Das verruchte Verlangen einer Lady

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"Sie sind nicht Nelson!" Entsetzt sieht Lady Hattie Sedley, wer das Schlafzimmer betreten hat. In dem Etablissement für einsame Damen wollte sie sich selbst ein Geschenk zum 29. Geburtstag machen - eine Liebesnacht, bevor morgen ihr neues Leben als ältliche Geschäftsfrau beginnt. Aber statt des vielgepriesenen Nelson steht nun ein anderer Mann vor ihrem Himmelbett: der verboten attraktive Fremde, den sie vorhin gefesselt in ihrer Kutsche entdeckt hat! Der ihr auf dem Weg hierher einen leidenschaftlichen Kuss geraubt hat! Wie hat er sie gefunden? Was will er? Und vor allem: Wer ist er? Hattie ist atemlos vor Angst - und vor Verlangen …


  • Erscheinungstag 06.11.2020
  • Bandnummer 126
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748692
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

September 1837

Mayfair

Lady Henrietta Sedley fand, dass sie in achtundzwanzig Jahren und dreihundertvierundsechzig Tagen so manches gelernt hatte.

Beispielsweise hatte sie gelernt, dass eine Dame auf alle Fälle Röcke mit Taschen tragen sollte, wenn sie sich schon keine Hosen erlauben durfte (ein trauriger Umstand für die Tochter eines Earls, wenn auch eines Earls, der sein Leben ohne Titel oder Vermögen begonnen hatte). Eine Frau wusste nie, wann sie ein Stück Seil benötigte oder ein Messer, um es zu zerschneiden.

Auch hatte sie gelernt, dass ihr eine ordentliche Flucht aus ihrem Zuhause in Mayfair nur im Schutze der Dunkelheit und mithilfe einer Kutsche gelang, die von einem Verbündeten gelenkt wurde. Kutscher versprachen einem das Blaue vom Himmel herunter, wenn es um das Hüten von Geheimnissen ging, doch letztlich waren sie ihrem Brotherrn verpflichtet. Aus ebendieser Lektion hatte sie noch eine Lehre gezogen: Die beste Verbündete ist oftmals zugleich die beste Freundin.

Und möglicherweise ganz oben auf der Liste an Dingen, die sie in ihrem Leben gelernt hatte, stand das Binden des Trossensteks, eines Seemannsknotens. Diesen Knoten beherrschte sie, seit sie denken konnte.

Angesichts eines solch zweifelhaften wie ungewöhnlichen Arsenals an Fertigkeiten hätte man meinen können, dass Henrietta Sedley für die Eventualität gerüstet wäre, einen gefesselten und bewusstlosen Mann in ihrer Kutsche vorzufinden.

Doch dem war nicht so.

Denn ein solches Szenario hätte Henrietta Sedley niemals als Eventualität eingeplant. Es stimmte zwar, dass sie sich in Londons Häfen wohler fühlte als in den Ballsälen der Stadt, doch ihre eindrucksvolle Lebenserfahrung beinhaltete keineswegs eine wie auch immer geartete Berührung mit kriminellen Elementen.

Und doch stand sie hier, mit vollen Taschen und ihrer besten Freundin neben sich, in der stockfinsteren Nacht vor ihrem neunundzwanzigsten Geburtstag, im Begriff, sich aus Mayfair fortzustehlen, um einen sorgfältig geplanten Abend zu genießen, und …

Lady Eleanora Madewell pfiff leise und wenig damenhaft, dicht neben Hatties Ohr. Als Tochter eines Dukes und einer irischen Schauspielerin, die er so sehr liebte, dass er sie zur Duchess gemacht hatte, besaß Nora die Art von Keckheit, wie sie nur jenen zugestanden wird, die über einen unangreifbaren Titel und haufenweise Geld verfügen. „Da liegt ein Kerl in der Kutsche, Hattie.“

Hattie wandte den Blick nicht von besagtem Kerl ab. „Ja, das sehe ich.“

„Als wir die Pferde angeschirrt haben, lag noch kein Mann in der Kutsche.“

„Nein, da lag keiner.“ Sie hatten die angespannte – und ganz bestimmt leere – Kutsche vor einer knappen Dreiviertelstunde auf der dunklen rückseitigen Zufahrt von Sedley House stehen gelassen, um nach oben zu gehen und ihre Arbeitssachen gegen Kleider zu tauschen, die für ihr abendliches Vorhaben besser geeignet waren.

Irgendwann zwischen Korsett und Kajal hatte jemand ihnen ein außerordentlich unwillkommenes Bündel vermacht.

„Einen Kerl in der Kutsche hätten wir doch bemerkt“, meinte Nora.

„Ich denke, das hätten wir“, erwiderte Hattie geistesabwesend. „Das kommt wirklich furchtbar ungelegen.“

Nora sah sie scharf an. „Kommt ein gefesselter, bewusstloser Mann in der eigenen Kutsche je gelegen?“

Wohl kaum, dachte Hattie, aber: „Er hätte sich einen anderen Abend aussuchen können. Dies ist kein schönes Geburtstagsgeschenk.“ Sie blinzelte ins dunkle Innere der Kutsche. „Glaubst du, er ist tot?“

Hoffentlich ist er nicht tot.

Schweigen. Schließlich erwiderte Nora nachdenklich: „Werden tote Männer in Kutschen verstaut?“ Sie streckte eine Hand aus, wobei sich der Kutschermantel über ihren Schultern spannte, und stupste den möglicherweise toten Mann an. Er rührte sich nicht. „Er rührt sich nicht“, erklärte sie mit einem wenig hilfreichen Achselzucken. „Könnte tatsächlich tot sein.“

Seufzend streifte Hattie einen Handschuh ab, beugte sich in den Wagen und legte dem Mann zwei Finger an den Hals. „Ich bin mir sicher, dass er nicht tot ist.“

„Was tust du da?“, zischte Nora. „Falls er nicht tot ist, wirst du ihn wecken!“

„Das wäre nicht das Schlechteste“, stellte Hattie fest. „Dann könnten wir ihn freundlich bitten, unser Gefährt zu verlassen, und endlich losfahren.“

„Oh, na klar. Dieser Grobian wirkt ganz wie jemand, der genau das täte, anstatt umgehend auf Rache zu sinnen. Bestimmt würde er seine Mütze ziehen und uns einen schönen Abend wünschen.“

„Er trägt gar keine Mütze“, entgegnete Hattie, da sich gegen Noras sonstige Mutmaßungen im Hinblick auf den mysteriösen, möglicherweise toten Mann nichts sagen ließ. Er war recht stattlich und muskulös, und selbst im Dunkeln erkannte sie, dass dies kein Mann war, mit dem man durch einen Ballsaal schlendert.

Er wirkte eher wie jemand, der einen Ballsaal plündert.

„Fühlst du etwas?“, drängte Nora.

„Keinen Puls.“ Allerdings war sie nicht ganz sicher, wo der Puls zu finden war. „Aber er ist …“

Warm.

Tote sind nicht warm, und dieser Mann war überaus warm. Wie ein Feuer im Winter. Er strahlte die Art Wärme aus, die einen spüren ließ, wie kalt einem werden konnte.

Diesen albernen Gedanken verdrängend, strich Hattie mit den Fingern an seinem Hals hinab bis zum Hemdkragen, wo die Rundung seiner Schulter endete und überging in … den wohlgeformten Rest von ihm. Die Einbuchtung dort faszinierte sie.

„Und jetzt?“

„Still.“ Hattie hielt den Atem an. Nichts. Sie schüttelte den Kopf.

„Herrgott!“ Es war kein Gebet.

Hattie war ganz ihrer Meinung. Plötzlich aber …

Da. Ein kaum merkliches Flattern. Behutsam verstärkte sie den Druck. Das Flattern wurde stärker. Langsam. Gleichmäßig. „Ich fühle ihn“, sagte sie. „Er lebt.“ Sie wiederholte ihre Worte: „Er lebt.“ Erleichtert stieß sie den Atem aus. „Er ist nicht tot.“

„Hervorragend. Aber das ändert nichts daran, dass er bewusstlos in der Kutsche liegt und du etwas vorhast.“ Nora verstummte kurz. „Wir sollten ihn hierlassen und das Karriol nehmen.“

Hattie hatte diesen besonderen Ausflug an diesem besonderen Abend volle drei Monate lang geplant. Dies war die Nacht, in der ihr dreißigstes Lebensjahr beginnen würde. Das Jahr, in dem sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen würde. Das Jahr, von dem an sie ein selbstbestimmtes Dasein führen würde. Und sie hatte einen ganz besonderen Plan, für den sie zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein musste. Für den sie ein ganz besonderes Kleid angelegt hatte. Doch während sie den Mann in ihrer Kutsche betrachtete, erschienen ihr derlei Besonderheiten unwichtig.

Wichtig war ihr, sein Gesicht zu sehen.

Sie hielt sich am Griff des Schlags fest und nahm die Laterne von der hinteren Ecke des Kutschendachs, bevor sie sich wieder zu Nora umdrehte, die den Blick zu der nicht angezündeten Laterne huschen ließ.

Sie legte den Kopf schräg. „Hattie. Lass ihn hier. Wir nehmen das Karriol.“

„Nur ein kurzer Blick.“

Langsam schüttelte Nora den Kopf. „Du würdest es bereuen.“

„Ich muss es tun“, beharrte Hattie, nach einem triftigen Grund suchend – wobei sie den merkwürdigen Umstand verdrängte, dass sie ihrer Freundin nicht die Wahrheit gestehen wollte. „Ich muss ihn losbinden.“

„Nein, musst du nicht“, hielt Nora dagegen. „Irgendjemand war der Ansicht, es sei besser, ihn zu fesseln, und woher wollen wir wissen, ob dieser Jemand nicht recht hat?“ Hattie kramte bereits im Fach des Kutschenschlags nach dem Zündstein. „Was wird aus deinen Plänen?“

Für ihre Pläne blieb reichlich Zeit. „Nur ein kurzer Blick“, wiederholte sie, als das Öl in der Laterne Feuer fing. Sie schloss die Klappe, wandte sich der Kutsche zu und hielt die Lampe hoch. Ein sanfter goldener Schein fiel auf …

„Du meine Güte!“

Nora unterdrückte ein Lachen. „Anscheinend doch kein so schlechtes Geschenk.“

Der Mann hatte das schönste Gesicht, das Hattie je gesehen hatte. Das schönste Gesicht, das je irgendwer gesehen hatte. Sie beugte sich tiefer, um den warmen Bronzeton seiner Haut zu betrachten, die hohen Wangenknochen, die lange, gerade Nase, die dunklen Brauen und die unglaublich langen Wimpern, die sündhaft verführerisch seine Wangen beschatteten.

„Welcher Mann …?“ Sie verstummte. Schüttelte den Kopf.

