Ballade der Leidenschaft

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Atemlos blickt Rose ihren Jugendfreund Benedict an. Sie soll ihre Heimat, die Bretagne, verlassen, um in England einen Ritter zu heiraten, und Benedict hat angeboten, sie unterwegs zu beschützen. Aber was könnte ihr gefährlicher werden als die Nähe dieses charmanten Spielmanns? Tatsächlich weckt sein Kuss bald ein brennendes Verlangen in ihr. Doch sie darf ihre Zukunft als ehrbare Lady keinesfalls für einen Abenteurer riskieren!


  • Erscheinungstag 20.12.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733759469
  • Seitenanzahl 224
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Quimperlé, Bretagne

Obwohl die Hexennacht bald beginnen würde, erschrak Rozenn nicht, als der Türriegel ratterte.

Noch war die Sonne nicht vollends untergegangen, und Rozenn erwartete ihre junge Freundin Mikaela. Außerdem gehörte Hauteville – der Teil von Quimperlé, in dem sie wohnte – wohl kaum zu den Elendsvierteln. Am Rand eines hohen Felsens gelegen, oberhalb der Hauptstadt und der Burg, war Hauteville noch nicht von den gesetzlosen Umtrieben erreicht worden, die auf Herzog Conans Vergiftung im Dezember 1066 folgten.

Aber auch jetzt, im Jahr 1067, wurden die Zeiten immer unsicherer, und für den Fall, dass doch jemand anders als Mikaela vor der Tür stand, steckte Rozenn die Silbermünzen, die sie gezählt hatte, in den Beutel zurück und breitete eine Näharbeit darüber. Allmählich vermehrten sich ihre Ersparnisse.

Dies war vielleicht der richtige Zeitpunkt, um Mikaela zu erklären, dass sie die Bretagne verließ. Wahrscheinlich für immer.

Langsam öffnete Rozenn die Tür und trat hinaus. Wie erwartet, stand ihre Freundin vor dem Haus. Im schwindenden Tageslicht befestigte sie eine Girlande am Türrahmen. Kreischende Mauersegler zogen ihre Bahnen am abendlichen Himmel, Mehlschwalben flatterten zu ihren Nestern unterhalb des Dachvorsprungs und wieder davon.

„Offenbar kommst du geradewegs aus der Taverne“, bemerkte Rozenn.

„Mhm.“ Geschickt rückte Mikaela die Girlande zurecht. „Wie hast du das herausgefunden?“

„Kein Schleier.“

Zusammen mit ihrem Vater betrieb Mikaela die Taverne ‚Weißer Vogel‘. Beim Kochen und Saubermachen war ein Schleier hinderlich, deshalb verzichtete sie darauf. Meistens vergaß sie nach der Arbeit, ihn wieder anzulegen, ehe sie durch die Stadt ging.

Rozenn musterte die Johannistagsgirlande. Über glänzenden Lorbeerblättern leuchtete das gelbe Kraut des Heiligen Johannes. Efeuranken hingen zwischen gelben Wucherblumen. In der milden Brise, die durch eine schmale Gasse vom Hafen am Fluss heraufwehte, nickten Gemeine Schafgarben und andere, bereits leicht verwelkte Blumen.

„Hübsch“, meine sie lächelnd. Mit denselben rostigen Nägeln hatte Mikaela auch im vorigen und im vorletzten Jahr ihre Girlanden aufgehangen. Niemals würde sie ihre Gewohnheiten ändern. Und sie war sehr abergläubisch.

Nun schob sie ihren Zopf über eine Schulter und warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. „Hübsch? Darauf kommt es nicht an, Rose. Diese Pflanzen sollen dich beschützen.“

„Vor den Hexen.“ Mit einiger Mühe bezähmte Rozenn ihren Lachreiz.

„Ganz genau. Verdreh bloß nicht deine Augen. Das da …“, Mikaela berührte das Johanniskraut und befleckte ihre Finger mit dichtem Blütenstaub, „… wird für deine Sicherheit sorgen, bis morgen das Fest des Heiligen Johannes des Täufers beginnt. Und das …“, jetzt zeigte sie auf einen Lorbeerzweig, „… wehrt die Hexen und bösen Geister ab.“

„Oh Mikaela …“ Ungeduldig schüttelte Rozenn den Kopf. „Du verschwendest nur deine Zeit. An diese alten Geschichten glaube ich nicht.“

Ein letztes Mal zupfte Mikaela an der Girlande, dann trat sie zurück und bewunderte ihr Werk. „Darin liegt vielleicht genau dein Problem.“

„Was heißt das?“

Mikaela zuckte mit den Schultern. „Leider bist du viel zu ernsthaft. Heute Nacht solltest du die Saint-Columban-Kirche aufsuchen und herausfinden, wer deine wahre Liebe ist.“

„Nein.“ Rozenn kniff die Lippen zusammen. „So ein Unsinn! Reiner Mittsommernachtswahnwitz.“

„Bitte, Rose. Auch Nicole und Anna werden hingehen. Schließ dich uns an, ein bisschen Vergnügen würde dir sicher guttun. Deine Trauerzeit ist vorbei. Und du hast keinen Grund, dich schuldig zu fühlen.“

„Ich fühle mich nicht schuldig“, widersprach Rozenn. „Aber ich habe keine Lust, meine Zeit zu verschwenden und auf meinen Schlaf zu verzichten. Zur mitternächtlichen Stunde siebenmal um eine Kirche herumzulaufen – heiliger Himmel, wie albern! Als könnte man dabei seine wahre Liebe erkennen! So was Verrücktes!“

„Du musst ja nicht daran glauben, es ist einfach nur amüsant.“ Mikaela ergriff ihre Hand und drückte sie sanft. „Sicher würde es Per nicht stören. Er schaut vom Himmel auf dich herunter, will dich glücklich sehen und wünscht, du würdest jemand anderen finden. Und wenn der Zauber wirkt“, fügte sie lächelnd hinzu, „wirst du erfahren, wer deine wahre Liebe ist.“

„Aber das weiß ich schon“, erwiderte Rozenn, ehe sie sich zurückhalten konnte.

Verblüfft schnappte Mikaela nach Luft. „Was?“

Am liebsten hätte Rozenn sich die Zunge abgebissen. Sie hatte sich vorgenommen, der Freundin möglichst schonend von ihren Plänen zu erzählen, statt wie eine Närrin damit herauszuplatzen. Hastig wandte sie sich ab, betastete das goldene Kreuz an ihrer Halskette und starrte hinaus auf das Kopfsteinpflaster der Gasse, die zum Hafen und zur Burg hinabführte. Am dämmernden, von rosigen Streifen durchzogenen Abendhimmel flatterten die Mehlschwalben hin und her.

