es wert waren.

Er wandte sich ab, schickte seinen Vater, Harper und den gesamten Saal mit Ausnahme von Arthur in die tiefste, dunkelste Hölle. Und was Violet Harper anging, ob sie nun seine Schwägerin werden sollte oder nicht, er hoffte, sie niemals wiederzusehen.

1. KAPITEL

März 1867 – fünf Jahre später

Um Mittag herum begann es zu schneien.

Violet zog die Kapuze ihres viel zu dünnen Umhangs herunter, legte den Kopf in den Nacken und streckte die Zunge heraus, um eine Schneeflocke zu fangen. Sie schmolz sofort. Schnee. Nie zuvor war sie draußen im Schnee gewesen, hatte ihn immer nur durchs Fenster fallen sehen, und diese neue Erfahrung war erfrischend.

Nichts, nicht mal das schlechte Wetter, konnte ihr an diesem Tag die Laune verderben. Eigentlich hätte sie verängstigt sein müssen, wie sie da oben auf dem alten Karren saß, der über das Hochmoor schwankte, auf der Flucht von zu Hause, weg von ihren wenigen Freunden und allem, was sie kannte, doch stattdessen war sie voll Vorfreude. Selbst die kahle Heide- und Ginsterwildnis schüchterte sie an diesem Morgen nicht so ein wie sonst, wenn sie sie aus der Ferne betrachtete. Heute wirkte sie frei und ungebunden und lebendig auf sie, genau so, wie sie selbst sich fühlte. In den letzten Stunden war sie weiter gereist als in all ihren dreiundzwanzig Jahren zusammen, nicht nur, was die Entfernung betraf, sondern auch innerlich. Endlich hatte sie ihre Zukunft selbst in die Hand genommen. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie stolz auf sich.

Keine schlechte Leistung für ihren Hochzeitstag.

„Die Mine liegt gleich hinter dem Höhenzug“, rief ihr der Sohn des Kutschers zu. „Machen Sie sich keine Sorgen wegen des Wetters, Miss. Wir haben schon Schlimmeres erlebt.“

Sie warf ihm ein strahlendes Lächeln zu und lehnte sich an die Kisten, in denen Vorräte für die Minenarbeiter in Rosedale transportiert wurden. Der Kutscher hatte versprochen, sie danach nach Helmsley zu bringen. Sie konnte sich nur vorstellen, was er und sein Sohn von ihr halten mussten. Ihre Freundin Ianthe hatte für die beiden gebürgt, sowohl für ihren Charakter als auch für ihre Diskretion, doch sie machten sich bestimmt Gedanken, warum sich eine vornehme Dame ohne Begleitung mit ihnen in der Morgendämmerung am Stadtrand von Whitby hatte treffen wollen, als versuchte sie, den Fängen irgendeines üblen Tyrannen zu entrinnen.

Was sie gewissermaßen ja auch tat.

Die ganze letzte Woche hatte sie ihre Flucht geplant, von dem Moment an, als Mr. Rowlinson sie nach dem Begräbnis ihres Vaters beiseite genommen hatte, um ihr zu sagen, er wolle sie lieber unter vier Augen mit dem Testament vertraut machen. Den Grund dafür erfuhr sie nur zu bald. Der Anwalt hatte sich bei der Verlesung des letzten Willens schuldbewusst gezeigt, hatte sie besorgt über den Metallrand seiner Brille hinweg beobachtet, hatte den Schock damit jedoch auch nicht mildern können. Wenn sie jetzt zurückblickte, fühlte sie sich merkwürdig losgelöst von dem Erlebnis, so als hätte jemand anders auf ihrem Stuhl gesessen, irgendeine schwarz gekleidete Statue, in Panik erstarrt, weil ihr Vater sie dem Erben von Amberton Castle vermacht hatte.

Vermacht!

