Bianca Exklusiv Band 291

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MEIN RÄTSELHAFTER MÄRCHENPRINZ von GREEN, CRYSTAL
Freundlich erklärt Naomi dem überforderten Dave die Bedienung der Waschmaschine. Ist es die große Liebe, die im Waschsalon beginnt? Doch je näher sie sich kommen, desto größer werden ihre Zweifel. Wer ist der Mann, der großzügig teure Geschenke macht, aber mit seinen Gefühlen geizt?

AM TAG UND BEI NACHT ... von FERRARELLA, MARIE
Job und Vergnügen hält der erfolgreiche Anwalt Travis Marlowe stets getrennt. Bis die schöne Shana eines Morgens in seinem Büro auftaucht. Hals über Kopf stürzt er in eine zärtliche Romanze. Doch Vorsicht: Shana darf auf keinen Fall merken, dass er etwas vor ihr verbirgt …

EIN LIEBESBRIEF MIT FOLGEN von BRADFORD, LAURA
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  • Erscheinungstag 08.12.2017
  • Bandnummer 0291
  • ISBN / Artikelnummer 9783733733117
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Crystal Green, Marie Ferrarella, Laura Bradford

BIANCA EXKLUSIV BAND 291

1. KAPITEL

Naomi Shannon saß neben dem Trockner und blätterte eine College-Broschüre durch, als der Mann mit dem feuerroten Tomatenfleck auf seinem Hemd den Waschsalon betrat.

Die Glocke über der Tür bimmelte und – wow! – da war er.

Eine Aura von unterdrücktem Zorn schien ihn zu umgeben, als er geradewegs auf den Waschmittel-Automaten zusteuerte. Die selbstbewusste und sichere Art seiner Bewegungen zog ihre Aufmerksamkeit magisch an. Durch seine bloße Anwesenheit beherrschte er den ganzen Raum.

Als er mit in die Hüften gestemmten Händen vor dem altertümlichen Waschmittelspender stand, ermahnte Naomi sich, ihn nicht länger anzustarren. Erstens einmal war es unhöflich, und, viel wichtiger noch, es stand nicht auf ihrer To-Do-Liste.

Und dennoch … sie konnte nicht anders.

Dunkelblondes, ordentlich und relativ konservativ geschnittenes Haar. Neue Jeans und ein frisches, hellblaues Hemd, das die Farbe seiner Augen widerspiegelte. Lederstiefel, die ebenfalls neu zu sein schienen. Er war schlank, aber durchtrainiert und muskulös, und auf seinen sonnengebräunten Armen traten die Adern hervor. An seinem Kiefer zuckte ein Muskel, trotzdem wirkte er unter ihrem prüfenden Blick cool und gelassen.

Natürlich war Naomi klar, weshalb er den Waschsalon aufgesucht hatte, der hässliche rote Fleck auf seinem ansonsten perfekten Hemd sprach Bände.

Es gelang ihr nicht, die Augen von ihm abzuwenden. Er nahm sich viel Zeit vor dem Automaten, genug Zeit, dass sie eine Gänsehaut bekam …

Starr ihn nicht so an.

Sie schüttelte den Kopf und widmete sich mit doppelter Aufmerksamkeit den in ihrer Broschüre aufgelisteten Kursen.

Ihre Wäsche im Trockner drehte sich mit einem monotonen Bum, bum, bum, das ihren Herzschlag zu wiederholen schien.

Doch Naomi hatte nicht fast das ganze Land von Kane’s Crossing bis hierher nach Placid Valley in der Nähe von San Francisco durchquert, um sich schon wieder in einen Mann zu verlieben. Der Himmel wusste, dass sie schon genug Ärger wegen Männern hatte.

Im Fernsehen erklang die Titelmelodie von Flamingo Beach, der Soap, die jeden Vormittag um diese Uhrzeit über den Bildschirm flimmerte. Endlich brauchte sie den Fremden nicht mehr anzuschauen – ihre Augen fanden ein besseres Ziel.

Unter dem Fernseher, der in einer Ecke oben an der Decke befestigt war, versammelten sich die üblichen Leute. Obwohl Naomi noch recht neu in der Stadt war, hatte sie schon Freundschaft mit einigen der Frauen geschlossen. Ungefähr zehn Personen versammelten sich hier an jedem Wochentag, um sich die neueste Folge der Seifenoper gemeinsam anzusehen, und nach und nach hatten sie Naomi in ihren Kreis aufgenommen. Heute waren nur etwa sechs der zum harten Kern gehörenden Leute da, die alle ihre Wäsche wuschen.

Freunde, dachte sie. Schön, schon ein paar Freunde in dieser neuen Stadt zu haben.

Mit einer Hand strich sie über ihren noch flachen Bauch. Obwohl wir es auch allein schaffen würden.

Sie klopfte sanft auf die Stelle, wo ihr Baby wuchs, und wandte sich dann wieder dem Fernseher zu, wobei sie sich der Anwesenheit des Fremden in ihrem Rücken immer noch viel zu deutlich bewusst war.

„Hier sind jede Menge freie Stühle“, rief eine Blondine, die dunkle Wäsche in einen Trockner stopfte, Naomi zu, während eine Werbepause das wahre Drama von Flamingo Beach verzögerte.

Nachdem sie den Trockner eingeschaltet hatte, bedeutete sie Naomi, sich zu ihnen zu gesellen, während sie selbst Platz nahm, die langen Beine übereinanderschlug und den Rock ihres schicken, pinkfarbenen Kleides glattstrich.

Heute hatte Jenny Hunter ihren sogenannten „Home-Office“-Tag, also den Tag, an dem sie einmal in der Woche von zu Hause aus arbeitete. Sie erzählte Naomi immer, wie einsam sie sich jeden Mittwoch fühlte, wenn sie in ihrer Wohnung war. Sie brauchte Menschen um sich und vermisste die Geschäftigkeit ihres Büros mitten in der Stadt. Deshalb erledigte sie ihre Wäsche am liebsten im Waschsalon, wo sie nette Gesellschaft hatte.

Naomi schlug ihre Broschüre zu. „Komme.“

Trotzdem zögerte sie und warf noch rasch einen Blick hinter sich auf den fremden Neuankömmling.

Er kämpfte mit einem widerspenstigen Hebel des Automaten, und dabei war sein Gesicht so angespannt, dass Naomi sich allmählich Sorgen um ihn machte.

„Naomi? Es geht los.“

Aus ihrer träumerischen Betrachtung des Fremden gerissen, wandte sie sich um und begegnete Meis leicht amüsiertem Blick, die es sich mit einem Armvoll Kinderkleider auf einem der Stühle vor dem Fernseher bequem machte. Mei kam ursprünglich aus Hongkong, lebte aber schon seit ihrer Jugend in San Francisco. Langes schwarzes Haar, sahnefarbener Teint und ihr mütterliches Auftreten ließen sie reifer erscheinen, obwohl sie nur wenig älter war als Naomi mit ihren vierundzwanzig Jahren.

Meis amüsiertem Lächeln nach zu urteilen, waren ihr Naomis intensive Blicke auf den Typen mit dem Tomatenfleck nicht entgangen.

Aber gut, die Freundinnen im Waschsalon wussten schließlich, dass Naomi nicht auf der Suche nach einem Mann war. Die Sache in Kane’s Crossing mit Bill Vassey war so gründlich schiefgelaufen, dass Naomi zumindest in absehbarer Zeit keine Lust auf eine Wiederholung hatte.

Geistesabwesend legte sie eine Hand auf ihren Leib. Sie trug ihr Baby jetzt etwas mehr als zwei Monate im Bauch, und sie wusste noch nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen werden würde. Demnächst war die zweite Vorsorgeuntersuchung fällig. Glücklicherweise hatte sie schnell einen neuen Job bei Trinkets gefunden, durch den sie zumindest in bescheidenem Umfang krankenversichert war.

Dieses Kind gehörte ihr, nur ihr allein. Es war das Beste, was ihr je geschehen war, auch wenn sie hatte umziehen müssen, um noch einmal ganz von vorn anzufangen.

Du allein zählst, mein Süßes, niemand sonst. Nur du und ich.

Alle klatschten erfreut in die Hände, als die Seifenoper endlich weiterging, und Naomi stand auf, um sich zu den anderen zu gesellen, die sich ironisch „Der Club der einsamen Herzen“ nannten.

Doch sie schaffte es nicht zu ihrem freien Platz vor dem Fernseher.

Mister Tomatenfleck stand noch immer erfolglos vor dem Waschpulver-Automaten. Mitleid erwachte in ihr. Sie bedeutete Mei, dass sie gleich kommen würde … und schlenderte zu ihm hinüber. Einer musste ihm doch helfen. Auch wenn sie in Pflegefamilien aufgewachsen war, waren Höflichkeit und Hilfsbereitschaft keine Fremdwörter für sie.

Inzwischen hatte er sein Portemonnaie herausgezogen und stand vor dem Geldwechsler. Wahrscheinlich hatte der Waschpulver-Automat all seine Münzen verschluckt, ohne auch nur die kleinste Menge Waschmittel herauszugeben. Naomi war es bei ihrem ersten Besuch hier nicht anders ergangen.

Sie stand hinter seinem breiten Rücken, der sich zu schmalen Hüften hin verjüngte, und räusperte sich. Als er sich zu ihr umdrehte, lief es ihr ganz unerwartet heiß den Rücken hinunter.

Seine Augen waren so unglaublich blau, dass sie gar nicht anders konnte, als ihn anzustarren.

Eine endlose Sekunde lang brachte Naomi kein einziges Wort heraus. Nicht einmal ein simples „Hi“.

Stattdessen stand sie unbeholfen wie ein kleines Mädchen vor diesem Mann, der sich so aufreizend selbstbewusst gab.

Das dachte sie zumindest, bis ihr bewusst wurde, dass auch er sie in gewisser Weise anstarrte.

Seine Miene wechselte unvermittelt, und er betrachtete sie jetzt mit einer gewissen Distanz, als wäre sie ein Zimmermädchen, das unangemeldet sein Hotelzimmer betreten hatte.

Naomi verdrängte ihre aufkommende Verlegenheit. In ihrer Heimatstadt war ihre Hautfarbe immer ein heikles Thema gewesen. Da ihre Mutter sie schon als kleines Kind weggegeben hatte, wusste Naomi nicht wirklich, woher ihr etwas dunklerer Teint stammte.

„Ich …“ Sie wies auf den Waschmittel-Automaten. „Ich habe … beobachtet, wie Sie vergeblich versuchten, unser Seifenmonster in Gang zu bringen. Ich habe einen ganz guten Draht zu dem Ding und könnte Ihnen behilflich sein, wenn Sie möchten.“

Er zog eine Augenbraue in die Höhe und brachte damit all seine männliche Überheblichkeit zum Ausdruck. Sehr eindrucksvoll angesichts seines bekleckerten Hemdes.

