Das heiße Verlangen der Debütantin

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Die Rundungen ihrer Hüften unter dem Kleid, die funkelnden braunen Augen, ihr süßer Mund: Die bezaubernde Hope Strickland weckt in George Drake auf den ersten Blick ein gefährliches Verlangen. Aber sie ist die Enkelin eines Earls und er der uneheliche Sohn eines Bediensteten. Er wurde nur engagiert, um ihr bei der Suche nach verschwundenen Familienerbstücken zur Seite zu stehen, niemals wird er ihrer würdig sein. Doch in einem schwachen Moment kann er der Versuchung nicht länger widerstehen - und stellt fest, dass auch in Hope das Feuer der Leidenschaft lodert …


  • Erscheinungstag 08.09.2020
  • Bandnummer 606
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748241
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Ich habe ein Problem.“

Gregory Drake hatte die Erfahrung gemacht, dass die meisten Unterhaltungen so begannen. Was angesichts seines Berufs allerdings auch in der Natur der Sache lag.

Er brachte Dinge in Ordnung.

Nicht im herkömmlichen Sinn. Uhrmacher reparierten Uhren. Kesselflicker flickten Kessel. Er hingegen war kein Handwerker, sondern vielmehr ein Experte der menschlichen Natur. Er brachte Leben wieder in Ordnung. Wann immer sich Angehörige der vornehmen Gesellschaft vor eine schwierige, beschämende oder schlicht ermüdende Situation gestellt sahen, wandten sie sich an ihn.

Er ließ ihre Probleme verschwinden. Schnell, diskret und ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren.

Genau aus diesem Grund war er in den Lesekabinetten im Boodle’s und im White’s und auch in den meisten anderen Clubs in London willkommen. Mitglied werden konnte er in diesen exklusiven Einrichtungen nicht. Aber man traf ihn so häufig dort an, in vertrauliche Gespräche mit wichtigen Persönlichkeiten vertieft, dass niemand es wagen würde, ihn nach dem Grund seiner Anwesenheit zu fragen. Die vornehme Gesellschaft mochte ihn als nicht ebenbürtig betrachten, doch selbst diese illustren Herrschaften behandelten ihn respektvoll, weil sie den Mann, den sie bei möglichen Schwierigkeiten um Hilfe bitten konnten, nicht verärgern wollten.

An diesem Tag streckte Gregory die Beine vor dem Kamin aus, um die Januarkälte aus seinen Knochen zu vertreiben. Dann blickte er den Mann, der ihm im Sessel gegenübersaß, erwartungsvoll an. „Geht es bei Ihrem Problem um eine Frau?“ Bis zu seiner kürzlich erfolgten Eheschließung war James Leggett als Lebemann bekannt gewesen, der Skandale mit fast derselben Begeisterung schürte, wie er den Frauen hinterherjagte.

Darüber lachte Leggett. „Es geht um mehrere Frauen. Aber nicht so, wie Sie jetzt vermutlich denken, angesichts meines Rufs.“

„Wenn nicht um eine Affäre, worum geht es dann?“

„Es dreht sich um die Familie meiner Frau“, erklärte Leggett seufzend. „Reizende Damen, allesamt. Aber es sind einfach viel zu viele, als dass ein Mann allein mit ihnen zurechtkommen könnte.“

„Deshalb haben Sie sich an mich gewandt“, schloss Gregory und nickte verstehend.

„Die Äste des Familienstammbaums der Stricklands sind so voller Frauen, dass er praktisch kurz davor ist, wegen fehlender männlicher Nachkommen einzugehen. Meine geliebte Faith hat zwei Schwestern und eine Großmutter.“

„Die Dowager Countess of Comstock“, führte Gregory aus, um zu zeigen, dass er über die Umstände im Bilde war. „Der Earl hatte keine Brüder, und seine drei Söhne sind tot. Allerdings war ich der Meinung, dass die Krone einen Erben für den Titel gefunden hat. Es gibt einen Vetter um mehrere Ecken herum, der in Amerika lebt.“

Leggett nickte. „Was die Damen in eine heikle Lage bringt.“

Was in einer gerechten Gesellschaft ganz und gar nicht der Fall wäre. Gregory fand, dass Männer dem Gesetz nach verpflichtet sein sollten, für die Zukunft ihrer weiblichen Verwandten zu sorgen. Außerdem sollte das Erbe gerecht zwischen den Nachkommen aufgeteilt werden, ungeachtet ihres Geschlechts. Doch niemand scherte sich um die Meinung eines Mannes, der kein Vermögen geerbt hatte, und es hatte auch keinen Sinn, mit ebenjenen Männern zu diskutieren, die von den derzeitigen Umständen profitierten. Stattdessen beschrieb Gregory also die Situation, um die es hier offenbar ging. „Der verstorbene Earl hat den Damen so gut wie nichts hinterlassen, und nun fürchten sie, dass der neue Earl ihnen auch das noch wegnehmen wird.“

„Es ist nicht gerade so, als würden sie auf der Straße verhungern müssen“, warf Leggett rasch ein. „Ich werde für sie sorgen, wenn es sonst niemand tut. Aber sie sind besorgt. Der neue Earl hat verlangt, dass vor seiner Ankunft eine Prüfung der Bücher des Fideikommisses durchgeführt wird.“

Daher wehte also der Wind. „Ich nehme an, dass es einige Unklarheiten bei der Buchführung gibt?“

„Die Countess ist eine wunderbare Frau“, versicherte Leggett lächelnd. „Charmant und liebenswürdig, aber auch ein kleines bisschen unvernünftig. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, den Anschein eines Reichtums aufrechtzuerhalten, den es nicht mehr gibt.“

„Sie verkauft nach und nach die Familienjuwelen“, tippte Gregory. Manchmal gewöhnten sich die Ehefrauen adliger Männer so sehr an den Schmuck, den sie trugen, dass sie ihn als ihr persönliches Eigentum betrachteten und nicht als etwas, das von einer Generation an die nächste weitergegeben werden musste.

„Ganz so fatal ist es nicht. Offenbar hat sie sich auf Möbel, Gemälde und allerlei Tand beschränkt.“ Er breitete die Arme aus, um die Bandbreite zu symbolisieren. „Alles ziemlich willkürlich. Die einzigen Nachweise der Verkäufe existieren in ihrer doch recht bruchstückhaften Erinnerung.“

„Sie brauchen also jemanden, der bei den Kaufleuten in der Lombard Street Erkundigungen einholt.“

„Wenn nötig mit einem Pferdekarren. Nur Gott weiß, wie viel fehlt. Kaufen Sie alles auf meine Kosten zurück.“ Resigniert schloss Leggett die Augen. „Und erledigen Sie das, bevor der neue Comstock eintrifft. Es gibt Gerüchte über Unwetter auf dem Meer zwischen hier und Philadelphia, aber sobald der Bevollmächtigte des neuen Earls hier eintrifft, wird alles auffliegen. Mit zwei noch unverheirateten Schwestern hat meine Frau entsetzliche Angst davor, dass ihr Ruf unter einem Skandal leiden könnte.“

„Ich habe Verbindungen unter den Geschäftsleuten, die mir bei der Wiederbeschaffung nützlich sein könnten“, versicherte Gregory ihm. „Sie sind nicht der Erste, der sich mit solch einem Problem an mich wendet. Sobald ich mich einmal mit der Sachlage vertraut gemacht habe, wird alles im Handumdrehen erledigt sein.“

„Allerdings mussten Sie sich bisher noch nie mit den Strickland-Schwestern herumschlagen.“ Leggett schnitt eine etwas verzagte Grimasse.