Welcher Mann sah so aus?

Welcher Mann sah so aus und landete aus unerfindlichen Gründen in der Kutsche von Hattie Sedley – einer Frau, die Männer dieses Aussehens nicht eben anzog?

„Du machst dich lächerlich“, kommentierte Nora. „Du starrst, und zwar offenen Mundes.“

Hattie schloss den Mund, hörte jedoch nicht auf zu starren.

„Hattie. Wir müssen los!“ Eine Pause. „Oder hast du dich umentschieden?“

Die wie beiläufig gestellte Frage holte Hattie zurück in die Gegenwart. Zu ihrem Plan. Sie schüttelte den Kopf. Senkte die Laterne. „Nein, habe ich nicht.“

Seufzend stemmte Nora die Hände in die Hüften und schaute an Hattie vorbei in die Kutsche. „Also, du die untere und ich die obere Hälfte?“ Sie richtete den Blick auf eine schattendunkle Nische hinter sich. „Dort kann er zu sich kommen.“

Hattie pochte das Herz. „Wir können ihn nicht hierlassen.“

„Ach, nein?“

„Nein.“

Nora warf ihr einen Seitenblick zu. „Hattie. Wir können ihn nicht mitnehmen, bloß weil er wie eine römische Statue aussieht.“

Hattie spürte sich im Dunkeln erröten. „Das ist mir gar nicht aufgefallen.“

„Es hat dir die Sprache verschlagen.“

Sie räusperte sich. „Wir können ihn nicht hierlassen, weil Augie ihn hier abgelegt hat.“

Nora presste die Lippen zu einem schnurgeraden Strich zusammen. „Das weißt du nicht.“

„Doch“, erwiderte Hattie. Sie hielt die Laterne erst an das Seil, mit dem die Handgelenke des Mannes zusammengebunden waren, und danach an die Fesseln an seinen Fußgelenken. „Weil August Sedley keinen anständigen Trossenstek binden kann. Und ich fürchte, dass der Mann sich befreien und auf meinen nichtsnutzigen Bruder losgehen würde, wenn wir ihn hierließen.“

Das zum einen, und wer wusste schon, was Augie mit dem Fremden anstellen würde, sollte dieser sich nicht befreien können? Ihr Bruder war so hohlköpfig wie draufgängerisch – eine Mischung, die mit schöner Regelmäßigkeit Hatties Eingreifen erforderlich machte. Was, nebenbei bemerkt, einiges mit ihrer Entscheidung zu tun hatte, ab ihrem neunundzwanzigsten Geburtstag auf eigenen Füßen zu stehen. Und prompt war es ihrem schrecklichen Bruder gelungen, alles zu ruinieren.

Nora, die von Hatties Gedanken nichts ahnte, meinte: „Auch wenn er gerade bewusstlos ist … Er wirkt nicht wie jemand, der einen Kampf verliert.“

Hattie blieb die Untertreibung nicht verborgen. Seufzend befestigte sie die brennende Laterne in der Halterung im Wageninneren und nutzte die Gelegenheit, um den Mann eingehender zu mustern.

Noch etwas hatte Hattie Sedley in ihren achtundzwanzig Jahren und dreihundertvierundsechzig Tagen gelernt: Wenn eine Frau ein Problem hat, löst sie es am besten selbst.

Sie zog sich hoch und stieg vorsichtig über den Mann hinweg, ehe sie sich zu Nora umdrehte, die mit großen Augen auf der Zufahrt neben der Kutsche stand. „Nun komm schon! Wir schaffen ihn uns unterwegs vom Hals.“

2. KAPITEL

Das Letzte, woran er sich erinnerte, war der Hieb auf den Kopf.

Mit dem Überfall hatte er gerechnet. Deshalb hatte er das Fuhrwerk selbst gelenkt, sechs kräftige Pferde vor einem Wagen aus massivem Stahl, beladen mit Alkohol, Spielkarten und Tabak, auf dem Weg nach Mayfair. Er hatte soeben die Oxford Street überquert, als er den Schuss gehört hatte, gefolgt vom Schmerzensschrei eines der Wachposten.

Er hatte angehalten, um nach seinen Männern zu schauen. Um sie zu beschützen.

Um sich diejenigen vorzuknöpfen, die sie bedrohten.

Ein regloser Körper hatte auf dem Boden gelegen. Blut sickerte auf das Pflaster. Gerade hatte er die zweite Wache losgeschickt, um Hilfe zu holen, als er hinter sich Schritte vernahm. Er war herumgefahren, ein Messer in der Hand. Hatte es geworfen. Hatte den Schrei im Dunkeln gehört, als es sein Ziel getroffen hatte.

Dann der Schlag auf den Kopf.

Und danach … nichts mehr.

Bis ihn jemand weckte, indem er ihm beharrlich gegen die Wange schlug, nicht schmerzhaft, aber spürbar und lästig.

Er hielt die Augen geschlossen; dank jahrelanger Übung war er in der Lage, Schlaf vorzutäuschen, während er sich orientierte. Seine Füße waren gefesselt. Ebenso seine Hände, hinter dem Rücken. Dadurch spannten seine Brustmuskeln so stark, dass er merkte, was fehlte – seine Messer, acht Stahlklingen, eingefasst in Onyx. Gestohlen zusammen mit dem Brustholster, in dem er sie trug. Er widerstand dem Drang, sich zu versteifen. Seiner Wut Luft zu machen.

Denn Saviour Whittington, in Londons finstersten Gassen als Beast – Bestie – bekannt, schlug nicht blindwütig zu; er strafte gezielt. Blitzartig, vernichtend und gnadenlos.

Und sollten die Angreifer einen seiner Männer getötet haben – jemanden, der unter seinem Schutz stand –, würden sie fortan keine ruhige Minute mehr haben.

Zunächst jedoch galt es, sich zu befreien.

Er lag auf dem Boden einer Kutsche. Einer gut ausgestatteten, dem weichen Kissen unter seiner Wange nach zu urteilen. In einem anständigen Viertel, so wie die Räder über das Kopfsteinpflaster schnurrten.

Wie spät ist es?

Er legte sich seinen nächsten Schritt zurecht – malte sich aus, wie er seinen Häscher trotz Fesseln überwältigen könnte. Er stellte sich vor, wie er ihm mit der stumpfen Waffe, die seine Stirn darstellte, die Nase brach. Wie er den Kerl mit seinen gebundenen Beinen niederstreckte.

Wieder die flache Hand an seiner Wange, gefolgt von einem geflüsterten: „Sir.“

Whit riss die Augen auf.

Sein Häscher war kein Mann!

Das Kutscheninnere war in goldenes Licht getaucht, das seine Augen täuschte – es schien nicht von der Laterne auszugehen, die in einer Ecke leicht schaukelte, sondern von der Frau.

Wie sie da auf der Bank über ihm saß, wirkte sie nicht wie ein Widersacher, der einen Mann bewusstlos schlägt und gefesselt in eine Kutsche wirft. Stattdessen sah sie aus, als wollte sie auf einen Ball. Perfekt zurechtgemacht, perfekt frisiert, die Farben perfekt aufeinander abgestimmt – die Haut makellos, die Augen mit Kajal hervorgehoben, die vollen Lippen gerade so stark mit Schminke betont, dass ein Mann auf sie aufmerksam wurde. Und erst das Kleid – blau wie ein Sommerhimmel umschmeichelte es ihre üppige Figur wie eine zweite Haut.

Das alles hätte ihm nicht auffallen sollen, bedachte man, dass er gefesselt in ihrer Kutsche lag. Weder ihr wohlgeformter Körper, die sanften, einladenden Kurven ihrer Taille, ihres Dekolletés. Noch die glatte, im Laternenschein golden schimmernde Haut ihrer runden Schulter. Und auch nicht die weichen Züge ihres Gesichts, die vollen, rot geschminkten Lippen.

Ihr Aussehen war unwichtig.

Aus schmalen Augen fixierte er sie, woraufhin ihre Augen – waren sie etwa violett? Welcher Mensch hatte violette Augen? – sich weiteten. „Nun, sofern dieser Blick auf Ihr Naturell verweist, ist es kein Wunder, dass Sie gefesselt sind.“ Sie legte den Kopf schräg. „Wer hat Sie gefesselt?“

Whit entgegnete nichts. Er war überzeugt davon, dass sie die Antwort kannte.

„Warum sind Sie gefesselt?“

Er schwieg.

Sie presste die Lippen zu einem geraden Strich zusammen und murmelte etwas, das wie „sinnlos“ klang. Lauter fügte sie an: „Die Sache ist die – Sie kommen mir höchst ungelegen, da ich die Kutsche heute Abend brauche.“

„Ungelegen.“ Er hatte nichts sagen wollen, und das Wort überraschte sie beide.

Sie nickte. „In der Tat. Dies ist nämlich Hatties Jahr.“

„Was?“

Sie winkte ab, als wollte sie die Frage fortwischen. Als wäre die Angelegenheit belanglos. Doch Whit mutmaßte, dass sie durchaus von Belang war. Sie fuhr fort. „Heute ist mein Geburtstag, und ich habe Pläne. Pläne, die nicht beinhalten … Was immer es hiermit auf sich hat.“ Schweigen senkte sich zwischen sie, ehe sie anfügte: „Die meisten Menschen würden mir an dieser Stelle gratulieren.“

Whit biss nicht an.

Sie hob die Brauen. „Und dabei wollte ich Ihnen helfen.“

„Ich brauche Ihre Hilfe nicht.“

„Sie sind ganz schön ungehobelt, wissen Sie.“

Er erstickte den leidigen Impuls, sie fassungslos anzustarren. „Ich wurde niedergeschlagen und liege gefesselt in einer fremden Kutsche.“

„Ja, aber Sie müssen zugeben, dass Sie sich in unterhaltsamer Gesellschaft befinden, oder etwa nicht?“ Sie lächelte, und das Grübchen, das sich auf ihrer rechten Wange bildete, war unmöglich zu übersehen.

Als er nichts erwiderte, meinte sie: „Also schön. Aber mir will scheinen, Sie stecken in einer verfahrenen Situation, Sir.“ Sie stockte, ehe sie ergänzte: „Sehen Sie, wie unterhaltsam ich sein kann? Verfahren?“

Er machte sich an seinen Handfesseln zu schaffen. Sie saßen straff, ließen sich aber lockern. Dennoch, sich davon zu befreien war unmöglich. „Ich sehe, wie frech Sie sein können.“

„So mancher findet mich charmant.“

„Ich finde nichts und niemanden charmant“, gab er zurück, beharrlich an den Seilen zerrend. Welcher Teufel ritt ihn nur, sich auf ein Wortgefecht mit diesem Plappermaul einzulassen?