„Eigentlich“, erwiderte er leise und gemessen, „bin ich sicher, dass ich …“ Er unterbrach sich, und seine Miene wurde ernsthaft, als hätte ihn etwas irritiert.

„Sie haben einen ‚Draht‘?“, wiederholte er.

Ihre Blicke trafen sich, und sie ermahnte sich, auf keinen Fall zu erröten. Nicht rot werden, nicht rot werden …

Mit heißen Wangen drehte sie sich auf dem Absatz um. Sie fischte ein paar Münzen aus ihrer Rocktasche, um den Automaten in Gang zu setzen, und spürte dabei seine Blicke in ihrem Rücken. Heiß und durchdringend.

Um ihre Unsicherheit zu überspielen, konzentrierte sie sich auf Flamingo Beach. Die Helden der Serie, Dash und Trina, flüsterten sich gerade Liebesschwüre zu. Doch es klang wie Kauderwelsch in ihren Ohren, genauso unverständlich wie die Befehle, die ihr Gehirn an ihre zittrigen Finger aussandte.

Du bist nicht auf der Suche nach einem Mann, sagte sie sich immer wieder vor.

Während sie an dem Automaten herumfummelte, räusperte sie sich erneut, riskierte einen Blick über die Schulter zurück und musste lächeln.

Tatsächlich waren seine Blicke auf sie gerichtet.

Ja! Oder besser … nein. Er sollte sie nicht so interessiert mustern. Warum das Leben komplizierter machen, als es ohnehin schon war?

Nicht auf der Suche nach einem Mann …

Der Automat kam allmählich in Schwung, und Naomi sprach sich Mut zu, ehe sie sich nach Mister Tomatenfleck und seinen blauen Augen umdrehte. Sie brauchte nur die Hand auf ihren Bauch zu legen, um ihre Bodenhaftung zu spüren.

Mit der anderen Hand bediente sie weiter den Automaten, fest entschlossen, sich nicht noch einmal von den blauen Augen des Fremden verwirren zu lassen.

Schließlich musste sie an ihr Baby denken.

Und da gab es auch noch ihr gebrochenes Herz und ihren Stolz.

David Chandler kannte solche Tage normalerweise nicht.

Während er darauf wartete, dass die freundliche, hilfsbereite junge Frau den Automaten zähmte, fragte er sich, ob ihm seine Verlegenheit anzusehen war.

Ausgerechnet ihm, der so sehr an den perfekten Ablauf sorgfältig geplanter Meetings gewöhnt war, bei denen es um den Aufkauf von Fernseh- oder Radiosendern, Hotels oder anderer Unternehmen ging.

Ihm, dem Firmenchef eines Milliarden-Unternehmens.

„Dieser Besuch hier im Waschsalon war wohl nicht geplant, oder?“, fragte die junge Frau, die ihm noch immer den Rücken zuwandte.

„Genau. Mein Hotel ist in der Stadt, und ich wollte wegen eines frischen Hemdes nicht extra dorthin zurück.“ Andererseits hatte er nicht vor, den Rest des Tages mit einem Tomatenfleck herumzulaufen. „Bisher bin ich an keinem Bekleidungsgeschäft vorbeigekommen und wusste auch nicht, wann ich eines finden würde. Und dann sah ich den Waschsalon hier.“

Dass er die Kontrolle über diesen Tag so schnell verloren hatte, frustrierte ihn ungemein.

Normalerweise brachte ihn nichts aus der Ruhe. Niemals. Aus diesem Grund glaubten die Angestellten seiner The Chandler Corporation – kurz TCO genannt – auch, ihr Chef sei ein wahrer Eisblock.

„Dann willkommen im Club“, erwiderte sie und warf ihm ein Lächeln zu.

„Freut mich, hier zu sein“, sagte er nicht ganz wahrheitsgemäß. Aber es war immerhin schon mal positiv, einer freundlichen und noch dazu sehr hübschen Einheimischen begegnet zu sein.

Ob zu Hause in New York wohl alles glattlief?

Ein schweres Gewicht schien sich augenblicklich auf seinen Brustkorb zu senken. Diese Unruhe quälte ihn in letzter Zeit öfter als ihm lieb war, obwohl er im Grunde darauf vertraute, dass sein älterer Halbbruder Lucas die Geschäfte in der Firmenzentrale im Griff hatte. Seit eineinhalb Jahren hatte Lucas diese Stellung nun inne und hatte sich vom ehemaligen Playboy zum verantwortungsvollen Chef eines Familienunternehmens gewandelt.

Geschäftspartner, Gesellschaft und Presse waren alle in höchstem Maße überrascht gewesen von Lucas’ Wandlung, doch David allein kannte den wahren Grund dafür. Die Ehe. Die Ehe mit einer Frau namens Alicia, der es auf wundersame Weise gelungen war, den Don Juan zu zähmen.

Ironischerweise hatte ausgerechnet David diese Ehe eingefädelt.

Das Gewicht auf seiner Brust fühlte sich jetzt noch schwerer an. Er war nicht gerade stolz auf seine Rolle in diesem Komplott, obwohl sich alles zum Besten gefügt hatte. Das Paar hatte sich ineinander verliebt, trotz all der Lügen, mit denen Lucas auf Davids Geheiß die unschuldige, naive Alicia erobert hatte. Sie hatte wirklich an Lucas’ Liebe geglaubt, der sie anfangs jedoch nur wegen ihres guten Rufes aus Publicitygründen umworben hatte. Doch schließlich verliebte auch Lucas sich in sie, und als es zum Happy End kam, brachte David es nicht über sich, die Wahrheit ans Licht zu zerren.

In letzter Zeit hatte er immer häufiger versucht, seinem Bruder und dessen Frau aus dem Weg zu gehen, doch es gelang ihm kaum, sie aus seinen Gedanken zu vertreiben. Und jetzt stand diese Frau vor ihm, die ihn auf den ersten Blick an Alicia erinnerte. Erst als er ihren leichten Südstaatenakzent vernahm, erholte sich David ein wenig von seiner Überraschung über die frappierende Ähnlichkeit.

Genau wie Alicia hatte diese Frau dickes, lockiges braunes Haar, doch im Gegensatz zur Frau seines Bruders, deren Haare länger und etwas dunkler waren, trug die Fremde einen kinnlangen Bob. Auch ihre Augen waren größer und hatten einen olivfarbenen Braunton. Außerdem war sie größer und schlanker und ihre Haut etwas dunkler.

Nicht etwa, dass er „Gefühle“ für Alicia gehabt hätte. Davids Interesse hatte in Wahrheit mehr damit zu tun, dass er haben wollte, was Lucas hatte; die Beziehung zwischen Alicia und seinem Bruder war es, die ihn faszinierte. Dass David glücklich für seinen Bruder war, stand außer Frage.

Dennoch war er irgendwie neidisch, und dafür schämte er sich.

Bei diesem Gedanken wandte er seinen Blick von der Fremden ab und richtete ihn auf die Leute, die aufmerksam die Seifenoper verfolgten. Er zog sich wieder zurück in seine bequeme, kalte Schale, und sein Puls nahm seinen alten, kontrollierten Rhythmus auf. Ihm wurde klar, dass ihr erster Blickkontakt einen wahren Adrenalinstoß in ihm erzeugt hatte, und er fragte sich, ob sein Interesse an ihr dem Wettstreit mit seinem Bruder entsprang.

Der Druck auf seiner Brust nahm ihm fast den Atem.

Er musste sich unbedingt von diesem quälenden Neid befreien, der der Auslöser für diese „Auszeit“ war, die er sich genommen hatte.

Die muntere Stimme der Frau unterbrach seine Gedanken. „Na bitte! Ich glaube, Ihr kleines Waschpulver-Problem ist gelöst. Jetzt müssen Sie nur noch die Sorte wählen.“

David nahm seine gewohnte unnahbare Haltung ein, schließlich wurmte es ihn doch ziemlich, dass er an einem simplen Waschpulver-Automaten gescheitert war. Doch dann überlegte er sich, was sein Stolz ihm an diesem Ort bringen sollte, wo niemand ihn kannte.

„Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren … ‚Draht‘.“

„Ach, wissen Sie, am Anfang hatte ich das gleiche Problem mit diesem Automaten“, lachte sie. „Aber inzwischen haben wir uns aneinander gewöhnt. Was für ein Waschmittel wollen Sie?“

„Irgendeines.“

Er trat einen Schritt näher. Als sie sich lächelnd umwandte, ließ ihn der zarte, frische Duft ihres Haars für einen Moment die Augen schließen.

Spielerisch kreiste sie mit dem Finger über den verschiedenen Knöpfen und drückte schließlich den mittleren nach unten, bis eine kleine Schachtel herauspurzelte.

„Meine Lieblings-Marke.“ Mit einem stolzen Lächeln hielt sie ihm die Schachtel hin. „Genau das Richtige für diesen Fleck auf Ihrem Hemd.“

Sie strahlte ihn an.

Und da war wieder das beklemmende Gefühl in Davids Brust. Ein Pochen, das David nicht verstand, wie ein verschlüsseltes Signal seines Gehirns an seinen Körper.

Er nahm ihr das Waschpulver aus der Hand, als ihm einfiel, dass er sich noch nicht vorgestellt hatte. „Vielen Dank noch einmal. Ich bin Dav…“ Er unterbrach sich und beschloss spontan, seinen Namen abzukürzen. „Dave“, vollendete er schließlich den begonnenen Satz. „Ich bin Dave.“

„Sehr erfreut. Ich heiße Naomi.“ Sie schüttelte seine Hand.

Dieser Augenblick war die Geburt von Dave.

Sein Beschützerinstinkt erwachte, als ihm bewusst wurde, wie klein sich ihre Hand anfühlte. Ein Funke entzündete sich an seinen Fingern, wanderte seinen Arm hinauf und hinunter in seinen Bauch, wo er ein anderes, gefährlicheres Feuer entfachte.

Wortlos ließ er ihre Hand im gleichen Moment los wie sie seine. Aus großen Augen sah sie ihn an.

Bildete er es sich nur ein, oder war sie nervös geworden?

Er wusste es nicht. Er war nicht der Typ Mann, dem die Frauenherzen reihenweise zuflogen. Das war eher Lucas’ Fachgebiet. David dagegen pflegte auch in Herzensdingen seine Erfolgsaussichten erst sorgfältig abzuwägen, ehe er aktiv wurde.

„Tja, Dave“, sagte Naomi und verschränkte die Arme vor der Brust. „Da haben Sie allerhand Arbeit vor sich.“

Schlagartig wurde ihm klar, dass es außer ihnen beiden noch etwas anderes gab, und er schaute hinunter auf den roten Tomatenfleck auf seinem Hemd, den er beinahe vergessen hatte.

