Wie ein Stern im Dunkel der Nacht

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Glamouröse Partys, betörende Frauen - nichts kann die Eiseskälte vertreiben, die den berühmten Architekten Lucas Jackson erfüllt, seit sein kleiner Sohn sterben musste. Gequält von Schuldgefühlen zieht er sich auf seinen einsamen Landsitz zurück. Da taucht überraschend seine Assistentin Emma auf. Ein Unwetter zwingt sie zum Bleiben - die ganze Nacht. Und während der Schneesturm draußen vor den Fenstern tobt, existieren für Lucas plötzlich nur noch Emmas schöne braune Augen, ihre sinnlichen zarten Lippen. Kann Emmas Wärme die Erstarrung in Lucas lösen?


  • Erscheinungstag 15.10.2013
  • Bandnummer 2097
  • ISBN / Artikelnummer 9783733700041
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Vor diesem Abend graute Lucas mehr als vor jedem anderen des Jahres.

Am Anfang hatte er versucht, sich abzulenken – mit wilden Partys, Frauen, Arbeit –, aber irgendwann festgestellt, dass der Schmerz blieb, ganz egal, was er tat. Er konzentrierte sich auf die Gegenwart, aber die Vergangenheit war nun einmal ein Teil von ihm. Es waren Erinnerungen, die nicht verblichen, eine Wunde, die nicht heilte, und ein Schmerz, der tief in seinem Innersten tobte.

Dem konnte er nicht entkommen, und deshalb verbrachte er diesen Abend immer an einem Ort, an dem er sich ganz allein ausgiebig betrinken konnte.

Er war von seinem Londoner Büro zu dem Landsitz in Oxfordshire gefahren, den er gerade restaurierte – nur um für sich zu sein. Ausnahmsweise einmal war sein Handy ausgeschaltet und würde es auch bleiben.

Schneeflocken wirbelten wie wild vor der Windschutzscheibe, sodass er kaum etwas sehen konnte. Zu beiden Seiten der Straße türmte sich der Schnee in hohen Verwehungen, die für unerfahrene, nervöse Autofahrer sicher tückisch waren. Lucas Jackson war weder unerfahren noch nervös, und seine Stimmung war noch unheilvoller als das Wetter.

Lucas biss die Zähne zusammen und versuchte, das Heulen des Windes auszublenden, das klang, als würde ein Kind weinen. Noch nie war er so froh gewesen, die zwei Steinlöwen zu erblicken, die beidseitig der Einfahrt zu seinem Anwesen thronten. Trotz des miserablen Wetters fuhr er mit hoher Geschwindigkeit die Auffahrt entlang, die durch einen ausgedehnten Park zum Hauptgebäude verlief.

Lucas passierte den zugefrorenen See, die Brücke, die über den Fluss führte, und dann erreichte er endlich Chigworth Castle. Eigentlich hätte ihn der Umstand, dass er so ein prachtvolles Anwesen besaß, mit Stolz und Zufriedenheit erfüllen müssen. Doch wie immer verspürte er beim Anblick des Schlosses nichts. Aber mittlerweile hatte er sich damit abgefunden, dass er nicht so empfand wie andere Menschen. Er hatte die emotionale Seite seiner Persönlichkeit verdrängt und war bisher nicht in der Lage, etwas anderes zuzulassen.

Immerhin fühlte er beim Anblick des imposanten Gebäudes, das sowohl dem Mathematiker als auch dem Architekten in ihm gefiel, eine gewisse distanzierte Wertschätzung. Proportionen und Aufbau waren nahezu vollkommen. Das Torhaus mit seinen Verzierungen wirkte elegant und vornehm. Und das Schloss selbst, mit den mächtigen Mauern und Zinnen, war beeindruckend und weckte nicht umsonst das Interesse von Historikern aus der ganzen Welt. Dass Lucas ein geschichtlich bedeutendes Bauwerk bewahrte, erfüllte ihn mit einem Anflug von beruflichem Stolz. Doch auf persönlicher, emotionaler Ebene empfand er nichts.

„Rache ist süß“ – dieses alte Sprichwort konnte Lucas nicht bestätigen. Und momentan interessierte ihn nicht einmal die historische Relevanz des Hauses, sondern nur dessen Abgelegenheit. Denn Kontakt zu anderen Menschen wollte er an diesem Abend um jeden Preis vermeiden. Einige der oberen Fenster waren erleuchtet, wie Lucas stirnrunzelnd feststellte. Eigentlich hatte er seinen Angestellten doch ausdrücklich freigegeben.