In jenem Augenblick hatte sich etwas in ihr verhärtet, als wären all ihr Schmerz und ihre Trauer zu etwas Kälterem, Dunklerem kristallisiert. Sie kannte das Gefühl nicht, wusste nicht einmal, ob es überhaupt eines war. Es fühlte sich eher an, als fehlte etwas, wie eine Leere in ihrer Mitte, als hätte sie plötzlich die Fähigkeit zu fühlen verloren.

Sie erinnerte sich, wie sie gelacht hatte. Sie hatte wohl hysterisch geklungen, da Mr. Rowlinson ihr eilig ein Glas Brandy eingeschenkt hatte. Sie hatte es angenommen, zum ersten Mal in ihrem Leben. Bisher hatte ihr Vater ihr immer verboten, Alkohol anzurühren, doch nun hätte sie am liebsten die ganze Flasche ausgetrunken, nur um ihn zu ärgern.

Ein paar Schlucke hatten ihr diese Idee ausgetrieben, sie hustete und spuckte, und in ihrem Kopf drehte sich alles nur noch schneller, während sie zu begreifen versuchte, wie ihr Vater ihr so etwas hatte antun können. Nach all den Jahren des Gehorsams, in denen sie in seinem Schatten gelebt und all seine Beleidigungen und Gemeinheiten hingenommen hatte, wie konnte er da eine Ehe für sie arrangieren, ohne ihr etwas davon zu sagen – oder sie zu konsultieren? Und das in einem Moment, als sie geglaubt hatte, endlich frei sein zu können.

Sie hätte wissen müssen, dass er sie nicht so leicht würde davonkommen lassen. Er hatte ihr nie erlaubt, eigene Entscheidungen zu treffen, und nun hatte es den Anschein, als wollte er ihr Leben sogar über den Tod hinaus noch bestimmen. Die im Testament festgelegten Bedingungen waren so streng, dass sogar Mr. Rowlinson beim Verlesen gezögert hatte. So ungewöhnlich eine Hochzeit kurz nach einer Beerdigung auch sein mochte, die Anweisungen ihres Vaters waren kompromisslos und unnachgiebig wie eh und je. Wenn sie den Mann seiner Wahl nicht binnen eines Monats nach seiner Beerdigung heiratete, würde sie enterbt: Haus und Vermögen würden in diesem Fall an einen entfernten Verwandten in Lancashire gehen. Kurzum, sie wäre bettelarm.

Es sei denn, sie tat, wie ihr geheißen worden war.

Ihre kreiselnden Gedanken kehrten zurück zu dem Ball auf Amberton Castle vor fünf Jahren, die einzige Veranstaltung dieser Art, die sie je besucht hatte. Wenigstens wurde im Testament endlich erklärt, warum ihr Vater so erpicht darauf gewesen war, dass sie Zeit mit Arthur Amberton verbrachte, nicht nur auf dem Ball, sondern auch bei den Besuchen, die er und sein Vater ihnen seither allmonatlich abgestattet hatten.

Sie war ein wenig misstrauisch gewesen, vor allem als ihr Vater anfing, Andeutungen über ihre Zukunft zu machen. Einmal ging er sogar so weit zu sagen, dass er eine Ehe für sie arrangiert habe, doch das hatte sie letztlich für eine Art grausamen Scherz gehalten. Schließlich hatte er ihr immer gesagt, dass nur ein Mitgiftjäger behaupten würde, sie zu wollen, und dass sie ohne Ehemann besser dran wäre. Es hätte keinen Sinn ergeben, wenn er gewollt hätte, dass sie heiratete.

Außerdem hatte nichts in Arthur Ambertons Verhalten vermuten lassen, dass er sich auch nur im Entferntesten für sie interessierte. Er hatte bei seinen Besuchen immer genauso deprimiert gewirkt wie damals auf dem Ball, auf dem sie ihn kennengelernt hatte. Ihre wenigen Unterhaltungen waren gestelzt und peinlich gewesen, während ihre Väter sie mit Adleraugen beobachtet hatten. Nie hatte er etwas von einer geheimen Verlobung angedeutet, und sie bezweifelte, dass er etwas davon gewusst hatte. Wenn, dann hätte er ihr nicht deutlicher zu verstehen geben können, dass er sie nicht heiraten wollte. Genauso wenig wie sie ihn heiraten wollte.