„Das da erhielt ich statt eines Mittagessens bei dem Italiener nebenan“, erklärte er und entspannte sich ein wenig. Er war Dave, nicht David. „Zwei Jungs rannten aus dem Restaurant, der eine warf dem anderen eine Tomate hinterher, verfehlte ihn aber.“ Er überlegte kurz und entschied dann, dass Dave hinzufügen würde: „Zum Glück für mich.“

„Ach, die Amati-Jungs. Das sind richtige Lausebengel. Ich höre ihr Geschrei jeden Tag bis in meine Wohnung.“ Auf seinen fragenden Blick hin fuhr sie fort: „Ich wohne gleich um die Ecke.“

„Scheint ja eine Spitzen-Wohnlage zu sein.“

„Na ja …“ Sie zuckte die Schultern. „Ich nutze übergangsweise die Wohnung meiner Freundin, die als Flugbegleiterin ständig durch die Gegend reist.“

Zu seiner Freude bemerkte David, dass er eine normale, gewöhnliche Unterhaltung mit jemandem führte. Wenn er sich selbst von außen hätte beobachten können, hätte er womöglich festgestellt, dass er nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Milliarden-Hai David Chandler hatte. Und dieses Gefühl gefiel ihm.

Doch während er weiter versuchte, sich von außen zu betrachten, erkannte er, dass er sich alles in allem noch nicht sehr verändert hatte. Gut, statt eines Designer-Anzugs trug er die neuen Freizeit-Klamotten, die er sich heute Morgen gekauft hatte. Doch was nützten ihm die Jeans, wenn er damit genauso steif wirkte wie im Anzug?

Ein seltsamer Gedanke streifte ihn. Wenn er sich zu diesen normalen Mittelklasse-Frauen vor dem Fernseher setzte, würden sie dann wohl glauben, er sei einer von ihnen?

Die bloße Vorstellung ließ ihn leichter atmen. Könnte er wirklich …?

Aber nein, was für ein Unsinn.

Naomi hatte sich kurz dem Geschehen auf dem Bildschirm zugewandt, wo eine gewisse Delia das romantische Stelldichein zwischen Trina und Dash störte. David hatte keine Ahnung, wer Trina und Dash waren, offensichtlich waren sie aber sehr wichtig.

„Das ist gar nicht gut“, kommentierte Naomi die Szene, ehe sie sich wieder David zuwandte. „Da fällt mir ein, ich habe hier einen Fleckenentferner, der würde wahrscheinlich besser wirken als das Waschmittel allein …“

Sie wühlte in ihrer großen Umhängetasche. „Hier. Da ist das Wundermittel.“

Automatisch griff David nach seinem Geldbeutel. „Vielen Dank. Wie viel …?“

„Oh, nein. Nehmen Sie es einfach. Ich habe daheim noch mehr davon.“

Dass diese Leute hier anscheinend nicht für jede Kleinigkeit entschädigt werden wollten, war eine neue Erfahrung für ihn. Einen Augenblick schwelgte er in der Anonymität.

Wenn sie gewusst hätten, wer er in Wirklichkeit war, wären sie dann wohl auch so aufgeschlossen und freundlich? Der Gedanke ernüchterte ihn.

„Danke“, erwiderte er schlicht und fügte mit einer Handbewegung zur Waschmaschine hinzu: „Also dann …“

„Okay.“ Naomi hob zum Abschied eine Hand und ging rückwärts in Richtung des Fernsehers. „Viel Erfolg.“

Am liebsten hätte David sie gebeten, ihm weiter behilflich zu sein, da er noch nie in seinem Leben ein Hemd gewaschen hatte, aber er würde es schon schaffen.

Als er das Hemd auszog, stellte er fest, dass der Tomatenfleck bis auf sein Unterhemd durchging. Verflixt. Er hatte wenig Lust, mit nacktem Oberkörper durch den Waschsalon zu laufen. Er würde das Unterhemd anbehalten und Naomis Wundermittel einfach aufsprühen.

Instinktiv hob er den Blick und bemerkte, dass Naomi ihn beobachtete. Aber sie schaute ganz schnell wieder weg, und er konnte nur staunen über den Stromstoß, der durch seinen Körper fuhr.

Er wandte sich ab und fuhr überrascht zusammen, als eine Asiatin mit langem Haar zu ihm trat und ihm ein schwarzes Hemd hinhielt.

„Das dürfte Ihre Größe haben. Mein … Mann hat in etwa Ihre Figur.“

Als sie zu ihrem Platz zurückging, tauschte sie einen Blick mit Naomi, die sich anscheinend nicht entschließen konnte, Platz zu nehmen.

David hielt das Hemd in die Höhe und rief ihr nach: „Sie bekommen es gleich wieder zurück.“

Die Frau nickte nur und setzte sich hin, um Kleidungsstücke zusammenzulegen.

Einen Moment lang durchzuckte ihn die Frage, was die Frau wohl als Gegenleistung von ihm erwartete. Er verstand nicht, wieso diese Leute sich so normal verhielten, während ihm das so gar nicht gelang.

Eine Blondine, die als Heldin eines Hitchcock-Films hätte durchgehen können, erhob sich nun und schlenderte betont unauffällig zum Getränkeautomaten in der Ecke. Auf dem Weg dorthin kam sie an einem Typen vorbei, der mit seinem Laptop beschäftigt war. Er trug zerschlissene Jeans und ein langärmeliges weißes Hemd über einem dünnen Shirt.

Als die Blondine auf ihrem Rückweg erneut an ihm vorbeiging, bedachte er sie mit einem unangenehmen Lächeln, das sie jedoch geflissentlich übersah. Daraufhin schüttelte der Mann den Kopf und grinste in sich hinein, während er den Fernseher im Auge behielt.

David hätte fast laut aufgelacht. War der Mann etwa ein heimlicher Seifenoper-Fan? Anscheinend ja.

David musterte jetzt die anderen Anwesenden eingehender, als er das üblicherweise tat. Er entdeckte eine lebhafte Inderin mit einem grell-orangefarbenen Sari über ihrem langen geblümten Rock, eine Rothaarige mit Igelfrisur und Punkerstiefeln, eine Brünette im Radtrikot …

Dann fiel sein Blick auf Naomi, die ganz auf die Serie konzentriert wirkte, so als hätte sie keinerlei Interesse an ihm.

Sein Körper reagierte derartig intensiv auf ihren Anblick, dass er sich fragte, ob er sich je zu einer Frau so hingezogen gefühlt hatte. Sicher hatte er die eine oder andere begehrt, doch dies hier war anders – ein heftiges, schier unkontrollierbares Verlangen.

Doch der Ursprung seiner Gefühle war falsch, oder etwa nicht? Sie erinnerten ihn an das ständige Genörgel seines Vaters.

Wann findest du endlich wie Lucas die richtige Frau?

Anscheinend war er unfähig, dieses eine Ziel im Leben zu erreichen, mit dem der ehemalige Taugenichts Lucas über den einstigen Lieblingssohn David triumphiert hatte.

Mit einer heftigen Bewegung zog David sich das Unterhemd über den Kopf und schlüpfte in das schwarze Hemd. Es lag eng an seinem Körper an, und als er an sich hinunterblickte, entdeckte er das kleine Logo auf der rechten Brusttasche – eine Hand mit ausgestrecktem Mittelfinger.

Von den Stuhlreihen her hörte er ein unterdrücktes Kichern.

Es kam von Naomi. Sie zuckte mit den Schultern, warf einen letzten Blick auf den Bildschirm und wandte sich dann ihm zu. „Tut mir leid. Sie sind ganz offensichtlich nicht so … extrovertiert. Meis Mann … ihr Exmann … oder was auch immer … ist manchmal, nun, wie soll ich sagen, ein wenig …“ Sie wedelte mit der Hand in der Luft herum.

„Rebellisch?“ Er sprühte seine beiden Hemden mit dem Fleckentferner ein und wollte ihn dann Naomi zurückgeben.

„Nein, wirklich, behalten Sie ihn“, wehrte sie ab. „Wer weiß, wann die Amati-Jungs Sie das nächste Mal erwischen.“

„Ich werde wohl kaum lange genug hier in der Gegend sein, dass das noch einmal passieren könnte.“

Sie sah ihn an, nickte und schien etwas verwirrt.

„Sie sind auf der Durchreise?“, fragte sie.

„Genau.“ Wie viel sollte er ihr erzählen? Er entschloss sich, die Wahrheit ein wenig zu strapazieren, für den Fall, dass das Spiel, nicht David Chandler zu sein, ihm womöglich Spaß machen würde. „Ich bin seit gestern hier in Placid Valley. Morgen hatte ich eine Tour in die Weinberge geplant.“

„Ach, dann haben Sie Urlaub?“

Er nickte. Urlaub von sich selbst.

„Woher kommen Sie?“, fragte sie weiter.

„Aus Manhattan.“

„Ich wusste es gleich – ein Großstädter. Schade, dass ich nicht schon länger hier lebe, sonst hätte ich Ihnen ein paar Weingüter empfehlen können …“

„Seit wann wohnen Sie denn hier?“

„Seit ungefähr zwei Wochen.“

„Lassen Sie mich raten.“ Er riskierte ein Lächeln. Es fühlte sich gut an, deshalb lächelte er weiter. „Sie kommen aus den Südstaaten?“

„Stimmt, aber ein bisschen genauer darf es schon sein.“ Sie lehnte mit der Hüfte an einer Waschmaschine und sah ihn herausfordernd an.

David war weit gereist, kannte sich aber hauptsächlich in den Großstädten dieser Welt aus, in die ihn seine Geschäfte führten. Trotzdem gab er sich Mühe. „Tennessee.“

„Etwas nördlicher.“

Wie von selbst entstand vor seinem inneren Auge eine Landkarte. „Kentucky.“

„Bingo! Nur zwei Versuche. Nicht schlecht für einen Großstädter.“

Ihre gute Laune war ansteckend. „Haben Sie Heimweh?“

„Ich? Hm …“ Sie schürzte die Lippen. „Manchmal vielleicht.“

Ihre Antwort kam ihm so merkwürdig vor, dass er mehr wissen wollte. Woher rührte diese echte Melancholie?

In diesem Augenblick klingelte sein Handy, und auf dem Display erkannte er Lucas’ private Nummer. Er musste den Anruf annehmen, vor allem deshalb, weil sein Bruder um diese Uhrzeit eigentlich im Büro war, und das bedeutete, dass der Anrufer jemand anders war.

Er entschuldigte sich bei Naomi und ging nach draußen.

Als er den Anruf annahm, hörte er die Stimme seines vierjährigen Neffen. „Hallo, Onkel David.“

Gabriel war einer der beiden Menschen, die ihm überall und jederzeit ein Lächeln entlocken konnten. Seine einjährige Nichte Phoebe war der andere.

„Hast du schon wieder das Telefon stibitzt?“, fragte David in spielerischem Tonfall, da er wusste, wie glücklich Gabe war, wenn er seiner Mutter entwischen und David anrufen konnte.

„Mom hat es erlaubt. Wo bist du?“

Seit David vor ein paar Tagen abgereist war, hörte er ständig diese Frage, angefangen von Lucas bis hin zu seinem Vater. Bisher hatte er nur geantwortet, dass alles bestens sei, seinen Aufenthaltsort aber verschwiegen. Dabei wollte er es belassen.