Er fuhr über die Brücke, die über den Festungsgraben gespannt war, und unter dem Rundbogen über der Einfahrt hindurch, dann kam sein Wagen schlitternd im Hof zum Stehen. Schnee stob in alle Richtungen. Wäre Lucas nicht so früh aufgebrochen, hätte er es womöglich gar nicht bis hierher geschafft. Seine Angestellten räumten zwar die Zufahrten auf dem Anwesen, doch der Weg hierher führte über gewundende kleine Landstraßen, die von den Behörden eher vernachlässigt wurden. Lucas dachte kurz an seine treue Assistentin Emma, die wieder bis spät im Büro geblieben war, um seine Reise nach Zubran vorzubereiten, einem reichen Ölstaat am Persischen Golf. Zum Glück wohnte sie in London und hatte es nicht weit bis nach Hause.

Lucas stieg aus, ging über den dichten Schneeteppich und stand kurz darauf in der dunklen Eingangshalle. Zu seiner Erleichterung begrüßte ihn weder die Haushälterin noch ein anderer Angestellter. Er war ganz allein.

„Überraschung!“, rief plötzlich ein ganzer Chor von Stimmen, und das Licht ging an. Geblendet blieb Lucas stehen.

„Alles Gute zu meinem Geburtstag!“ Mit schwingenden Hüften und einem listigen Lächeln auf dem wunderschönen Gesicht kam Tara auf ihn zu, griff an sein Revers und küsste ihn mit ihrem scharlachrot geschminkten Mund. „Ich weiß, du hast mir mein Geburtstagsgeschenk für nächste Woche versprochen, aber so lange kann ich nicht warten. Ich will es jetzt haben.“

Starr blickte Lucas in die weltbekannten blauen Augen des Models – und fühlte noch immer nichts. Langsam, aber nachdrücklich löste er ihre Hände von seinem Mantel. „Was, verdammt noch mal, tust du hier?“, fragte er leise.

„Meinen Geburtstag feiern.“ Seine nicht sonderlich begeisterte Reaktion rief Taras berüchtigtes Schmollen hervor. „Da du ja nicht zu meiner Party kommen wolltest, habe ich sie hierher verlegt. Deine Haushälterin hat uns reingelassen. Warum hast du mich eigentlich noch nie hierher eingeladen? Das Schloss ist einfach toll – wie eine Filmkulisse!“

Lucas blickte sich um und bemerkte, dass die prachtvolle Eingangshalle mit ihren alten Gemälden und Wandteppichen mit Luftschlangen und glitzernden Luftballons geschmückt war. Neben einer riesigen Geburtstagstorte stapelten sich bunt verpackte Geschenke, und die bereits geöffneten Champagnerflaschen wirkten auf ihn angesichts seiner düsteren Stimmung wie Hohn. Noch nie in seinem Leben war Lucas weniger zum Feiern zumute gewesen.

Sein erster Gedanke war, dass er seine Haushälterin feuern würde. Doch dann fiel ihm wieder ein, wie einschmeichelnd Tara sein konnte. Sie war sehr talentiert darin, Menschen zu manipulieren. Dass ihr das mit ihm nie gelungen war, frustrierte sie sehr.

„Ich habe dir doch gesagt, dass heute kein guter Tag für mich ist“, entgegnete er.

Tara zuckte nur die Schultern. „Ich weiß ja nicht, welche Laus dir über die Leber gelaufen ist, aber du vergisst es bestimmt, wenn du dir einen Drink genehmigt und ein bisschen getanzt hast. Dann gehen wir nach oben und …“

„Verschwinde“, befahl Lucas.

