Zuckerguss und Weihnachtskuss

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Samanthas Gebäck ist bis über die Stadtgrenzen ihres beschaulichen Heimatortes Riverbend hinaus bekannt. Der New Yorker Journalist Flynn McGranger betrachtet die Lobeshymnen eher kritisch. Bis er einen Kuss der süßen Zuckerbäckerin kostet ...


  • Erscheinungstag 27.11.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733715052
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Flynn McGranger hasste Riverbend von dem Moment an, als sein Wagen an der einzigen Ampelkreuzung den Geist aufgab. Weihnachtsgirlanden aus Kiefernzweigen mit roten Schleifen daran schmückten den Ort. Die ganze mit Schnee bestäubte Kleinstadt in Indiana wirkte wie aus einem Film.

Menschen mit hübsch verpackten Geschenken liefen hin und her, und die Schaufenster waren weihnachtlich dekoriert. Sogar die Schneeflocken fielen so langsam und gleichmäßig, als würde ein Filmtechniker sie mit einer riesigen Streudose aus den Wolken herabrieseln lassen.

Na gut, hassen war vielleicht übertrieben ausgedrückt. Aber Flynn wollte nicht hier sein – vor allem, weil ihm dieser Auftrag aufgezwungen worden war.

Der Chefredakteur vom Magazin „Food Lovers“ hatte ihm die Story zugewiesen: Von allen Mitarbeitern konnte Flynn am besten einen einzigartig scharfen, treffenden Artikel über die kleine Bäckerei schreiben, meinte sein Chef. Und in dieser Bäckerei wurden angeblich Kekse verkauft, die Menschen dazu brachten, sich zu verlieben. Also hockte Flynn jetzt kurz vor Weihnachten am Ende der Welt, um noch einen von den Artikeln zu verfassen, die ihn berühmt gemacht hatten.

Finster starrte er vor sich hin. Er konnte sich nicht beklagen. Mit diesen Beiträgen verdiente er sehr viel Geld. Und nach dem kleinen Fiasko im Juni musste er seine Spitzenposition unter den Autoren wieder zurückerobern. Dafür würde er tun, was er immer tat: sich einschmeicheln und an die Arbeit gehen.

Wenn der Job erledigt war, konnte er zurück nach Boston fahren, zurück zu Mimi, zurück in die Zivilisation. Davon war dieses Bilderbuchstädtchen so weit entfernt wie der Mars von der Erde. Nicht, dass Flynn etwas gegen malerische Orte hatte. Doch er lebte nun mal in der Welt der iPods und E-Mails. In Riverbend hielt man Bluetooth wahrscheinlich für eine Zahnkrankheit.

Und da stand er nun, vor der Bäckerei „Joyful Creations“.

Tja, dann viel Spaß.

Flynn schob sein Auto an den Straßenrand, schnappte sich sein Notizbuch und überquerte die Straße. Die Menschenmenge vor der Bäckerei versperrte ihm die Sicht auf das Schaufenster. Trotzdem erkannte er, dass auch dieses nicht verschont geblieben war: Drei beleuchtete Adventskränze hingen im Fenster. Einer davon bildete das erste O im Namen des Geschäfts.

„Furchtbar kitschig“, murmelte Flynn.

Er umging die Schlange, die von der Ladentür bis zur Ecke Larch Street reichte. Viele Paare standen vor der vermeintlichen Liebesquelle an.

Das Bordmagazin einer Fluggesellschaft hatte die Geschichte zuerst gebracht und damit zweifellos einen Boom ausgelöst. Bis Flynns Artikel am Valentinstag in der neusten Ausgabe von „Food Lovers“ erschien, würde der Laden von Liebeskranken überrannt werden. Flynn hoffte, dass die Besitzerin auf den Ansturm vorbereitet war. Aus eigener Erfahrung wusste er, dass ein allzu schneller Erfolg durchaus so zerstörerisch wirken konnte wie ein plötzlicher beruflicher Absturz.

Flynn schob sich an einer Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm vorbei und betrat den Laden. Ein Schwall warmer Luft und Weihnachtsmusik empfingen ihn. Es duftete nach frisch gebackenem Brot, Vanille, Zimt und Himbeeren.

„He, nicht vordrängeln!“, schimpfte die Frau.

„Ich will nichts kaufen“, erwiderte er und ging weiter. Reingehen, die Story beschaffen, wieder raus. Hoffentlich war er wieder in Boston, bevor Mimi merkte, dass er weg war. Falls Mimi seine Abwesenheit überhaupt bemerken würde.