„Ich bin an einem schönen, warmen Ort“, antwortete er. „Es geht mir prima, und ich vermisse dich sehr.“

„Ich dich auch.“

David ballte die Hand zur Faust, ehe sein Herz sich verkrampfte.

„Wann kommst du zurück?“

„Bald. Und ich bringe dir und Phoebe auch Süßigkeiten mit. Was sagst du dazu?“

„Oh, ja, Süßigkeiten!“, jubelte der Kleine.

„Abgemacht!“ David drehte sich zur Tür des Waschsalons, als sie sich öffnete. Die Asiatin trat heraus und nickte ihm zu.

Er stieß den Atem aus und merkte, wie erleichtert er war, dass es nicht Naomi war, die gerade wegging. Kopfschüttelnd setzte er das Gespräch mit seinem Neffen fort.

Naomi behielt die Tür im Auge. Mit wachsender Ungeduld erwartete sie Daves Rückkehr.

Was sollte das? Nur weil sie mit dem Fremden ein paar aufregende Blicke getauscht hatte, dachte sie gleich an Liebe? Ha! Weit entfernt davon. Aber zumindest von ihrer Seite her stimmte die Chemie zwischen ihnen, und das beunruhigte sie.

Mit einem Auge behielt sie den Fernseher im Blick, während sie ihre Wäsche in einen Korb stapelte, der ihrer Freundin Carissa gehörte.

„Und? Was geht hier vor?“, fragte eine Stimme neben ihr.

„Ich träume nur ein bisschen vor mich hin“, erwiderte Naomi.

„Kannst ruhig zugeben, dass du ein wenig flirtest, Naomi.“

„Ich? Flirten?“

„Allerdings. Deine Körpersprache hat dich verraten. Lächeln, erröten, das nennt man flirten.“

„Diesen Luxus kann ich mir nicht leisten.“ Naomi zog ihren Wäschekorb näher. „Ich …“

„Nur weil dieser verdammte Kerl dich geschwängert hat.“ Jenny hatte die Stimme gesenkt, doch Liam McCree sah von seinem Laptop auf. Naomi hatte seine Anwesenheit ganz vergessen, was ungewöhnlich war, da er normalerweise die Soap gern mit seinen Zwischenrufen unterbrach.

„Okay, du hast recht“, sagte Naomi leise. „Aber das heißt noch lange nicht, dass ich mich dem erstbesten Mann an den Hals werfe. Ich brauche weder einen Ehemann noch jemanden, der mich versorgt.“

Jennifer sah Naomi beschwichtigend an. „Es muss ja nichts Ernstes sein, hab einfach ein wenig Spaß. Und vor allem“, fügte sie hinzu, „sei nett zu jedem, der mit Tomatenflecken hier hereinkommt.“

„Genau das habe ich getan, meine Liebe. Ich war nett. Das hat nichts mit Flirten zu tun.“

„Dann zeig ihm doch den Secondhand-Laden unten an der Straße. Ich würde ja selbst mit ihm hingehen, aber die Arbeit ruft …“

„Jenny …“

„Ich meine ja nur, du könntest bis zu Bowler’s mit ihm flirten … äh, nett zu ihm sein, weiter bräuchte eure Freundschaft nicht zu gehen.“

Naomi öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber Jenny neigte nur den Kopf.

„Aus reiner Freundlichkeit, Naomi. Schließlich trägt der Mann ein Hemd mit einem Logo, das für Jugendliche ungeeignet ist.“

Der gestreckte Mittelfinger.

Jetzt war Naomis Menschenfreundlichkeit geweckt. Dave brauchte etwas Anständiges zum Anziehen. Warum sollte sie ihm den Secondhand-Laden nicht zeigen und basta?

Die Glocke über der Tür des Waschsalons bimmelte, und Naomi sah Dave mit dem dummen, viel zu engen Hemd eintreten. Ihr stockte der Atem, als er ihr zulächelte.

Sie atmete tief durch. „Dave?“, fragte sie mutig. „Was halten Sie davon, das Hemd von Meis Mann gegen etwas Anständigeres aus dem Secondhand-Laden am Ende des Blocks einzutauschen?“

Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden.

„Guter Laden“, mischte Jenny sich ein. „Große Auswahl.“

Noch ehe Naomi etwas dagegen tun konnte, hörte sie sich selbst sagen: „Ich könnte Ihnen den Weg zeigen. Was meinen Sie?“

2. KAPITEL

War das etwa als Annäherungsversuch gemeint gewesen?

David dachte kurz darüber nach, kam dann aber zu dem Schluss, dass er Naomis Absicht falsch interpretierte. Sie tat ihm nur einen weiteren Gefallen. Angefangen hatte es mit dem Fleckenentferner, und dann hatte Mei ihm das Hemd geliehen.

Und jetzt wollten diese freundlichen, fremden Menschen einfach verhindern, dass er wie ein Möchtegern-Macho durch die Stadt lief.

Was sprach dagegen, sich ein paar eingetragene Jeans in diesem Laden zu kaufen, von dem sie redeten? Würde ihn das nicht noch mehr zu Dave machen, diesem Mann, an dem er immer mehr Gefallen fand?

„Nichts gegen dieses Hemd“, erwiderte er. „Aber ich würde ganz gern einkaufen gehen.“

Seine Antwort schien Naomi zu überraschen, doch sie nahm ihre Umhängetasche und ging ihm zur Tür voraus.

Er folgte ihr und konnte dabei den Blick nicht von ihren schwingenden Hüften wenden. Sie war schlank, hatte aber durchaus Rundungen an den richtigen Stellen. Er war so an den New Yorker Jetset mit seinen magersüchtigen Models gewöhnt, dass er den Anblick echter Kurven aufregend fand.

Beim Secondhand-Laden Bowler’s angekommen, empfing sie der Geruch getragener, aber frisch gereinigter Kleidung. Im Hintergrund erklang ein Song von Frank Sinatra. Naomi steuerte sofort auf die Herrenabteilung zu.

Sie zog ein grellbuntes Hawaiihemd aus einem Stapel und fing schon an zu lachen, noch ehe seine Augen die ganze Hässlichkeit erfasst hatten. Sie hatte ein kleines Grübchen am Kinn, wie er jetzt bemerkte, das ihn auf eigenartige Weise berührte.

„Keine Angst, ich glaube nicht, dass Sie dafür der richtige Typ sind“, erklärte sie und stöberte schon im nächsten Regal.

„Was für ein Typ bin ich denn?“ Er hielt den Atem an, während er auf ihre Antwort wartete.

Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß, wobei ihre Augen schmal wurden. „Nun, ich würde sagen …“ Naomi zögerte.

Unter ihrem prüfenden Blick zog er den Bauch ein und unterzog sie insgeheim ebenfalls einer Musterung.

Ihre üppige Lockenmähne erschien ihm sexy und wild. Und ihre Haut … Wenn er ihre Wange berührte, würde sie sich bestimmt seidenweich anfühlen …

Vor seinem inneren Auge entstand das Bild, wie er Hand in Hand mit ihr einen Raum betrat und sie seinem Vater vorstellte.

Siehst du, würde er sagen. Jetzt bin ich ebenso gut wie mein Bruder. Bist du jetzt glücklich?

Naomi hatte ihre Analyse inzwischen offensichtlich beendet und ein anderes Hemd ausgewählt. Als er seinen Blick endlich von ihr löste, um es anzusehen, konnte er seine Überraschung nicht verbergen.

Sie hielt ein einfarbiges, burgunderrotes T-Shirt aus Baumwolle in der Hand und betrachtete es noch einmal eingehend.

„Echte Männer tragen nun mal T-Shirts ohne witzige Sprüche oder Aufdrucke“, erwiderte sie und wurde rot dabei. „Oder gefällt Ihnen das Hawaiimuster besser?“

„Nein, aber … ist es nicht ziemlich schlicht?“

Er hatte den Satz kaum ausgesprochen, als ihm bewusst wurde, dass ihre Wahl im Grunde ein Kompliment für ihn war. Sie hatte ein Hemd für einen echten Mann herausgesucht. Sanft nahm er es ihr aus der Hand. „Sie haben recht. Das passt besser zu mir.“

Naomi verschränkte die Arme vor der Brust und wirkte jetzt, nachdem die Wahl getroffen war, etwas verlegen. David störte plötzlich die teure Qualität seiner Jeans.

„Wie wäre es mit …?“ Er wies zu dem Tisch, auf dem stapelweise Jeans lagen. „Und vielleicht noch ein paar andere Hemden. Ich bin ziemlich übereilt aufgebrochen und habe nicht genügend eingepackt.“

Beim Gedanken daran, in sein extravagantes Hotel zurückzukehren und seine Designer-Kleidung gegen getragene Klamotten mit Persönlichkeit einzutauschen, überkam ihn ein ungewohntes Gefühl der Freiheit.

Warum sollte er sich nicht auch noch ein bescheideneres Hotel suchen? Einen Ort, an dem er den ganzen äußeren Schein ablegen konnte?

Plötzlich konnte er so frei atmen wie schon lange nicht mehr.

„Warum mussten Sie denn so plötzlich aufbrechen, wenn ich fragen darf?“

„Ich hatte das dringende Bedürfnis wegzukommen.“

Das entsprach zwar nicht der reinen Wahrheit. Doch David würde ihr auf keinen Fall verraten, wer er wirklich war, und außerdem hatte er wenig Lust, sich an die Worte seines Vaters zu erinnern, die zu seinem überstürzten Aufbruch geführt hatten.

„Verstehe.“ Offensichtlich unzufrieden mit seiner Antwort, hielt sie ein dunkelblaues Hemd in die Höhe. „Wie wäre es damit?“

„Sehr schön. Hören Sie, Naomi, es sollte nicht ausweichend klingen, aber …“

„Nein, bitte entschuldigen Sie sich nicht für meine Neugierde.“ Sie legte sich das Hemd über den Arm und setzte ihre Suche fort. „Es geht mich auch gar nichts an.“ Sie seufzte. „Ich sollte mir wirklich abgewöhnen, mich in die privaten Angelegenheiten anderer Leute einzumischen.“

„Ich glaube nicht, dass Sie sich irgendetwas abgewöhnen müssten, Naomi“, erwiderte David wahrheitsgemäß.

Kaum hatte er das Kompliment ausgesprochen, wurde ihm siedend heiß. Er pflegte seine eigenen Gefühle nicht laut auszusprechen und fühlte sich demzufolge irgendwie nackt, so als hätte er etwas enthüllt, was normalerweise in seinem Innersten verborgen war. Aber stimmte das überhaupt? Gab es wirklich da irgendwo ein besseres, emotionaleres Ich?

Gab es womöglich doch Hoffnung, all das zu erreichen, was Lucas besaß?