„Nichts.“ Seufzend wischte Rozenn mit dem Handrücken über ihre Stirn. Der junge Anton zog mühsam einen Handkarren voller Stoffballen den Hang herauf, zweifellos für Mark bestimmt, der seit dem Tod ihres Mannes Per als der bedeutsamste Schneider in der Stadt galt. „Wenn der Junge Marks Werkstatt erreichen will, bevor sie geschlossen wird, muss er sich beeilen.“

„Wage es bloß nicht, das Thema zu wechseln, Rozenn!“

„Wirklich, es ist nichts. Ich habe Unsinn geredet. Heute war es so heiß in Comtesse Muriels Sonnengemach, das muss meinen Geist verwirrt haben.“

Während Antons Karren vorbeipolterte, ergriff ihre Freundin sie bei der Hand. Entschlossen versuchte sie, ihren Blick auf sich zu lenken. „Weich mir nicht aus, Rose! Soeben hast du etwas sehr Wichtiges gesagt – du wüsstest bereits, wer deine wahre Liebe ist. Damit hast du wohl kaum Per gemeint.“ Sie schlug einen beiläufigen, neckischen Ton an, obwohl sie die Stirn runzelte. „Gewiss, du mochtest ihn. Aber bei eurer Hochzeit glänzten keine Sterne in deinen Augen. An Per dachtest du eben also nicht. An wen dann? Kenne ich ihn?“

„Lass es dabei bewenden. Ich habe gesprochen, ohne nachzudenken.“

„Sag es mir, beste Rose“, bat Mikaela schmeichlerisch. „Sag mir, wen du liebst.“

„Nein.“ Rozenn warf den Kopf in den Nacken und lachte über die Beharrlichkeit der Freundin. „Ehrlich, ich wollte es dir schon bald erzählen. Aber weil du mich so hartnäckig bedrängst, musst du es selber herausfinden. Wenn du seinen Namen errätst, teile ich mein Abendessen mit dir.“

„Das ist ungerecht, denn du wirst mich ohnehin in dein Geheimnis einweihen.“

„Nun, ich finde es lustiger, dich auf die Folter zu spannen. Und hast du nicht vorhin betont, ich sollte mich amüsieren?“

Mikaelas Augen verengten sich. „Jetzt bist du gemein.“

„Versuch es doch zu erraten! Als ich heute in der Bäckerei der Burg war, gab Stefan mir eine Hühnerpastete, die sogar einen Riesen sättigen würde. Für mich allein ist die Portion viel zu groß.“ Rozenn zog die Tür, an der die Girlande prangte, weiter auf. „Bitte, komm herein. Dein Vater wird wissen, wo du bist.“

Das Haus, das sie zusammen mit ihrem Gemahl bewohnt hatte, bestand wie die meisten Domizile der Geschäftsleute in Hauteville aus lehmbeworfenem Flechtwerk an einem Holzgerüst. An der Gasse lag die Schneiderwerkstatt mit den großen Fensterläden, die Per tagsüber stets geöffnet hatte, um seine Ware zu zeigen.

Nun waren die Läden geschlossen, düstere Schatten beherrschten die stickige Werkstatt. Eine zweite Tür führte nach hinten in den Wohnraum, wo sie mit Per gelebt, gegessen und geschlafen hatte. Darin brannten einige Kerzen. Mikaela und sie gingen darauf zu, ihre langen Röcke raschelten.

An der hinteren Wand stand der Fensterladen offen und gab den Blick auf die Rückfront des Nachbarhauses frei, die sich dunkel vor dem violetten Himmel abzeichnete.

Während sie die Werkstatt durchquerten, musterte Mikaela die halb leeren Regale. Wieder runzelte sie die Stirn. „Ist das dein ganzer Bestand? Wo sind all die Stoffe?“

„Die meisten habe ich verkauft.“

„An Mark?“

„Ja.“

„Kannst du mit diesem Geld Pers Schulden begleichen?“ Mikaela wusste, wie verzweifelt Rose gewesen war, nachdem sie von den Schulden ihres verstorbenen Ehemanns erfahren hatte. Mehrere Stadtbewohner warteten auf beträchtliche Summen.

„Darum bete ich.“

Mikaela zeigte auf die restlichen Vorräte. „Und was soll mit diesen Stoffballen geschehen?“

„Die will ich am Markttag verkaufen“, erklärte Rozenn lächelnd. „Mark hat mir einen einigermaßen vernünftigen Preis angeboten. Aber du weißt ja, wie gern er feilscht. Auf dem Markt müsste ich mehr Geld dafür bekommen.“

„Nimmst du immer noch Aufträge an? Oder nähst du nicht mehr?“

Rozenn wandte sich zögernd ab. Ihren Plan, das Herzogtum zu verlassen, wollte sie noch nicht verraten. „Mark hat sich so über die Damaste und die byzantinische Seide gefreut … Oh, bevor ich es vergesse – ich habe den blauen Samt, der dir so gut gefällt, für dich aufgehoben.“

„Wirklich?“ Mikaelas Augen strahlten. „Vielen Dank. Aber … ich habe nur wenig Geld und kann dir nichts zahlen.“

„Sei nicht albern! Wenn Per mir auch einige Schulden hinterlassen hat – ich nage nicht am Hungertuch und kann dir etwas schenken.“

„Wie großzügig du bist! Und was wirst du ohne deinen Laden machen? Du wirst doch weiterhin schneidern? Das musst du tun, Rose! So gut kannst du mit Nadel und Faden umgehen. An Arbeit wird es dir niemals mangeln.“

Rozenn ging ins Wohnzimmer voraus und legte noch ein Holzscheit in das Herdfeuer, das inmitten des Raums loderte. Dann ergriff sie einen mit Wachs überzogenen Span, hielt ihn in die Flammen und zündete noch einige Kerzen an. Einladend wies sie auf einen Stuhl. „Ja, ich erhalte genug Aufträge.“ Sie hob ihren schweren Geldbeutel mitsamt der Näharbeit, die sie darüber ausgebreitet hatte, auf und legte beides aufs Bett. Bald würde sie Pers Schulden bezahlen können. Welch eine Erleichterung …

Inzwischen hatte Mikaela sich an den Tisch gesetzt. In einer Hand stützte sie ihr Kinn, mit der anderen winkte sie lässig ab, während Rozenn Holzbecher und – teller bereitstellte. „Reden wir nicht mehr von der Arbeit, befassen wir uns lieber mit wichtigeren Dingen. Also soll ich erraten, wen Rose liebt? Wer mag es sein?“ Grüblerisch klopfte sie mit einem Zeigefinger auf ihre Lippen. „Nun frage ich dich noch einmal, ob ich ihn kenne.“

„Eh – ja. Allerdings hast du ihn eine Zeit lang nicht gesehen.“

„Hm.“ Plötzlich richtete Mikaela sich auf. „Oh, ein Kinderspiel! Ich weiß ganz genau, wer es ist!“

Rozenn nahm einen Weinschlauch von einem Haken, zog den Stöpsel heraus und griff nach Mikaelas Becher. „Tatsächlich?“

„Ja, ja, natürlich! Es ist Ben, Benedict!“

Verwirrt spürte Rozenn, wie der Weinschlauch in ihrer Hand zitterte. Dann starrte sie die kleine dunkle Pfütze an, die sich irgendwie auf dem Tisch gebildet hatte. „Was – Ben?“

„Oh ja, der Lautenspieler.“

Rozenn schnaufte verächtlich und schüttelte den Kopf. „Selbst wenn Benedict der letzte Mann auf Erden wäre – niemals würde ich ihn lieben.“

„Seltsam …“ Mikaela hob die Brauen. „Und ich dachte immer, ihr würdet zusammengehören. In eurer Kindheit habt ihr miteinander gespielt, wann immer er hierhergekommen ist. Unzertrennlich wart ihr.“

„Kinder lassen sich leicht beeindrucken …“

„Aber du magst ihn, Rose, das weiß ich.“

„Ja, sicher“, stimmte Rozenn etwas ungeduldig zu. „Warum sollte ich ihn nicht mögen? Er ist freundlich und geistreich und amüsant.“

In Mikaelas Augen erschien ein träumerischer Glanz. „Und gut aussehend. Vergiss das nicht. Diese Augen – dunkel wie die Sünde …“

„Unstet, ständig auf der Wanderschaft …“

„Diese langen Wimpern, Haare wie Ebenholz. Wie ein Engel spielt er Laute.“

„Wenigstens das ist wahr.“

Ein tiefer Seufzer hob Mikaelas Busen. „Und sein Körper …“

Erschrocken fuhr Rozenn auf. „Was weißt du denn über Bens Körper?“

Mikaelas Mundwinkel zuckten. „Ah, dachte ich es mir doch, das würde dich aufschrecken. Offensichtlich habe ich recht, es ist Ben! Rozenn liebt Benedict …“

„Nein!“ Rozenn füllte Mikaelas Becher, knallte ihn auf den Tisch und drehte sich zum Herd um, wo sie Stefans Pastete in einer Schale erwärmte. „Zumindest nicht so, wie du glaubst. Ich mag ihn wie einen Bruder. So wie ich Adam liebe.“

„Früher dachte ich, du würdest Ben heiraten.“ Mikaela legte ihren Kopf schief. „So gut habt ihr zusammengepasst. Aber du hast Per genommen und …“

„Was, Ben und ich? Zusammengepasst? Ich – an der Seite eines nichtsnutzigen Musikanten, der die Hälfte aller Frauen in der Bretagne verführt hat? Sehr schmeichelhaft …“

Statt zu antworten, zuckte Mikaela vielsagend mit den Schultern.