„Wie schade.“ Es klang aufrichtig, aber ehe er auf eine Entgegnung sinnen konnte, fuhr sie fort: „Egal. Auch wenn Sie es nicht zugeben wollen, Sie brauchen Hilfe. Und da Sie gefesselt sind und ich Ihre einzige Reisegefährtin bin, müssen Sie leider mit mir vorliebnehmen.“ Als wäre es das Natürlichste der Welt, beugte sie sich hinunter und löste fingerfertig die Fesseln an seinen Fußknöcheln. „Sie können von Glück sagen, dass ich mich mit Knoten auskenne.“

Er knurrte beipflichtend. Sobald sie ihn befreit hatte, streckte er die Beine aus, so weit das in der Enge möglich war. „Und dass Sie anderweitige Geburtstagspläne haben.“

Sie zögerte errötend. „Ja.“

Whit würde nie begreifen, was ihn dazu trieb, nachzuhaken. „Welche Pläne?“

Es war, als senkte sich ein Schleier über ihre verstörenden Augen, die von solch ungewöhnlicher Farbe und zu groß für ihr Gesicht waren. „Pläne, die ausnahmsweise nicht vorsehen, diesen wie immer gearteten Schlamassel, den Sie darstellen, zu beheben.“

„Wenn ich das nächste Mal niedergeschlagen werde, sorge ich dafür, dass ich Ihnen nicht im Weg bin, Mylady.“

Sie lächelte strahlend, und abermals blitzte das Grübchen auf, gleichsam einen Scherz untermalend, der sich nur ihr erschloss. „Ich verlasse mich darauf.“ Bevor er kontern konnte, fügte sie an: „Wenngleich ich annehme, dass dies nicht zu befürchten steht. Wir verkehren eindeutig nicht in denselben Kreisen.“

„Heute Nacht schon.“

Ihr Lächeln wurde versonnen, verhalten, und Whit war wie gebannt davon. Die Kutsche wurde langsamer, und sie spähte hinaus. „Wir sind fast da“, sagte sie leise. „Zeit für Sie, zu verschwinden, Sir. Gewiss wünschen Sie ebenso wenig wie ich, dass Sie bei mir erwischt werden.“

„Meine Hände“, sagte er, während das Seil sich weiter lockerte.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht riskieren, dass Sie sich rächen.“

Er begegnete ihrem Blick offen. „Meine Rache ist kein Risiko, sondern Gewissheit.“

„Daran zweifele ich nicht. Aber ich kann nicht riskieren, dass ich die Leidtragende Ihrer Rache bin. Nicht heute Nacht.“ Sie fasste an ihm vorbei nach dem Griff des Kutschenschlags, wobei sie über das Rattern der Räder und das Klappern der Pferdehufe hinweg dicht an seinem Ohr raunte: „Wie gesagt …“

„Sie haben Pläne“, beendete er ihren Satz und wandte sich ihr zu, unfähig, ihrem Duft zu widerstehen. Sie roch nach Mandelgebäck, verführerisch süß.

Sie sah ihn an. „Ja.“

„Verraten Sie mir, was Sie vorhaben, dann lasse ich Sie ziehen.“ Er würde sie finden.

Wieder dieses Lächeln. „Wie anmaßend, Sir. Muss ich Sie daran erinnern, dass ich diejenige bin, die Sie ziehen lässt?“

„Verraten Sie es mir!“, befahl er schroff.

Er sah die Veränderung in ihrer Miene. Sah, wie sich ihr Zögern in Neugier verwandelte. In Kühnheit. Die Worte, die sie flüsterte, erschienen ihm wie ein Geschenk. „Vielleicht sollte ich es Ihnen lieber zeigen.“

Allmächtiger, ja.

Sie küsste ihn, legte ihre Lippen an seine, nachgiebig und köstlich und unerfahren. Sie schmeckte wie Wein, unwiderstehlich. Fieberhaft mühte er sich, seine Hände zu befreien. Um dieser außergewöhnlichen Fremden zu zeigen, wie geneigt er war, ihr beim Umsetzen ihres Plans behilflich zu sein.

Schließlich war sie es, die ihn befreite. Er spürte ein Ziehen an seinen Handgelenken, ehe das Seil erschlaffte, einen Herzschlag, bevor sie sich von seinen Lippen löste. Er schlug die Augen auf und sah ein kleines Taschenmesser in ihrer Hand aufblitzen. Sie hatte es sich anders überlegt. Hatte seine Fesseln durchschnitten.

Auf dass er sie gefangen nehmen konnte. Um den Kuss fortzusetzen.

Doch wie angekündigt, verfolgte die Dame andere Pläne.

Bevor er sie berühren konnte, verlangsamte die Kutsche, um abzubiegen, und sie öffnete den Schlag in seinem Rücken. „Leben Sie wohl.“

Instinktiv drehte Whit sich im Fallen, zog das Kinn ein, schützte seinen Kopf und rollte sich zusammen, während ein einziger Gedanke ihm durch den Sinn schoss.

Sie entkommt.

Er prallte gegen die Mauer eines nahen Wirtshauses, woraufhin die Männer, die sich davor versammelt hatten, auseinanderstoben.

„Heda!“, rief einer und kam auf ihn zu. „Alles in Ordnung, Kumpel?“

Whit rappelte sich auf, schüttelte die Arme aus, ließ die Schultern rollen und verlagerte sein Gewicht nach vorn und nach hinten, um Muskeln und Knochen zu prüfen. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass alles intakt war, zückte er zwei Taschenuhren und kontrollierte ihr Federwerk. Halb neun.

„Teufel auch! So schnell hab ich noch nie jemanden wieder auf die Beine kommen seh’n“, meinte der Mann und wollte ihm auf die Schulter klopfen, hielt jedoch inne, als sein Blick auf Whits Gesicht fiel. Offenbar erkannte er es, denn seine Augen wurden groß. Herzlichkeit wurde von Furcht verdrängt, und er wich einen Schritt zurück. „Beast.“

Whit hob bejahend das Kinn, während es ihm dämmerte. Wenn dieser Mann ihn kannte … seinen Namen kannte …

Er drehte sich um, verengte die Augen und starrte auf die Kurve in der dunklen Kopfsteinpflasterstraße, hinter der die Kutsche mitsamt Insassin verschwunden war. Die Straße führte tief hinein in das Labyrinth aus verschlungenen Straßen, das Covent Garden kennzeichnete.

Befriedigung erfasste ihn.

Sie entkommt mir doch nicht.

3. KAPITEL

Du hast ihn hinausgestoßen?“ Noras Entsetzen war offenkundig, während sie in die leere Kutsche spähte, nachdem Hattie ausgestiegen war. „Ich dachte, wir wollten ihn nicht umbringen?“

Hattie fuhr sich mit den Fingern über die Seidenmaske, die sie vor dem Aussteigen angelegt hatte. „Er ist nicht tot.“

Sie hatte sich lange genug aus der Kutsche gelehnt, um sicherzugehen – lange genug, um anerkennend zu beobachten, wie er sich im Fallen zusammengerollt hatte, um anschließend sogleich aufzuspringen, so als wäre er es gewohnt, aus Kutschen geworfen zu werden.

Da sie ihn just an diesem Abend gefesselt in ihrer eigenen Kutsche vorgefunden hatte, hielt sie es durchaus für denkbar, dass ihm dies regelmäßig passierte. Dennoch hatte sie mit angehaltenem Atem zugeschaut, bis er unversehrt aufgestanden war.

„Er ist also zu sich gekommen?“, fragte Nora.

Hattie nickte, wobei sie unwillkürlich ihre Lippen berührte, auf denen sie immer noch seinen forschen und doch sanften Kuss wahrzunehmen meinte, zusammen mit dem Aroma von … Zitrone?

„Und?“

Sie sah ihre Freundin an. „Und was?“

Nora verdrehte die Augen. „Wer ist er?“

„Das hat er nicht verraten.“

Eine kurze Pause. „Nein, das hatte ich auch nicht erwartet.“

Nein. Wobei ich viel darum geben würde, es zu erfahren.

„Du solltest Augie fragen.“ Jäh blickte Hattie auf. Hatte sie laut gesprochen? Nora lächelte breit. „Hast du vergessen, dass ich deine Gedanken so gut kenne wie meine eigenen?“

Nora und sie waren schon ihr Leben lang befreundet – seit mehr als einem Leben gar, hatte Noras Mutter stets gesagt, wenn sie zugesehen hatte, wie die beiden unter dem Tisch im Garten hinter ihrem Haus gespielt und Geheimnisse ausgetauscht hatten. Elisabeth Madewell, Duchess of Holymoor, und Hatties Mutter hatten gemeinsam am Rande der Aristokratie existiert. Weder die irische Schauspielerin noch das Ladenmädchen aus Bristol war mit offenen Armen in die hehren Kreise aufgenommen worden, nachdem das Schicksal die eine zur Duchess und die andere zur Countess erhoben hatte. Ihre Freundschaft war vorherbestimmt gewesen, noch bevor Hatties Vater einen Adelstitel auf Lebenszeit erhalten hatte. Sie waren zwei verwandte Seelen, unzertrennlich, die alles gemeinsam taten, unter anderem Töchter zu gebären – Nora und Hattie, die im Abstand von wenigen Wochen zur Welt gekommen waren. Sie waren von Anfang an wie Schwestern aufgewachsen und liebten einander als solche.

„Zwei Dinge möchte ich anmerken“, setzte Nora hinzu.

„Nur zwei?“

„Na gut. Vorerst zwei. Ich behalte mir das Recht vor, mehr zu sagen“, ergänzte Nora. „Erstens solltest du beten, dass du recht hast und wir den Mann nicht aus Versehen ins Jenseits befördert haben.“

„Haben wir nicht“, versicherte Hattie.

„Und zweitens“, fuhr Nora ungerührt fort, „wenn ich das nächste Mal vorschlage, den bewusstlosen Mann in der Kutsche zu lassen und mein Karriol zu nehmen, werden wir das verdammte Karriol nehmen.“

„Hätten wir das Karriol genommen, wären wir jetzt vielleicht tot“, spottete Hattie. „Du fährst es bei Weitem zu rasant.“

„Ich habe es völlig im Griff.“

Nachdem ihre Mütter binnen weniger Monate gestorben waren – sogar in dieser Hinsicht Seelenverwandte –, hatte Nora bei Hatties Familie den Trost gesucht, den sie bei ihrem Vater und ihrem älteren Bruder nicht gefunden hatte. Die beiden gaben sich zu aristokratisch, als dass sie sich den Luxus zu trauern zugestanden hätten. Die Sedleys hingegen, von niederer Herkunft und die Art Adel, die nicht als solcher anerkannt wurde, kannten derlei Dünkel nicht. Sie hatten in ihrem Heim und am Tisch Platz für Nora geschaffen, und bald hatte sie mehr Nächte bei ihnen als in ihrem eigenen Zuhause verbracht. Ihrem Vater und ihrem Bruder war dies offenbar entgangen – ebenso wie der Umstand, dass sie anfing, ihr Nadelgeld für Kutschen und Karriols auszugeben, die es mit denen der prätentiösesten Londoner Dandys aufnehmen konnten.