Gregory hielt mit einem hoffentlich ermutigenden Lächeln dagegen. „Da sie Faith, Hope und Charity heißen, also nach den drei theologischen Tugenden – Glaube, Hoffnung und Barmherzigkeit – benannt wurden, wie schlimm kann es dann sein?“

„Wie schlimm? Schlimmer geht es nicht mehr, schätze ich.“ Seine Lippen zuckten, aber es war kein richtiges Lächeln. Es verriet keine guten Erfahrungen. Doch dann wurde seine Miene sanft. „Meine Faith ist natürlich die reine Freude. Aber sie hat einen eisernen Willen.“

„Schild und Bollwerk der Familie?“

„So ungefähr. Sie ist die Älteste und hat sich bisher um alles gekümmert. Ich bringe sie zu meiner Freude und für ihren Seelenfrieden eine Weile von hier fort. Ein Monat in Italien wird Ihnen genug Zeit lassen, die Arbeit zu tun, die sie sonst selbst übernehmen würde.“

„So ist es sicher am besten“, bestätigte Gregory vorsichtig. „Und die anderen beiden?“

„Charity ist die Jüngste“, berichtete Leggett.

„Sicher ein reizendes Mädchen.“

„Sie ist kein Mädchen mehr. Sie ist neunzehn und eine Nervensäge.“ Rasch sah sich Leggett um und vergewisserte sich, dass niemand diese unverhohlene Bemerkung gehört hatte. „Ein blasses Mädchen mit einem rasiermesserscharfen Verstand und einer dazu passenden Zunge. Sie wird Ihnen eine große Hilfe sein, falls Sie sie dazu bringen können, die Bücher wegzulegen und die Bibliothek zu verlassen. Sie ist so klug wie ein Schachmeister. Falls sie sich jedoch entscheiden sollte, gegen Sie zu arbeiten, dann ist die Schlacht so gut wie verloren, noch bevor sie überhaupt begonnen hat.“

Gregory nickte, während er bereits darüber nachdachte, wie er sich Charitys Gunst sichern konnte. „Und die dritte?“

„Das ‚enfant perdu‘, im militärischen Sinn natürlich.“

„Ein verlorenes Kind?“, übersetzte Gregory und wartete auf eine Erklärung, während Leggett einen Schluck von seinem Brandy nahm.

„Sind Sie vertraut mit dem militärischen Konzept eines Himmelfahrtskommandos? Die Soldaten eines solchen Kommandos sind bereit, dem sicheren Tod entgegenzutreten und einen Angriff direkt in das feindliche Kanonenfeuer zu führen.“

„Weil sie auf eine große Belohnung hoffen.“

„Und wägen diese gegen ein beinahe sicheres Versagen ab“, bestätigte Leggett. „Das beschreibt Hope Strickland recht gut. Sie ist ein Mädchen mit festen Vorstellungen. Meiner Meinung nach mit eher dummen Vorstellungen, aber das ist ihre Sache. Davon abbringen lässt sie sich ohnehin nicht.“

„Und was für Vorstellungen wären das?“

„Sie möchte den neuen Earl heiraten, sobald er einen Fuß auf britischen Boden setzt. Sie glaubt, wenn er in die Familie einheiratet, dann wird es ihn weniger hart treffen, wenn er erfährt, dass die Dowager Countess seinen Besitz verjubelt hat.“

„Eine solche Verbindung wäre äußerst zweckdienlich.“

„Und sie würde uns von der Aufgabe befreien, einen Ehemann für Charity finden zu müssen“, stimmte Leggett zu. „Sie hat Faiths Angebot, bei uns zu wohnen, ausgeschlagen, und sie geht sämtlichen Gentlemen aus dem Weg, die ihr möglicherweise den Hof machen könnten. Aber falls Hope sich den Earl angelt, könnte Charity einfach in der Bibliothek von Comstock Manor bleiben, als hätte sich nichts verändert.“

Das klang fast, als würde er ein Möbelstück beschreiben, das zwar wertvoll, aber zu schwer war, um es zu transportieren.

„Allerdings sollte ein Mann wohl einen gewissen Anteil an der Entscheidung haben, wen er heiratet“, räumte Leggett ein.

„Darüber hinaus wissen Sie noch überhaupt nichts über ihn“, fügte Gregory an. „Möglicherweise ist er ja schon verheiratet.“

Leggett nickte. „Oder er ist zu jung zum Heiraten. Oder zu alt und ohne jedes Interesse an einer Ehe. Außerdem müsste er großherzig genug sein, um die Veräußerung seines Eigentums zu verzeihen und für eine Familie zu sorgen, die ihn mehr kosten wird, als der Titel ihm einbringt.“

„Und vielleicht ist er auch überhaupt nicht die Sorte Mann, der ein Mädchen aus gutem Hause anvertraut werden kann.“

„Nach allem, was wir wissen, könnte er ein sabbernder Schwachkopf sein. Oder ein Schurke, ein Flegel, ein Revolutionär oder ein Trunkenbold. Ich kann nicht zulassen, dass Hope eine unglückliche Ehe eingeht, nur damit sich für ihre jüngere Schwester nichts ändern muss.“

Nun hatte Leggett ebenjene besorgte Miene aufgesetzt, die so viele seiner Klienten zeigten, wenn sie vor einem unlösbaren Problem standen.

„Frauen kommen auf alle möglichen Ideen“, sagte Gregory so gelassen, wie er nur konnte. „Besonders wenn es um ihre Familie und nicht nur um sie selbst geht.“

„Genau zu dieser Sorte Frau gehört auch meine. Als ich sie gefunden habe, war sie drauf und dran, wegen Geld und nicht aus Liebe zu heiraten.“ Leggett lächelte. „Das konnte ich zum Glück in Ordnung bringen, aber ich kann sie schließlich nicht alle heiraten, um sie vor sich selbst zu retten.“ Sein Blick besagte, dass das Aufspüren der verlorenen Gegenstände wohl nicht der schwierigste Teil dieser Aufgabe sein würde.