„Außerdem“, fuhr Rozenn ärgerlich fort, „habe ich Ben zwei Jahre lang nicht gesehen. Nicht mehr seit seinem heftigen Streit mit Adam.“

„Ja, das ist sonderbar. Bis dahin standen sich die beiden sehr nahe. Worum ging es bei dieser Auseinandersetzung?“

„Keine Ahnung. Darüber will Adam nicht reden.“

„Also muss es jemand anderes sein, der schon lange nicht mehr in Quimperlé war“, meinte Mikaela nachdenklich. „Jemand anderes, den du liebst?“

„Ja. Benedict ist es wirklich nicht. Überleg mal …“

Mikaela nippte an ihrem Wein und musterte Rozenn über den Rand des Bechers hinweg. „Schmeckt gut. Hast du diesen Wein dem Priester abgekauft?“

„Den hat mir Comtesse Muriel geschenkt. Komm schon, rate weiter.“

Kopfschüttelnd stellte Mikaela ihren Becher ab. „Wenn es nicht Ben ist – vielleicht Mark?“

„Nein, mit dem habe ich nur geschäftlich zu tun.“

„Einer von Adams Kumpeln? Der dir vor einer Woche diese Nachricht geschickt hat?“

„Ja, ja. Allmählich kommst du deinem Ziel immer näher.“

„Also ist dein Liebster ein Ritter? Gewiss, du hättest nichts dagegen, einen Ritter zu heiraten …“

Schweigend stellte Rozenn die Schale mit der Pastete auf den Tisch und nahm Mikaela gegenüber Platz.

„Doch nicht der Ritter, der dir das goldene Kreuz geschenkt hat? Der Laute spielt, so wie Ben? Nicht Sir Richard of Asculf?“

Schwungvoll schnitt Rozenn eine große Scheibe von Stefans Pastete ab. „Derselbe! Gut gemacht, liebe Freundin. Soeben hast du die Hälfte der besten Hühnerpastete von ganz Quimperlé gewonnen.“

Am späteren Abend lag Rozenn in ihrem Bett an der Wand und fand keinen Schlaf. Gepeinigt von der stickigen Hitze schlug sie das Laken zurück und starrte durch das Dunkel zu den Deckenbalken hinauf. Im Nachbarhaus brüllte das Baby Manu. Einige Leute rannten die Gasse hinab, Stiefel polterten auf dem Kopfsteinpflaster. Dann hörte sie ein sanftes Gemurmel, das Baby verstummte. Sie zupfte an ihrer Halskette und zog das Kreuz aus ihrem Nachthemd. Ein goldenes Kreuz. Gold. Sir Richard hatte ihr goldenen Schmuck geschenkt, weil er sie sehr hoch schätzte.

Qualvoll, diese schwüle Luft, ungewöhnlich im Juni – als hätte der August schon begonnen. Wie dichter Nebel schien sie aus dem Hafen heraufzusteigen und in den schmalen Gassen von Hauteville zu verharren. In Basseville, am Fuß des Hangs, sang ein betrunkener Soldat, grölendes Gelächter untermalte die lallende Stimme. Wahrscheinlich kehrten einige Männer aus Comte Remonds Garnison, die in einer Hafentaverne gezecht hatten, zur Kaserne zurück.

Nachdem Mikaela fortgegangen war, hatte Rozenn das Feuer herabbrennen lassen, ohne es vollends zu löschen. Sanft züngelten die Flämmchen im Herd, die einzige Lichtquelle im Raum. Sie verbreiteten zu viel Hitze, die in dieser Nacht nicht gebraucht wurde. Aber Rozenn wollte sich am Morgen mit warmem Wasser waschen, und es würde zu lange dauern, ein neues Feuer zu entfachen.

Lächelnd dachte sie an ihre Freundin. Nachdem Mikaela von Sir Richard erfahren hatte, war sie fasziniert und leicht abzulenken gewesen. Bei angeregten Gesprächen verstrich der Abend sehr schnell. Noch immer hatte Rozenn nicht erwähnt, dass sie ihre „Mutter“ Ivona nach England bringen würde. Dort wollte sie Adam und Sir Richard aufsuchen.

Vor neunzehn Jahren war sie als Findelkind in Ivonas Obhut gegeben worden und mit ihr ebenso wenig blutsverwandt wie mit ihrem „Bruder“ Adam. Doch sie liebte die beiden wie eine richtige Familie und schätzte sich glücklich, weil sie ihr ein wunderbares Zuhause geboten hatten. Nicht alle Findelkinder wurden so gut behandelt.

Wie hatte die verwirrende Nachricht ihres Bruders gelautet?

Während sie sich an jedes einzelne Wort zu erinnern versuchte, tauchte vor ihrem geistigen Auge das Bild des Boten auf, den Adam zu ihr gesandt hatte. Beschmutzt und müde von der Reise, hatte der Mann sie in der Stadt angesprochen.

„Mistress Rozenn?“

„Ja?“

„Euer Bruder, Sir Adam Wymark, schickt Euch herzliche Grüße. Er bat mich, Euch mitzuteilen, er habe wichtige Neuigkeiten für Euch und Eure Mutter Ivona …“

„Welche Neuigkeiten? Ist er – unversehrt?“, fragte sie und freute sich, weil Adam sie anscheinend immer noch für seine Schwester hielt.

„Oh ja, es geht ihm sehr gut, Mistress. Er lässt Euch ausrichten, Ihr und Eure Mutter sollt Euch im Lauf dieses Jahres auf die Reise nach England vorbereiten.“

Verstört strich Rozenn über ihre Stirn. „Ivona und ich sollen die Bretagne verlassen? Aber – aber …“ Ihre Gefühle gerieten in Aufruhr, und es dauerte eine Weile, bis sie schließlich wieder klar denken konnte. Sie wusste, Adams Wunsch würde auch ihre Pflegemutter in tiefste Verwirrung stürzen. Sie selbst interessierte sich allerdings sehr dafür. „Mein Bruder muss noch mehr gesagt haben …?“

„In der Tat, Mistress, er hat einen Antrag um Eure Hand erhalten. Sein Freund Sir Richard of Asculf will Euch heiraten.“

Geistesabwesend griff sie nach dem Kreuz an ihrem Hals. „Mich?“

Der Bote nickte. „Und Sir Adam ersucht Euch, gründlich über das Angebot nachzudenken. Wie immer Ihr Euch entscheiden werdet, er möchte seine Mutter und Euch in seinem neuen Heim willkommen heißen. Derzeit hat er viel zu tun, und es wird eine Weile dauern, bis er Euch eine Eskorte für die Reise senden kann. Anfang Herbst müsste es so weit sein.“

„Schon im Herbst sollen wir zu meinem Bruder übersiedeln?“ Adam musste den Verstand verloren haben! Niemals würde Ivona sich bereit erklären, die Burg zu verlassen, die so viele Jahre lang ihr Zuhause gewesen war. Und Sir Richard, ein Ritter, möchte mich heiraten? Nicht einmal in ihren kühnsten Träumen hätte sie sich das vorgestellt.