Ihre Freunde, die er nicht kannte und auch nicht kennenlernen wollte, verstummten entsetzt. Tara mit ihrem unerschütterlichen Ego erwiderte jedoch lächelnd: „Lucas, sei nicht albern, das meinst du doch nicht ernst.“

„Verschwinde“, wiederholte er. „Und vergiss deine Freunde nicht.“

Ihre Augen nahmen einen harten Ausdruck an. „Wir sind mit einem Reisebus gekommen, und der Fahrer ist erst für ein Uhr bestellt.“

„Sieh dir doch mal das Schneetreiben an. Um ein Uhr fährt hier in der Gegend nichts mehr. Der Bus sollte besser innerhalb der nächsten zehn Minuten eintreffen, sonst werdet ihr hier eingeschneit. Und ich kann dir versichern: Das wollt ihr ganz bestimmt nicht.“

Ob es an seinem kalten Ton lag oder an seinem drohenden Gesichtsausdruck, wusste Lucas nicht. Doch zumindest schien Tara langsam zu begreifen, dass er es ernst meinte. Ihr wunderschönes Gesicht, das schon unzählige Titelblätter geziert hatte, war vor Wut und Demütigung verzerrt. Als sie ihn mit ihren Katzenaugen ansah, war ihr makelloser Teint fast so weiß wie der Schnee, der draußen alles zudeckte.

„Wie du willst“, erwiderte sie. „Dann feiern wir eben woanders und lassen dich mit deiner grässlichen Stimmung allein. Jetzt weiß ich auch, warum deine Beziehungen immer scheitern. Du hast zwar sowohl Geld als auch einen scharfen Verstand und bist ein guter Liebhaber, Lucas Jackson. Aber ein Herz hast du nicht.“

Lucas hätte ihr die Wahrheit sagen können: nämlich dass sein Herz so tief verletzt worden war, dass er nie darüber hinwegkommen würde. Er hätte Tara erklären können, dass die Zeit nicht alle Wunden heilte und er der beste Beweis dafür war. Und er hätte ihr anvertrauen können, wie erleichtert er darüber war. Denn einem bereits gebrochenen Herzen konnte niemand mehr etwas anhaben.

Ja, das alles hätte er Tara erzählen können, doch das hätte weder ihr noch ihm etwas gebracht. Also ging er einfach an ihr vorbei zu der breiten Eichentreppe, die von der Mitte der Eingangshalle nach oben führte. Heute bereitete ihm der Anblick der perfekten Proportionen keinen Genuss – die Treppe war lediglich ein Fluchtweg für ihn, weg von den Menschen, die in sein Allerheiligstes vorgedrungen waren. Ohne sich zu verabschieden, eilte Lucas in sein Schlafzimmer, von dem aus man auf den Festungsgraben blickte.

Es war ihm egal, dass er die Gäste vor den Kopf gestoßen hatte – und dass er wieder einmal eine Beziehung beendet hatte. Wichtig war nur, dass er diesen Abend und die Nacht irgendwie überstand.

Er war ein kaltherziger, von Ehrgeiz getriebener Workaholic.

Normalerweise war Emma sehr geduldig, doch als sie sich nun bemühte, den Wagen auf der Straße zu halten, war nichts davon zu spüren. Es war Freitagabend, und eigentlich hätte sie es sich zu Hause mit Jamie gemütlich machen sollen. Stattdessen fuhr sie ihrem Chef quer durch die englische Landschaft hinterher. Nach der vergangenen Woche war das wirklich das Letzte, was sie jetzt brauchte. Ich habe schließlich ein Privatleben! dachte Emma aufgebracht. Zumindest hätte sie eins, wenn ihr Chef wüsste, dass es ein Dasein außerhalb der Arbeit gab.

Lucas Jackson hatte keine emotionalen Bindungen und war ganz offensichtlich der Meinung, dass seine Angestellten auch keine haben sollten. Er interessierte sich nicht für Emma als Mensch, sondern nur für ihre Arbeitsleistung. Es hatte auch keinen Sinn, ihm zu erklären, wie sie empfand, denn Gefühle waren ihm völlig fremd. Ja, Lucas Jacksons Leben hatte mit ihrem absolut nichts gemeinsam. Wenn Emma auf ihren Parkplatz im Schatten des markanten Glasbaus fuhr, in dem das weltberühmte Architekturbüro Jackson & Partners seinen Sitz hatte, kam es ihr manchmal vor, als sei sie auf einem anderen Planeten gelandet. Das futuristische Gebäude, das Nonplusultra an hochmodernem Design und Energieeffizienz, nutzte Tageslicht und natürliche Belüftung optimal. Vor allem aber war es ein Symbol für die kreativen Visionen und die Genialität eines Mannes: Lucas Jackson.