Obwohl er ihr sogar noch willkommener gewesen wäre als die Alternative …

Sie zog ihre Kapuze enger um ihr Gesicht, niedergedrückt von einer Welle der Trauer. Arthur Amberton war vor sieben Monaten auf See verschollen, als er mit seinem kleinen Boot an einem ruhigen Spätsommertag an der Küste des nördlichen Yorkshire entlanggeschippert war. Er war allein losgezogen, ohne irgendwem zu sagen, wohin er wollte. Sein Schiff war am nächsten Tag von einem Fischerboot entdeckt worden. Es war heil und unbeschadet, doch Arthur war nirgends zu finden gewesen. Es waren jede Menge Theorien in Umlauf gewesen – dass er angegriffen worden war, dass er schwimmen gegangen war und einen Krampf bekommen hatte –, doch niemand hatte die offensichtliche Lösung aussprechen wollen, dass er sich lieber umgebracht hatte, als noch einen Tag so voll Verzweiflung zu leben. Lieber war er tot, als sie zu heiraten.

Ironischerweise war sie diejenige gewesen, die darauf bestanden hatte, ihren Vater mit diesen Neuigkeiten zu verschonen. Er war zu diesem Zeitpunkt bereits bettlägerig gewesen, und sie hatte ihn nicht noch mehr bekümmern wollen. Sie hatte halb befürchtet, dass Arthurs Vater bei ihnen auftauchen könnte, doch am nächsten Tag hatten sie noch mehr schlechte Nachrichten bekommen: Als er von dem leeren Boot erfahren hatte, hatte der Vater einen Herzanfall bekommen. Vater und Sohn waren innerhalb von vierundzwanzig Stunden gestorben, den Besitz erbte nun ein anderer: Captain Lancelot Edward Amberton, der neue Viscount Scarborough.

Der bloße Gedanke an ihn ließ sie erschauern, rief dasselbe Gefühl abgrundtiefer Scham hervor, das sie nach ihrer ersten Begegnung empfunden hatte. Wie naiv sie damals gewesen war! Anfangs hatte sie seine Gesellschaft tatsächlich genossen. Sie war wegen ihres ersten Balls aufgeregt und nervös gewesen, war sich der merkwürdigen Blicke und des Getuschels ob ihres geringen Körpermaßes und ihrer extremen Blässe lebhaft bewusst, doch Captain Amberton schien es nicht aufgefallen zu sein.

Er war selbstsicher, freundlich und offen gewesen und anders als alle Männer, die ihr bisher begegnet waren; er schien Ausdruck genau der Freiheit, für die der Ball stand. Er war ihr zu Hilfe geeilt, als sein Vater und sein Bruder miteinander in Streit geraten waren, hatte sie ermutigt, als sie vor Schüchternheit kaum ein Wort hervorgebracht hatte, und sie beruhigt, als sie sich nicht zu tanzen getraut hatte. Tatsächlich hatte sie ihrem Vater getrotzt, als sie mit ihm getanzt hatte, und sie konnte nicht leugnen, wie attraktiv sie ihn gefunden hatte mit seinem lässig zurückgekämmten kastanienbraunen Haar, der kräftigen, muskulösen Gestalt und dem verschmitzten Zwinkern, das ihr stets ein Lächeln entlockte, weitaus attraktiver als seinen Zwillingsbruder. In seinen Armen hatte sie etwas Neues und äußerst Beunruhigendes verspürt, ein bebendes Flattern im Unterleib, das sie ebenso erregte, wie es ihr unangenehm war, und bei dem ihr ganz blümerant wurde.

Das war allerdings, bevor sie erkennen musste, dass er sie nur auslachte und wegen etwaiger Verehrer verspottete, als ob sie je welche haben würde. Schon zu Beginn des Abends war sie befangen gewesen, doch dann hatte sie sich ernsthaft in die Einsamkeit ihres Schlafzimmers zurückgewünscht.