Eine Frau, die ihr Gefährt selbst lenkt, lenkt auch ihr Schicksal, pflegte Nora zu sagen.

Dessen war sich Hattie nicht so sicher, aber es ließ sich nicht leugnen, dass eine Freundin, die sich aufs Kutschieren verstand, von Vorteil war. Vor allem an Abenden, an denen man redselige Kutscher umgehen wollte – und jeder Kutscher wurde redselig, wenn er zwei ledige Aristokratentöchter vor der Shelton Street Nummer zweiundsiebzig abgesetzt hatte. Auch wenn besagtes Haus auf den ersten Blick nicht wie ein Bordell anmutete.

Wurde es überhaupt als Bordell bezeichnet, wenn es für Frauen war?

Das, nahm Hattie an, war vermutlich ebenfalls belanglos. Fest stand, dass das geschmackvoll ausgestattete Gebäude nicht so aussah, wie sie sich die auf männliche Kundschaft ausgerichteten Pendants vorstellte. Im Gegenteil, es wirkte anheimelnd und einladend mit seinen hell erleuchteten Fenstern, den herbstlich bunten Blumenampeln neben und über der Tür und den Blumenkästen auf jeder Fensterbank.

Allerdings fiel Hattie auf, dass die Fenster ausnahmslos verhängt waren, was durchaus verständlich war, denn was dahinter vor sich ging, war gewiss privater Natur.

Sie hob eine Hand und überprüfte noch einmal, ob ihre Maske richtig saß. „Hätten wir das Karriol genommen, wären wir gesehen worden.“

„Wahrscheinlich, ja.“ Nora zuckte mit einer Schulter und ließ lächelnd ihre Zähne aufblitzen. „Also werfen wir ihn einfach aus der Kutsche.“

Hattie lachte leise. „Das hätte ich nicht tun sollen.“

„Wir werden nicht umkehren, um uns zu entschuldigen“, meinte Nora, ehe sie mit einem Wink auf die Tür wies. „Was ist? Willst du nicht hineingehen?“

Hattie atmete tief durch. Nun war es so weit. Sie wandte sich ihrer Freundin zu. „Ist das verrückt?“

„Voll und ganz“, bekräftigte Nora.

„Nora!“

„Im positivsten Sinne. Du hast Ziele, Hattie. Und auf diese Weise erreichst du sie. Ist das hier erst erledigt, gibt es kein Zurück mehr. Und ehrlich gesagt, du hast es verdient.“

Leise Zweifel regten sich in ihr, schwach, aber wahrnehmbar. „Du hast auch Ziele, aber etwas Derartiges hast du nie getan.“

Nora schwieg kurz, ehe sie die Schultern zuckte. „Es war nicht erforderlich.“ Das Universum hatte sie mit Reichtum und Privilegien sowie einer Familie ausgestattet, die sich anscheinend nicht daran störte, dass sie beides nutzte, um das Leben in vollen Zügen zu genießen.

So viel Glück hatte Hattie nicht. Sie zählte nicht zu den Frauen, denen zugestanden wurde, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Doch nach der heutigen Nacht würde sie der Welt beweisen, dass sie genau dies zu tun gedachte.

Zunächst aber musste sie aus dem Weg räumen, was sie daran hinderte.

Deshalb war sie hier.

Sie wandte sich Nora zu. „Bist du sicher, dass dies …?“

Eine heranrollende Kutsche unterbrach sie. Das Klappern der Pferdehufe und das Rattern der Räder dröhnten ihr wie Donnerhall in den Ohren. Die Kutsche hielt, und drei lachende Frauen entstiegen ihr. Sie trugen prächtige Seidenkleider, die bei jeder Bewegung schimmerten und changierten, sowie Harlekinmasken, die der ihren glichen. Es war leicht zu erraten, dass diese Frauen schön waren, denn jede hatte einen Schwanenhals und eine schmale Taille und trug ein bezauberndes Lächeln zur Schau.

Hattie war nicht schön.

Sie wich einen Schritt zurück und drückte sich gegen die Seite ihrer Kutsche.

„Tja, jetzt bin ich sicher, dass dies das richtige Haus ist“, bekundete Nora spöttisch.

Hattie sah sie an. „Aber wieso wollen ausgerechnet sie …?“

„Wieso willst du?“

„Aber sie könnten …“ Jeden haben, den sie wollen.

Nora warf ihr einen Seitenblick zu, eine dunkle Braue hochgezogen. „Du auch.“

Das stimmte natürlich nicht. Die Herren rissen sich nicht gerade um sie. Oh, sie mochten sie, keine Frage. Immerhin interessierte sie sich für Schiffe und Pferde und hatte einen Sinn für Geschäftliches, und sie war geistreich genug, um auf Dinnerabenden und Bällen für Unterhaltung zu sorgen. Aber wenn eine Frau so aussah und redete wie sie, neigten Männer eher dazu, ihr auf die Schulter zu klopfen, statt sie leidenschaftlich an sich zu ziehen. Schon während ihrer ersten Saison war sie die gute, alte Hattie gewesen, obwohl sie damals noch keineswegs alt gewesen war.

Das alles behielt sie für sich, und Nora unterbrach das Schweigen. „Womöglich sehnen auch sie sich nach ein wenig … Freiheit.“ Sie schauten zu, wie die Frauen an die Tür der Shelton Street zweiundsiebzig pochten, woraufhin ein kleines Fenster geöffnet und wieder geschlossen wurde, bevor die Tür aufschwang. Die Frauen verschwanden im Innern, sodass auf der Straße wieder Stille herrschte. „Vielleicht möchten sie ebenfalls selbst über ihr Schicksal bestimmen.“

Über ihnen schlug eine Nachtigall, und gleich darauf antwortete ihr in einiger Entfernung eine weitere.

Hatties Jahr.

Sie nickte. „Also dann.“

Ihre Freundin lächelte breit. „Also dann.“

„Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst?“

„Wozu?“, fragte Nora lachend. „Mich reizt dort nichts. Ich dachte, ich fahre ein wenig herum – und schaue, ob ich mir nicht im Hyde Park die Zeit vertreiben kann.“

„Zwei Stunden?“

„Ich werde hier sein.“ Nora tippte sich an ihren Kutscherhut und schenkte Hattie ein breites Grinsen. „Viel Vergnügen, M’lady.“

Genau das war von Anfang an ihr Plan gewesen, nicht wahr? Sich zu vergnügen in dieser Nacht, der ersten ihres restlichen Lebens, da sie die Tür zur Vergangenheit hinter sich schloss und ihre Zukunft selbst in die Hand nahm. Sie nickte ihrer Freundin zu und näherte sich dem Gebäude, den Blick auf die große Stahltür geheftet. Der schmale Schlitz darin wurde geöffnet, kaum dass sie geklopft hatte, und enthüllte ein Paar dick kajalumrandeter Augen, die sie abschätzend musterten. „Parole?“

„Regina.“

Der Schlitz wurde geschlossen, die Tür ging auf. Und Hattie trat ein.

Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an das dunkle Innere des Hauses gewöhnt hatten. Der Kontrast zum hell erleuchteten Außenbereich war so stark, dass sie unwillkürlich nach ihrer Maske greifen wollte. „Wenn Sie sie abnehmen, können Sie nicht bleiben“, warnte die Frau, die ihr geöffnet hatte. Sie war hochgewachsen, gertenschlank und wunderschön mit ihrem dunklen Haar, ihren noch dunkleren Augen und der hellsten Haut, die Hattie je gesehen hatte.

Sie ließ die Hand sinken. „Ich bin …“

Die Frau lächelte. „Wir wissen, wer Sie sind, Mylady. Namen sind nebensächlich. Ihre Anonymität steht im Vordergrund.“

Hattie schoss durch den Kopf, dass sie, soweit sie sich entsann, nie zuvor in irgendeiner Hinsicht im Vordergrund gestanden hatte. Und es gefiel ihr. „Oh“, erwiderte sie, da sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte. „Sehr freundlich.“

Die Dame wandte sich ab und schob sich durch einen dicken Vorhang, hinter dem sich der Hauptempfangsraum befand. Die drei Frauen, die Hattie draußen gesehen hatte, unterbrachen ihre Unterhaltung, um Hattie zu begutachten. Hattie wollte zu einem leeren Sofa in der Nähe gehen, doch ihre Begleiterin hielt sie davon ab, indem sie eine weitere Tür öffnete. „Hier entlang, Mylady.“

Sie folgte. „Aber diese Frauen sind vor mir angekommen.“

Abermals spielte ein verhaltenes Lächeln um die vollen Lippen der Schönheit. „Sie haben keinen Termin.“

Die Vorstellung, an einem Ort wie diesem unangemeldet zu erscheinen, berauschte Hattie. Das hieße, dieses Etablissement zu frequentieren – wie es wohl wäre, zu den Frauen zu gehören, die dieses Haus nicht nur betreten durften, sondern dies auch regelmäßig taten? Was bedeutete, die Besuche zu genießen?

Erregung erfasste sie, als sie in das nächste Zimmer traten. Es war groß und oval und prunkvoll mit sattroter Seide, Goldbrokat und tiefblauem Samt dekoriert. Auf Silbertabletts türmten sich Pralinen und Feingebäck.

Hattie knurrte der Magen. Sie hatte heute Abend noch nichts gegessen, weil sie zu nervös gewesen war.

Ihre schöne Begleiterin wandte sich zu ihr um. „Möchten Sie einen Imbiss?“

„Nein. Ich würde es gern hinter mich bringen.“ Sie riss die Augen auf. „Das heißt … Ich wollte sagen …“

Die Frau lächelte. „Ich verstehe. Folgen Sie mir.“

Das tat sie, durch die labyrinthartigen Korridore des Gebäudes, das von außen trügerisch klein wirkte und doch überraschend geräumige Innenmaße barg. Sie erklommen eine breite Treppe, und Hattie konnte nicht widerstehen, mit den Fingern über die tief saphirblaue Seidentapete zu streichen, in die ein silbernes Rankenmuster eingeprägt war. Alles hier verströmte Luxus, was sie nicht hätte überraschen sollen – immerhin hatte sie ein Vermögen für das Privileg eines Termins bezahlt.

Zu jenem Zeitpunkt hatte sie geglaubt, sie zahle für Verschwiegenheit, nicht Extravaganz. Offenbar zahlte sie für beides.