Doch Voraussetzung für kreative Visionen und Genialität war, dass man sich ganz auf eine einzige Sache konzentrierte. Und die Folge war nun einmal ein getriebener, schwieriger Mensch. Eher Maschine als Mensch, dachte Emma düster und versuchte, durch das dichte Schneetreiben die Straße zu sehen, um nicht im Graben zu landen. Als sie zwei Jahre zuvor angefangen hatte, für Lucas Jackson zu arbeiten, hatte es ihr nichts ausgemacht, dass sie nie über Persönliches sprachen. Das wollte sie bei der Arbeit ohnehin nicht. Und eins würde ihr niemals passieren: dass sie sich in ihren Chef verliebte. Aber in ihren Job hatte sie sich verliebt. Die Arbeit war spannend, interessant und Lucas der perfekte Arbeitgeber. Dabei hatte sein Ruf sie so nervös gemacht, dass sie sich um ein Haar nicht einmal um die Stelle beworben hätte.

Entgegen ihrer Befürchtungen hatte er sich als äußerst professionell, intelligent und großzügig in Bezug auf ihr Gehalt entpuppt. Emma fand es aufregend, für ein Unternehmen zu arbeiten, das einige der bekanntesten Gebäude der letzten Jahre entworfen hatte. Kein Zweifel: Lucas Jackson war wirklich ein Genie.

Die Kehrseite der Medaille: Er konzentrierte sich so ausschließlich auf seine Arbeit, dass alles andere in den Hintergrund trat. Die vergangene Woche war dafür ein gutes Beispiel. Die Eröffnung des Ferrara Spa Resorts in Zubran stand bevor, ein innovatives Ökohotel am warmen Persischen Golf. Deshalb hatte Emma noch mehr als sonst gearbeitet, Unmengen Kaffee getrunken und bis in die Nacht hinein geschuftet, um wichtige Dinge fertig zu bekommen. Eigentlich schlief sie um zwei gerne, und zwar nicht an ihrem Schreibtisch, aber sie hatte sich nicht beschwert.

Allein der Gedanke an Freitag hatte es ihr möglich gemacht, durchzuhalten. Da fing nämlich ihr Urlaub an: Emma nahm sich jedes Jahr über die Feiertage zwei Wochen frei. Und diese Zeit hatte sie sich immer wieder vorgestellt, wie ein Marathonläufer die Ziellinie – das Licht am Ende des Tunnels.

Dann hatte es angefangen zu schneien und nicht mehr aufgehört, bis London am Freitag fast menschenleer war. Vom Büro­fenster aus sah Emma, wie einige Kollegen früher Feierabend machten und über die dicke Schneeschicht zu ihren Autos schlitterten. Als Assistentin von Lucas konnte sie anderen Mitarbeitern dieses Privileg gewähren, und schließlich waren er und sie die einzigen Personen im Gebäude.

Der wie immer hochkonzentrierte Lucas schien ihre Bemerkung, dass die dichten Flocken London langsam in eine Schneewüste verwandelten, gar nicht zu hören. Als sie dann, lange nachdem er aufgebrochen war, das Büro verlassen wollte, bemerkte sie den Ordner auf seinem Schreibtisch. Er enthielt wichtige Unterlagen für Lucas’ Reise nach Zubran sowie Papiere, die er noch unterschreiben musste. Er würde per Hubschrauber von seinem Landwohnsitz abgeholt werden und nicht noch einmal ins Büro zurückkommen.

Emma konnte nicht fassen, dass er die Unterlagen liegengelassen hatte. Er vergaß nie irgendetwas, sondern war der am besten organisierte Mensch, für den sie je gearbeitet hatte. Und ausgerechnet an diesem schneesturmumtosten Tag musste so etwas passieren.

Emma versuchte, ihn anzurufen, solange er noch in London unterwegs war, erreichte jedoch nur seine Mailbox. Wahrscheinlich telefonierte er ununterbrochen. Lucas schien sein ganzes Leben mit Telefonieren zu verbringen. Sie hätte natürlich einen Kurier beauftragen können, scheute sich jedoch, die wichtigen Unterlagen jemandem anzuvertrauen. Vielleicht war das übertrieben, aber sollte der Ordner verloren gehen, dann wäre sie ihren Job losgewesen.

Emma spähte durch die Windschutzscheibe ins Schneetreiben. Anstrengende Aufgaben machten ihr nichts aus, doch sie hatte einen Grundsatz: Am Wochenende wollte sie auf keinen Fall arbeiten. Und aus irgendeinem Grund – vielleicht wegen ihrer Referenzen, wegen ihres ruhigen Auftretens oder weil er vor ihr beinahe monatlich eine neue Assistentin hatte einstellen müssen – hatte Lucas Jackson diese Bedingung akzeptiert, allerdings auch eine ironische Bemerkung über ihr „wildes Privatleben“ gemacht.