Naomi wandte sich ihm zu. „Ich wünschte, Sie hätten recht“, sagte sie betrübt. Aus den Tiefen eines Regals zog sie ein matschgrünes T-Shirt hervor und zeigte es ihm mit einem Augenzwinkern.

Daraufhin begannen sie beide zu lachen, womit die Stimmung wieder gerettet war.

Mit einem Stapel Kleidung verschwand David in der Umkleidekabine. Das burgunderrote T-Shirt und ein Paar Jeans behielt er gleich an und brachte noch einen ganzen Schwung Shirts zur Kasse. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Naomi sich gar nichts ausgesucht hatte.

Als er eine Bemerkung darüber machte, sagte sie nur: „Ich habe genug anzuziehen.“

Er besah sich ihr Sommerkleid näher und stellte fest, dass die Farben schon etwas ausgeblichen waren.

„He, suchen Sie sich doch aus, was Ihnen gefällt, und …“

„Nein, wirklich“, erwiderte sie ernsthaft. „Ich habe genug anzuziehen.“

Während er bezahlte, wurde ihm klar, dass er sie in ihrem Stolz verletzt hatte. Es ärgerte ihn, dass er sich nicht für ihre Hilfsbereitschaft bedanken konnte. Er wusste einfach nicht, wie man sich in einer solchen Situation richtig verhielt.

Als sie den Laden verließen, sagte er daher: „Bestimmt habe ich Sie ziemlich aufgehalten … vielen Dank also, Naomi. Sie haben mir sehr geholfen.“

„Es war mir ein Vergnügen.“ Sie wandte ihren Blick ab und sah zu Boden. „Ich konnte doch nicht zulassen, dass Sie sich öffentlich blamieren.“

Als sie wieder zu lachen begann, weckte der Klang ein Verlangen in ihm, das er schon seit einer ganzen Weile nicht mehr verspürt hatte.

„Kaffee?“, fragte er. „Wie wäre es? Wollen wir einen Kaffee trinken gehen, ehe Sie das nächste Tomatenopfer retten?“

Sie biss sich auf die Lippe, als wäre sie unschlüssig. Na großartig. Anscheinend hatte er ihre Freundlichkeit falsch interpretiert. Er hatte einfach keine Ahnung, wie er mit Menschen außerhalb seiner behüteten Umwelt umgehen sollte …

„Wenn Sie nicht …“, begann er.

„Ich überlege nur gerade, wann ich zur Arbeit muss. Um halb drei fängt meine Schicht bei Trinkets an.“ Sie wies die Straße hinunter. „Das ist dieser Souvenirladen im Einkaufszentrum.“

„Ja, den kenne ich.“ Davids Firma TCO hatte die Trinkets-Kette erst neulich gekauft.

„Aber eine Stunde hätte ich schon noch Zeit“, fügte sie hinzu. „Kann ich meine Wäsche noch rasch in meine Wohnung bringen? Da gibt es ein kleines Café gleich hinter unserem Secondhand-Laden.“

Unserem Secondhand-Laden. So weit waren sie also schon. Dieser dumme Gedanke beschleunigte Davids Puls.

Anscheinend hielt sie sein Schweigen für Zustimmung, denn sie lächelte und lief in Richtung des Waschsalons los. „Wir treffen uns dort in einer Viertelstunde, okay?“

Er hob zustimmend eine Hand und sah ihr nach.

Wenig später verließ Naomi eilig ihre Wohnung in Richtung des Cafés. Dabei klopfte das Herz in ihrer Brust zum Zerspringen.

Was war schon groß geschehen? Der Tag hatte gut begonnen, sie hatte ihre Wäsche erledigt, und dann hatte das Märchen seinen Lauf genommen. Sie war mit einem Mann zum Kaffee verabredet.

Keine große Sache eigentlich. Schließlich stand sie ja nicht gerade vor der Verlobung mit Dave … Himmel, wie hieß er eigentlich mit Nachnamen? Also war es auch keine echte Verabredung – sie wusste noch nicht einmal seinen Nachnamen! Wieso war sie dann so nervös?

Als sie am Waschsalon vorbeikam, warf sie einen Blick durchs Fenster. Vom Club war niemand mehr da. Dabei brannte sie darauf, jemandem die Neuigkeiten von Dave und ihrer Verabredung zum Kaffee zu erzählen. Aber dafür war jetzt ohnehin keine Zeit.

Außerdem, so erinnerte sie sich selbst, war der Zeitpunkt für eine Romanze nicht gerade günstig.

Vor kurzer Zeit erst war sie dem Charme eines Mannes so erlegen, dass sie vorübergehend den Verstand verloren und sich eingebildet hatte, ihn genug zu lieben, um ihr Leben mit ihm zu verbringen.

Wie dumm sie doch gewesen war. Ihr ganzes Leben lang war sie den Männern gegenüber naiv gewesen und hatte ihnen blind vertraut. Was nicht hieß, dass sie mit jedem ins Bett gegangen wäre – oh nein, für ein Mädchen ihrer Herkunft war Stolz Gold wert –, doch in der High School hatte sie den Ruf gehabt, eine ganz Wilde zu sein. Dabei war im Grunde alles ziemlich harmlos gewesen.

Als sie ihren Abschluss in der Tasche hatte, hatte sie versucht, ihr Image aufzupolieren, indem sie mehr auf ihre Kleidung achtete und ein dezenteres Make-up trug. Sie gab sich größte Mühe, im Umgang mit Männern die Augen offen zu halten und die guten Typen von den weniger guten zu unterscheiden.

Doch als Bill Vassey in der Stadt auftauchte, war er ihr mit seinem Job für ein Catering-Unternehmen und seinen großen Ambitionen überaus vertrauenswürdig und beeindruckend erschienen. Als sie schließlich mit ihm im Bett landete, kam ihr der Gedanke gar nicht, dass er womöglich keine Familie mit ihr gründen wollte.

Und als sie dann schwanger war, war sie so dumm zu glauben, er würde sie genug lieben, um sie zu heiraten.

Umso schockierter war sie, als er ihr allen Ernstes vorschlug, das Kind abtreiben zu lassen.

Der Schock traf sie so tief, dass ihr Gehirn begann, die Realität wieder wahrzunehmen. In jener Nacht hatte sie lange über die konservative Kleinstadt nachgedacht, in der sie in verschiedenen Pflegefamilien groß geworden war. Und ihr war klar geworden, dass ihr Kind, falls sie es hier allein würde großziehen müssen, genauso abgestempelt würde wie Naomi selbst.

Asozial. Unehelich.

Warum sollte sie ihr Kind dem aussetzen, wenn sie es vermeiden konnte? Und da Bill offensichtlich weder an ihr noch an dem Kind hing, warum dann nicht gleich alle Brücken hinter sich abbrechen und an einem anderen Ort von vorne beginnen?

Sie rief Carissa an, die Kane’s Crossing schon vor langer Zeit den Rücken gekehrt hatte, um Flugbegleiterin zu werden. Ihr Heimatflughafen war San Francisco, und wundervollerweise sagte sie, sie freue sich darauf, Naomi wiederzusehen. Ob Naomi wohl ihre Wohnung hüten könnte, solange Carissa unterwegs war?

Naomi sagte auf der Stelle zu, wobei sie sich fest vornahm, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um sich bei ihrer Freundin zu revanchieren. Und dass sie ihre Gastfreundschaft nur so lange in Anspruch nehmen würde, bis sie selbst für sich und ihr Baby sorgen konnte.

Daraufhin rief sie Bill in seinem Hotel in Cincinnati an und teilte ihm mit, dass sie ihn verlassen würde. Aber sie war sich nicht sicher, ob er wirklich begriff, was das bedeutete. Er wiederholte nur immer wieder, dass sie nach seiner Rückkehr „über alles“ reden müssten.

Als Naomi jetzt das Café betrat und Dave an einem Tisch ganz hinten über einer Zeitung sitzen sah, vergaß sie all ihre Vorbehalte und ihre schlechten Erinnerungen. Sie wusste nur, dass sie sich in der Gesellschaft dieses Mannes nicht ausgestoßen fühlte. Er hatte keine Ahnung von ihrer Vergangenheit und brauchte auch nichts davon zu wissen.

Als sie sich seinem Tisch näherte, sah er auf. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie, etwas in seinem Blick aufblitzen zu sehen – etwas, das sie aufregend und gleichzeitig erschreckend fand –, doch dann erhob er sich, und sein Lächeln verscheuchte ihre Vorsicht.

Dieses Lächeln.

Ihr Herz schlug schneller. Sie sollte nicht so glücklich sein, ihn zu sehen. Es machte keinen Sinn.

„Haben Sie einen besonderen Wunsch?“, fragte er, wobei seine Stimme ein wenig kratzig klang.

Er räusperte sich und runzelte dabei die Stirn, und es schien ihr, als sei er ihr gegenüber jetzt irgendwie befangen. Ob er etwa …?

Aber nein. Natürlich fühlte er sich nicht zu ihr hingezogen, er wollte sich nur mit einem Kaffee bedanken.

„Apfelsaft“, erwiderte sie, dachte dabei an ihr Baby und dass ihm Koffein sicher schaden würde.

Wieder verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln, und Naomi setzte sich schnell.

„Kommt sofort“, sagte er und ging zur Theke, um zu bestellen.

Sie musste sich richtig Mühe geben, um ihm nicht nachzublicken. Stattdessen sah sie sich ziellos im Raum um und tat schrecklich interessiert an der dunklen Möblierung, den gemalten Kaffeebohnen an der Decke und den anderen Gästen.

Er kam an den Tisch zurück, ehe sie sich wieder gefasst hatte. Aber wahrscheinlich war das in seiner Nähe ohnehin nicht möglich.

Als er ihr den eisgekühlten Apfelsaft reichte, sah sie auf seinen schwarzen Kaffee.

„Ich mag ihn gern stark“, sagte er. „Manchmal halte ich mich nur mit Kaffee über Wasser.“

Naomi fragte sich wieder, was ihn wohl bewogen hatte, Hals über Kopf zu verreisen. Doch sie wollte nicht unhöflich sein und ihn direkt darauf ansprechen, nachdem er vorhin so ausweichend geantwortet hatte.

„Mir lag nie viel an Kaffee“, erwiderte sie und stöhnte innerlich auf, weil ihr nichts Witzigeres einfiel.

Er lächelte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

Sie nippte an ihrem Apfelsaft und wusste nicht, was sie als Nächstes sagen sollte.

Dave legte einen Arm über die Stuhllehne neben sich. Anscheinend sollte es entspannt aussehen.

Warum nur kam ihr das so gewollt vor?