Als sie den oberen Treppenabsatz erreichten und einen hell erleuchteten, von geschlossenen Türen gesäumten Gang einschlugen, sah sie ihre Begleiterin an. „Sind Sie Dahlia?“

Die Shelton Street zweiundsiebzig gehörte einer geheimnisvollen Frau, die den Damen der Aristokratie nur als Dahlia bekannt war. Sie war es gewesen, mit der Hattie vorab korrespondiert hatte. Dahlia hatte ihr einige Fragen zu ihren Gelüsten und Vorlieben gestellt – Fragen, die Hattie vor Scham kaum hatte beantworten können. Schließlich bekamen Frauen wie sie so gut wie nie die Gelegenheit, ihre Gelüste auszuloten oder Vorlieben zu entwickeln.

Jetzt weiß ich, was ich will.

Die Erkenntnis ging mit einem Bild einher – von dem Mann in der Kutsche, attraktiv schon im Schlaf … Unleugbar schön im Wachzustand. Diese bernsteinfarbenen, taxierenden Augen, die bis in ihr Innerstes zu blicken schienen. Das Spiel seiner Muskeln, während er gegen die Fesseln angekämpft hatte. Und sein Kuss …

Ich habe ihn geküsst.

Was hatte sie sich bloß dabei gedacht?

Sie hatte überhaupt nicht gedacht.

Dennoch … Sie war dankbar für die Erinnerung, für den Nachhall seines scharfen Einatmens, als sie ihre Lippen auf seine gedrückt hatte. Sein leises Knurren war ihr ins Blut gefahren, hatte es doch den Punkt markiert, da er sich hingegeben hatte. Sich ihren Gelüsten hingegeben hatte. Da er zu ihrer Vorliebe geworden war.

Wieder spürte sie ihre Wangen brennen. Sie räusperte sich und schaute ihre Begleiterin an, die die sinnlichen Lippen zu einem Lächeln verzogen hatte. „Ich bin Zeva, Mylady. Dahlia ist heute Abend nicht im Hause, aber keine Sorge. Wir haben in ihrer Abwesenheit alles für Sie vorbereitet“, setzte die Schönheit hinzu. „Wir glauben, dass Sie alles zu Ihrer Zufriedenheit vorfinden werden.“

Zeva öffnete eine Tür und ließ Hattie den Vortritt.

Hattie schlug das Herz bis zum Halse, während sie sich im Zimmer umschaute, und sie schluckte gegen den Kloß in ihrer Kehle an. Was bislang nur eine aberwitzige Idee gewesen war, drohte nun Wirklichkeit zu werden. Dessen ungeachtet würde sie nicht erkennen lassen, wie beklommen ihr zumute war.

Es war kein gewöhnlicher Raum, sondern ein Schlafzimmer.

Ein geschmackvoll mit Seide und Satin ausstaffiertes Schlafzimmer. Eine leuchtend blaue Samtdecke hob sich deutlich von den mit kunstvollem Schnitzwerk verzierten Pfosten des Raummittelpunkts ab – eines Ebenholzbettes.

Der Umstand, dass Betten seit jeher den Mittelpunkt von Schlafzimmern darstellten, war mit einem Mal bedeutungslos. Hattie hatte das sichere Gefühl, nie zuvor ein Bett gesehen zu haben. Nur so ließ sich erklären, warum sie dieses dort so sehr bannte.

Zevas Belustigung war nicht zu überhören, als sie fragte: „Gibt es ein Problem, Mylady?“

„Nein“, erwiderte Hattie. Ihre Stimme klang befremdlich erstickt und unnatürlich hoch. Abermals räusperte sie sich. Plötzlich fühlte sich das Mieder ihres Kleides beengend an, und sie legte eine Hand darauf. „Nein. Nein. Alles ist genau, wie es sein soll. Ganz wie erwartet. Exakt wie geplant.“ Wieder räusperte sie sich, nach wie vor fasziniert von dem Bett. „Vielen Dank.“

Hinter sich hörte sie Zeva fragen: „Möchten Sie vielleicht einen Moment allein sein, bevor Nelson sich zu Ihnen gesellt?“

Nelson. Hattie drehte sich um. „Nelson? Wie der Kriegsheld?“

„Ganz recht. Einer unserer Besten.“

„Und damit meinen Sie …?“

Die dunklen Brauen hoben sich. „Neben den von Ihnen gewünschten Qualitäten ist er charmant, gebildet und äußerst engagiert.“

Äußerst engagiert im Bett, meint sie.

Hattie drohte an dem Sand zu ersticken, der ihre Kehle zu füllen schien. „Aha. Nun. Was will man mehr?“

Um Zevas Lippen zuckte es. „Gönnen Sie sich ruhig ein paar Minuten, um sich mit dem Zimmer vertraut zu machen …“

Mit dem Bett, meint sie.

Zeva wies auf einen Glockenzug an der Wand. „… und läuten Sie, wenn Sie bereit sind.“

Bereit für das Bett, meint sie.

Hattie nickte. „Ja. Das klingt gut.“

Zeva glitt hinaus, und nur das leise Klicken der Tür zeugte davon, dass sie überhaupt da gewesen war.

Langsam stieß Hattie den Atem aus, ehe sie sich dem leeren Zimmer stellte. Nun da sie allein war, konnte sie den Rest in Augenschein nehmen, die schimmernde goldfarbene Tapete, den stilvoll gekachelten Kamin und die großen Fenster, durch die tagsüber gewiss das Gewirr der Dächer von Covent Garden zu sehen war. Jetzt, bei Nacht, wurden sie zu Spiegeln, in denen das Kerzenlicht und mittendrin Hattie zu sehen war.

Hattie. Die sich anschickte, ein neues Leben zu beginnen.

Sie trat an eines der großen Fenster, bemüht, ihr Spiegelbild zu ignorieren und sich stattdessen auf die Finsternis jenseits der Scheiben zu konzentrieren, so weitreichend wie ihre Pläne. Ihre Sehnsüchte. Ihre Entscheidung, nicht länger darauf zu warten, dass ihr Vater ihr Potenzial entdeckte, sondern sich zu nehmen, was sie wollte. Zu beweisen, dass sie stark genug, klug genug, unabhängig genug war.

Und eventuell eine Spur leichtsinnig.

Doch was war der Weg zum Erfolg schon ohne ein wenig Leichtsinn?

Dieser Leichtsinn würde sie für das Rennen um einen anständigen Ehemann disqualifizieren, sodass ihr Vater ihr nicht länger würde verwehren können, was sie sich in Wahrheit wünschte.

Ein eigenes Unternehmen. Ein eigenes Leben. Eine eigene Zukunft.

Tief durchatmend wandte sie sich dem nahen Tisch zu, der mit genügend Speisen für eine ganze Armee beladen war: Tee-Sandwiches und Kanapees und Petits Fours. Eine Flasche Champagner und zwei Gläser standen wie Wachposten daneben. Das alles hätte sie nicht überraschen sollen – sie war eingehend dazu befragt worden, wie sie sich diesen Abend vorstellte, und sie hatte sich eine ebensolche Vielfalt gewünscht. Nicht so sehr, weil sie sich viel aus Champagner und Köstlichkeiten machte – obwohl, wer tat das nicht? –, sondern eher, weil es ihr wie etwas erschien, das eine erfahrene Frau bei einer solchen Gelegenheit anbot.

Und so war ein Tisch für zwei gedeckt worden, als wäre dies ein Zimmer in einer Poststation an der Great North Road und für Neuvermählte ausstaffiert worden. Der alberne romantische Gedanke ließ Hattie schief lächeln. Doch genau das war es, was die Shelton Street zweiundsiebzig verkaufte, nicht wahr? Maßgeschneiderte Romantik.

Champagner und Petits Fours und ein Himmelbett.

Mit einem Mal fand sie dies alles ungemein lächerlich.

Ein leises nervöses Lachen entschlüpfte ihr. Auf keinen Fall würde sie Kanapees oder Petits Fours essen können. Ihr Magen hätte sogleich rebelliert. Champagner hingegen … Vielleicht war Champagner genau das Richtige.

Sie schenkte sich ein Glas ein und trank es in einem Zug, wie Limonade. Schneller als erwartet breitete sich Wärme in ihr aus. Wärme und gerade genügend Mut, um sie das Zimmer durchqueren und läuten zu lassen. Um Nelson herbeizurufen. Nelson, der so engagiert wie der Kriegsheld war.

Vermutlich hätte der Name des Mannes, der sie von ihrer Jungfräulichkeit befreien würde, schlimmer ausfallen können.

Hattie betätigte die Glocke – die im Zimmer selbst nicht zu hören war. Irgendwo in diesem rätselhaften Gebäude würde sie jedoch schellen. Hattie malte sich eine Schar ansehnlicher Mannsbilder aus, die wie Rennpferde am Start darauf warteten, ihr Engagement zu beweisen. Das absurde Bild ließ sie lächeln, weil sie im Geiste einen gesichtslosen Nelson vor sich sah – mit Paradeuniform und Admiralshut, etwas Kreativeres fiel ihr nicht ein. Beim ersten Läuten sprang er auf und rannte los, wobei er mit seinen langen Beinen je zwei, drei Treppenstufen auf einmal nahm und in seiner Eile, zu ihr zu gelangen, außer Atem geriet.

Wie sollte sie sich ihm präsentieren? Sollte sie sich am Fenster postieren? Sollte sie stehen, damit er sie begutachten konnte? Damit er einschätzen konnte, was ihn erwartete? Dieser Gedanke begeisterte sie nicht gerade.

Somit blieben der Sessel vor dem Kamin und das Bett.

Sie bezweifelte stark, dass ihm an einer Unterhaltung gelegen war. Sie war sich nicht einmal sicher, ob ihr an einer Unterhaltung gelegen war. Schließlich war das Ganze hier bloß ein Mittel zum Zweck.

Also das Bett.

Einen kopflosen Moment lang sah sie keinen gesichtslosen Admiral auf sich zulaufen, sondern einen anderen Mann. Mit einem betörend schönen Gesicht. Mit ebenmäßigen Zügen, bernsteinfarbenen Augen, dunklen Brauen sowie Lippen, so weich, wie sie es nie für möglich gehalten hätte.

Sie räusperte sich und verscheuchte den Gedanken, um sich wieder der ursprünglichen Frage zu widmen. Sich aufs Bett zu legen fühlte sich ebenso falsch an wie sich hinzusetzen, die Fesseln gekreuzt. Gab es womöglich einen Mittelweg? Sollte sie sich verführerisch hinfläzen?

Pfui. Verführerisch kam in ihrer Welt nicht vor.

Sie ließ sich auf der schummrigsten Ecke des Bettes nieder, einen Arm stützend um den Pfosten gelegt. Sie schmiegte sich ans Holz in dem Bemühen, wie eine Frau zu wirken, die so etwas ständig tat. Wie eine Verführerin, die ihre Gelüste und Vorlieben kannte. Eine Frau, die Wendungen wie „äußerst engagiert“ verstand.