„Ja, Mistress“, bestätigte der Bote in ruhigem Ton. Als wäre es ganz alltäglich, dass Adam seine Schwester und seine Mutter über das Meer nach England beorderte … Und dass Rozenn einen Heiratsantrag von einem normannischen Ritter bekam.

„Aber – aber ich habe Quimperlé noch nie verlassen …“

Der Mann warf ihr einen seltsamen Blick zu und seufzte. Nach seiner Haltung zu schließen, schmerzte sein Rücken. Sicher war seine Kehle staubtrocken, und er sehnte sich nach einer Taverne, wo er seine Füße hochlegen konnte. „Alles, was ich weiß, werde ich Euch mitteilen, Mistress. Trefft Eure Reisevorbereitungen, Euer Bruder wird Euch eine Eskorte schicken. Zudem betonte er, falls ihm etwas zustößt, sollt Ihr Sir Richard vertrauen, dem Euer Wohl am Herzen liegt.“

Was sie da hörte, vermochte sie kaum zu glauben. Ihr Wohl lag Sir Richard am Herzen? Unfassbar … Andererseits – hätte er einer Frau, die ihm nichts bedeutete, ein goldenes Kreuz geschenkt?

„Wie erfuhr Adam von meinem Witwenstand?“

„Das weiß ich nicht.“

Mit bewundernswerter Geduld hielt er dem Ansturm ihrer Fragen stand, dann verneigte er sich und ergriff die Flucht. Rozenn starrte ihm nach, und ihre Gedanken überschlugen sich. Offenbar hatte ihr Bruder im Dienste Williams, des Herzogs der Normandie und des neuen Königs von England, dessen Wohlgefallen erregt. Bei der Schlacht von Hastings hatte Adam fliehende Truppen zusammengetrommelt. Zum Dank hatte William ihm ein Landgut geschenkt und ihn mit Lady Cecily of Fulford vermählt.

Während Rozenn den Boten zur nächsten Taverne hinken sah, versank sie in einem Tagtraum. Mein Wohl liegt Sir Richard am Herzen … Atemlos berührte sie wieder das goldene Kreuz, das er ihr – anstößigerweise – geschenkt hatte, als sie noch mit Per verheiratet gewesen war. Und jetzt hatte er um ihre Hand angehalten!

So etwas hätte sie früher für unmöglich gehalten. Aber war es so unglaublich, dass ihr Bruder ein Bündnis zwischen seiner Familie und seinem guten Freund Sir Richard schließen wollte? Immerhin war Adam nur der Sohn eines Stallmeisters – und trotzdem zum Rang eines Ritters aufgestiegen. Und wenn er das erreicht hatte, warum sollte Rozenn keine Lady werden?

Von froher Hoffnung erfüllt, war sie nach Hauteville zurückgekehrt, in ihr kleines Haus.

Und jetzt, in der Hexennacht, betrachtete sie lächelnd ihr schwaches Herdfeuer, spielte mit dem goldenen Kreuz und schmückte ihren Traum aus. Nein, als Witwe eines Schneiders und Tuchhändlers in Quimperlé zu leben, wo alle Leute sie als Findelkind kannten – dieses Schicksal wollte sie nicht erleiden. Sie würde nicht von der Näharbeit abhängig sein, die sie für Comtesse Muriel erledigte, und stattdessen einen Ritter heiraten! Lady Rozenn of Asculf …

England lockte mit aller Macht. Am nächsten Tag musste sie Mikaela endlich von ihren Plänen erzählen. Und wenn ihre Mutter sich weigerte, die Burg zu verlassen, würde sie eben allein abreisen …

Zunächst würde sie Pers Schulden begleichen und dann den Ort aufsuchen, den Adams Bote erwähnt hatte – Fulford bei Winchester. Sie wollte nicht auf die Eskorte warten, die ihr Bruder nach Quimperlé schicken würde. Dafür war das Leben zu kurz. Warum sollte sie bis zum Herbst hier ausharren? So bald wie möglich musste sie aufbrechen – diesen Monat, vielleicht sogar noch in dieser Woche! Irgendwie würde sie Mittel und Wege finden.

König William hatte ihrem Bruder Ländereien in England geschenkt!

Wie glücklich musste Adam sein – endlich eigenes Land zu besitzen … Hätte er bloß einen Schreiber beauftragt, einen Brief abzufassen! Natürlich hätte Rozenn ihn nicht lesen können, aber England lag weit entfernt. Durfte sie es wagen, sich auf diese lange Reise zu machen, nur auf das Wort eines erschöpften Boten hin?

Kurzfristig kehrte sie auf den Boden der Tatsachen zurück und verzog das Gesicht. Hoffentlich konnte sie Ivona zu der Reise überreden. Wenn ihr das misslang, würde die ihr womöglich verbieten, ohne Adams Eskorte nach England zu fahren. Hätte sie etwas Schriftliches in der Hand, das ihren Entschluss untermauerte, befände sie sich in einer besseren Position.

In England würde sie ein neues Leben beginnen. Ohne Schulden, ohne die Schmach ihrer fragwürdigen Herkunft. Dort wusste niemand, warum sie „Rose“ getauft worden war. Kein Mensch würde denken: Da geht das Mädchen, dessen Mutter es neben den Rosenbusch vor der Taverne ‚Weißer Vogel‘ gelegt hat.

Und in England würde sie die angelsächsische Gemahlin ihres Bruders kennenlernen. Welchen Namen hatte der Bote angegeben? Lady Cecily of Fulford. Und danach würde Adam sie zu Sir Richard bringen …

Ben, ein wandernder Spielmann? Ha, da strebte Rozenn etwas Besseres an, nämlich einen Ritter.

Sie drehte sich im Bett zur Seite und rückte ihr Kissen zurecht. Entschlossen verdrängte sie das Fantasiebild Bens, des bretonischen Lautenspielers mit dem spitzbübischen Grinsen, und beschwor das Gesicht des normannischen Ritters Sir Richard of Asculf herauf.

Im Hafenbecken von Quimperlé, wo die beiden Flüsse zusammenflossen, gerieten einige Gäste in der Taverne ‚Barke‘ außer Rand und Band.

Benedict trug einen unauffälligen braunen Umhang, wie immer, wenn er mit dem Hintergrund verschmelzen wollte. Die Laute hatte er in einer Ledertasche verstaut, die an seiner Schulter hing, und er hoffte, das kostbare Instrument würde in dem Tumult keinen Schaden nehmen.

Obwohl die Kapuze des Umhangs sein Gesicht überschattete, schien er Aufmerksamkeit zu erregen. Die Blicke der Männer, die an einem nahen, auf Böcke gestellten Tisch zechten, missfielen ihm. Besonders einer in einem speckigen Lederwams erschien ihm gefährlich. Die gebrochene Nase wies auf einen kampflustigen Charakter hin. Zweifellos ein Schläger. Hatte er Bens Interesse am Tischgespräch bemerkt und sich seine Gesichtszüge eingeprägt?