„Warum sollten Sie sich durchs Gedränge kämpfen, wenn Sie nichts kaufen wollen?“, fragte die Frau.

„Wegen …“, antwortete Flynn und wandte sich dem Tresen zu. Dahinter nahmen zwei Frauen die Bestellungen auf. Die eine war grauhaarig und zierlich, die andere groß und blond. Die kurvenreiche Figur der Blondine bewies, dass sie sich nicht ständig den Kopf darüber zerbrach, ob sie ein oder zwei Salatblätter essen durfte.

Wow! Das Bordmagazin hatte kein Foto von Samantha Barnett gebracht, nur eines von den Keksen. Doch zweifellos war sie die Besitzerin, die der Verfasser des Artikels als energisch, freundlich, jung beschrieben hatte.

„… ihr“, fügte Flynn schließlich hinzu.

„Sam? Dann viel Glück.“ Die Frau mit dem Kleinkind lachte.

Es erforderte das Navigationsgeschick eines Flottenadmirals, um sich bis zum Glastresen voranzuarbeiten. In einiger Entfernung zu den Kunden stellte Flynn sich an die Theke und fragte: „Sind Sie Samantha Barnett?“

Die Blondine blickte auf. Ein paar Strähnen hatten sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst. Sie hatte wenig Make-up aufgelegt, nur etwas rotes Lipgloss und einen Hauch Mascara. Eine lange weiße Schürze, auf der in roten Buchstaben Joyful Creations stand, schmiegte sich an ihren Körper. Darunter trug sie einen weichen grünen Pullover mit V-Ausschnitt und schwarze Jeans.

„Tut mir leid, Sir, aber Sie müssen sich hinten anstellen.“

„Ich will nichts kaufen.“

Nun hörte sie auf, eine weiße Schachtel mit Keksen in Rentierform zu füllen. „Sondern?“

„Ich möchte einfach mit Ihnen reden.“

„Das ist gerade ganz schlecht.“ Sie lachte. „Ich habe ziemlich viel zu tun.“

„Tja, ich muss einen Termin einhalten.“ Flynn zückte eine Visitenkarte und schob sie über den Tresen. „Flynn McGranger von ‚Food Lovers‘. Vielleicht kennen Sie unser Magazin?“

Ihr Gesicht hellte sich auf. Jeder kannte „Food Lovers“. Es war die Zeitschrift über die Lebensmittelindustrie: Sie wurde in sämtlichen Supermärkten und Buchhandlungen verkauft und hatte landesweit dreißig Millionen Leser. In dem Heft erwähnt zu werden war gleichbedeutend mit der Hauptrolle in einem Film.

Selbst wenn sich der Schwerpunkt verschoben hatte, seit Tony Reynolds vor einem Jahr Chefredakteur geworden war. Er wollte die Story hinter der Story, den Klatsch über jeden Küchenchef, jedes Restaurant und Lebensmittelunternehmen: Tony hatte dem Magazin den Anstrich einer Boulevardzeitung verpasst, dadurch allerdings auch die Zahl der Leser innerhalb von wenigen Monaten verdreifacht.

Zuerst hatte Flynn nichts dagegen gehabt, Tonys Forderungen zu erfüllen. Doch immer öfter hatte Flynn für seine Artikel die Privatsphäre der Leute verletzen müssen. Da hatte ihn sein Job zu nerven begonnen. Mehr als einmal hatte er an Kündigung gedacht.

„Wow!“, staunte Samantha Barnett, die der Ruf von „Food Lovers“ offensichtlich nicht störte. „Sie wollen mit mir sprechen? Worüber?“

„Ihre Bäckerei. Was ‚Joyful Creations‘ zu etwas Besonderem macht …“ Während Flynn rasch seine einleitenden Worte abspulte, unterdrückte er mühsam seine Ungeduld. Zwar war dies sein vierhundertstes Interview, aber vermutlich Samantha Barnetts erstes.

Flynn konnte die Fragen stellen, ohne sie sich vorher notiert zu haben. Verdammt, er konnte ihre Antworten aufschreiben, ohne sie überhaupt zu interviewen! Sie hatte eine Bäckerei, weil sie Menschen und Essen liebte. Die Kunden waren das Schönste daran, ein Geschäft in einer Kleinstadt zu führen. Bla, bla, bla.