Jäh ging die Tür auf, und ihr Herz pochte wie wild, als eine große, in Schatten gehüllte Gestalt eintrat, ohne Admiralshut und Uniform. Ohne auch nur etwas entfernt Elegantes. Der Mann trug Schwarz. Jede Menge Schwarz.

Dann stand er im Zimmer, und das Licht überzog sein makelloses Gesicht mit einem warmen, goldenen Schein.

Ihr setzte das Herz aus. Ruckartig richtete sie sich auf, zu schwungvoll für ihre labile Haltung, sodass sie fast vom Bett gefallen wäre.

Er bewegte sich bemerkenswert geschmeidig, als hätte er nicht erst vor einer Stunde bewusstlos in ihrer Kutsche gelegen. Als hätte sie ihn nicht hinausgestoßen. Sie ließ den Blick über ihn wandern, suchte nach Schürfwunden und Prellungen, nach Anzeichen dafür, dass er bei dem Sturz zu Schaden gekommen war. Vergeblich.

Sie schluckte, froh über das spärliche Licht. „Sie sind nicht Nelson.“

Er erwiderte nichts. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.

Und sie waren allein.

4. KAPITEL

Sie hätte eine Nadel im Heuhaufen sein sollen.

Sie hätte verschwinden sollen.

Sie hätte eine von tausend Frauen in tausend Kutschen sein sollen, die wie Skorpione durch die dunkleren Winkel Londons huschten, unsichtbar für gewöhnliche Männer aus der Welt jenseits dieser Gassen.

Und genau das wäre sie gewesen, hätte es sich bei Whit um einen gewöhnlichen Mann gehandelt. Doch das war er nicht. Er war ein Bareknuckle Bastard – ein König der Londoner Schattenwelt, mit zahllosen Spionen in der Dunkelheit. Was immer in seinem Viertel vor sich ging, wurde ihm zugetragen. Es fiel seinem ausgedehnten Spähernetzwerk geradezu lächerlich leicht, die fragliche schwarze Kutsche aufzuspüren, die durch die Nacht kreuzte.

Seine Späher waren ihr gefolgt, noch ehe er auf den Dächern gewesen war, und hatten sie ebenso schnell ausfindig gemacht, wie sie Whit die gewünschten Informationen überbracht hatten: Die Fracht, die er befördert hatte, war fort, die angegriffenen Wachen waren am Leben, die Angreifer untergetaucht. Unerkannt.

Aber das werden sie nicht bleiben.

Die Frau würde ihn zum Feind führen – einem Feind, nach dem die Bareknuckle Bastards seit Monaten suchten.

Es schadete nicht, dass seine Männer unentwegt die Eingänge des Bordells im Auge behielten. Ein Bruder passte schließlich auf seine Schwester auf – selbst wenn besagte Schwester mächtig genug war, eine ganze Stadt in die Knie zu zwingen. Selbst wenn besagte Schwester sich versteckt hielt, um der einen Sache zu entgehen, die ihr die Macht zu rauben vermochte.

Whit war mühelos in das Gebäude gelangt, vorbei an Zeva, bei der er sich gerade so lange aufgehalten hatte, um in Erfahrung zu bringen, wo sich die Frau befand, deren Namen sie nicht preisgeben wollte. Er hatte gewusst, dass Zeva sich weigern würde. Der Erfolg der Shelton Street zweiundsiebzig gründete sich auf uneingeschränkte Diskretion ausnahmslos allen gegenüber – die Bareknuckle Bastards eingeschlossen.

Deshalb bedrängte er Zeva nicht. Stattdessen schob er sich an ihr vorbei und ignorierte, dass sie in stummem Erstaunen die dunklen Brauen hob. Stumm fürs Erste; Zeva war ein herausragender Lieutenant und hütete Geheimnisse, außer vor ihrer Dienstherrin. Und sobald Grace – in London nur als Dahlia bekannt – auf ihren rechtmäßigen Thron zurückkehrte, würde sie von dem Vorfall erfahren. Und sie würde nicht zögern, Fragen zu stellen.

Nichts war so gnadenlos wie schwesterliche Neugier.

Vorerst jedoch konnte Grace ihm nicht zusetzen. Vorerst gab es nur die geheimnisvolle Frau aus der Kutsche, die über Informationen verfügte. Das letzte Teilchen des Räderwerks, das er in Gang hatte setzen wollen. Die Feder, die darauf wartete, aufgezogen zu werden. Sie kannte die Namen der Männer, die auf seinen Transport geschossen hatten. Auf seine Leute. Die Namen der Männer, die die Bastarde bestahlen.

Die Namen der Männer, die für seinen abtrünnigen Bruder arbeiteten. Seinen Feind. Hier war sie nun, im Haus seiner Schwester, in seinem ureigenen Revier.

Und wartete darauf, von einem Mann verwöhnt zu werden.

Er ignorierte die Erregung, die ihn bei diesem Gedanken durchströmte, ebenso wie die leichte Gereiztheit, die darauf folgte. Die Frau interessierte ihn in rein geschäftlicher, nicht in sinnlicher Hinsicht.

Zeit, zum Geschäftlichen zu kommen.

Er erblickte sie, sobald er eintrat, im Halbdunkel auf der Bettkante, einen Bettpfosten umklammernd. Während er die Tür hinter sich schloss, kam ihm ein eigenartiger Gedanke: Wie sie so dasaß, in einem der extravagantesten Bordelle der Stadt – das auf weibliche Klientel mit erlesenem Geschmack ausgelegt war und äußerste Diskretion zusicherte –, hätte sie kaum deplatzierter erscheinen können.

Sie hätte sich hier wie zu Hause fühlen sollen, bedachte man, dass sie ihn wach gerüttelt und angeregt mit ihm geplaudert hatte, als wäre nichts Außergewöhnliches an der Situation, um ihn anschließend aus einer fahrenden Kutsche zu stoßen.

Nachdem sie ihn geküsst hatte.

Dass sie hierher unterwegs gewesen war, hatte sich perfekt in den Rahmen ihrer wilden Nacht eingefügt.

Doch etwas passte nicht ins Bild.

Nicht das Kleid, dessen weite türkisfarbene Röcke aus feinster Seide sich von der Dunkelheit abhoben und auf eine begnadete Schneiderin schließen ließen. Auch nicht die dazu passenden Schühchen, deren Spitzen unter dem Saum hervorlugten.

Nicht das Mieder, das sich im schummrigen Licht schimmernd an die Konturen ihres Oberkörpers schmiegte und das köstlich üppige Dekolleté betonte – nein, in dieser Hinsicht passte sie perfekt in die Shelton Street.

Nicht einmal ihr im Schatten liegendes Gesicht – im Dunkeln nur zu erahnen, ihr erstaunt geöffneter Mund jedoch erkennbar. Ein anderer Mann hätte den geöffneten Mund vielleicht albern gefunden, aber Whit wusste es besser. Er wusste, wie dieser Mund schmeckte. Wie nachgiebig jene vollen Lippen waren. Auch daran war nichts Befremdliches.

An üppigen Kurven und vollen Lippen sowie an Frauen, die mit beidem umzugehen verstanden, hatte die Shelton Street zweiundsiebzig einiges zu bieten.

Diese Frau verstand nicht, damit umzugehen. Stocksteif und ein wenig schief saß sie da, die eine Hand um den Bettpfosten gekrampft, sodass die Fingerknöchel weiß hervortraten, mit der anderen eine leere Champagnerflöte umklammernd. Sie wirkte völlig fehl am Platz.

Umso mehr, als sie sich noch gerader aufrichtete, als menschenmöglich schien, und sagte: „Verzeihung, Sir. Ich warte auf jemanden.“

„Mmm.“ Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und verschränkte die Arme vor der Brust. Wenn sie doch nur nicht im Dunkeln säße. „Nelson.“

Sie nickte, die Bewegung so hölzern wie ein ruckelndes Uhrwerk. „Ganz recht. Und da Sie nicht Nelson sind …“

„Woher wollen Sie das wissen?“

Schweigen. Whit widerstand dem Drang, zu lächeln. Fast meinte er, ihre Panik zu hören. Gleich würde sie einknicken, wodurch er Herr der Lage werden würde. Binnen Minuten hätte er ihr die gewünschten Informationen entlockt. Wie einem Kind, dem man Süßigkeiten anbietet.

Da jedoch verkündete sie: „Weil Sie nicht meine Anforderungen erfüllen.“

Was zur Hölle …? Anforderungen?

Wie durch ein Wunder gelang es ihm, sich die Frage zu verkneifen. Das Plappermaul beantwortete sie dennoch. „Ich habe ausdrücklich jemanden gewünscht, der weniger …“

Sie ließ den Satz ins Leere laufen, und Whit ertappte sich dabei, dass er so gut wie alles getan hätte, um den Rest zu hören. Als sie mit einem Wink auf ihn wies, hakte er unwillkürlich nach: „Weniger …?“

Sie runzelte die Stirn. „Genau. Weniger.“

In seiner Brust regte sich etwas, das sich verdächtig nach Stolz anfühlte. Er verdrängte es und schwieg.

„Sie sind nicht weniger“, fuhr sie fort. „Sie sind mehr. Sie sind viel. Deshalb habe ich Sie vorhin aus der Kutsche gestoßen – wofür ich mich übrigens entschuldigen möchte. Ich hoffe, Sie haben sich beim Sturz nicht allzu sehr verletzt.“

Er ignorierte den letzten Satz. „Inwiefern viel?“

Wieder ein Wink. „In jeder Hinsicht.“ Sie griff in ihre weiten Röcke, holte ein Stück Papier hervor und zog es zurate. „Durchschnittlich groß. Durchschnittlich kräftig.“ Sie schaute auf und musterte ihn ungeniert. „Beides trifft auf Sie nicht zu.“

Musste sie so enttäuscht klingen? Was stand noch auf dem Papier?

„Bei unserer Begegnung vorhin habe ich nicht bemerkt, wie groß Sie sind.“

„So wollen wir es also nennen? Eine Begegnung?“

Nachdenklich legte sie den Kopf schräg. „Haben Sie ein besseres Wort dafür?“

„Überfall.“

Die Augen hinter der Maske weiteten sich. Sie sprang auf, und er sah, dass sie größer war, als er in der Kutsche vermutet hatte. „Ich habe Sie nicht überfallen!“

Da täuschte sie sich. Alles an ihr kam einem Sturmangriff gleich, von den prachtvollen Rundungen über die leuchtenden Augen und das schimmernde Kleid bis hin zum Mandelduft – als käme sie soeben aus einer Küche voller Kuchen.