„All Ihre Freunde in der Wäscherei“, begann er. „Treffen Sie sich jeden Tag dort?“

Neutraler Boden. Damit konnte Naomi umgehen. „So in etwa. Aber normalerweise sind mehr Leute da. Wir sind alle Fans von Flamingo Beach, und ich bin natürlich die Neue im Club, da ich erst vor Kurzem hierhergezogen bin.“

„Keine schlechte Art, Freunde zu finden.“

„Vermutlich die beste. Ein paar der Frauen kamen einfach auf mich zu und nahmen mich in ihre kleine Gruppe auf. Zum Glück haben sie den ersten Schritt getan … denn ich hätte es nicht gewagt, sie anzusprechen. Wie das halt so ist an einem neuen Ort, nicht?“

„Genau.“ Er sah nachdenklich aus und legte die Hände um seine Kaffeetasse. „Man hat Angst davor.“

Sie hielten beide inne und tranken verlegen.

„Und … dieses Flamingo Beach“, fuhr David fort. „Ich habe noch nie eine Seifenoper gesehen. Worum geht es da?“

Jetzt war Naomi wie elektrisiert. Sie setzte sich kerzengerade auf und dankte dem Schicksal, das Dave veranlasst hatte, gerade dieses Thema anzuschneiden. Über FB konnte sie tagelang reden.

„Sie haben es tatsächlich noch nie gesehen? Da haben Sie allerhand aufzuholen. Eigentlich müssten Sie eine ganze Woche lang eine Folge nach der anderen anschauen, um auf dem Laufenden zu sein. Wissen Sie, man durchlebt mit den Darstellern alle Höhen und Tiefen, und wenn etwas schiefläuft, dann leidet man mit ihnen …“

Daves belustigte Miene ließ sie innehalten.

„Bitte?“, fragte sie.

„Keine Ahnung, ich finde es irgendwie … süß, wie Sie sich da hineinsteigern.“

„Süß?“, ereiferte sich Naomi. „Was ist süß daran, wenn diese Intrigantin Delia etwas in Dashs Drink kippt, damit er glaubt, er hätte Trina mit ihr betrogen? Süß finde ich das ganz und gar nicht.“

Dave bewegte den Kopf jetzt von einer Seite zur anderen, als wäre er Zuschauer eines Tennismatchs, bei dem die Bälle die Namen der handelnden Personen sind.

„Vielleicht sollte ich es wirklich mal ausprobieren“, sagte er.

Im ersten Moment wusste Naomi nicht, was er meinte.

„Sprechen Sie von Flamingo Beach?“, fragte sie daher.

Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sah lächelnd zur Decke hinauf.

„Warum nicht?“, fragte er. „Neue Erfahrungen sind nie verkehrt, oder?“

„Okay.“ Sie beugte sich nach vorne, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er grinste, und es überlief sie heiß. „Wenn Sie wirklich wollen, könnte ich Sie in die Einzelheiten einweihen.“

„Klingt ganz nach einem Plan.“

„Dann fangen wir morgen an, und anschließend können Sie die Weingüter besichtigen.“

„Morgen – abgemacht.“

Sie sahen sich an und konnten ihre Blicke nicht mehr voneinander lösen. Die Luft zwischen ihnen knisterte plötzlich. Naomi blieb fast das Herz stehen.

Das war zu viel für ihre Nerven.

„Ich bin schwanger“, brach es völlig unvermittelt aus ihr heraus.

Dave war sichtlich aus dem Konzept gebracht und erstarrte. Dann ließ er ganz langsam die Hände sinken und wurde wieder der unnahbare Fremde vom Vormittag, der den Waschsalon betreten hatte.

„Verstehe“, murmelte er.

Naomi wäre am liebsten im Boden versunken, so sehr schämte sie sich für ihre unkontrollierte Reaktion.

Sie trat die Flucht nach vorn an, da sie keine andere Möglichkeit sah, die Spannung zwischen ihnen zu lösen. „Ich wollte einfach klarstellen, was Sache ist, weil wir hier beim Kaffee sitzen. Nicht dass Kaffeetrinken eine große Sache ist, aber …“ Sie seufzte. „Ich wollte nur klare Verhältnisse schaffen.“

Meine Güte, konnte man noch überheblicher sein? Mit jedem Wort verwickelte sie sich tiefer.

„Von Klarheit kann im Augenblick wohl keine Rede sein.“ Er wirkte nun weniger unnahbar als vielmehr vorsichtig. „Wollen Sie mir jetzt von Ihrem Ehemann erzählen oder von Ihrem Freund vielleicht …?“

„Weder noch“, erwiderte Naomi leise. „Ich bin nicht verheiratet und auch nicht liiert.“

Da er aussah, als würde er gern noch mehr wissen, redete Naomi weiter. „Ich möchte nur …“ Ja, was eigentlich? Sie hatte keinen blassen Schimmer.

Oder doch? Tief in ihrem Herzen fragte sie sich, ob sie ihn mit ihrer Schwangerschaft wohl abgeschreckt hatte. In diesem Fall würde sie sich weiter nur auf sich selbst verlassen und ihr Baby beschützen.

Daves Blick lag noch immer prüfend auf ihr. „Sie möchten nur … einen Kaffee?“, fragte er bedeutungsschwer. „So ist es doch, Naomi, oder? Sie möchten unverbindlich Kaffee trinken mit jemandem, der neu in der Stadt ist.“

Naomi war erleichtert, dass er sie anscheinend verstanden hatte, und hob zustimmend ihre Apfelsaftflasche. Als er seine Tasse erhob, lächelte sie ihm zu und war froh, dass die Fronten nun geklärt waren.

„Auf den Kaffee also“, sagte sie, als sie anstießen. „Oder besser den Saft.“

3. KAPITEL

Am nächsten Tag richtete David es so ein, dass er kurz vor Mittag im Waschsalon eintreffen würde, ehe die Seifenoper begann.

Doch statt hineinzugehen, lief er daran vorbei und verdrückte sich in das Lebensmittelgeschäft nebenan.

Hier blieb er mit in die Hüften gestützten Händen vor dem Obstregal stehen und fragte sich, was eigentlich mit ihm los war.

Sie ist schwanger, dachte er. Ob er es wahrhaben wollte oder nicht, er flirtete mit einer Frau, die außer einem süßen Lächeln auch noch eine Vergangenheit hatte, aus der eine tickende Zeitbombe namens Schwangerschaft herrührte.

Warum also tat er es?

David wusste es nur allzu gut: weil er noch immer die Worte seines Vaters im Kopf hatte.

„Es ist eine echte Schande.“

Der alte Herr hatte Lucas und Alicia letzten Sonntag beim Spielen mit ihrem Adoptivsohn Gabriel und ihrer neugeborenen Tochter Phoebe vor dem Kamin beobachtet.

David wusste genau, was als Nächstes kommen würde, da er selbst unzählige Male das Gleiche gedacht hatte.

„Eine Schande, dass du nicht zur gleichen Erkenntnis wie Lucas kommen willst“, fuhr der alte Herr fort und lehnte sich auf den Stock, den er seit einem leichten Schlaganfall benötigte. Er wies mit dem Finger auf Lucas, der mit Gabe herumtobte. „Dieser Mann da wird nicht wie sein Vater enden. Er wird am Ende seines Lebens einmal nichts zu bereuen haben.“

„Im Gegensatz zu mir“, hatte David erwidert und die Lippen zusammengepresst.

„Du siehst doch, wie glücklich er ist“, hatte Ford gesagt. „Du könntest genauso glücklich sein, David, wenn du dich nur einmal von deinen Verträgen loseisen würdest. Und du weißt, dass ich recht habe – schließlich bin ich viermal geschieden und gelte damit als Experte auf diesem Gebiet.“ Er wies auf seinen gebrechlichen Körper. „Ist es das, was du willst? Möchtest du so werden?“

So. Was hatte er mit so gemeint, fragte David sich jetzt.

Obwohl er Lucas und Alicia oft mit einer undefinierbaren Sehnsucht betrachtete, hatte er nie bewusst versucht, sein Leben zu verändern. Nicht bis er an ebendiesem Abend eine Frau mit zu sich nahm. Hinterher hatte sie ihm für den schönen Abend gedankt, und er hatte gewusst, dass er sie nie wiedersehen würde. Bisher hatte David das nicht gestört, denn seine Arbeit hatte für ihn höchste Priorität.

Doch inzwischen schienen solche Vorkommnisse seine nagenden Zweifel zu verstärken.

Am nächsten Tag war er so unkonzentriert, dass er bei einer Konferenz einen Fehler machte, der TCO mindestens eine Million Dollar kosten würde. In diesem Moment beschloss er, dass es so nicht weitergehen konnte.

Er nahm spontan Urlaub und buchte den nächsten Flug nach San Francisco, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Am Flughafen mietete er einen bescheidenen SUV und versuchte einen Ort zu finden, wo niemand ihn erkennen würde.

Auf dem Flug war David allerdings noch etwas anderes klar geworden. Er war nicht mehr der Lieblingssohn in der Familie, und obwohl er in einem ersten Impuls sein Unbehagen deshalb auf schlichte Eifersucht Lucas gegenüber schieben wollte, wusste er doch, dass mehr dahintersteckte.

Seine fest gefügte Welt geriet ins Wanken. Wenn er nicht mehr der „erfolgreiche Sohn“ war, wer war er dann?

Sein Vater und Lucas hatten versucht, ihn aufzuspüren und ihn zur Rückkehr zu bewegen. Er hatte ihnen gesagt, dass dies der erste Urlaub wäre, den er sich je gegönnt hatte, und er wünschte, sie würden seine Privatsphäre respektieren. Er musste wieder einen klaren Kopf bekommen, und das würde ihm in New York nicht gelingen.

Aber wieso drückte er sich hier in diesem Supermarkt herum?

Durch das Fenster sah er sie vorbeigehen. Naomi.

Ihr Schritt war beschwingt, der Wind zerzauste ihr lockiges braunes Haar, und sie lächelte vor sich hin, als denke sie an etwas Schönes.

David spürte, wie tief in seinem Innern ein Gefühl von Wärme aufstieg.

Wie von selbst trugen ihn seine Füße jetzt aus dem Laden hinaus.

Kurz nach ihr betrat er ebenfalls den Waschsalon. Der Duft von Waschmittel und die Geräuschkulisse der Werbung aus dem Fernseher umfingen ihn. Es war heute nahezu leer bis auf den Typen, der wieder in der hintersten Ecke vor seinem Laptop saß. Naomi hatte auf einem der Plastikstühle vor dem Fernseher Platz genommen und schien ganz offensichtlich auf ihn zu warten.

Als sie ihn sah, glitt ein Leuchten über ihr Gesicht.

Er unterdrückte den Impuls, sich umzudrehen, ob hinter ihm jemand war, dem das Leuchten galt, und bemühte sich um Fassung. Warum sollte er diese Art von Blick von ihr nicht wert sein?

David lächelte ihr zu, und ihr Erröten sagte ihm, dass in ihm ja vielleicht doch ein anständiger Kerl steckte.

„Melde mich zum Dienst“, verkündete er und schlenderte näher.

„Ich wusste, dass Sie kommen würden.“ Naomi wies auf den Stuhl neben sich, und er nahm Platz. „Willkommen im ‚Club der einsamen Herzen‘.“

Er sah sie fragend an. „Club der einsamen Herzen?“

Naomi wurde rot. „Ach, so nennen die anderen unsere kleine Gruppe, es hat nichts zu bedeuten.“ Sie räusperte sich, dann erklärte sie ihm die Grundzüge der Handlung.