„Sie meinen doch nicht, dass ich …“ Gregory hielt inne. „Sie erwarten doch nicht von mir, dass ich Ehemänner für sie finde.“

Er rühmte sich seiner Fähigkeiten, mit jeder Herausforderung zurechtzukommen, aber Heiratsangelegenheiten gehörten nicht in seinen Zuständigkeitsbereich.

„Gott, nein. Wir habe uns darauf verständigt, dass Charity ein hoffnungsloser Fall ist. Aber Hope ist mehr als hübsch genug, und sie wird keine Schwierigkeiten haben, einen Ehemann zu finden, wenn wir sie dazu bringen können, sich nach einem umzusehen. Ich möchte nicht, dass die Saison verstreicht und mögliche Angebote abgelehnt werden, während sie wie eine Prinzessin im Turm auf einen Retter wartet, der vielleicht nie kommt.“

„Sie möchten also, dass ich Nachforschungen über den Erben einhole?“

„Jede Information könnte hilfreich sein. Sollten Sie herausfinden, dass es eine Ehefrau und zehn kleine Stricklands in Amerika gibt, dann können wir Hope davon berichten, damit sie ihren Plan aufgibt.“

„Und wenn nicht?“

„Ich hätte nichts dagegen, wenn Sie im Umgang mit der Wahrheit eine gewisse Kreativität an den Tag legen“, erklärte Leggett optimistisch.

„Sie wünschen, dass ich Miss Strickland belüge?“, sprach Gregory es aus. Auch wenn er nicht adeliger Herkunft war, hielt er seine Ehre hoch, oft sogar höher, als die Männer es taten, die ihn anheuerten. Wenn er schon sein Wort brechen und lügen sollte, dann hatte er nicht vor, diese Tatsache hinter eleganten Umschreibungen wie „Kreativität“ zu verstecken.

Leggett seufzte. „Ich will doch nur, dass sie sich die Männer, die sie genau vor der Nase hat, wenigstens einmal ansieht. Tun Sie, was nötig ist, um sie zu überzeugen. Die Details werde ich Ihnen überlassen.“

„Danke.“ Das ließ ihm ausreichend Bewegungsspielraum, um nicht auf Unwahrheiten zurückgreifen zu müssen.

„Und Sie werden genügend Gelegenheit haben, sich etwas einfallen zu lassen, da Sie gezwungenermaßen direkt mit ihr zusammenarbeiten werden. Denn Miss Hope Strickland ist im Besitz der Liste der Dinge, die Sie wieder zurückholen müssen.“ Nun lächelte Leggett zufrieden, so als hätte er die Angelegenheit soeben nicht noch komplizierter gemacht.

Seine nächste Anmerkung formulierte Gregory sehr vorsichtig, da er dem Mann, der ihm gerade einen Auftrag erteilte, nicht widersprechen wollte. „Meiner Erfahrung nach lassen sich derlei Angelegenheiten umso rascher erledigen, je weniger die Familie beteiligt ist.“

„Ich habe nicht behauptet, dass es leicht werden wird“, erinnerte Leggett ihn. Und da war auch wieder dieses selbstzufriedene Lächeln, als würde es ihm Vergnügen bereiten, dass sich nun ein anderer mit den Strickland-Schwestern und ihrer exzentrischen Großmutter herumschlagen musste. „Ich werde Ihnen das Doppelte Ihres üblichen Honorars zahlen, da ich Ihnen schließlich, um ehrlich zu sein, zwei Probleme anvertraut habe, nicht nur eines.“

Damit war nun mehr Geld auf dem Tisch, ohne dass Gregory auch nur danach hatte fragen müssen. Er wusste bereits, wie er die verlorenen Besitztümer wieder auftreiben konnte. Wie schwer konnte es schon sein, eine Heirat zu verhindern, zu der es ohnehin sehr wahrscheinlich nicht kommen würde, auch ohne seine Einmischung?

Er musterte den noch immer lächelnden Leggett und zögerte einen Moment.

„Dann also das Dreifache. Ich kann es kaum erwarten, mit meiner Frau aufs Festland überzusetzen, und ich möchte sicher sein, dass die Angelegenheit zu meiner Zufriedenheit erledigt wird.“

Das Angebot war zu gut, um es abzulehnen, selbst wenn er es gewollt hätte. „Betrachten Sie es als erledigt.“

„Danke, Mr. Drake. Miss Hope Strickland, Miss Charity und die Dowager befinden sich für die Dauer der Saison in London in ihrem Stadthaus in der Harley Street. Ich werde ihnen ausrichten, dass sie mit Ihrem Besuch rechnen können.“

„Sehr gut“, erwiderte Gregory, auch wenn daran vermutlich gar nichts gut werden würde. Abgesehen von der Bezahlung natürlich. Doch das reichte, um ein Lächeln für seinen neuen Auftraggeber auf sein Gesicht zu malen.

„Ich kann mich doch darauf verlassen, dass diese Sache unter uns bleibt?“, vergewisserte sich Leggett im leicht beschämten Tonfall eines Mannes, der nicht daran gewöhnt war, einzuräumen, dass er in Schwierigkeiten steckte, geschweige denn, um Hilfe zu bitten.

„Ich werde die Diskretion in Person sein“, versicherte Gregory. Wenn man seinen Lebensunterhalt damit verdiente, hinter der vornehmen Gesellschaft aufzuräumen, dann gehörte Diskretion zu den Grundvoraussetzungen.

2. KAPITEL

Guten Abend, Mylord“, übte Hope vor einem Spiegel im Empfangszimmer des Stadthauses und suchte in ihrem Lächeln nach Spuren der Unaufrichtigkeit, bevor sie zu dem Schluss kam, dass sie es nicht besser hinbekommen würde.

Dann knickste sie und betrachtete das Ergebnis. Sie war mit den nötigen Feinheiten des Umgangs in vornehmen Kreisen zwar nicht unvertraut, was jedoch nicht bedeutete, dass sie es nicht noch besser machen konnte. Der erste Eindruck war der wichtigste. Dabei durfte ihr kein Fehler unterlaufen.

Vermutlich würde es ohnehin keine Rolle spielen, ihre Erfolgsaussichten lagen praktisch bei null, aber wenn es doch eine Chance gab, den nächsten Earl of Comstock zu beeindrucken, dann würde sie es wenigstens versuchen.

Nun, nach Faiths Hochzeit, war es ihre Aufgabe, so gut wie möglich weiterzumachen und auf die verbliebene Familie aufzupassen. Deren vollkommen willkürlichem Verhalten nach zu urteilen, war es keine Frage, dass Charity und Großmutter alle Hilfe brauchten, die sie bekommen konnten.

Wieder knickste sie. Vielleicht sollte sie das Knie noch etwas tiefer beugen. Außerdem schien ihr Blick den Balanceakt zwischen Ehrerbietung und Koketterie nicht halten zu können.

„Machst du das immer noch?“ Charity stand an der Tür und hatte missbilligend die Arme verschränkt.