Diese Frau hatte ihn von dem Augenblick an überwältigt, da er in der Kutsche die Augen aufgeschlagen und sie erblickt hatte, während sie sich über Geburtstage und Pläne und Hatties Jahr ausgelassen hatte.

„Hattie.“ Das hatte er nicht sagen wollen. Erst recht hatte er es nicht genießen wollen, den Namen auszusprechen.

Die Augen hinter der Maske wurden noch größer, was kaum möglich schien. „Woher wissen Sie, wie ich heiße?“, fragte sie, Panik und Entrüstung in der Stimme. „Ich dachte, dieser Ort wäre der Inbegriff von Verschwiegenheit.“

„Hatties Jahr, was bedeutet das?“

Er sah, wie ihr aufging, dass sie selbst ihm vorhin ihren Namen verraten hatte. Schließlich erwiderte sie: „Was interessiert Sie das?“

Er war sich nicht sicher, und daher schwieg er.

Sie unterbrach das Schweigen, offenbar eine Angewohnheit von ihr. „Ihren Namen werden Sie mir vermutlich nicht verraten? Ich weiß, dass er nicht Nelson lautet.“

„Weil ich weit mehr bin als Nelson.“

„Weil Sie meine Anforderungen nicht erfüllen. Alles in allem sind Sie zu breitschultrig und zu hochgewachsen und zu uncharmant, und Sie sind kein bisschen liebenswürdig.“

„Ihre Anforderungen passen zu einem Hund, nicht zu einem Bettabenteuer.“

Sie ließ sich nicht provozieren. „Ganz abgesehen von Ihrem Gesicht.“

Was zum Teufel stimmte nicht mit seinem Gesicht? In seinen einunddreißig Jahren hatte sich niemand je darüber beschwert, und nun wollte dieses ungebärdige Geschöpf das ändern? „Meinem Gesicht.“

„Genau.“ Das Wort kam so prompt wie eine rasende Kutsche. „Ich hatte um ein Gesicht gebeten, das nicht so …“

Whit wartete gespannt. Ausgerechnet jetzt entschloss sie sich, den Mund zu halten?

Als sie den Kopf schüttelte, widerstand er dem Drang zu fluchen. „Egal. Worum es geht, ist, dass ich nicht Sie verlangt habe, und ich habe Sie nicht überfallen. Ich hatte nichts damit zu tun, dass Sie bewusstlos in meiner Kutsche aufgetaucht sind. Wenngleich Sie mir, mit Verlaub, allmählich wie jemand vorkommen, dem ein Hieb auf den Kopf durchaus nicht schadet.“

„Ich glaube nicht, dass Sie etwas mit dem Überfall zu tun hatten.“

„Gut. Denn das hatte ich auch nicht.“

„Wer dann?“

Pause. „Keine Ahnung.“

Lüge.

Sie schützte irgendwen. Die Kutsche gehörte jemandem, dem sie vertraute, ansonsten wäre sie damit nicht hergefahren. Ihrem Vater? Nein. Undenkbar. Nicht einmal dieser Wildfang würde sich auf den väterlichen Kutscher verlassen, um sich zu einem Bordell mitten in Covent Garden bringen zu lassen. Kutscher galten nicht gerade als verschwiegen.

Einem Liebhaber? Einen flüchtigen Augenblick lang erwog er die Möglichkeit, dass sie nicht nur mit seinem Widersacher zusammenarbeitete, sondern obendrein mit ihm das Bett teilte. Ihm gefiel nicht, wie sehr die Vorstellung ihm gegen den Strich ging, bevor sein Verstand wieder einsetzte.

Nein. Kein Liebhaber. Sie wäre nicht in einem Bordell, wenn sie einen Liebhaber hätte. Sie hätte ihn nicht geküsst, wenn sie einen Liebhaber hätte.

Und geküsst hatte sie ihn, zaghaft und himmlisch und unerfahren.

Es gab keinen Liebhaber.

Dennoch war sie seinem Feind gegenüber loyal.

„Ich denke, Sie wissen, wer mich gefesselt in dieser Kutsche abgelegt hat, Hattie“, sagte er leise und ging auf sie zu, wobei er sich ihrer Präsenz überdeutlich bewusst war. Ihm fiel auf, dass sie fast so groß war wie er. Ihr Atem ging stoßweise, und er bemerkte, wie ihre Brust sich oberhalb des Ausschnitts hob und senkte, wie die Muskeln an ihrem Hals sich anspannten und lockerten, während sie ihm lauschte. „Und ich glaube, Ihnen ist klar, dass ich darauf bestehe, seinen Namen zu hören.“

Im schummrigen Licht sah sie ihn aus schmalen Augen an. „Ist das eine Drohung?“ Er antwortete nicht, und die Stille half ihr offenbar, sich zu fassen. Ihr Atem wurde ruhiger, und sie straffte die Schultern. „Ich lasse mir nicht gern drohen. Dies ist das zweite Mal, dass Sie meinen Abend durcheinanderbringen, Sir. Sie täten gut daran, sich zu vergegenwärtigen, dass ich es war, die Ihnen vorhin die Haut gerettet hat.“

Ihre Verwandlung war bemerkenswert. „Sie hätten mich fast umgebracht.“

„Oh, bitte, nicht doch“, meinte sie spöttisch. „Sie waren überaus gelenkig. Ich habe gesehen, wie Sie sich abgerollt haben, so als wären Sie nicht zum ersten Mal aus einer Kutsche geworfen worden.“ Kurz verstummte sie. „Es war nicht das erste Mal, oder?“

„Das heißt nicht, dass ich es mir zur Gewohnheit machen möchte.“

„Wichtig ist, dass Sie ohne mich vermutlich tot in einem Graben liegen würden. Jeder anständige Gentleman würde mir an diesem Punkt danken und sich höflich verabschieden.“

„Sie haben Pech, denn das bin ich nicht.“

„Anständig?“

„Ein Gentleman.“

Sie lachte überrascht auf. „Tja, da wir uns momentan in einem Bordell befinden, kann wohl keiner von uns beiden auf Vornehmheit pochen.“

„Stand das nicht auf Ihrer Liste von Anforderungen?“

„Oh, doch, wenngleich ich nur einen Anklang von Vornehmheit und keineswegs die authentische Variante erwartet habe. Wie dem auch sei – ich habe Pläne, Anklänge hin oder her, und die werde ich mir nicht von Ihnen durchkreuzen lassen.“

„Die Pläne, von denen die Rede war, bevor Sie mich aus der Kutsche gestoßen haben.“

„Ich habe Sie nicht gestoßen.“ Als er nichts erwiderte, räumte sie ein: „Schön, ich habe Sie gestoßen. Aber Ihnen ist ja nichts geschehen.“

„Was ich nicht Ihnen zu verdanken habe.“

„Ich habe die Information nicht, die Sie wünschen.“

„Ich glaube Ihnen nicht.“

Sie öffnete den Mund. Schloss ihn wieder. „Wie überaus unhöflich.“

„Nehmen Sie die Maske ab.“

„Nein.“

Er spürte es um seine Lippen zucken angesichts ihrer Unbeugsamkeit. „Was hat es mit Hatties Jahr auf sich?“

Trotzig reckte sie das Kinn und blieb stumm. Whit knurrte leise, ehe er das Zimmer durchquerte, den Champagner holte und zu ihr ging, um ihr nachzuschenken. Nachdem er die Flasche zurückgebracht hatte, lehnte er sich an die Fensterbank und beobachtete die Frau, die sichtlich nervös war.

Sie war unablässig in Bewegung, strich sich glättend über die Röcke oder nestelte an einem Ärmel – er betrachtete eingehend ihr langes Kleid, das ihre kaum zu bändigenden Kurven umhüllte und Dinge verhieß, deren Erfüllung sich jeder Mann herbeigesehnt hätte. Das Kerzenlicht schien ihre Haut mit Gold zu überziehen. Dies war keine Frau, die sich in Teesalons aufhielt. Dies war eine Frau, die oft an der Sonne war.

Sie besaß eindeutig Geld. Und Einfluss. Von beidem brauchte eine Frau reichlich, um in die Shelton Street zweiundsiebzig eingelassen zu werden – allein schon von der Existenz dieses Hauses zu wissen bedurfte gewisser Verbindungen, über die nicht jede verfügte. Es gab Tausende Gründe, die sie bewogen haben mochten, herzukommen, und Whit kannte sie alle. Langeweile, Unzufriedenheit, Frivolität. Doch nichts davon erkannte er an ihr. Sie war keine ungestüme Range – sie war alt genug, um zu wissen, was sie wollte, und selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. Auch war Hattie weder unscheinbar oder gar eine Dilettantin.

Er bewegte sich auf sie zu. Langsam. Bedächtig.

Sie versteifte sich und schloss die Finger fester um das Papier in ihrer Hand. „Ich lasse mich nicht einschüchtern.“

„Er hat mir etwas gestohlen, das ich wiederhaben will.“

Doch das ist es nicht allein.

Whit war ihr so nah, dass er sie hätte berühren können. So nah, dass er ihre knapp an die seine heranreichende Körpergröße erfassen konnte, die ihm zuvor schon aufgefallen war. Er war ihr so nah, dass er ihre Augen erkennen konnte, die hinter der Maske dunkel wirkten und deren Blick auf ihn gerichtet war. So nah, dass ihr Mandelduft ihn umfing.

„Was immer es ist.“ Sie straffte den Rücken. „Ich werde dafür sorgen, dass Sie es zurückbekommen.“

Vier Lieferungen. Drei Wachen mit Kugeln im Leib. Seit heute Nacht auch noch Whits Wurfmesser, die ihm mehr als alles andere bedeuteten. Alles in allem wohl mehr, als wiedergutzumachen war.

Er schüttelte den Kopf. „Unmöglich. Ich will den Namen wissen.“

Sie verspannte sich angesichts seines mangelnden Vertrauens. „Verzeihung, aber ich versage nie.“

Jeden anderen Mann hätten ihre Worte womöglich amüsiert. Aber Whit hörte, dass es ihr ernst war. Inwiefern war sie in diesen Schlamassel verstrickt? Er konnte nicht widerstehen, seine Frage zu wiederholen. „Was hat es mit Hatties Jahr auf sich?“

„Werden Sie mich in Ruhe lassen, wenn ich es Ihnen verrate?“

Nein. Aber das behielt er für sich.