„So ungefähr wird es ablaufen, Miss Barnett“, beendete Flynn seine beschönigende Erklärung, wie der Artikel entstehen würde.

Die Bäckereibesitzerin nickte. „Klingt großartig.“

„Sam? Ich muss wirklich meine Bestellung abholen“, warf eine Frau ein. „Meine Vorschulkinder warten auf ihre Portion Zucker.“

Sofort konzentrierte sich Samantha Barnett auf ihre Kundin. „Oh, sicher, Rachel. Entschuldige. Zwei Dutzend, richtig?“

Die zierliche Brünette lachte. „Und einen für die Lehrerin.“

„Natürlich.“ Lächelnd legte Samantha den letzten Rentierkeks in die Schachtel, band ein schmales rotes Band darum und reichte sie über den Tresen. „Hier.“

„Würden Sie es bitte auf meine Rechnung setzen?“

Samantha winkte ab. „Das ist ein Weihnachtsgeschenk für die Kleinen.“

Nicht gerade geschäftstüchtig, einfach auf die Einnahmen zu verzichten, dachte Flynn. Er behielt es jedoch für sich, denn schließlich war er nicht ihr Finanzberater. „Das Interview, Miss Barnett?“

Die Leute in der Schlange stöhnten auf. Samantha strich sich den Pony aus der Stirn. „Können wir uns später treffen? Nach Ladenschluss? Im Moment habe ich zu viel zu tun.“

Sie hatte doch eine Hilfe! Außerdem wollte Flynn noch woandershin, bevor er die lange Fahrt zurück nach Boston antrat. Er hatte nicht ewig Zeit. „Und ich habe meinen Abgabetermin.“

Die nächste Person war auf den freien Platz vorgerückt: ein großer älterer Mann, der eine Blousonjacke und eine Flanellmütze mit Ohrenklappen trug. Er stützte sich auf den Tresen und lehnte sich über die Auslage, als wollte er dort ein bis zwei Stunden stehen bleiben.

„Hallo Samantha. Ich habe von diesem Artikel in dem Bordmagazin gehört. Herzlichen Glückwunsch. Sie haben unsere Stadt bekannt gemacht.“ Er beugte sich vor und flüsterte verschwörerisch hinter vorgehaltener Hand: „Ich weiß nur nicht, ob ich all die Touristen hier haben will. Sie verstopfen die Straßen.“

Samantha lachte. „Danke, Earl. Tut mir leid, dass ich gegen den Verkehr nichts ausrichten kann. Abgesehen davon, die Kunden so schnell wie möglich zu bedienen.“ Sie warf Flynn einen Blick zu.

„Geben Sie mir mein Interview, Miss Barnett, und ich werde Ihnen nicht länger im Weg sein.“

„Lassen Sie mir ein paar Stunden Zeit, und Sie bekommen von mir alles, was Sie wollen.“

Natürlich war dies keine versteckte Andeutung. Dennoch hörte Flynn eine heraus. Er räusperte sich und trat einen Schritt zurück. „Ich muss heute noch weiterfahren. Also warum arbeiten Sie nicht einfach mit mir zusammen? Dann sind wir beide glücklich und zufrieden.“

„Ich habe Kunden. Außerdem sieht es ganz danach aus, als müssten Sie so oder so warten.“ Samantha deutete mit dem Kopf zum Fenster, während sie Muffins in eine Tüte gab.

Flynn drehte sich um und schaute durch die Scheibe. Und er entdeckte einen weiteren Grund dafür, Riverbend zu hassen.

Einen Schneesturm.

Um zwölf Uhr mittags war Sam schon völlig erschöpft. Beinahe fürchtete sie, mit dem Gesicht voran in den Zimtstreuselkuchen zu kippen. Trotzdem verkaufte sie weiterhin lächelnd Kekse und Feingebäck, während sie ihren Mitarbeitern Anweisungen gab. Sie hatte alle Halbtagskräfte eingespannt – und sogar Mary, die sonst nur für die Wochenendreinigung kam. Doch nur so konnte sie mit dem plötzlichen Ansturm fertig werden.

Anscheinend hatte jeder im Umkreis von drei Bundesstaaten den Artikel gelesen und wollte nun prüfen, ob in Grandma Joys Kirsch-Schoko-Plätzchen tatsächlich die Liebe steckte.