„Es zahlt sich aus, wenn man vorbereitet ist“, antwortete Hope und strich die Locke zurück, die sich einfach nicht bändigen ließ und ihr ständig auf die linke Wange fiel.

„Vorbereitet darauf, vor einem Fremden zu katzbuckeln, der uns unser Haus wegnehmen will?“, fauchte Charity.

Hope verbiss sich die Zurechtweisung, dass Charity besser auf ihre Manieren achten sollte, und sagte stattdessen: „Es ist sein Haus. Wir sind nur seine Gäste.“

„Seine Familie, meinst du.“

„Es wäre schön, es so zu betrachten.“ Hope wandte sich vom Spiegel ab und sah Charity an. „Ich ziehe eine nüchternere Betrachtung der Situation vor. Wir teilen zwar denselben Nachnamen, aber wir sind einander noch nie begegnet. Er wird uns wohl kaum als Familie betrachten, es sei denn, wir geben uns große Mühe, um es ihn so sehen zu lassen. Wenn er hier eintrifft, sollten wir ihn herzlich und mit einem freundlichen Lächeln willkommen heißen.“

„Du willst dich nicht mit ihm anfreunden, du willst ihn heiraten. Was hast du vor, wenn es nicht dazu kommt? Man sollte doch auf alle Möglichkeiten vorbereitet sein.“ Charity dachte logischer, als ihr guttat. Aber das war schließlich keine Überraschung. Es hatte schon immer in ihrer Natur gelegen, die Schwachstelle eines Plans ausfindig zu machen und dann gnadenlos darauf herumzuhacken, bis ihr Gegner nachgab.

„Falls der Earl nicht sonderlich von mir beeindruckt sein sollte, dann müssen wir eben gute Partien machen, solange wir in der Stadt sind. Wir werden unsere eigenen Haushalte gründen und müssen uns keine Gedanken mehr um ihn oder seinen Besitz machen.“ Sie legte eine hauchzarte Betonung auf das Wort „wir“, in der Hoffnung, dass ihre Schwester den Ernst der Situation anerkannte und ebenfalls ihren Beitrag leistete. Um sich selbst machte sich Hope im Grunde keine Sorgen, aber sie hatten immer gewusst, dass es für Charity nicht ganz so einfach werden würde. Und wie immer machte Charity es nur noch komplizierter durch ihre Weigerung, sich auch nur nach einem möglichen Ehemann umzusehen.

„Außerdem sind wir Mr. Leggett zu Dank verpflichtet, weil er uns diese Saison ermöglicht“, fügte Hope noch hinzu. Sie strich über ihren Rock, um Charity daran zu erinnern, was für elegante Kleider sie seit ihrer Ankunft in der Stadt trugen. Bevor ihre große Schwester geheiratet hatte, hatten sie dieselben abgetragenen Kleider immer und immer wieder ausgebessert und umgeändert. Aber jetzt war alles, was sich in ihren Schränken befand, modisch und neu.

Wenn man sich Charity so ansah, wäre man darauf allerdings nicht gekommen, denn sie trug ein Kleid, das mindestens zwei Jahre alt und bestenfalls zweckmäßig war. Gut genug, um sich in der Bibliothek von Comstock Manor zu verstecken, aber vollkommen untragbar für London. Ihre Schwester hatte den stummen Tadel bemerkt und antwortete: „Mir bleibt später noch genug Zeit, um Modepüppchen zu spielen, doch jetzt habe ich andere Pläne.“

Hope lächelte ihr zu, freundlich, aber fest. „Natürlich, diese Pläne werden jedoch nicht leicht auszuführen sein, wenn man sich immer nur aufs Land zurückzieht.“

„Für dich vielleicht nicht. Ich war ziemlich zufrieden damit. Je früher du mich nach Berkshire zurückkehren lässt, desto leichter wird es für uns alle.“ Während Hope sich auf die Gelegenheit, nach London zu kommen, gestürzt hatte, tat Charity seit ihrer Ankunft nichts anderes, als sich zu beschweren.

„Gerade hast du darauf hingewiesen, dass ich keinen Ersatzplan habe“, sagte Hope und versuchte, ihren aufkeimenden Ärger mit einem Lächeln zu überspielen. „Hast du denn selbst einen? Wenn der Earl ankommt, kannst du dich schließlich nicht einfach stur stellen und dich weigern, den Landsitz zu verlassen. Wenn er verlangt, dass du ausziehst, dann wirst du gehen müssen.“

Charity lächelte. „Ich brauche keinen Ersatzplan. Mein ursprünglicher Plan ist fast vollendet, und ich werde längst fort sein, wenn er Comstock Manor betritt. Wenn du mir nur erlauben würdest, aufs Land zurückzufahren …“

Da war es wieder. Die Lösung aller Probleme, auf die ihre kleine Schwester immer wieder anspielte, die sie jedoch nicht enthüllen wollte. Es klang nicht so, als hätte sie vor, die Angelegenheit mit dem neuen Earl zu erörtern – als ob irgendein Mann über so etwas mit einem Mädchen sprechen würde, das gerade mal seine Schulausbildung beendet hatte. Doch wenn es nicht das war, was dann? „Dieser Plan, den du da hast …“, setzte Hope an. „Ich nehme nicht an, dass eine Hochzeit darin eine Rolle spielt? Denn wenn es irgendwann dazu kommen soll, dann müsstest du hin und wieder einige der Einladungen annehmen, die du bekommst.“ Da kam ihr ein beunruhigender Gedanke. „Versprich mir, dass du nicht vorhast, dir selbst Schande zu machen. So dringend brauchen wir das Geld nicht.“

Charity lachte harsch. „Du kannst dich vielleicht selbst über deine Zukunft belügen, aber bitte lüge nicht, wenn es um meine geht, meine liebe Schwester.“ Sie trat einen Schritt vor und fasste sie bei den Schultern. Dann drehte sie sie sanft um, sodass sie Seite an Seite vor dem Spiegel standen. „Kein Mann wird mich zur Mätresse haben wollen. Dafür bin ich nicht hübsch genug. Ich habe durchaus vor, zu heiraten, wenn die Zeit gekommen ist, aber es wird mehr nötig sein als ein neues Kleid und ein vollkommener Hofknicks, um mir einen Ehemann zu angeln. Ich brauche eine Mitgift.“

Sie rückte ihre Brille zurecht und musterte ihr Spiegelbild. „Eine beträchtliche Summe, würde ich sagen. Es wird mehr Geld als üblich nötig sein, um sowohl meine Erscheinung als auch meine Manieren auszugleichen.“

„Sprich nicht so über dich selbst“, ermahnte Hope sie. Trotzdem war es die Wahrheit. Es war das eine, wenn man als Mädchen eher schlicht aussah. Aber etwas völlig anderes war es, wenn man dazu auch noch klug war und es einfach nicht fertigbrachte, seine Meinung für sich zu behalten. „Ich bin sicher, sobald der Earl kommt …“

„Wirst du ihn heiraten, und er wird deine geliebte, aber eben auch exzentrische alte Jungfer von einer Schwester mit dem größten Wohlwollen betrachten?“ Charity klopfte ihr auf die Schulter. „Sonst bist du doch eigentlich ganz aufgeweckt, Hope. Genau deshalb finde ich es ja so furchtbar, dass du dir selbst etwas vormachst.“

„Ich will nur, dass du glücklich bist“, erwiderte Hope. Das lag zwar nicht in ihrer Verantwortung, aber nun, da Faith fort war, musste immerhin irgendjemand auf die Familie aufpassen, denn weder von Charity noch von Großmutter war es zu erwarten, dass sie diese Verantwortung übernahmen.