Doch er hörte kaum zu, sondern schaute nur auf ihren Mund, der Wörter formte. Ihre Unterlippe war etwas voller als die Oberlippe, und er sehnte sich danach, sie mit dem Daumen zu berühren …

Er bemerkte, dass sie verstummte und ihn mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete. Doch in diesem Augenblick startete die Soap und ersparte ihm, sich für sein Verhalten zu entschuldigen. Er konzentrierte sich auf den Bildschirm.

In der nächsten Werbepause kam er ihr mit einer Frage zuvor. „Seit wann sehen Sie die Serie schon?“

„Meine erste Folge habe ich mit zwölf Jahren gesehen, und von diesem Moment an saß ich jeden Sommer mittags wie gebannt vor dem Fernseher. Meine damalige Pflegemutter liebte die Serie genauso.“ Naomis Augen verloren ein wenig von ihrem Glanz. „Das war die einzige Gemeinsamkeit, die wir hatten. Eine Seifenoper.“

„Sie waren ein Pflegekind?“

Sie lächelte traurig. „Ja, ich war in wechselnden Pflegefamilien.“ Ihr Lächeln wirkte jetzt gezwungen. „Wegen meines schlechten Benehmens wollte mich niemand adoptieren.“

„Sie und schlechtes Benehmen?“, fragte er ungläubig. „Das haben Sie sich inzwischen aber gründlich abgewöhnt. Oder Sie übertreiben.“

„Nein, ich übertreibe in keiner Weise.“ Sie zog sich ihre kinnlangen Locken über das Gesicht. „Ich trug mein Haar so, damit mich niemand ansehen konnte. Meine Eltern und meine Lehrer trieb das zur Verzweiflung. Und ich war glücklich über ihre Reaktion, denn es bedeutete, dass ich nicht völlig unsichtbar war.“

„Darf ich Ihnen sagen, dass Sie heute nur schwer zu übersehen sind, Naomi?“

Sein lockeres Kompliment schmeichelte ihr offensichtlich, denn als sie ihre Haare aus dem Gesicht strich, bemerkte er eine leichte Röte auf ihren Wangen.

„Sie waren also eine kleine Rebellin“, konstatierte er leise.

„Das bin ich immer noch, aber heute lasse ich es mir nicht mehr gleich anmerken.“

„Ich weiß, was Sie meinen“, erwiderte er und dachte daran, wie oft er sich bei geschäftlichen Vorhaben bedeckt gehalten hatte, während er in Wahrheit im Hintergrund die Drähte in der Hand hielt.

Waren seine Gewohnheiten bereits so festgefahren, dass es für jede Veränderung zu spät war? Verschwendete er nur seine Zeit?

Wenn es ihm wirklich ernst wäre, dann müsste er Naomi hier und jetzt sagen, wer er wirklich war. Er würde sich der unausweichlichen Distanz stellen müssen, die sich zwischen ihnen bilden würde, sobald ihr klar wurde, dass er einer der reichsten Männer des Landes war.

Lieber nicht. Er wollte diese schöne, unverbindliche Zweisamkeit noch ein wenig genießen, ehe er weiterfuhr. Warum musste sie über seine wahre Identität Bescheid wissen, wo er sich doch nur auf der Durchreise befand?

Es lag ihm fern, Naomi zu verletzen, und er würde alles tun, um das zu verhindern.

Die Werbepause war vorbei, doch David bemerkte es kaum.

„Und wie kam es, dass Sie die Rebellin hinter sich gelassen haben?“, fragte er.

Naomi neigte gedankenverloren den Kopf. „Ich denke, ich hatte genug davon. Wer weiß? Ich wurde achtzehn, stand plötzlich auf eigenen Beinen und stellte fest, dass mein Verhalten vermutlich der Grund dafür war, dass keine meiner Pflegeeltern mich adoptieren wollten. Nicht meine Person war der Grund für ihre Zurückweisung, sondern mein Verhalten. Macht das einen Sinn?“

„Ja, allerdings.“ Ihre Selbsterkenntnis beeindruckte ihn.

Naomi stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich hatte nie das Bedürfnis, meine leiblichen Eltern ausfindig zu machen. Wahrscheinlich hat mein Vater meine Mutter verlassen, weil er sie nicht liebte, und meine Mutter gab mich aus dem gleichen Grund weg. Dieses Kreuz müssen sie selber tragen, und sollten sie eines Tages nach mir suchen, dann wünsche ich ihnen viel Glück dabei.“

Ihre Stimme klang jetzt ganz belegt, und er wollte schon ihren Arm berühren, als sie sich unvermittelt aufrichtete.

„So bin ich also die bunte Mischung geworden, die Sie vor sich sehen“, fügte sie hinzu.

Wieder fühlte er, wie ihm warm ums Herz wurde. „Sie sind wunderbar und einzigartig, Naomi.“

Sie wandte den Blick ab, als mache das Kompliment sie verlegen.

Dann wechselte sie abrupt das Thema und sprach über die Weingüter in der Gegend. Vielleicht weil sie dachte, sie würde ihn mit ihren persönlichen Geschichten langweilen. David wusste es nicht.

Er wusste nur, dass sie redeten und redeten, bis der Abspann der Soap im Fernseher lief und sich außer ihnen niemand mehr im Waschsalon befand.

Naomi schien es jetzt ebenfalls eilig zu haben, denn sie erhob sich.

„Müssen Sie zur Arbeit?“, fragte David und stand auch auf.

„Eigentlich habe ich heute meinen freien Tag, aber ich habe jede Menge zu erledigen – auf die Bank gehen, einkaufen und so weiter. Und Sie? Wollten Sie nicht Weingüter besichtigen?“

„Vielleicht ein andermal.“ Vor allem wollte er nicht, dass sie wegging. „Ich wollte eigentlich ein Restaurant in Novato ausprobieren, von dem ich in der Zeitung gelesen habe. Sie sollen dort eine ausgezeichnete kreolische Küche haben. Möchten Sie nicht mitkommen?“

Sie musterte ihn erstaunt, als hätte sie mit einer solchen Einladung nie im Leben gerechnet.

„Ich esse nicht gern allein“, fügte er hinzu und lächelte.

Als sie mit der Hand wie zufällig ihren Bauch berührte, ahnte David, woran sie dachte. An ihr Baby. An den Vater ihres Babys.

„Nur als kleine Erweiterung des Kaffees von gestern“, bat er sie. „Nichts weiter.“

Als er die Erleichterung auf ihrem Gesicht sah, wusste er, dass er ihre Bedenken zerstreut hatte. Außerdem war sie selbst noch neu hier in der Stadt, also war ihr ein wenig Gesellschaft vielleicht durchaus willkommen.

„Warum eigentlich nicht?“, erwiderte Naomi dann auch zu seiner Freude.

Die Einrichtung des Sullivan’s war ganz in Gold und Kastanienbraun gehalten. Eine Treppe führte vom ziemlich vollen Gastraum im Erdgeschoss nach oben auf eine exklusive Empore mit kleinen separaten Tischen. Die Auswahl der Speisen war groß, es gab alle möglichen Cajun-Gerichte, von Krebsgumbo bis hin zu verschiedenen Jambalayas.

Lachen und angeregte Unterhaltungen erfüllten jeden Winkel des Restaurants.

Naomi und Dave saßen in einer Nische zwischen einer Wand und einem älteren Ehepaar aus Washington, und der Mann unterhielt sie mit Anekdoten über seinen Job als Lobbyist. Fast ließ sich Naomi dadurch von ihren widerstreitenden Gefühlen ablenken, weil sie Daves Einladung ohne Zögern angenommen hatte.

Aber nur fast.

Nur eine kleine Fortsetzung des Kaffees von gestern, sagte sie sich immer wieder vor. Wir haben kein Date.

Als das Paar schließlich aufbrach, fühlte sie Daves Blick auf sich gerichtet.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er sein Ginger Ale an die Lippen hob und trank. Er hatte dasselbe bestellt wie sie, weil er es angeblich mochte, wie er sagte, doch sie hatte ihn im Verdacht, dass er lieber ein Bier getrunken hätte.

Ein edles Pils passend zu seinem vornehmen Auftreten, dachte sie und sah ihn endlich an.

„So, jetzt können wir endlich unser Gespräch von heute Nachmittag fortsetzen“, meinte er und stellte sein Glas ab.

„In dem es um meine wilde Jugend ging? Warum sollte Sie das interessieren, Dave?“

Er beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Tisch und musterte sie eindringlich. „Weil Sie für mich ein Geheimnis sind, Naomi Shannon.“

Als er ihren Nachnamen aussprach, wurde ihr bewusst, dass sie seinen nicht kannte. Aber was machte das schon, er würde sich ja ohnehin nicht lange in der Gegend aufhalten.

Trotzdem …

Wer war er?

Sie wusste von ihm nur, dass er Tourist war, und das gab ihr eine Freiheit ihm gegenüber, die sie mit einem Mann aus der Stadt nicht gehabt hätte.

„Okay“, erwiderte sie und stützte ebenfalls ihre Ellbogen auf den Tisch. „Sie wollten es nicht anders.“

Um das Stimmengewirr im Restaurant zu übertönen, musste sie lauter sprechen.

„An mir ist wirklich nichts Geheimnisvolles. Ich komme aus einer verklemmten Kleinstadt, deren Einwohner mich nur allzu gern als fragwürdige Person einstuften. Natürlich war es mein eigener Fehler, sie in ihrer Meinung auch noch zu bestärken, aber … Nun, ich wollte mein Kind auf keinen Fall dort großziehen, mein Sohn oder meine Tochter soll unbedingt unbeschwert aufwachsen.“

Die Kehle wurde ihr eng. Für ihr Baby würde sie alles tun, und es hatte die Chance einer sorglosen Kindheit verdient.

„Und Sie haben niemanden, der Sie unterstützt?“, fragte Dave leise, da der Raum sich nun allmählich leerte. „Der Vater …?“

„Der Vater wird an unserem Leben nicht teilnehmen.“

Daraufhin schwieg sie beharrlich.

Schließlich nickte er und akzeptierte damit, dass mehr an diesem Tag nicht aus ihr herauszubekommen sein würde.

Naomi war erleichtert darüber, denn über Bill zu sprechen, würde nur die Traurigkeit verschlimmern, die sie verspürte, seit sie über ihre wechselnden Pflegeeltern gesprochen hatte. Wie diese hatte auch Bill sie nicht haben wollen.