Hoffentlich nicht, aber es war möglich. Ben zog die Kapuze noch tiefer in die Stirn und betrachtete seinen Weinbecher. Erst vor etwa zwei Stunden war er nach Quimperlé zurückgekehrt, und wenn er dem Herzog Hoël nutzen wollte, durfte er keinen Ärger heraufbeschwören.

Als der Mann ihn zum zweiten Mal musterte, ahnte Ben die drohende Gefahr noch deutlicher und wünschte, er hätte die Laute dem Stallburschen anvertraut, der sein Pferd versorgte. Er warf eine Münze auf den Tisch und ging zur Tavernentür. Keinesfalls durfte das Instrument zerbrechen. Es hatte seinem Vater gehört – und es verschaffte ihm eine vorteilhafte Tarnung, die etwaige Beobachter von seiner eigentlichen Arbeit für den Herzog der Bretagne ablenkte.

Draußen schimmerte der Fluss Laïta pechschwarz im Mondlicht. Am Hafendamm schaukelten ein paar Boote auf sanften Wellen. An dieser Stelle trafen sich die beiden Flüsse, ein wenig stromabwärts von der Isle du Château. Wie Burggräben umgaben sie die Insel und boten Comte Remonds Festung einen wirksamen Schutz, bevor sie sich vereinten und ins Meer mündeten.

Ben hielt kurz inne, um die milde Nachtluft einzuatmen. Dann schaute er den Hang hinauf, zum Viertel der Geschäftsleute.

Hauteville. Dort hatte Rose mit Per gelebt.

Zwei Jahre waren seit der letzten Begegnung verstrichen. Jetzt aber, da sich die Unruhen im ganzen Herzogtum ausbreiteten, hatte niemand Geringerer als Herzog Hoël höchstselbst ihm befohlen, seinen Streit mit Roses Bruder zu begraben. Bisher lief alles planmäßig. Adam hatte seine Pflicht erfüllt und seine Schwester nach England beordert. Nun musste Ben sich mit ihr versöhnen, um den zweiten Teil seines Plans erfolgreich durchzuführen. Ein schwaches Lächeln spielte um seine Mundwinkel.

Wie immer musste er sehr vorsichtig taktieren. Rose kannte ihn gut. Und sie war nicht dumm. Doch er hatte die Rolle geprobt, die er spielen musste, und würde sogar Verblüffung heucheln, wenn sie ihm vom Tod ihres Gemahls erzählte.

Die Tavernentür knarrte, gelbes Licht fiel auf den Hafendamm. Im Türrahmen erschien die Silhouette eines Mannes mit gebrochener Nase. Ben wandte sich ab, schlüpfte in die dunkle Gasse zwischen zwei Holzhäuserreihen und rannte den Hang hinauf, nach Hauteville.

2. KAPITEL

Zum zweiten Mal in dieser Hexennacht ratterte der Türriegel, und Rozenn hielt die Luft an. Die Mitternachtsstunde musste bereits vorbei sein. Sicher hatten Mikaela und ihre Freundinnen die Saint-Columban-Kirche längst verlassen und waren nach Hause gegangen.

Inzwischen war das Herdfeuer fast erloschen. Rozenn stieg aus dem Bett und tastete sich durch die Finsternis. Als sie mit dem Knie gegen einen Stuhl stieß, hob sie ihn hoch und hielt ihn wie einen Schild vor sich, während sie die Werkstatt durchquerte.

Klopfenden Herzens legte sie ein Ohr an die Haustür. Atmete jemand auf der anderen Seite? Nein, nein, das bildete sie sich nur ein. Mikaelas Gerede über Hexen und böse Geister brachte sie ganz durcheinander. Natürlich war es nur der Wind, der in den Blumen der schützenden Girlande raschelte.

Plötzlich klickte der Riegel, und Rozenn sprang zurück. Mit aller Kraft umklammerte sie den Stuhl.

Ein Schrei auf der Gasse. Schritte. Mehrere Leute rannten vorbei. Vermutlich Comte Remonds Männer; Dorfbewohner hätten sich mehr Mühe gegeben, Lärm zu vermeiden. Stahl klirrte, Schwerter wurden gezückt – beängstigende Geräusche …

„Verflucht!“, rief jemand dicht vor Rozenns Tür, der Riegel rückte an seinen Platz zurück. Schnelle Schritte entfernten sich …

„Hier entlang!“

„In diese Richtung ist er gelaufen!“

Ein Stolpern, ein Keuchen, die Stimmen verklangen.

Jetzt erst erinnerte sich Rozenn, dass sie atmen musste. Sie stellte den Stuhl auf den Boden, lehnte ihren Kopf an die Tür und wartete, bis ihr Herz wieder etwas langsamer pochte. Offenbar war ein Dieb an ihrer Tür gewesen, und Comte Remonds Soldaten hatten ihn verscheucht – oder festgenommen. Das hoffte sie zumindest … Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. Ja, sie waren nach unten in die Stadt zurückgekehrt.

Sogar in Hauteville ist eine alleinstehende Frau gefährdet, dachte sie bedrückt. Vielleicht hat Comtesse Muriel recht, und ich sollte bis zu meiner Abreise in der Burg wohnen. Im Sonnengemach bei den anderen Damen gab es genug Platz. Aber dort wollte Rozenn nicht schlafen. Wann immer ihr Name erwähnt wurde, sah sie Verachtung und Mitleid in den Augen der Frauen. Rose, das Mädchen, das als Baby vor einer Taverne abgelegt und in Ivonas Obhut gegeben worden war.

Gewiss, ihre Ziehmutter hatte gut für sie gesorgt und sie genauso liebevoll behandelt wie Adam. Trotzdem sah sie stets das geringschätzige Mitleid in den Augen der Frauen. Bevor Rozenn einschlief, wollte sie solchen Blicken nicht begegnen. Sonst würden sie womöglich Albträume heimsuchen …

Während sie den Stuhl in Richtung Wohnstube schleifte, stieß etwas gegen einen Fensterladen, und sie hörte jemanden stöhnen. Erschrocken erstarrte sie und schnappte nach Luft.

Um Himmels willen, der Dieb versuchte sein Glück erneut! Wer immer er sein mochte – offenbar hatte er herausgefunden, dass sie verwitwet war, und hielt sie für hilflos. Nun, da würde sie ihn eines Besseren belehren! Entschlossen wandte sie sich zu dem Fensterladen und umfasste die Stuhllehne fester.

Holz knarrte. Noch ein Stöhnen. Das Dunkel schien sich zu bewegen.

Warnend streifte ein warmer Luftzug Rozenns Haut, der Fensterladen wurde aufgestoßen. Ein Dolch blitzte silbrig auf, Metall scharrte über Holz. Mit einem lauten Knacken gab der Riegel nach, Mondlicht fiel ins Zimmer.

Ein schwarzer Schemen nahm Gestalt an und schob etwas durch die Öffnung. Vorsichtig ließ er es zu Boden gleiten. Andere Gegenstände folgten dem ersten und landeten ebenso sanft unterhalb des Fensters. Also versuchte der Mann, keine Geräusche zu verursachen.

Zitternd rang Rozenn nach Atem und schwenkte den Stuhl empor. Eine innere Stimme drängte sie zur Flucht. Aber die Hintertür des Hauses war fest verschlossen. Es würde zu lange dauern, sie zu erreichen und den Riegel zu öffnen, der Eindringling würde sie überwältigen. Wer immer er war, sie musste sich ihm in ihren vier Wänden stellen.

Der milde Luftzug verstärkte sich. Angespannt lauschte sie und hörte ein Rascheln, ein dunkler Schatten bewegte sich.

Da!

Nein, dort!

Atemzüge …

Hinter ihr!