Sam kannte die Gerüchte um die Kekse ihrer Großmutter schon seit Langem. Immerhin hatte Grandma Joy sie Grandpa Neil serviert, als sie sich kennengelernt hatten. Aber Sam hatte all den Leuten nie so recht geglaubt, die ihre glücklichen Ehen den winzigen Desserts zuschrieben.

Dann hatte ein Reporter des Magazins „Travelers“ sie auf der Durchreise probiert und sich auf den ersten Blick in eine Einheimische verliebt. Die beiden waren nach Jamaika gereist und hatten gleich am darauffolgenden Wochenende geheiratet.

Hinterher hatte der Journalist in dem Bordmagazin von den Keksen und seinem persönlichen Happy End geschwärmt. Damit hatte er Sams Laden landesweit berühmt gemacht – und ein Gerücht in eine Tatsache verwandelt.

Lange Arbeitstage hatte Sam vorher auch gehabt. Inzwischen blieb ihr jedoch so gut wie keine Freizeit mehr. Aber sie hatte ein höheres Ziel im Auge, und das trieb sie an und ließ sie nicht aufgeben.

„Ich kann mich nicht entscheiden.“ Die platinblonde, von Kopf bis Fuß elegant gekleidete Frau legte den Zeigefinger an die Lippen. „Was sagten Sie, wie viele Kalorien die Erdnussbutter-Küsschen haben?“

„Einhundertzehn pro Keks“, erwiderte Sam. Allmählich tat ihr vom angestrengten Dauerlächeln das Gesicht weh.

„Und die Kirsch-Schoko-Plätzchen?“

„Einhundertfünfzig.“

„Ich weiß nicht so recht …“

Die Wartenden stöhnten verärgert auf.

„Warum kaufen Sie nicht einen von jeder Sorte?“, schlug Sam vor.

„Gute Idee!“ Strahlend gab die Frau Sams Großtante Ginny das Geld, während Sam die Kekse einpackte.

Lächelnd wünschte Sam der Frau frohe Weihnachten und bediente den nächsten Kunden.

Vierhundert Kirsch-Schoko-Plätzchen später war die Schlange endlich bedeutend kürzer geworden. Sam beugte sich vor, um die Tabletts gerade zu rücken und die Krümel wegzuwischen. Durch die Glasscheibe des Tresens sah sie ein Paar Designerherrenschuhe, die durch Streusalz und Schneeflecken verunstaltet waren. Langsam ließ sie ihren Blick nach oben gleiten. Eine elegante schwarze Hose. Dunkelgrauer Kaschmirmantel. Weißes Hemd. Rote Krawatte.

Er war wieder da. Flynn McGranger.

Seine Augen waren tiefblau. Sein welliges schwarzes Haar war sehr kurz geschnitten, um es zu zähmen. Und seine Miene war eisig.

„Ich habe gewartet. Stundenlang. Und ich habe alles beobachtet: Dutzende von Kunden haben den Laden betreten, weil sie überzeugt sind, dass Sie ihre Liebes- oder Eheprobleme lösen werden. Ich hatte ja keine Ahnung, mit welchen Extras Sie Ihr Gebäck verkaufen.“

Sein sarkastischer Ton verriet ihr, dass es weder ein Scherz noch ein Kompliment war. „Ich behaupte nicht, mehr als Backwaren anzubieten, Mr. McGranger.“

„Die Leute in der Schlange haben etwas anderes geglaubt. In der sehr langen Schlange, die sich erst nach fast drei Stunden aufgelöst hat.“ Er schaute auf seine Armbanduhr. „Ich muss heute noch woandershin. Wenn ich das Interview jetzt nicht mache, wird nichts mehr daraus.“

„Wahrscheinlich schaffen Sie es höchstens ein paar Meilen weit. Ich bezweifle, dass die Straßen frei sind. Das Wetter ist noch immer ziemlich schlecht.“

„Für meinen Chefredakteur sind Schneestürme und Erdbeben keine Gründe, einen Abgabetermin zu verschieben.“

„Und Sie sind vermutlich der gleichen Meinung?“

„Von ein bisschen Schnee lasse ich mich nicht aufhalten. Sonst hätte ich es in meinem Beruf zu nichts gebracht.“ Er beugte sich vor. „Also, Miss Barnett? Haben Sie Zeit?“

Es erschien Sam das Beste, sich zu fügen. Sie wandte sich ihrer Großtante zu. „Tante Ginny, kommst du für eine Weile ohne mich klar?“

Die ältere Frau lächelte. „Natürlich.“

Sam drehte sich wieder zu Flynn McGranger um. Der Mann war durchaus attraktiv, obwohl er nichts Herzliches an sich hatte. Doch immerhin war er ihretwegen aus Boston angereist, und sie konnte die Werbung wirklich gebrauchen. Der Artikel in dem Bordmagazin war ein wahrer Segen gewesen. Sam wusste allerdings, dass die öffentliche Aufmerksamkeit nicht lange anhalten würde.