Hätte er auch nur das geringste Interesse an Emma als Mensch gehabt, wäre ihm schnell klargeworden, dass für „wilde“ Dinge in ihrem Leben kein Raum war. Manchmal sah sie sich in Lifestyle-Magazinen, die ihre Schwester gelegentlich kaufte, Fotos von Promipartys an. Selbst ging sie jedoch kaum feiern. Ebenso wenig ahnte Lucas, dass nach dieser aufreibenden Arbeitswoche ein perfektes Wochenende für sie darin bestand, auszuschlafen und Zeit mit Jamie zu verbringen. Doch das alles wusste er nicht, weil er sie nie nach privaten Dingen fragte.

Emma bedachte den Ordner auf dem Beifahrersitz mit einem bösen Blick, aber sie hatte keine Wahl. Niemand sollte ihr vorwerfen können, sie würde ihre Arbeit nicht gewissenhaft erledigen.

Seit Jahren hatte kein Ereignis so viel Aufmerksamkeit erregt wie die Eröffnung des ökologisch gestalteten Ferrara Spa Resorts. Zur Einweihungsfeier würde alles kommen, was Rang und Namen hatte. Bei ihren telefonischen Besprechungen mit Avery Scott, der Besitzerin von Dance and Dine, war Emma ganz wehmütig geworden. Ihr Unternehmen organisierte die gesamte Party, und sie hatte ihr verraten, dass die internationalen prominenten Gäste bei Jahrgangschampagner in einem Festzelt feiern würden, das einem Beduinenzelt nachempfunden war. Dann würde es ein für Zubran typisches Bankett unter dem Sternenhimmel geben, und im Anschluss konnten die Gäste einen eigens erbauten „Suq“ – eine Art arabischer Markt – erkunden, der mit landestypischen Spezialitäten und verschiedenen Attraktionen lockte. Um Zubran als spannendes Urlaubsziel zu präsentieren, würden Bauchtänzerinnen, Wahrsagerinnen und Falkner auftreten, bevor der Abend mit dem spektakulärsten Feuerwerk aller Zeiten zu Ende ginge.

So wie ich hat sich bestimmt Aschenputtel gefühlt, als man ihr gesagt hat, dass sie nicht zum Ball darf, dachte Emma niedergeschlagen. Sie zitterte, weil ihre Autoheizung sehr schwach war, und zog ihren Mantel enger um sich. Dann gestand sie sich zu, einen Moment lang von Sonnenschein und Palmen zu träumen und die Frauen zu beneiden, die auf der Gästeliste standen, wahrscheinlich gerade ihre Koffer packten und bei der Feier nur eins tun mussten: elegant und glamourös aussehen.

Auch ohne in den Spiegel zu schauen, wusste Emma, dass sie ganz und gar nicht glamourös wirkte. Sie sah genauso erschöpft aus, wie sie sich fühlte. Und im Gegensatz zu den Promis würde sie einfach froh sein, wenn sie vor Mitternacht ins Bett kam. Wenn es allerdings so weiterschneite, mussten sie und Jamie die kostbaren freien Tage drinnen verbringen …

Während sie sich erneut bemühte, den Wagen auf der vereisten Straße zu halten, klingelte ihr Telefon. Emma hoffte, es sei Lucas, der sich endlich auf eine der diversen Nachrichten meldete, die sie ihm hinterlassen hatte. Aber es war Jamie – natürlich! Schließlich erwartete er sie ja schon seit über einer Stunde.

„Wo bist du denn, Emma?“, fragte er besorgt, und sofort hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie sich gewünscht hatte, zu der Einweihungsfeier nach Zubran reisen zu können.