Just als sie herumfahren wollte, schlangen sich starke Arme um ihre Taille. Ihr Haar wurde beiseitegeschoben, warme Lippen berührten ihren Nacken.

„Rate mal.“ Ein leises Murmeln. „Rate, wer ich bin.“

Diesen Tonfall erkannte sie sofort, maßlose Erleichterung ließ ihre Knie weich werden. Der Stuhl rutschte ihr aus den Händen. Krachend schlug er auf den Boden auf. Die langen Finger, die ihre bedeckten, musste sie nicht sehen, die Schwielen an den Fingerspitzen, vom Lautenspiel bewirkt, nicht spüren. Nicht einmal die braunen Augen mit den winzigen grauen und grünen Punkten brauchte sie zu sehen, um zu wissen, wer sie an sich presste.

„Ben …“ Ihre Stimme brach. Weil er da nicht zu viel hineindeuten sollte – er besaß ein ausgezeichnetes Gehör und kannte sie gut genug, um alle ihre Gefühle zu ergründen – trommelte sie mit einer Faust auf seinen Unterarm. Er zuckte zusammen. Das ignorierte sie und trommelte weiter, bis sie erschöpft an seine Brust sank. „Du Narr, Benedict! Halb zu Tode hast du mich erschreckt.“

Noch ein warmer Kuss liebkoste ihren Nacken. Dagegen sträubte sie sich nicht, denn er hatte sie so lange nicht mehr besucht. Und sie mochte ihn wirklich.

„Tut mir leid, kleine Blume. Aber ich hatte es eilig und fand keine Zeit, Herolde vorauszuschicken.“

Sie drehte sich um und packte ihn bei den Schultern. „Vermutlich ist ein armer gehörnter Ehemann hinter dir her“, meinte sie leichthin.

In der Finsternis konnte sie seine Miene nicht erkennen. Doch er trat seufzend zurück. „Ah, Rose, du triffst mich bis ins Mark. Immer denkst du nur das Allerschlimmste von mir.“

„Gibt es etwa keinen Grund dafür?“

Schweigen. Dann, in sanftem Ton: „Wenn ich unwillkommen bin, bleibe ich nicht hier, Rose.“

Impulsiv und schuldbewusst tastete sie nach seiner Hand und drückte sie an ihre Wange. „Nein, Ben, verzeih mir. Natürlich bist du willkommen. Viel zu lange warst du nicht hier. Mein Haus ist deines, fühl dich wie daheim.“

„Ein Heim habe ich nicht, chérie“, erwiderte er mit seiner charakteristischen verführerischen Stimme und presste ihre Hand an sein Herz. „Besäße ich eines, wärst du sein leuchtendes Feuer und würdest die Zehen des Hausherrn in winterlichen Nächten wärmen.“

Lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Versuch nicht, mir zu schmeicheln, du Schurke. Hast du noch nicht gemerkt, dass ich gegen deine Listen gefeit bin?“

„Niemals gebe ich die Hoffnung auf, Rose.“

„Oh?“

„Darf ich bei dir wohnen, solange ich mich in Quimperlé aufhalte?“

„Möchtest du nicht unten in der Burg schlafen?“

„Lieber nicht. In der Halle einer Burg findet ein fahrender Sänger nur selten Ruhe.“

Rozenn nickte, obwohl er sie im Dunkel nicht sah. Sie hatte vergessen, was ihn in der Burg erwarten würde. Ständig würde man ihn beanspruchen, als Musiker, als Sänger, als Trinkgefährten und … Nein, das wollte sie sich nicht vorstellen. In ihrem Haus konnte er Frieden genießen, dieser Gedanke erwärmte ihre Seele. Und sie waren ja auch schon seit jeher befreundet.

„Natürlich, Ben, darum musst du mich nicht eigens bitten.“ Kaum waren ihr die Worte entschlüpft, überlegte sie, ob es klug war, ihm Obdach zu gewähren – einem Mann, der in einem gefährlichen Ruf stand. Noch dazu jetzt, nach dem Tod ihres Gemahls … Wie auch immer, sie ging an ihm vorbei in die Stube, von der letzten schwachen Glut des Feuers geleitet, ergriff den Span und zündete eine Kerze an. Dann schürte sie die Flammen im Herd und drehte sich um. „Tretet doch bitte ein, werter Herr“, spottete sie.

„Besten Dank, kleine Blume.“ Ben holte die Sachen, die er durchs Fenster in die Werkstatt geworfen hatte. Im Kerzenschein erkannte Rozenn seine Lautentasche, die sie vor vielen Jahren genäht hatte – ihre erste und letzte Arbeit, die aus Leder bestand. Dabei hatte sie zwei Fingerhüte ruiniert und sich die Finger bis zu den Knochen zerstochen. Nie mehr würde sie Leder verarbeiten, hatte sie sich gelobt.

Ben warf seinen Umhang auf einen Stuhl. Die Stirn gefurcht, musterte er das zerwühlte Bett. Rozenn betrachtete ihrerseits sein Haar. Nach der normannischen Mode war es im Nacken kurz geschnitten, vorne etwas länger. Schwarze Stirnfransen fielen bis zu den Brauen hinunter. Ungeduldig strich er sie beiseite.

Seine Frisur ist zerzaust, weil er vor jemandem weglaufen musste, dachte sie und richtete ihr Augenmerk auf seine Kleidung, damit sie nicht wie all die liebeskranken Frauen seine markanten Züge anstarrte. Aber sogar ein schneller verstohlener Blick hatte ihr eine beklemmende Tatsache verraten: Noch immer sah Benedict viel besser aus, als es einem Mann zustand. Das war ungerecht. Doch sie musste Mikaela zustimmen – diese dunklen Augen, die einen so sanften Ausdruck annahmen, wenn er jemanden anschaute, wirkten fast unwiderstehlich. Sein Gesicht war schmaler geworden – nicht mehr das Gesicht eines Jungen, sondern das eines Mannes im besten Alter. Er schien sich länger nicht rasiert zu haben, und das verlieh ihm eine etwas anrüchige, gefährliche Aura. Allerdings fand Rozenn das nicht reizlos, weil er eben Ben war. Seine äußere Erscheinung kam seinem Beruf ebenso zugute wie sein kunstvolles Lautenspiel.

Seufzend schüttelte sie den Kopf und inspizierte seine Kleidung, deren Qualität sie fachkundig einschätzte. Unter dem schlichten Umhang – nach seinem Standard viel zu schäbig und für die heiße Sommernacht zu warm – war ein glanzvolles Gewand zum Vorschein gekommen. Ja, das passte zu dem Ben, den sie kannte – die Ausstattung eines Prinzen, eines Mannes, der sein Brot verdiente, indem er Aristokraten unterhielt. Und Aristokratinnen, fügte eine bissige innere Stimme hinzu. Im Kerzenlicht schimmerte eine eisvogelblaue seidene Tunika, ein Gürtel mit funkelnder Silberschnalle betonte die schmale Taille und die breiten Schultern. Dazu trug er ein eng anliegendes Beinkleid aus feinem grauem Leinen, mit einer Verschnürung, die zum Blau der Tunika passte. Und die Stiefel …

„Rose!“ Sichtlich verwundert sah er sich um. „Wo ist Per?“

Sie holte tief Luft, schaute in seine Augen und wünschte, die Nacht wäre nicht so stickig. Dann könnte sie freier atmen. „Oh, Ben, so viel muss ich dir erzählen …“

Und so saß er am Tisch und trank edlen Rotwein, verspeiste ein Stück Hühnerpastete und gab vor, was Rozenn ihm berichtete, seien Neuigkeiten für ihn.