„Kann ich Ihnen einen Kaffee bringen? Ein Stück Kuchen? Kekse?“

„Ich würde gern die Spezialitäten des Hauses probieren. Und eine Tasse Kaffee wäre schön.“

Gut aussehend, aber unfreundlich. Er drückte sich klar und sachlich aus. Kein Lächeln. Trotz allem bot er ihr die Chance, von der sie seit Jahren träumte. Durch einen positiven Artikel in dem beliebten Magazin „Food Lovers“ würde ihre Bäckerei im ganzen Land bekannt werden – und Sam könnte weitere Filialen eröffnen.

Außerdem würde es ihr finanzielle Sicherheit verschaffen, sodass sie auf lange Sicht die Pflege für ihre Großmutter bezahlen konnte. Das alles war zum Greifen nahe.

Durch Flynn McGranger.

Sam summte Weihnachtslieder, während sie einen Teller mit Leckereien füllte: Lebkuchen, Pekannussriegel, Preiselbeer-Muffins, Mokkacremetörtchen, Pfefferminzschokoladentäfelchen, glasierte Weihnachtsplätzchen.

„Vergiss die nicht.“ Ginny reichte ihr drei Kirsch-Schoko-Plätzchen.

„Ich denke nicht, dass er die braucht, um …“

„Er ist wegen des Artikels über diese Kekse hergekommen, nicht?“ Ginny lächelte verschmitzt. „Und vielleicht stimmen die Geschichten ja tatsächlich. Wer weiß, was passiert, wenn er hineinbeißt?“

„Du glaubst doch nicht im Ernst …“

„Tue ich, und du solltest es auch tun. Ohne dieses Rezept hätten sich deine Großmutter und dein Großvater niemals ineinander verliebt. Ich hätte deinen Onkel Larry nicht geheiratet, wenn diese Kekse nicht gewesen wären. Die ganze Stadt steckt voller Beweise. Du glaubst nicht daran, weil du sie nie probiert hast.“

„Weil ich vor lauter Backen keine Zeit zum Essen habe.“ Seufzend legte Sam die Plätzchen auf den Teller. Was konnte es schon schaden? Was auch immer Tante Ginny meinte, an dieser Legende war nichts dran.

Sam ging zu dem Journalisten und stellte den Teller und eine Tasse Kaffee vor ihn hin. „Hier, bitte, Mr. …“

Und plötzlich hatte sie seinen Namen vergessen.

Er hatte seinen Mantel ausgezogen und sich an einen der kleinen runden Tische in der Ecke vor dem Schaufenster gesetzt. Alles an ihm strahlte Reichtum aus: die perfekt sitzende Kleidung, die teuren Stoffe, die selbstbewusste Haltung. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, sodass die muskulösen Unterarme zu sehen waren. Und er hatte schöne Hände …

Stopp! Sie bemerkte, dass sie ihn anstarrte.

„Mr. McGranger“, fuhr Sam endlich fort. „Guten Appetit.“

Sie wich zwei Schritte zurück und wiederholte stammelnd: „Guten Appetit.“

Er lächelte. War das ein dankbares Lächeln? Oder belustigte ihn ihre Verwirrung?

Wie auch immer: Es veränderte Flynn McGranger völlig und ließ die markanten Gesichtszüge weicher wirken. Und es brachte Sams Puls zum Rasen.

„Das haben Sie bereits gesagt“, gab er zurück.

Na gut, es war also Belustigung gewesen. Verlegen setzte Sam an: „Ja? Tut mir leid. Sie … machen mich nervös.“

„Warum?“

„Ich hatte noch nie einen Reporter im Laden. Außer Joey von der ‚Riverbend Times‘, aber das zählt nicht. Er ist neunzehn, geht noch aufs College und trinkt hier nur koffeinfreien Kaffee. Der normale regt ihn so auf, dass er kaum schreiben kann.“ Ihr wurde bewusst, dass sie plapperte. Was war bloß mit ihr los? Samantha Barnett plapperte nie. Und sie verlor auch niemals die Nerven.