„Sie haben viel Mut bewiesen“, sagte Dave. „In eine fremde Stadt zu ziehen und ganz allein für ein Kind zu sorgen.“

„Finden Sie?“ Naomis Lachen klang etwas gezwungen. „Ich denke, es hätte mehr Courage erfordert, in Kane’s Crossing zu bleiben.“

„Wieso das denn?“

Darüber konnte sie reden, denn das lag hinter ihr, sie hatte damit abgeschlossen. „Man hat mir in meiner Jugend jede Menge Schimpfnamen hinterhergerufen. Vielleicht können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn man als Pflegekind von anderen Kindern als ‚asozial‘ bezeichnet wird.“

„Asozial.“ Daves nachdenklicher Blick verdüsterte sich. „Glauben Sie mir“, sagte er, „niemand ist weniger asozial als Sie.“

Sofort gaben ihr seine Worte das Gefühl, angenommen und akzeptiert zu sein.

„Ich war immer eine Außenseiterin, ich weiß gar nicht, wie es ist, dazuzugehören.“

„Ich verstehe.“

Naomi hatte ziemlich viel von sich preisgegeben und wollte Dave dazu bringen, auch ein wenig von sich zu erzählen. „Inwiefern?“

Er hielt inne, lehnte sich zurück und schien zu überlegen, was er ihr anvertrauen konnte und was nicht.

Schließlich zuckte er gleichmütig die Achseln. „Natürlich fühlten Sie sich als Pflegekind in vielerlei Hinsicht einsam. Bei mir war es so, dass ich einen Vater hatte, der mehrere Male verheiratet war, und eine Mutter, die sich von ihm scheiden ließ, als ich gerade zu sprechen begann. Während meiner Kindheit pendelte ich zwischen ihnen hin und her, bis ich schließlich beschloss, bei meinem Vater zu bleiben. Es war nicht nur eine persönliche, sondern auch eine … realistische Entscheidung, denn ich war schon in jungen Jahren an seinem Geschäft interessiert, das ich von der Pike auf lernen wollte. Trotzdem fühlte ich mich manchmal …“

„Allein?“

„Ja, allein.“ Er hielt kurz inne. „Aber ich zog es durch und konzentrierte mich auf meinen Erfolg.“

Er war also Geschäftsmann. „Das klingt sehr nach einem ernsthaften jungen Mann. Waren Sie einer von denen, die sogar in der Schule einen Anzug tragen?“, fragte sie scherzhaft.

„Nicht immer.“ Er lächelte etwas gezwungen. „Trotz allem hat es das Leben gut mit mir gemeint. Ich verstehe mich sehr gut mit meiner Mutter und habe eine … enge Beziehung zu meinem Vater. Ich kann mich nicht beklagen.“

Unvermittelt warf er seine Serviette auf den Tisch, und als er sich im Raum umsah, wurde Naomi bewusst, dass sie die letzten Gäste waren und das Personal die Tische um sie herum abräumte.

„Wir sind die Letzten“, sagte er und erhob sich. „Ich habe es gar nicht mitbekommen.“

Er hielt ihr die Hand hin, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein. Einem ersten Impuls folgend wollte sie seine Hilfe ausschlagen, aber dann legte sie ihre Hand in seine, spürte seine raue Haut auf ihrer weichen und ließ es zu, dass er ihre Hand länger festhielt als nötig.

„Vielen Dank für die Einladung“, sagte sie leise. „Manchmal ist es abends doch ein wenig einsam in der Wohnung ohne Carissa.“

„Das kann ich mir gut vorstellen“, sagte er und schenkte ihr ein Lächeln, das ihr fast den Atem raubte.

Wir sind nur Freunde, redete sie sich ein.

Schnell entzog sie ihm ihre Hand, und er nahm seine Brieftasche heraus, um die Rechnung zu begleichen. Sie wollte ihren Anteil selbst bezahlen, doch er ließ sie gar nicht richtig zu Wort kommen.

Naomi bedankte sich bei ihm, und er nickte ihr zu, während er das Wechselgeld in sein Portemonnaie zurücksteckte.

Langsam gingen sie über den Parkplatz. Die Nacht war mild und klar und schenkte ihnen einen überwältigenden Sternenhimmel.

Dave öffnete die Beifahrertür seines SUV für sie, und irgendwie überkam sie das Gefühl, dies sei doch ein richtiges Date.

Vielleicht lag es an den Sternen.

Oder an seinen schönen blauen Augen.

4. KAPITEL

Seine Sehnsucht, sie zu küssen, wurde immer größer.

Während des ganzen Abendessens hatte er den Blick nicht von Naomi wenden können, von ihren sanften Augen und ihren zu einem kleinen Lächeln verzogenen Lippen.

Als er ihre Hand nahm, um ihr ins Auto zu helfen, jagte ihm ein heißer Schauer den Arm hinauf und durch den ganzen Körper.

Mit wild pochendem Herzen stand David da und wusste nicht, wie ihm geschah. Nichts, was er bisher erlebt hatte, hatte ihn auf dieses Gefühl vorbereitet.

Noch nie in seinem ganzen Leben war er so durcheinander gewesen.

Naomi sah ihn jetzt an, ihre Lippen waren leicht geöffnet, und der Wind spielte mit ihren dunklen Locken. Sie wirkte genauso verwirrt wie er.

Doch sie schien gleichzeitig äußerst gespannt, was als Nächstes geschehen würde.

Schließlich konnte er sich nicht länger beherrschen und berührte mit den Fingerspitzen ihre Wange. Ihre Haut war so weich wie ein Blütenblatt.

„Dave?“, fragte sie, und er wusste nicht, ob sie ihn damit stoppen oder bitten wollte, weiterzumachen.

Versuchsweise strich er mit dem Finger über ihren Wangenknochen, und wieder rann ein Schauer über seine Haut, dass ihm der Atem stockte.

Als sein Finger sich ihrem Mund näherte, schlossen sich ihre Augen, und ihre Wimpern legten sich wie ein dunkler Fächer auf ihre Haut. Sie wirkte so verletzlich, dass auf der Stelle sein Beschützerinstinkt geweckt wurde.

Ihre Unterhaltung beim Abendessen, die Geschichten darüber, wie man sie als asozial beschimpft hatte, all das war ihm sehr nahegegangen. Er hätte gern gewusst, womit der Vater ihres Babys sie so enttäuscht hatte. Er wollte seinen Namen wissen, damit dieser Blödmann, dem er gern einen Kinnhaken verpasst hätte, eine Identität bekam.

Sie öffnete die Augen, und diesmal sah er sich einem ganzen Universum brennender Fragen gegenüber. Ihm kam der Gedanke, dass ihre so demonstrativ zur Schau gestellte Unabhängigkeit vielleicht auch nur eine Rolle war – wie die der Rebellin in ihrer Jugend.

„Was tun Sie da, Dave?“, flüsterte sie.

„Ich weiß es nicht, Naomi. Ich habe nicht die geringste Ahnung.“

Sie zögerte kurz. „Wenn Sie mich so ansehen, dann weiß ich nicht, ob Sie wirklich der harmlose, nette Mann sind, für den ich Sie gehalten habe. Aber das sind Sie doch, oder?“

Mit dem Daumen berührte er das Grübchen unter ihrer Unterlippe und nickte, während er darauf hoffte, dass sie in ihm den Mann erkennen konnte, der er gerne wäre.

Ein Mann, der sich nicht nur um seine eigenen Bedürfnisse kümmerte. Ein Mann, der das wiedergutmachen wollte, was er Lucas und Alicia angetan hatte.

Ein Mann, der es verdiente, bei seiner Rückkehr zur Familie wieder der Lieblingssohn zu sein.

Und gerade weil er all das so sehr wollte, ließ er seine Hand sinken – fest entschlossen, ihr nur in den Wagen zu helfen und dann seiner Wege zu gehen.

Doch ehe es dazu kam, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.

Dieser völlig überraschende Kuss, der Druck ihrer warmen, feuchten Lippen auf seinem Mund raubte ihm fast den Verstand.

Freunde?

Eine nie gekannte Sehnsucht durchströmte ihn.

Wieder berührte er ihr Gesicht und ließ seine Hände dann an ihrem Hals entlang hinuntergleiten, bis er ihren Herzschlag unter seinen Handflächen spürte.

Du darfst die Situation nicht ausnutzen. Benimm dich anständig.

Doch als sie ihren Körper an seinen schmiegte und mit den Händen durch sein Haar fuhr, vergaß er all seine guten Vorsätze.

David legte einen Arm fest um sie und liebkoste mit der anderen Hand zärtlich ihr wundervolles wildes Haar. Sein Verlangen nach mehr wuchs, als er ihre Zunge zwischen seinen Lippen spürte.

Naomis Atem ging stoßweise, als ihr Kuss immer leidenschaftlicher wurde.

Tief in ihrer Kehle löste sich ein leiser klagender Laut.

„Dave“, hauchte sie, und ihre Hände gruben sich tiefer in sein Haar. „Oh, Dave …“

Beim Namen Dave ging ein Ruck durch David. Außerdem hörte er das Zuschlagen der Restauranttür und Stimmen in der Ferne.

Sein Mund lag noch an ihrer weichen Haut, die so frisch und verführerisch duftete, doch dann holte er tief Luft und rückte widerstrebend ein wenig von ihr ab.

„Es tut mir leid“, sagte er. „Ich wollte nicht …“

„Leid?“ Sie legte den Kopf schief. „Leid, weil …?“

Sie suchte nach Worten, und er hätte ihr wirklich gern geholfen, aber er wusste nicht, wie. Er hatte zu Beginn dieses Abends nicht die Absicht gehabt, sie zu verführen. Ihn hatte eher die Möglichkeit gereizt, die sie ihm bot – einen Blick in ein anderes Leben zu werfen. Auf Dave.

Doch jetzt war alles anders. Jetzt begehrte er sie. Im Grunde hatte er es schon gewusst, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte.

David hätte die Situation vielleicht ausgenutzt. Dave konnte es nicht.

„Ich möchte mich entschuldigen“, sagte er, wobei er noch immer ihre Hände hielt. „Dass der Abend so verläuft, hatte ich wirklich nicht geplant. Ich wollte nur mit dir zusammen sein, Naomi. Mit dir reden und lachen. Sonst nichts.“

„Das ist …“ Sie unterbrach sich und schien plötzlich eher amüsiert zu sein als verärgert. „Nun, du hast schon so ausgesehen, als wolltest du mich küssen. Deshalb habe ich für eine Sekunde den Kopf verloren. Aber nur für eine klitzekleine Sekunde.“

Die Stimmen im Hintergrund verstummten, Autotüren wurden zugeschlagen.

„Natürlich wollte ich dich küssen“, gab er zu. „Ehrlich gesagt, konnte ich an nichts anderes mehr denken.“

Autor

Marie Ferrarella

Marie Ferrarella zählt zu produktivsten US-amerikanischen Schriftstellerinnen, ihren ersten Roman veröffentlichte sie im Jahr 1981. Bisher hat sie bereits 300 Liebesromane verfasst, viele davon wurden in sieben Sprachen übersetzt. Auch unter den Pseudonymen Marie Nicole, Marie Charles sowie Marie Michael erschienen Werke von Marie Ferrarella. Zu den zahlreichen Preisen, die...

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