Schweigend hörte er zu, während sie schilderte, wie schnell die Krankheit ihren Gemahl dahingerafft hatte. Vergeblich hatte sie sich bemüht, ihn gesund zu pflegen. Ben beobachtete die Trauer, die ihre Augen überschattete, schob seinen leeren Teller beiseite und berührte ihre Hand, die sie ihm schnell entzog. „Du hast ihn sehr gemocht, nicht wahr?“

Ihr Haar hatte sich aus dem Zopf gelöst und hing herab. Den Kopf gesenkt, schlang sie die dichten braunen Locken im Nacken zusammen. Ihre Stimme klang gepresst. „Natürlich mochte ich ihn, er war mein Ehemann.“

„Rozenn …“ Behutsam hob er ihr Kinn und griff wieder nach ihrer Hand. „Hast du mir noch mehr zu sagen.“

„Ja“, gestand sie bedrückt, „Per hatte Schulden.“

Weil Ben ihre Gewissenhaftigkeit kannte, wusste er, wie beschämt sie sich fühlen musste. Also versuchte er, die Sache herunterzuspielen: „Haben wir die nicht alle?“

„Über ein paar Münzen da und dort rede ich nicht. Es ging um beträchtliche Summen. Nach der Beerdigung klopfte die halbe Stadt an meine Tür und verlangte Geld.“ Schmerzlich lächelte sie, und er sah zum ersten Mal wieder die Grübchen in ihren Wangen. „Welch eine Ironie … Ich entschied mich für Per, weil ich Sicherheit wollte – nein, brauchte. Und er war bis über beide Ohren verschuldet. Glaub mir, wenn ich je wieder ein Kerbholz sehe, springe ich auf das nächstbeste Pferd und flüchte aus dem Herzogtum.“

„Auch in der Normandie gibt es Kerbhölzer, chérie.“ Lächelnd strich er mit einem Daumen über ihren Handrücken. Da umklammerte sie seine Finger, als wollte sie ihn nie wieder loslassen.

Unter dem dünnen Nachthemd hoben und senkten sich ihre Brüste und zogen immer wieder seinen Blick auf sich. Unsinn, Rose sieht einen Bruder in mir, dachte Ben und zwang sich, ihr Gesicht zu betrachten. Diese Grübchen, die Küsse herausforderten – und die einladenden vollen Lippen … Nein. Nein! Was ging ihm bloß durch den Sinn? Hastig ließ er ihre Hand los und umfasste seinen Weinbecher. Freimütig hatte Rose zugegeben, dass sie sich nach Sicherheit sehnte. Die konnte er ihr nicht bieten. Glücklicherweise schien sie nichts von seinen lustvollen Gedanken zu ahnen.

Er zeigte auf den Geldbeutel an seinem Gürtel. „Ein paar Deniers habe ich bei mir, wenn dir das hilft, ma belle. Erzähl es Comtesse Muriel nicht – neulich war ich mit Herzog Hoël in Rennes. Dort zahlte er eine Menge Geld, um Turolds neues ‚Rolandslied‘ zu hören.“

Als Rozenn nickte, verstand er, dass sie keine näheren Erklärungen brauchte. Vielleicht wusste sie nichts von seiner geheimen Tätigkeit für den Herzog, aber gewisse Tatsachen waren allgemein bekannt. Während Hoël das Herzogtum Bretagne offiziell regierte, legten viele Barone, darunter Comte Remond von Quimperlé, nur Lippenbekenntnisse zur Autorität des Herrschers ab. Tag für Tag schlossen und brachen die Aristokraten neue Bündnisse. Mit Bretonen und Normannen, mit allen Leuten wurden Geschäfte gemacht, nur der momentane Vorteil zählte. Die Adeligen besaßen etwa so viel Ehrgefühl wie höfische Huren.

Rozenn legte eine Hand auf Bens Arm, nur eine ganz leichte, freundschaftliche Berührung. Trotzdem krampften sich seine Bauchmuskeln zusammen, rührten sich sinnlichere Körperstellen, die sich gar nicht rühren dürften. Ärgerlich runzelte er die Stirn.

„Nett von dir, Ben, aber nicht nötig. Glücklicherweise bot Mark mir einen vernünftigen Preis für einen Großteil von Pers Stoffballen an. Hoffentlich kann ich den Rest auf dem Markt verkaufen.“

Nett. Das war neu … „Also kannst du Pers Schulden begleichen?“

„Ja.“

„Das freut mich. Rose?“

„Hm?“, murmelte sie und unterdrückte ein Gähnen.

„Wenn du mich jemals brauchst, für irgendetwas, musst du es nur sagen.“ Er führte ihre Hand an seine Lippen. „Stets zu deinen Diensten.“

Ihre braunen Augen schienen zu tanzen, die Grübchen zu locken. „Das weiß ich. Leider bist du zu selten hier, um mir beizustehen.“

Schuldbewusst senkte er den Blick. War es ein Fehler, Rose zu benutzen, um nach England zu gelangen? Für ein Nomadenleben eignete sie sich ebenso wenig wie seine Mutter – wie die meisten Frauen. Rozenn wünschte sich Sicherheit, eine angesehene Position. Natürlich verstand er das. Aber insgeheim überlegte er, ob sie damit nicht nur unablässig den vermeintlichen Makel bekämpfte, ein Findelkind zu sein. Wäre es für Herzog Hoël nicht lebenswichtig, eine Verbindung mit seinen Männern in England herzustellen, würde Ben den ganzen Plan aufgeben …

„Hast du etwas von Adam gehört, seit er abgereist ist, Rose? Als ich von der Schlacht bei Hastings hörte, betete ich, er möge am Leben bleiben.“

„Zum Glück hat er die Kämpfe überlebt. Ein Bote überbrachte Comte Remond diese Nachricht. Bei Hastings konnte Adam sich sogar auszeichnen. Dafür belohnte ihn Herzog William, der neue König von England, mit einem Landgut und einer Ehefrau.“

„Mit einer Ehefrau?“

„Ja, sie heißt Cecily of Fulford.“ Diesmal gähnte Rozenn unverhohlen. „Ich werde die beiden bald besuchen.“

„Tatsächlich?“ Ben heuchelte ungläubiges Staunen. „Meine Rozenn verlässt Quimperlé? Unmöglich!“ Sie warf ihm einen so seltsamen Blick zu, dass er beschloss, seine Verblüffung nicht zu übertreiben, und den Kopf schüttelte. „Adam – wieder verheiratet – kaum zu fassen … Arme Frau, niemals wird er sie so innig lieben wie seine Gwenn.“

„Wie könnte er? Aber er ist herzensgut und sicher ein rücksichtsvoller Ehemann – das wird genügen.“

„Ach, wirklich? Galt das auch für deine Ehe? War Per rücksichtsvoll?“

„Jetzt gehst du zu weit, Ben“, mahnte sie erbost, „obwohl du ein alter Freund bist …“ Dann ließ sie die Schultern hängen, und ihr Zorn verflog. „Wie du inzwischen weißt, war Per nicht rücksichtsvoll. Warum nur hat er sich so viel Geld geliehen?“ Seufzend stützte sie ihr Kinn auf eine Hand und starrte ins Herdfeuer.

Dahinter musste noch mehr stecken. Ben wartete, aber Rozenn schwieg. Früher hätte sie ihm alle ihre Geheimnisse anvertraut. Durch sein Herz bohrte sich ein schmerzhafter Stich. Er musste etwas mehr über ihren geplanten Besuch bei Adam erfahren und herausfinden, was sie von Sir Richards Heiratsantrag hielt. Doch sie war müde und melancholisch gestimmt. Deshalb wollte er sie nicht bedrängen und sich bis zum Morgen gedulden.