Einen tollen ersten Eindruck hinterlässt du da, Sam!

„Ich sollte in die Backstube gehen“, meinte sie schließlich und deutete mit dem Daumen hinter sich.

„Das Interview, erinnern Sie sich?“, entgegnete er. „Ich würde es vorziehen, meine Fragen nicht schreien zu müssen.“

Sie hatte ihn verärgert. „In Ordnung. Ich hole mir nur schnell eine Tasse Kaffee. Anders als Joey brauche ich das Koffein.“

Flynn McGranger lächelte wieder. Zwar nur flüchtig, aber immerhin. Sam hielt es für ein gutes Zeichen. Wenn er sie und das Gebäck mochte, schrieb er möglicherweise einen sensationellen Artikel – und damit würden sich alle ihre Weihnachtswünsche erfüllen.

Als sie davonging, hörte sie jedoch, wie er ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch trommelte.

Ginny tippte ihr auf die Schulter, während Sam sich Kaffee einschenkte. „Sam, ich muss dir etwas sagen. Ich habe es eben vergessen. Er arbeitet für ‚Food Lovers‘, richtig?“

„Ja. Die Zeitschrift ist sehr einflussreich. Jeder liest sie – außer mir. Ich habe nie Zeit, irgendetwas zu lesen.“

„Ich lese sie. Oder zumindest habe ich es getan.“ Ginny verzog das Gesicht. „Früher gab es darin Rezepte, Restaurantkritiken, Einkaufstipps und so. Aber in letzter Zeit ist daraus eher ein Klatschblatt geworden. Viele Berichte drehen sich nur noch um das Privatleben der Leute, denen die Restaurants und Bäckereien gehören. Das Ganze wirkt irgendwie … aufdringlich.“

„Was ist falsch daran, über die Besitzer der Betriebe zu schreiben?“

Ginny ergriff Sams Hand. „Sei einfach vorsichtig. Ich weiß, wie du deine Privatsphäre und die deiner Großmutter schützt. Und deshalb unterstütze ich dich, was immer du tust.“

„Danke.“ Sam umarmte ihre Tante.

„Bei etwas anderem musst du dich mindestens ebenso vorsehen.“ Ginny löste sich aus der Umarmung und spähte zu Flynn McGranger hinüber. „Er ist unglaublich attraktiv. Das könnte genau die Probleme geben, die du eigentlich schon seit Langem haben solltest.“

Sam schüttelte den Kopf. „Ich habe viel zu viel zu tun. Da bleibt mir keine Zeit für eine Beziehung.“

2. KAPITEL

Sam ging mit ihrem Kaffee zurück zu Flynn McGranger und setzte sich ihm gegenüber. Inzwischen lag sein Notizbuch aufgeschlagen neben ihm, und er hatte einen Kugelschreiber in der Hand. Den Kaffee hatte er bereits probiert, das Gebäck jedoch nicht angerührt.

Vielleicht wollte er zuerst mit ihr reden. Oder aber Tante Ginny hatte recht, und er hatte es wirklich nur auf die Story hinter der Bäckerei abgesehen.

Auf Sams Story.

„Sind Sie jetzt so weit?“, fragte er.

„Ganz und gar.“

„Gut. Erzählen Sie mir etwas über die Geschichte von ‚Joyful Creations‘.“

„Das Geschäft wurde neunzehnhundertachtundvierzig von meinen Großeltern Joy und Neil Barnett eröffnet. Meine Großmutter war eine wunderbare Köchin. Für die Feiertage hat sie immer ganz besondere Leckereien gebacken. Einmal bin ich zu ihr nach Hause gegangen, und sie hatte ihren ‚Erfinde eine neue Kekssorte‘-Tag. Dann …“

„Die Bäckerei, Miss Barnett. Würden Sie bitte beim Thema bleiben?“

Autor

Shirley Jump
<p>Shirley Jump wuchs in einer idyllischen Kleinstadt in Massachusetts auf, wo ihr besonders das starke Gemeinschaftsgefühl imponierte, das sie in fast jeden ihrer Romane einfließen lässt. Lange Zeit arbeitete sie als Journalistin und TV-Moderatorin, doch um mehr Zeit bei ihren Kindern verbringen zu können, beschloss sie, Liebesgeschichten zu schreiben. Schon...
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