„Ich bin glücklich“, antwortete Charity. „Das wundert dich vielleicht, aber genau so ist es. Mach dir keine Sorgen um meine Zukunft, sondern denk an deine eigene. Ich habe gehört, dass Großmutter Eintrittskarten für Almack’s hat. Du musst dort hingehen und jeden Tanz mittanzen, auch ohne den Earl.“

„Natürlich“, antwortete Hope und versetzte Charity dann einen scharfen Blick. „Und du kommst mit.“

„Vielleicht“, sagte Charity, ohne den Befehlston ihrer Schwester auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Dann gab sie ihr einen Kuss auf die Wange und wandte sich zur Treppe, um zu ihrem Zimmer hinaufzugehen. „Sofern ich nichts Wichtigeres zu tun habe.“

Hope seufzte. Immerhin hatte sich Charity nicht rundheraus geweigert, aber so, wie sie sie kannte, würde sie bis Mittwoch irgendeine Ausrede haben, um nicht mitkommen zu müssen. Aber das spielte keine Rolle. Genau wie Charity es vorgeschlagen hatte, würde sie selbst gehen und tanzen, bis ihr die Füße wehtaten. Sie würde so charmant wie nur möglich sein und dafür sorgen, dass jeder Gentleman in ganz London hingerissen von Miss Strickland war.

Ein Mauerblümchendasein hatte keinen Sinn. Der neue Earl of Comstock würde die freie Auswahl unter Englands jungen Damen haben. Eine, die keine anderen Bewerber hatte, würde er nicht einmal ansehen.

Sie blickte wieder in den Spiegel und warf ihrem eigenen Abbild ein so strahlendes Lächeln zu, dass es selbst einen Duke umhauen würde. Dann der Knicks. „Guten Abend, Mylord.“ Dieses Mal ließ sie sich etwas tiefer sinken, und prompt begannen ihre Knie zu zittern. Wie peinlich. Sie war fast einundzwanzig, aber wohl kaum eine gebrechliche alte Frau. Das konnte sie besser. Das musste sie besser können.

Sie versuchte es noch einmal. „Guten Abend, Mylord.“

„Ich würde sagen, ‚Guten Morgen‘ wäre passender. Es ist ja nicht einmal elf Uhr.“

Vor Schreck geriet sie aus dem Gleichgewicht, und als sie den Blick hob, sah sie im Spiegel einen Fremden hinter sich stehen, der gerade hereingekommen sein musste.

Das war er.

Er musste es sein. Wer sonst, wenn nicht der Earl of Comstock, würde uneingeladen durch das Haus spazieren, als würde es ihm gehören? Schließlich gehörte es ihm ja.

„Und außerdem führe ich keinen Titel.“

„Noch nicht.“ Sie musste ihr Lächeln nicht mehr proben – als sie ihn nun ansah, kam es von ganz allein. Wer würde sich nicht über die Gegenwart eines so gut aussehenden Mannes freuen? Bisher hatte sie sich zwar noch nie sonderlich für das Erscheinungsbild der Männer um sie herum interessiert, aber seines war vollkommen. Er war weder zu groß noch zu klein, seine Hüften waren schmal, die Schultern breit, und sein Gesicht erinnerte an das Antlitz eines römischen Gottes. Sein blondes Haar war à la Brutus geschnitten und lockte sich über der glatten Stirn ganz leicht. Der Blick seiner grauen Augen wirkte klug, sein Lächeln ansteckend.

Was für ein Glück, sie hatte genau den Mann bekommen, auf den sie gehofft hatte: jung, attraktiv und – dem Funkeln nach zu urteilen, das in seinen schönen Augen lag, während er sie ansah – alleinstehend. Allerdings nicht mehr lange, wenn es nach ihr ging.

Er neigte den Kopf. „Da haben Sie recht. Ich habe noch keinen Titel. Und ich werde aller Wahrscheinlichkeit nach auch nie einen haben. Aber immerhin bekommt man manchmal einen verliehen, wenn man etwas Besonderes leistet, und ich bin noch keine dreißig. Mit etwas Zeit und Mühe ist alles möglich, Miss Strickland.“

Sie versuchte, sich von diesem Schrecken wieder etwas zu erholen, und drehte sich so würdevoll wie möglich zu ihm um, während sie versuchte, jene Miene aufrechtzuerhalten, die sie vor dem Spiegel geprobt hatte. „Dann sind Sie also nicht mein Vetter aus Amerika?“

„Der zukünftige Earl of Comstock?“ Sein Lächeln wurde weicher. „Leider nicht.“ Er verbeugte sich vor ihr. „Gregory Drake, zu Ihren Diensten, Miss Strickland. Mir wurde gesagt, Sie würden mich erwarten.“

Ihr Lächeln geriet etwas ins Wanken, und sie verbiss sich gerade noch ein unhöfliches Gregory wer?

Noch wichtiger allerdings war das Wie. Hope warf einen Blick auf die Eingangstür, die nicht aufgegangen war, um jemanden hindurchzulassen, schon gar nicht diesen Eindringling. Dann riss sie sich zusammen. „Ich fürchte, da hat man Sie falsch informiert. Mir wurde heute Morgen kein Gast angekündigt. Sie haben mich unvorbereitet angetroffen.“

Gregory Drake sah ihr prüfend in die Augen, las die Bedeutung darin und neigte höflich den Kopf. „Ich bitte um Verzeihung, Miss Strickland. Ihr Schwager hat mich damit beauftragt, Ihrer Familie bei gewissen Schwierigkeiten behilflich zu sein. Da diese Angelegenheit Diskretion erfordert, bin ich durch die Hintertür hereingekommen, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen.“

„Durch den Dienstboteneingang.“ Natürlich. Warum auch nicht, wenn Leggett ihn angeheuert hatte?

Er nickte, ernst.