Weil die Straßenverhältnisse so gefährlich waren, fuhr sie zum Telefonieren an den Rand. „Ich musste länger arbeiten, entschuldige bitte. Ich habe dir aber eine Nachricht hinterlassen.“

„Wann kommst du denn?“

„Hoffentlich bald“, erwiderte Emma und beäugte skeptisch das Schneetreiben. „Aber bleib lieber nicht meinetwegen wach.“

Er sagte nichts, aber sie wusste, dass er aufgebracht war. Sein Schweigen steigerte ihre Schuldgefühle nur noch. Während Jamie in Sorge gewesen war, hatte sie sich ausgemalt, was für ein Kleid sie zur prachtvollsten Feier des Jahrzehnts anziehen würde. „Wir werden noch das ganze Wochenende und die nächsten zwei Wochen Zeit füreinander haben“, versuchte sie ihn zu beschwichtigen. Als er noch immer nichts sagte, fuhr sie seufzend fort: „Ach, Jamie, sei bitte nicht traurig. Du weißt ja, dass ich am Wochenende normalerweise immer freihabe, aber das heute ist ein Notfall. Lucas hat sehr wichtige Unterlagen im Büro vergessen, die ich ihm jetzt bringen muss.“

Als Emma schließlich auflegte, verfluchte sie Lucas Jackson mit Ausdrücken, die sie sonst niemals in den Mund nahm. Warum hatte er die dämlichen Unterlagen nur vergessen? Und warum war er nicht ans Telefon gegangen, als sie ihn angerufen hatte? Dann hätten sie sich auf halber Strecke treffen können.

Emma wusste, sie würde sich erst beruhigen, wenn sie den Ordner abgeliefert hätte und nach Hause fahren könnte. Ihr Kopf schmerzte, und sie sehnte sich danach, sich ins Bett zu kuscheln.

Aber immerhin konnten sie und Jamie die gesamten zwei Wochen der Weihnachtsferien zusammen verbringen – während ihr erfolgreicher, ehrgeiziger Chef in Zubran Geschäftstermine mit dem Sultan wahrnehmen und mit Promis unter dem Sternenhimmel feiern würde. Ich bin nicht neidisch, dachte Emma entschlossen. Kein bisschen.

Inzwischen konnte sie kaum noch etwas sehen und hatte sich schon zweimal verfahren. Auch ihr Navigationsgerät war heillos überfordert. Nachdem sie gefühlt im Schritttempo eine verschneite Straße entlanggefahren war, erreichte sie endlich die Zufahrt zu Chigworth Castle.

Zwei Steinlöwen schienen sie von links und rechts der offenen Tore anzufauchen. Emma warf ihnen einen düsteren Blick zu. Das Anwesen wirkte ungefähr so freundlich und herzlich wie sein Besitzer … Als sie die Auffahrt entlangschlitterte, pochte der Schmerz in ihren Schläfen wie verrückt. Ich bin schon wieder falsch, dachte sie verzweifelt, weil sie einfach kein Haus entdecken konnte. Oder konnte ein einzelner Mensch tatsächlich so viel Land besitzen?

Sie sah einen Park, einen See und dann eine Brücke, über die sie mit durchdrehenden Reifen fuhr. Und da war es: ein von einem Graben umgebenes kleines Schloss, dessen hohe, wunderschöne Fenster und sandfarbene Steinmauern in warmes Flutlicht getaucht wurden.

„Es hat sogar Zinnen“, flüsterte Emma.

An den Zinnen hing Schnee, und aus einem Schornstein stieg Rauch in die kalte Luft. Im Turm an einer Ecke des Baus war ein Fenster erleuchtet. Sprachlos betrachtete Emma das Anwesen. Nie im Leben hätte sie vermutet, dass Lucas Jackson so etwas besaß. Er war berühmt für seine hochmodernen Entwürfe. Und jetzt das – ein imposantes, wunderschönes und sicher historisch bedeutendes Gebäude. Ein kleines, aber vollkommenes Schloss.

Klein? Emma lachte ironisch. „Klein“ war wohl eher die Bezeichnung für ihre Bleibe in einer ziemlich heruntergekommenen Gegend Londons. Von dem winzigen Zimmer aus blickte sie auf eine Bahnlinie, und jeden Morgen um fünf Uhr wurde sie von den Flugzeugen geweckt, die von Heathrow abhoben. Nicht gerade idyllisch.

Etwas Idyllischeres als das Schloss konnte sie sich dagegen kaum vorstellen. So viel Platz, ein riesiger Park unter einer Schneedecke, in dem sicher im Sommer unzählige Glockenblumen blühten. Es war einfach perfekt – so perfekt, dass sie fast geweint hätte.

Stimmt doch gar nicht, ermahnte Emma sich, es ist viel zu abgelegen. Sie fuhr weiter über die kleine Brücke, über die man auf die andere Seite des Burggrabens gelangte. Nirgendwo war ein Mensch zu sehen.