„Tut mir leid, meine Kleine.“ Er neigte sich vor und berührte ihre Wange. „Sei nicht traurig. Sonst verschwinden diese Grübchen, und sie sind so schön.“

„Schöne Grübchen?“ Rose riss sich zusammen und bedeckte seine Hand mit ihrer. „Was für ein Narr du bist!“

„Es ist wahr, sie sind sehr schön. Von diesen Grübchen träume ich, und ich preise sie in meinen Liedern. Ihretwegen bekämpfen sich die Ritter auf ihren Turnieren …“

„Dummkopf. Oh Ben, es ist wunderbar, dich wiederzusehen. Ich – ich habe dich vermisst.“

„Und ich dich.“

Nun gähnte sie erneut.

Ben stand auf. „Hat Gräfin Muriel dich für morgen zu sich bestellt?“

„Ja, zum ersten Tageslicht.“

„Dann will ich dich nicht länger um deine Nachtruhe bringen. Morgen werden wir weitere Neuigkeiten austauschen.“ Um den unerklärlichen Wunsch zu verbergen, Rose bis zum Sonnenaufgang in seinen Armen zu halten, schlug er einen betont sachlichen Ton an. „Soll ich in der Werkstatt schlafen?“

„Was? Oh nein. Wenn du willst, mach dir ein Lager da drüben zurecht, auf der anderen Seite des Feuers.“

Sobald sie die Kerze ausgeblasen hatte und das Herdfeuer nur mehr ganz schwach flackerte, schlummerte Rozenn schnell ein. Sie lag in ihrem Bett auf der Seite, das Gesicht ihm zugewandt, eine Hand unter der Wange, die Lippen leicht geöffnet. Inständig hoffte Ben, das Wiedersehen würde sie ebenso beglücken wie ihn. Schon während der Kindheit hatte er sich in Rozenns Nähe stets froh und zufrieden gefühlt.

Jedes Mal, wenn er mit seinem Vater in der Burg nicht mehr willkommen gewesen und zu neuen Ufern aufgebrochen war, hatte er Rose nur widerstrebend verlassen. Auch diesmal würde ihm die Trennung schwerfallen. So eine liebe, gute Freundin …

In seinen Umhang gehüllt, lag er auf der Pritsche, die Rozenn für ihn hervorgeholt hatte, und betrachtete die sterbenden Flammen, bis er nur mehr glühende Asche sah. Endlich senkten sich seine Lider, und auch er fand den Schlaf, den er dringend brauchte.

Als das erste Morgenlicht durch die Ritzen der Fensterläden drang, erwachte Rozenn. So frohen Mutes war sie seit Monaten nicht mehr gewesen – wenn nicht sogar seit Jahren. Immer noch schläfrig, drehte sie sich auf den Rücken. Doch sie durfte nicht trödeln, denn der Hahn der Nachbarn krähte, und Comtesse Muriel hatte sie bei Tagesanbruch ins Sonnengemach bestellt.

Die Gräfin und ihre Damen arbeiteten an einem Wandbehang, der in der großen Halle hinter dem Podest hängen sollte. Die verschiedenen Muster und Figuren hatte Rozenn entworfen. Auch ohne ihren Beistand könnten die Frauen die Bilder sticken. Trotzdem wünschte die Comtesse die Anwesenheit ihrer Näherin, während sie sich alle mit dem Kunstwerk befassten.

Auch das war ein Grund, warum Rozenn ihre Absicht geheim hielt, nach England zu Adam und Sir Richard zu reisen. Wenn sie fürchtete, Mikaela und ihre Ziehmutter zu erschüttern – darum, wie die Gräfin reagieren würde, sorgte sie sich noch mehr. Normalerweise besaß Comtesse Muriel ein ausgeglichenes Gemüt. Aber wenn man ihr in die Quere kam, konnte sie boshaft und rachsüchtig sein. Und da der Wandteppich derzeit ihren Lebensinhalt darstellte – oh Gott …

Die Augen fest zugekniffen, gönnte Rozenn sich noch ein paar Minuten im Bett und ließ ihre Gedanken schweifen. Wenn der Wandbehang – achtzehn Fuß lang und ebenso breit – vollendet war, würde er alle anderen in der Burg übertrumpfen. Beim ersten Anblick des entrollten, noch unbestickten Leinens im Sonnengemach war die Gräfin begeistert gewesen.

„Rozenn …“ Lächelnd ließ sie ihre Finger über die Figuren gleiten, die Rozenn mit Holzkohle auf den Stoff gezeichnet hatte. „Du bist einfach wundervoll. Um unsere Halle wird uns die ganze Bretagne beneiden. Dieser Reiter, der vor den anderen Jägern dahingaloppiert – ist das Comte Remond?“

„Ja, Comtesse.“

„Und diese Dame im Obstgarten des Schlosses – bin das ich?“

„Ja, Comtesse.“

„Das hast du gut gemacht, Rozenn“, hatte die Gräfin anerkennend bemerkt. „Gewiss wird dieses Kunstwerk das Ansehen meines Gemahls mehren.“

Und darin, nicht in der Zierde, lag der eigentliche Zweck des Wandbehangs. Glücklicherweise hatte Rozenn das sehr schnell erkannt und ihre beiden mächtigen Gönner in den Mittelpunkt der Bilder gestellt. Comte Remond war ehrgeizig, seine Comtesse ebenso, und der Wandbehang versinnbildlichte ihr Bestreben.

Solche Ambitionen verstand Rozenn, hegte sie doch ähnliche Wünsche. Bald würde sie einen Ritter heiraten, einen Ehrenmann. Niemals hätte Sir Richard ihr das goldene Kreuz geschenkt, würde er keine tiefen Gefühle für sie empfinden.

Seufzend streckte sie sich, öffnete die Augen – und beinahe blieb ihr das Herz stehen.

Ben.

Am anderen Ende des Raums lag er bäuchlings auf der Pritsche und schlief tief und fest, das Gesicht zur Wand gedreht. Sein schwarzes Haar war zerzaust. In der nächtlichen Hitze hatte er seine Tunika und die chainse – das Unterhemd – ausgezogen. Rozenn betrachtete seinen nackten Rücken. So groß wie ihr Bruder Adam oder wie Per war er nicht, aber er besaß einen wohlgeformten Oberkörper mit breiten, muskulösen Schultern und schmaler Taille.

Ein Arm hing über den Pritschenrand zum Boden hinab, und Rozenn musterte die Hand, die sie so gut kannte, die schmalen, entspannten Musikerfinger. Plötzlich wollte sie Ben berühren.

Wie albern … Anscheinend hatte sie ihn schmerzlicher vermisst, als es ihr bewusst gewesen war. Ihr Blick schweifte zu dem zerknitterten Umhang hinab, der seine Taille umgab, zu den Rundungen der darunter verborgenen Hinterbacken und schließlich zu den herausragenden nackten Füßen. Wenn Ben auch kein Krieger war, kein Sir Richard of Asculf, wirkte sein Körper erstaunlich kraftvoll. Er glich den Akrobaten und Tänzern, die letzten Monat die Burg besucht hatten. Natürlich – wie sie sich entsann, konnte er artistische Kunststücke vollbringen und tanzen wie die besten dieser Künstler.

Autor

Carol Townend
<p>Carol Townend schreibt packende Romances, die im mittelalterlichen England und Europa spielen. Sie hat Geschichte an der Universität London studiert und liebt Recherchereisen nach Frankreich, Griechenland, Italien und in die Türkei – historische Stätten inspirieren sie. Ihr größter Traum ist, den Grundriss einer mittelalterlichen Stadt zu entdecken, die einzelnen Orte...
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