Eine Flut von sehr undamenhaften Ausdrücken ging ihr durch den Kopf, mit denen sie diesen dahergelaufenen Niemand mit wahnhaften Zukunftsvorstellungen bezüglich eines Titels gerne bedacht hätte, der die Unverfrorenheit besaß, unangemeldet hier aufzutauchen. Und dabei war er auch noch so unverschämt, wie die Erfüllung aller Mädchenträume auszusehen. Er hatte kein Recht darauf, so attraktiv zu sein und dabei so unpassend.

Dann weitete sich die gedankliche Schimpftirade auf den Ehemann ihrer Schwester aus, der die Unverfrorenheit besessen hatte, diesen … diesen … Menschen anzuheuern. Den Abschluss bildete eine Verwünschung ihrer Großmutter, die vermutlich davon gewusst, es ihr aber nicht erzählt hatte. Genauso, wie sie ihr die möglichen Probleme verschwiegen hatte, die bei einer Prüfung der Rechnungsbücher entstehen konnten. Vielleicht findet die alte Dame es ja lustig, sich vorzustellen, wie ich mich zum Trottel mache.

Als sie sicher war, dass man ihrer Stimme abgesehen von einer leichten Schärfe nichts anhören würde, sagte sie: „Dann hat Mr. Leggett Ihnen also den Auftrag erteilt, uns vor uns selbst zu retten.“

Sie hatte sich nicht vollkommen im Griff. Es hatte recht undankbar geklungen, aber immerhin hatte sie jedes Recht, verärgert zu sein. Sie hatte sich vollkommen lächerlich aufgeführt, als er einfach hereingeplatzt war. Vermutlich bestätigte ihm das nur, was er schon von ihrer Familie dachte: ein Haus voller alberner Frauen, die nicht auf sich selbst aufpassen konnten.

Natürlich dachte sie oft genau dasselbe, wenn sie sich wieder einmal mit den jüngsten Eskapaden ihrer Schwester oder ihrer Großmutter auseinandersetzen musste. Sie stritt nicht ab, dass sie Probleme hatten, aber wie sollte ein Fremder das verstehen?

Sie zwang sich zu einem weiteren Lächeln. Nicht ganz so strahlend, wie sie es für den Earl geprobt hatte. Dieses hier war angemessen für Handeltreibende und Anwälte. „Wie viel hat Ihnen Mr. Leggett über unsere Schwierigkeiten erzählt?“

„Alles, denke ich. Sie wünschen, gewisse Gegenstände zurückzuerlangen, bevor die anstehende Buchprüfung beginnt.“ Falls er sie für unhöflich hielt, ließ er es sich nicht anmerken. Er passte sich ihren Umgangsformen an. Geschäftsmäßige Freundlichkeit, die nichts von seinen wahren Gedanken und Gefühlen verriet.

Dann glaubte er also, er wüsste alles. Das bewies nur, wie wenig er in Wirklichkeit wusste. Nicht einmal Mr. Leggett kannte die ganze Wahrheit, da Hope ihrer Schwester nicht die Hochzeitsreise hatte verderben wollen mit dem, was sie vor Kurzem herausgefunden hatte. Doch Mr. Drake sollte wenigstens begreifen, dass nichts von alldem ihre eigene Schuld war. Um das zum Ausdruck zu bringen, sprach sie die Worte nun laut aus, die ihr durch den Kopf gingen, seit sie vom Ausmaß der Schwierigkeiten ihrer Familie erfahren hatte: „Großmutter hätte nichts verkaufen dürfen, das nicht ihr gehörte. Und sie hätte auch unsere missliche Vermögenslage nicht so lange verheimlichen sollen.“

Er nickte mitfühlend. „Aber was hätten Sie schon tun können, auch wenn Sie davon gewusst hätten?“

Sehr wenig. Faith war für die Verwaltung des Familienvermögens verantwortlich gewesen, und sie hatte durchaus vernünftige Entscheidungen getroffen. Sie hatten an der Kleidung und am Essen gespart. Sie hatten diverse Zimmer verschlossen und Personal entlassen. Wie viel weniger hätten sie gehabt, wenn Großmutter nicht mit ihren wohlüberlegten Diebereien ihren Geldbeutel wieder aufgefüllt hätte?

Die Tatsache, dass es keine andere Lösung gegeben hatte, machte es jedoch auch nicht besser, nun, da der Tag der Abrechnung gekommen war. „Die Vergangenheit spielt keine Rolle. Es ist die Zukunft, um die ich mir Sorgen mache. Wenn die Wahrheit ans Licht kommt, wird es einen Skandal geben.“

„Ich bin hier, um dafür zu sorgen, dass es nicht dazu kommt“, antwortete er. „Ich habe schon mehreren Familien mit ganz ähnlichen Problemen geholfen. Es ist gar nicht so unüblich, dass zu verzweifelten Maßnahmen gegriffen wird, wenn die Mittel knapp werden.“

„Ich nehme an, Mr. Leggett möchte die verlorenen Dinge zurückkaufen?“ Ein großzügiges Vorhaben für einen Mann, der keine Ahnung von den wahren Ausmaßen des Problems hatte.

„Er meinte, Sie hätten eine Liste.“

„Sozusagen“, erwiderte sie ausweichend. Mr. Drakes Gesichtsausdruck nach zu urteilen, erwartete er, dass sie ihm nun ganz nebenbei die dunkelsten Geheimnisse ihrer Familie enthüllen würde. Sie hatte keinen Grund, diesem Fremden zu trauen, der aus dem Nichts gekommen und viel zu gut informiert zu sein schien. Und ohne Anmeldung. Nach allem, was sie wusste, konnte er genauso gut ein Spion des neuen Earls sein, der ihnen bereits auf die Schliche gekommen war.

Wieder lächelte er ihr ermutigend zu. „Wenn Sie mir die Liste aushändigen könnten, dann werde ich mich an meine Aufgaben machen und Sie den Ihren überlassen. Sie brauchen sich keine weiteren Gedanken mehr um die Angelegenheit zu machen.“

Sie konnte ein abschätziges Schnauben nicht überdrücken. Es würde ihm ganz recht geschehen, wenn sie ihm einfach die Wahrheit sagte und ihn dann seiner Wege schickte. „Na gut.“ Sie wandte sich ab und ging den Flur entlang zum Morgenzimmer. Sollte er ihr doch folgen oder auch nicht. Es spielte im Grunde keine Rolle.