Dann entdeckte sie durch den Torbogen Lucas’ schnittigen Sportwagen, der schon fast eingeschneit war. Er war also hier, auch wenn er nicht ans Telefon ging.

Erleichtert darüber, dass auch sie heil angekommen war, blieb Emma kurz im Wagen sitzen, bis ihr Herz wieder langsamer schlug. Dann nahm sie den leidigen Ordner und stellte den Motor aus. Nur zwei Minuten, beschloss sie. Sobald sie die Unterlagen abgegeben hatte, würde sie sich auf den Heimweg machen.

Schon beim Aussteigen rutschte sie aus und stieß sich, weil sie den Ordner zu schützen versuchte, Ellenbogen und Kopf. Einen kurzen Moment lag sie ganz benommen da, dann stand sie vorsichtig auf und ging, verärgert und nass, in Richtung Eingang.

Heftig drückte Emma minutenlang auf die Klingel. Diese kleine Rebellion tröstete sie ein wenig, aber niemand öffnete. Als ihr geschmolzener Schnee aus den Haaren in den Kragen rann, schauderte sie und klingelte erneut. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass jede Menge Personal im Haus war und sofort öffnen würde.

Als sich auch beim dritten Klingeln nichts tat, versuchte sie ohne wenig Hoffnung, die Tür zu öffnen. Zu ihrer Überraschung gelang es ihr sofort. Zögernd blieb Emma auf der Schwelle stehen. Normalerweise betrat sie nicht einfach so fremde Häuser. Andererseits hatte sie keine Lust, die Unterlagen wieder zurück ins Büro zu bringen.

„Hallo?“ Vorsichtig steckte sie den Kopf zur Tür herein – in der Erwartung, einen Alarm auszulösen. Als nichts geschah, trat sie in die Eingangshalle. Dunkle Holzvertäfelung, Wandteppiche, großformatige Ölgemälde und eine riesige Treppe hätten wohl in jeder Frau die Sehnsucht nach Rhett Butler geweckt, der herbeieilen und sie mit seinen starken Armen umfangen würde.

„Hallo?“, sagte Emma noch einmal und schloss die Tür, damit nicht die ganze Wärme entweichen würde. Was es wohl kosten mochte, so ein riesiges Gebäude zu beheizen? Sie bemerkte offene Champagnerflaschen, Ballons, Luftschlangen und eine Torte, mit der irgendetwas nicht stimmte. Offenbar wurde hier gefeiert. Allerdings waren keine Gäste zu sehen, und es herrschte eine Stille, die schon fast unheimlich wirkte. Fast rechnete Emma damit, dass jemand hinter den schweren Samtvorhängen hervorsprang, um sie zu erschrecken.

Als ihr unbehaglich zumute wurde, ermahnte sie sich streng: Du meine Güte, es ist doch nur ein Haus. Und alleine war sie sicher auch nicht. Lucas musste hier irgendwo sein, vermutlich mit einer ganzen Horde Gäste, nach der Anzahl der Champagnerflaschen zu urteilen.

Emma ging zu einer großen Tür, öffnete sie und sah eine Bibliothek. An allen Wänden standen hohe Bücherregale voller alter, in Leder gebundener Werke. Vorsichtig lugte sie in alle Räume im Erdgeschoss und ging dann die Treppe hinauf. Ich kann doch nicht das ganze Haus nach ihm absuchen, dachte sie. Da fiel ihr wieder ein, dass sie Licht in einem Turmfenster gesehen hatte. Sie versuchte, ungefähr die richtige Richtung anzusteuern, und lief einen langen, mit Teppich ausgelegten Flur entlang, bis sie vor einer schweren Eichentür stand.

Emma klopfte einmal und öffnete dann die Tür. Dahinter befand sich eine Wendeltreppe. Oben angekommen, stand Emma in einem großen runden Zimmer mit Fenstern zu allen Seiten und einem riesigen Kamin, in dem ein Feuer brannte. Aus dem Augenwinkel sah sie ein Himmelbett mit moosgrünen Samtbehängen. Doch ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf das niedrige Ledersofa. Denn auf dem lag, die Füße auf der Armlehne und eine Flasche Champagner in der Hand, ihr Chef.

„Lucas?“

„Ich sagte doch, du sollst verschwinden.“

Sein Ton war so scharf, dass Emma zurückwich. In den Jahren, die sie schon für ihn arbeitete, hatte er nicht ein einziges Mal so mit ihr gesprochen.