Trotz dieser Demütigung war die darauffolgende Szene noch schlimmer gewesen. Verwirrenderweise schien er erst für sie in die Bresche zu springen, obwohl sie sich verpflichtet gefühlt hatte, ihren Vater zu verteidigen. Der Augenblick, als er gesagt hatte, dass er sie nicht heiraten wolle, war für sie einer der schlimmsten ihres Lebens gewesen. Auch wenn sie kaum eine andere Antwort hätte erwarten können, waren die Worte doch wie Messer in ihrem Herzen gewesen.

Und doch hatte sich sein Hinauswurf danach angefühlt, als wäre sie irgendwie schuld daran. Viel zu spät hatte sie versucht, dagegen einzuschreiten, doch sie hatte es nicht verhindern können. Er war davongestürmt, und der Blick, den er ihr von der Tür aus zugeworfen hatte, war alles andere als freundlich gewesen. Es hatte eher so ausgesehen, als hasste er sie.

Ihr Vater hatte sie danach beiseite genommen und ihr verboten, den Namen Lancelot Amberton in seinem Beisein je wieder laut auszusprechen, und sie hatte danach genug Klatschgeschichten aufgeschnappt, um den Grund dafür zu verstehen. Sie hatte ihn ja von Anfang an für ein wenig skandalumwittert gehalten, doch in Wahrheit war sein ganzes Leben ein einziger Skandal. Genau aus diesem Grund hatte ihr Vater ihn einen Schuft genannt. Er war ein Trunkenbold, ein Spieler, ein Schürzenjäger – und nun war er der Mann, den sie heiraten sollte!

Niemals in tausend Jahren hätte ihr Vater sie einem solchen Mann ausliefern wollen, doch er hatte beim Verfassen seines Testaments einen entscheidenden Fehler gemacht. Er hatte sich nur auf den Erben des Amberton-Besitzes bezogen, ohne einen Namen zu nennen – und der neue Erbe war Lance.

Sie weigerte sich, eine Ehe mit ihm überhaupt in Betracht zu ziehen. Er war vor ein paar Monaten als Kriegsinvalide nach Yorkshire zurückgekehrt: Kaum einen Monat nach dem Tod seines Bruders und seines Vaters war er durch eine Schusswunde am Bein verletzt worden, hatte sie gehört, obwohl er sich in Whitby nie hatte sehen lassen. Es hieß, dass er zu einem Einsiedler geworden war, der die Mauern von Amberton Castle niemals verließ.

Auch auf der Beerdigung ihres Vaters hatte er sich nicht blicken lassen, hatte weder Blumen noch eine Beileidskarte geschickt. Die einzige Nachricht war zwei Tage danach über Mr. Rowlinson gekommen – ein kurzer Brief, in dem er mitteilte, dass er die Abmachung ihrer Väter einzuhalten gedenke und sie in genau einer Woche, am 10. März 1867 um zehn Uhr morgens heiraten wolle.

Und so war sie davongelaufen. Er war der letzte Mann auf Erden, den sie hätte sehen, geschweige denn heiraten wollen, und dennoch befürchtete sie, dass sie es tun würde, wenn sie bliebe. Nachdem sie ihr Leben lang immer nur gehorcht hatte, wusste sie nicht recht, wie sie sich durchsetzen sollte, und Lance Amberton war ihr wie jemand vorgekommen, der immer genau das bekam, was er wollte. Und er wollte ihr Vermögen – dessen war sie sich sicher. Das war das einzig mögliche Motiv, warum er sie heiraten wollte.

Autor

Jenni Fletcher
<p>Jenni Fletcher wurde im Norden Schottlands geboren und lebt jetzt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Yorkshire. Schon als Kind wollte sie Autorin sein, doch ihr Lesehunger lenkte sie davon ab, und erst dreißig Jahre später kam sie endlich über ihren ersten Absatz hinaus. Sie hat Englisch in...
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