Hope hörte leise Schritte hinter sich, als sie den Raum betrat. Sie nahm das zerknitterte Blatt Papier von dem kleinen Schreibtisch in der Ecke und drehte sich wieder zu ihm um. Er hielt respektvoll ein paar Schritte Abstand zu ihr. Sie reichte ihm die Liste. „Bitte schön. Lösen Sie unsere Probleme, wenn Sie immer noch glauben, dass Sie es können.“

Sie sah zu, wie er die glatte Stirn in Sorgenfalten legte, während er die Aufzählung durchging. „Blaues Gemälde. Kerzenhalter. Tintenfässchen des dritten Earls.“ Er hob den Blick, eindeutig überrascht. „Das ist alles? Mehr Details gibt es nicht? Nicht einmal, ob es silberne oder goldene Kerzenhalter sind?“ Die Sorgenfalten vertieften sich. „Und diese Zeile kann ich überhaupt nicht lesen.“

„Ich auch nicht“, sagte sie und versuchte, die böswillige Schadenfreude zu verbergen. „Meine Großmutter redet zwar eine ganze Menge, aber das, was man wirklich wissen will, kriegt man kaum aus ihr heraus. Es war schon nicht leicht, diese Liste zusammenzustellen, weil sie keine Aufzeichnungen darüber hat, was sie wo verkauft hat. Und ich bin ziemlich sicher, dass auch noch einige Gegenstände darauf fehlen.“ Nur einer davon war wirklich wichtig, aber diese Geschichte wollte sie an dieser Stelle lieber noch nicht erzählen. „Ich werde sie erneut ausfragen, weiß allerdings nicht, ob sie noch etwas zugeben wird.“

„Wie gut, dass Händler gründlichere Aufzeichnungen führen als ihre Kunden“, kommentierte er. „Allerdings wird es wohl nicht einfach werden, ihnen diese Informationen zu entlocken. Es gibt Gesetze, die es verbieten, mit Erbgütern zu handeln.“

„Dessen bin ich mir durchaus bewusst.“ Ihre Großmutter war mindestens genauso schuldig wie die Leute, mit denen sie geschachert hatte. Die Händler mochten Hehler sein, aber sie war die Diebin.

„Und was, wenn sich die Händler nicht an sie erinnern?“ Nun wirkte er doch besorgt. „Würden Sie diese Gegenstände erkennen, wenn Sie sie sehen?“

„Die meisten wohl schon“, räumte sie ein. „Ich wohne in diesem Haus, seit ich zehn Jahre alt war. Zumindest sollten sie mir bekannt vorkommen, wenn ich sie sehe.“

Er seufzte. „Dann wäre es wohl am besten, wenn Sie mit mir kommen.“

„Sie schlagen vor, dass ich einen fremden Mann in fragwürdige Gegenden Londons begleite, um Diebesgut zurückzuholen?“

„Ich bin kein fremder Mann.“ Sein Lächeln war wieder da, wenn auch ein wenig angespannt. „Ihr Schwager hat mich geschickt, um Ihnen zu helfen.“

„Dafür habe ich nur Ihr Wort.“

„Woher sollte ich sonst von Ihren Schwierigkeiten wissen, wenn nicht von ihm?“

„Sie hätten es erraten können.“ Nicht sehr wahrscheinlich. Vermutlich war es genau so, wie er gesagt hatte: Mr. Leggett hatte ihn geschickt, um zu helfen. Aber aus irgendwelchen Gründen gingen ihr sein gutes Aussehen und seine perfekten Manieren auf die Nerven. Es bereitete ihr ein finsteres und sehr unfeines Vergnügen, ihn in Verlegenheit zu bringen.

Für einen Moment entglitt ihm die Fassung. Dann schob er die Hand in die Tasche und zog ein Stück Papier hervor, das er ihr reichte. „Wenn ich nicht die Wahrheit sage, wie bin ich dann dazu gekommen?“

Es war ein Kreditbrief, unterschrieben von Mr. Leggett, der versicherte, jede Rechnung ohne weiteres Hinterfragen zu begleichen. Bei diesem Anblick wurde ihr schwindlig. Er konnte nicht wissen, was er da versprochen hatte. Und da Faith und ihr Ehemann bereits nach Italien aufgebrochen waren, konnte sie es ihnen auch nicht mehr sagen.

Mr. Drake deutete ihr Schweigen falsch. „Wenn es Ihnen hilft, dann können Sie mich ja als einen Angestellten betrachten, der Sie begleitet, während Sie die Angelegenheit in Ordnung bringen. Ich werde für Ihre Sicherheit sorgen, die Transaktionen tätigen und die Pakete tragen.“

Das half ihr überhaupt nicht. Der Gedanke, dass er hinter ihr herlief wie ein livrierter Dienstbote, war grässlich. Er war zu vornehm für einen Bediensteten und nicht streng genug für einen Hauslehrer. Wenn sie ihre Fantasie sehr bemühte, dann konnte sie ihn sich vielleicht als ihren Anwalt vorstellen, aber dieses Funkeln in seinen Augen passte viel besser zu einem Lebemann als zu einem Gesetzesvertreter. Und kein Pfarrer dieser Welt lächelte auf diese wissende Weise.

Er sah einfach zu gut aus, um in seiner Begleitung in die Stadt gehen zu können. Wenn man sie mit ihm sah, würde es Gerede geben, das nichts mit den finanziellen Schwierigkeiten der Stricklands zu tun hatte. Der neue Earl sollte zwar den Eindruck bekommen, dass sie begehrt war, aber er durfte keinesfalls denken, dass Gregory Drake ihr den Hof machte.

„Falls Sie sich Sorgen um Ihren Ruf machen, dann bedenken Sie bitte, dass er auch darunter leiden wird, falls die Geschichte mit den verschwundenen Gegenständen bekannt wird.“

„Es sei denn, man kann den neuen Earl dazu überreden, großherziges Stillschweigen zu bewahren“, gab sie zurück. Am liebsten hätte sie sich einfach wieder ihren Übungen gewidmet und so getan, als hätte dieses Treffen nie stattgefunden.

Mr. Drake steckte das Papier mitsamt ihrer Liste zurück in seine Manteltasche. „Was wissen Sie bisher über den Erben Ihres Großvaters?“

Die Frage ärgerte sie, denn die Antwort war offensichtlich. Abgesehen von der durch seinen Anwalt übermittelten Nachricht, dass er vor seiner Ankunft eine Buchprüfung wünsche, hatten sie keinerlei Kontakt zu dem Mann gehabt. Die Sache klang nicht gut. Trotzdem setzte sie ein Lächeln auf, um Mr. Drake abzulenken. „Ich weiß, dass er zur Familie gehört und dass Familienbande stark sind. Ich bin sicher, dass Mr. Strickland verstehen wird, vor welche Schwierigkeiten sich Frauen gestellt sehen, die für sich selbst sorgen müssen.“

„Das können wir nur hoffen, weil ich nämlich bezweifle, dass er diesem Land viel Zuneigung entgegenbringt“, sage Mr. Drake und zog ein weiteres Stück Papier aus einer anderen Manteltasche. „Außerdem hat Mr. Leggett mir den Auftrag gegeben, so viel wie möglich über den Gentleman herauszufinden, den Sie erwarten.“ Er überflog seine Notizen. „Offenbar hat sein Großvater während der Amerikanischen Revolution tapfer gegen England gekämpft. Vor ein paar Jahren wurde Mr. Stricklands älterer Bruder Edward zur britischen Navy zwangsrekrutiert. Miles Strickland ist der Erbe, weil sein Bruder schließlich im Kampf ums Leben gekommen ist.“