Schon nach nur einem Blick wusste sie, dass er sturzbetrunken war. Das überraschte Emma, denn sie hatte es sehr selten erlebt, dass Lucas die Beherrschung verlor oder sich gehen ließ. Dennoch war sie gekränkt. Immerhin war ihr der Freitagabend verdorben worden, während er sich offenbar prächtig amüsiert hatte. Sein Telefon war nicht aufgrund wichtiger geschäftlicher Anrufe besetzt gewesen, sondern er hatte es ausgeschaltet, um sich hier im Warmen in aller Ruhe zu betrinken. Sie dagegen hatte auf den vereisten Landstraßen Kopf und Kragen riskiert. Und jetzt besaß er auch noch die Frechheit, sie hinauswerfen zu wollen. Emma, die sich normalerweise nicht schnell ärgerte, spürte heiße Wut in sich aufsteigen.

Sie wollte schon die Unterlagen auf den Tisch knallen und ihn dann seine Ein-Mann-Party weiterfeiern lassen, als ihr ein Gedanke kam. Lucas hatte sie eben geduzt, und das tat er normalerweise nicht. Wahrscheinlich verwechselte er sie mit jemand anders. Nun musste sie an die Ballons, die Champagnerflaschen und die Torte denken.

„Lucas, ich bin es: Emma“, sagte sie langsam und deutlich.

Als er mühsam die Augen öffnete, sah sie darin ein unheilvolles Glimmen – ein eindeutiger Hinweis auf seine Stimmung. Aus irgendeinem Grund hatte Emma das Gefühl, Lucas habe sie berührt, obwohl sie gar nicht in seiner Nähe war. Ihr wurde warm.

So hatte sie ihn noch nie erlebt. Normalerweise war Lucas immer sehr gepflegt, elegant und sorgfältig gekleidet. Er trug handgenähte italienische Anzüge und maßgeschneiderte Hemden, gab sich in jeder Hinsicht nur mit dem Besten zufrieden und kannte sich mit sämtlichen schönen Dingen des Lebens aus. Doch heute Abend war alles anders. Er wirkte geradezu bedrohlich. Das hatte nicht nur mit seiner Stimmung zu tun, sondern auch mit seiner äußeren Erscheinung. Sein Hemdkragen stand offen und zeigte seinen muskulösen Oberkörper mit den schwarzen Härchen. Ein dunkler Schatten war auf seinem Kinn zu sehen. Doch am meisten beunruhigte sie, dass er kurz davor war, die Kontrolle über sich zu verlieren.

Emma reagierte so, wie sie es auch bei einem gefährlich knurrenden Rottweiler getan hätte: Sie blieb wie erstarrt stehen und versuchte, ruhig zu wirken. „Ich bin es doch, Emma“, wiederholte sie beschwichtigend. „Sie scheinen zu glauben, ich … ähm, ich sei jemand anders.“

Das unerträglich lange Schweigen, das nun eintrat, zerrte an ihren Nerven. Dann endlich bewegte Lucas sich leicht und fragte: „Emma?“ Seine Stimme hatte eine tödliche Sanftheit und beruhigte sie nicht im Geringsten.

Als ihr auffiel, dass ihre Hände zitterten, ermahnte Emma sich verärgert: Es ist doch nur Lucas. Sie kannte ihn seit zwei Jahren und wusste, dass er ziemlich hart war, aber weder bösartig noch gewalttätig. „Ja, ich bin es. Ich versuche schon seit Stunden, Sie zu erreichen. Warum gehen Sie denn nicht ans Telefon?“

„Wer, verdammt noch mal, hat Sie hier reingelassen?“

„Niemand. Ich habe geklingelt, aber keiner machte auf. Und da bin ich …“ Sie verstummte.

„Verstehe. Da sind Sie eben einfach so in mein Haus spaziert. Sagen Sie mal, Rotkäppchen, schlendern Sie öfter so durch den Wald, wenn der Wolf auf Beutefang ist?“

Autor

Sarah Morgan
<p>Sarah Morgan ist eine gefeierte Bestsellerautorin mit mehr als 21 Millionen verkauften Büchern weltweit. Ihre humorvollen, warmherzigen Liebes- und Frauenromane haben Fans auf der ganzen Welt. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von London, wo der Regen sie regelmäßig davon abhält, ihren Schreibplatz zu verlassen.</p>
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