Das hatte man davon, wenn man optimistisch bleiben wollte. Hope hatte sich gestattet zu glauben, dass dieses eine Mal vielleicht mit nur etwas Anstrengung ihrerseits alles gut ausgehen konnte. Sie schluckte. „Wenn unser Land ihn so unfair behandelt hat, dann lehnt er den Titel vielleicht ab, um in Amerika zu bleiben.“

„Für diese Hoffnung ist es zu spät, würde ich sagen“, verkündete Mr. Drake. „Derzeit befindet sich der Schoner Mary Beth auf dem Weg von Philadelphia nach Bristol. Wenn er wie geplant eine Passage darauf gebucht hat, dann könnte er jederzeit hier eintreffen.“

„Wir sind nicht schuld an einem Krieg auf der anderen Seite der Welt oder an dem, was die Royal Navy tut“, argumentierte Hope, aber sie fühlte, wie ihre Zukunftshoffnungen in sich zusammenfielen wie eine Sandburg in der einlaufenden Flut.

„Da ist allerdings immer noch die Sache mit den fehlenden Besitztümern.“ Mr. Drake sprach so langsam, als würde er mit einem Kind reden. „Am besten sorgen wir einfach dafür, dass er keinen Grund hat, unglücklich über Ihr Verhalten zu sein. Geben Sie mir einen Tag, um die Liste genauer durchzugehen. Wenn es Ihnen recht ist, werde ich Sie morgen um zehn Uhr abholen, damit wir die Dinge wieder in Ordnung bringen können.“

Sie wollte ihm sagen, dass ihr das ganz und gar nicht recht war. Ihretwegen konnte er sich mit der Liste die Schuhe putzen. Sie waren verloren. Sie waren alle verloren. Was sollte es schon nützen, eine Suche zu beginnen, die sie ja doch nie zu Ende bringen könnten?

Andererseits musste Mr. Leggett diesen Mann aus einem bestimmten Grund ausgesucht haben. Vielleicht fiel ihm irgendetwas ein, das die Lage wenigstens ein bisschen besser machte. Wenn er ihre Unterstützung brauchte, dann würde sie ihm natürlich helfen. Und je früher sie anfingen, desto früher würde es wieder vorbei sein. Sie konnte sich immerhin nicht darauf verlassen, dass die Winterstürme den Earl ewig aufhalten würden. Das Haus musste zumindest, so gut es ging, in Ordnung gebracht sein, wenn er ankam. Sie zwang sich zu einem weiteren Lächeln. „Ich habe wohl keine andere Wahl. Ich werde Sie begleiten, unter gewissen Bedingungen.“

„Und die wären?“ Fragend neigte er den Kopf.

„Des Anstands wegen werde ich in Ihrer Begleitung einen Schleier tragen. Wir werden nicht mehr sprechen als nötig, und Sie werden mich unter keinen Umständen in der Gegenwart anderer beim Namen nennen.“

Falls ihn das beleidigte, verbarg er es gut. Sein Lächeln war so unverbindlich und fest wie zuvor. „Natürlich, Miss Strickland.“

„Dann erwarte ich Sie morgen früh um zehn.“ Sie führte ihn hinaus in die Eingangshalle.

„Bis morgen.“ Er verbeugte sich wie ein vollendeter Gentleman, ruinierte den Eindruck dann aber, indem er sich dem rückwärtigen Teil des Hauses zuwandte, um durch die Hintertür hinauszugehen.

Sie seufzte. „Sie stehen direkt neben dem Portal, Mr. Drake. Bitte benutzen Sie es.“

„Wie Sie wünschen, Miss Strickland.“ Damit drehte er sich um und verließ das Haus.

Hope trat ans Fenster und sah ihm nach, während er die Harley Street hinabging, überzeugt davon, erst dann wieder durchatmen zu können, wenn er außer Sicht war. Mr. Leggett meinte es gut, genau wie Mr. Drake. Seine Einmischung konnte die Lage zwar nicht retten, schaden würde sie jedoch auch nicht. Aber hatte Mr. Drake ihr unbedingt von Mr. Stricklands Abneigung England gegenüber erzählen müssen? Es war fast, als hätte er ihre Enttäuschung genossen.

„Meine Güte, was für ein charmanter Mann.“ Ihre Großmutter stand hinter ihr und sah ihrem Besucher nach.

„Er war nicht sonderlich charmant“, gab Hope zurück und fragte sich, ob ihre Großmutter diese Feststellung wohl darauf gründete, wie gut der Mantel um Mr. Drakes breite Schultern saß. „Und woher willst du das überhaupt wissen? Du hast doch gar nicht mit ihm gesprochen, oder?“

Ihre Großmutter sah weiter an ihr vorbei aus dem Fenster. „Nur ganz kurz, als er angekommen ist. Er ist der Mann, den James damit beauftragt hat, uns mit den Erbgütern zu helfen.“

„Du hast davon gewusst.“ Hope konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme ein wenig schrill wurde, weil man ihr schon wieder wichtige Informationen vorenthalten und sie in dieser schwierigen Situation einfach sich selbst überlassen hatte.

„Habe ich vergessen, das zu erwähnen?“ Lady Comstock sah sie aus großen Augen an, offenbar ganz der Meinung, dass hohes Alter und gute Absichten eine direkte Lüge wieder wettmachten. „Ich wollte dich nicht damit belasten, Hope. Aber er sah so jung und attraktiv aus, dass ich dachte, ihr beide würdet euch gern unterhalten, ohne dass eine Anstandsdame alles verdirbt.“

Genau, wie sie vermutet hatte. „Du schickst einen fremden Mann zu mir, ohne mich wenigstens durch einen Bediensteten zu benachrichtigen?“ Wahrscheinlich hatte ihre Großmutter gedacht, dass sie sie nur zusammenzuwerfen brauchte, und schon würden sie aneinanderhaften wie Magnete, so wie es bei Faith und James Legget der Fall gewesen war. „Ich kann unsere Probleme nicht einfach dadurch lösen, dass ich den Erstbesten heirate, der hier hereinmarschiert kommt, weißt du.“

Ihre sonst so fröhliche Großmutter hob skeptisch eine Braue. „Das musst gerade du sagen. Genau das hast du doch vor, oder? Du willst den neuen Earl heiraten.“

Autor

Christine Merrill

Christine Merril lebt zusammen mit ihrer High School-Liebe, zwei Söhnen, einem großen Golden Retriever und zwei Katzen im ländlichen Wisconsin. Häufig spricht sie davon, sich ein paar Schafe oder auch ein Lama anzuschaffen. Jeder seufzt vor Erleichterung, wenn sie aufhört davon zu reden. Seit sie sich erinnern kann, wollte sie...

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