Während er schwieg, atmete sie tief durch, offenbar ihre Möglichkeiten abwägend. „Es ist das, wonach es klingt. Mein Jahr. Das Jahr, das ich für mich beanspruche.“

„Wie?“

„Ich habe einen aus vier Punkten bestehenden Plan, um mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.“

Er zog die Brauen hoch. „Vier Punkte.“

Sie hob eine Hand und zählte die Punkte an ihren langen behandschuhten Fingern ab. „Geschäft. Domizil. Reichtum. Zukunft.“ Sie schwieg kurz. „Also, wenn Sie mir sagen, was genau Ihnen entwendet wurde, werde ich dafür sorgen, dass Sie es zurückerhalten, damit wir beide unser Leben fortführen können, ohne einander je wieder in die Quere zu kommen.“

„Geschäft. Domizil. Reichtum. Zukunft“, wiederholte er versonnen. „In dieser Reihenfolge?“

Sie legte den Kopf schief. „Vermutlich.“

„Welche Art Geschäft?“ Whit hatte Geld übrig und hätte sie bei jedem erdenklichen Geschäft unterstützen können … Als Gegenleistung für die Information, die er benötigte.

Sie verengte die Augen und blieb stumm. Vermutlich strebte sie eine Karriere als Schneiderin oder Putzmacherin an. Beides würde ihr ein Zuhause bescheren, wenn auch keinen Reichtum. Aber wäre diese Frau nicht als Gattin und Mutter auf irgendeinem Landsitz besser aufgehoben?

Weder zu diesem noch den übrigen Punkten ihres Plans passte das Bordell in der Shelton Street. Er zeigte auf das Papier in ihrer Faust. „Was hatten Sie sich von Nelson erhofft? Eine Investition?“

Sie schnaubte belustigt. „Gewissermaßen.“

Whit sah sie scharf an. „Inwiefern?“

„Es gibt einen fünften Punkt.“

Draußen auf dem Gang schlug eine Uhr, laut und dumpf, und geistesabwesend zog Whit seine Uhren hervor, prüfte auf beiden die Zeit und steckte sie wieder ein. „Und die wäre?“

Sie hatte sein Tun verfolgt. „Wie spät ist es?“

Der spöttische Unterton entging ihm nicht. „Elf.“

„Auf beiden Uhren?“

„Wie lautet der fünfte Punkt?“

Die Frage ließ ihr die Röte in die Wangen steigen, und Whits Neugier diese seltsame Frau betreffend wurde schier unerträglich. Schließlich sagte sie so vernehmlich, wie es die Uhr draußen auf dem Gang gewesen war: „Körper.“

Whit war siebzehn gewesen, als er nach einem zu langen Kampf gegen einen zu massigen Gegner aus dem Ring getaumelt war. Die Menge hatte getobt angesichts der brutalen Hiebe, die er eingesteckt hatte. Er war in der Gasse hinter der Lagerhalle gelandet, wo er kalte Luft in seine Lunge gezogen und sich weit fort von jener Ringkampfarena in Covent Garden gewünscht hatte.

Er hatte die Tür hinter sich auf- und zugehen hören, und eine Frau war zu ihm gekommen, ein Leinentuch in der Hand. Sie hatte angeboten, ihm das Blut vom Gesicht zu wischen. Ihre leisen Worte und die sanfte Berührung waren das Angenehmste gewesen, das er in seinem Leben erfahren hatte.

Bis zu dem Augenblick, da er Hattie das Wort „Körper“ aussprechen hörte.

In die Stille hinein, die sich zwischen ihnen auftat, lachte sie nervös. „Er sollte wohl ganz oben stehen, denn immerhin ist er maßgeblich für alle übrigen Punkte.“

Körper.

„Erklären Sie mir das!“, forderte er sie grollend auf.

Er meinte zu sehen, dass sie erwog, ihm eine Erklärung schuldig zu bleiben, als würde er ihr je gestatten zu gehen, bevor sie ihm eine solche geliefert hatte. Das musste ihr aufgegangen sein, denn schließlich sagte sie: „Es hat zwei Gründe.“

Er wartete.

„Einige Frauen richten ihr gesamtes Leben darauf aus, zu heiraten.“

„Und Sie nicht?“

Sie schüttelte den Kopf. „Früher hätte ich es vielleicht einmal begrüßt …“ Sie brach ab, und Whit hielt den Atem an, den nächsten Worten entgegenfiebernd. Sie zuckte mit einer Schulter. „Morgen werde ich neunundzwanzig. Damit bin ich nur noch eine Mitgift und weiter nichts.“

Das glaubte er nicht einen Moment lang.

„Ich möchte keine Mitgift sein.“ Sie sah ihn an. „Ich möchte keine Ware sein. Ich möchte mir gehören. Frei entscheiden können.“

„Geschäft. Domizil. Reichtum. Zukunft.“

Sie lächelte, strahlend und einnehmend, wobei dieses verflixte Grübchen aufblitzte. Er konnte nicht anders, als den Blick auf ihren Lippen verharren zu lassen. Er erinnerte sich noch genau, wie sie sich anfühlten. Wieder sprach sie. „Ich kann nur auf eine Weise erreichen, dass ich künftig selbst über mein Leben entscheiden darf.“ Sie verstummte kurz. „Ich werde mich des einzig Wertvollen entledigen, das ich habe. Ich erhebe Anspruch auf mich selbst. Und ich werde gewinnen.“

„Und Sie sind hergekommen, um …“ Er beendete den Satz nicht, weil er die Antwort kannte. Weil er wollte, dass sie es aussprach.

Weil ich es hören will.

Wieder errötete sie. Schließlich die köstlichen Worte: „Um mich meiner Jungfräulichkeit zu entledigen.“

Der Satz dröhnte ihm in den Ohren.

Und dann lachte diese Frau doch tatsächlich! „Nun, ich selbst kann mich ihrer natürlich nicht entledigen. Das war bildlich gemeint. Nelson hätte das erledigen sollen.“

Einen Augenblick herrschte Stille, während er Ordnung in das Chaos seiner Gedanken zu bringen suchte. „Sie befreien sich von Ihrer Jungfräulichkeit und erlangen dadurch die Freiheit, über Ihr Leben zu bestimmen.“

„Genau!“, sagte sie, als begeisterte es sie, dass jemand sie verstand.

Er knurrte. „Und der zweite Grund?“

Erneut errötete sie. Wer war diese Frau, die so unerschrocken war und dennoch errötete? „Ich nehme an …“ Sie brach ab. Räusperte sich. „Ich nehme an, ich will es.“

Allmächtiger!

Sie hätte tausend plausible Gründe anführen können. Gründe, die ihn nicht berührt, die ihn unbewegt gelassen hätten. Doch stattdessen gab sie etwas so verflucht Ehrliches von sich, dass er unweigerlich bewegt war.

Dass er nicht unbewegt bleiben konnte.

Er bremste sich rechtzeitig, erstickte sein Verlangen, schob die Hand, die er unwillkürlich nach ihr hatte ausstrecken wollen, in seine Tasche, um eine Papiertüte herauszuziehen und ihr ein Bonbon zu entnehmen. Er steckte es sich in den Mund, und die Aromen von Zitrone und Honig schmolzen auf seiner Zunge.

Jede Zerstreuung war ihm recht, solange die ihn von ihren Worten ablenkte.

Ich will es.

Hattie starrte mit zugekniffenen Augen auf die Tüte. „Sind das … Bonbons?“

Er blickte darauf hinab. Knurrte zustimmend.

Sie neigte den Kopf zur Seite. „Sie sollten keine Süßigkeiten essen, wenn Sie nicht bereit sind zu teilen, wissen Sie.“

Abermals knurrte er. Hielt ihr die Tüte hin.

„Nein, danke“, entgegnete sie lächelnd.

„Warum bitten Sie dann um eines?“

Ein weiteres Lächeln. „Ich habe nicht um ein Bonbon gebeten. Ich habe darum gebeten, eines angeboten zu bekommen. Das ist etwas gänzlich anderes.“

Sie brachte ihn schier um den Verstand. Und faszinierte ihn. Doch er hatte keine Zeit, sich von ihr faszinieren zu lassen.

Er steckte das Naschwerk wieder ein, bemüht, sich auf den angenehm süßsauren Zitronengeschmack zu konzentrieren – eine der wenigen Freuden, die er sich gönnte. Dabei versuchte er den Umstand zu ignorieren, dass es nicht Zitrone war, wonach es ihn derzeit gelüstete.

Und er versuchte, nicht an Mandeln zu denken.

Er musste erfahren, was diese Frau wusste. Darum ging es. Ihr war bekannt, wer ständig seine Männer überfiel. Wer seine Fracht raubte. Sie konnte seinem Widersacher ein Gesicht geben. Und er würde tun, was nötig war, um sie dazu zu bringen.

„Wollen Sie mir gar nicht erzählen, wie falsch das ist?“, fragte sie.

„Wie falsch was ist?“

„Der Wunsch …“, sie stockte, und eine kalte Befürchtung durchzuckte Whit, als ihm aufging, dass sie es womöglich noch einmal aussprechen würde; denn wenn diese Frau es aussprach, wollte ein Mann den Raum zwischen den beiden unscheinbaren Wörtern mit jeder Menge obszöner Dinge füllen, „… meine Neugier zu stillen.“

Grundgütiger! Das wird ja immer schlimmer!

„Von mir werden Sie keine Einwände hören.“

„Warum nicht?“

Er hatte keine Ahnung, weshalb er das sagte. Er hätte es nicht sagen sollen. Er hätte sie allein lassen, hätte ihr später nach Hause folgen und darauf warten sollen, dass sie preisgab, was sie wusste. Denn diese Frau behielt Geheimnisse gewiss nicht lange für sich. Dafür war sie viel zu ehrlich. So ehrlich, dass sie zu einem Problem werden konnte.

Aber er sagte es dennoch. „Weil Sie neugierig sein sollten. Sie sollten jeden Zoll Ihres Körpers erkunden und Ihre Lust bis ins Kleinste ausloten und dadurch den Kurs Ihrer Zukunft bestimmen.“ Er sah sie den Mund öffnen, während er zu ihr trat. Eine solch lange Rede hatte er ewig nicht gehalten. Noch nie, um genau zu sein.

Er streckte die Hände nach ihr aus. Langsam, damit sie seine Bewegungen verfolgen konnte. Damit sie ihn aufhalten konnte. Als sie es nicht tat, nahm er ihr die Maske ab und enthüllte ihre großen, schwarz umrandeten Augen. „Aber Sie sollten sich dafür nicht Nelson aussuchen.“

Was tat er da?

Es war die einzige Möglichkeit.

Lüge.

Sie griff mit der freien Hand nach der Maske und ließ sie sinken. Nestelte daran, wobei sie ihn mit den Fingern streifte. Ihn versengte. „Es dürfte schwierig werden, einen anderen Mann zu finden, der mir helfen kann, ohne dass es Folgen hätte.“

„Ich versichere Ihnen, es wird keine Folgen haben“, erwiderte er leise und beugte sich vor.

Sie schluckte. „Sie haben vor, mir den anderen Mann zu suchen?“

„Nein.“

Sie zog die Brauen zusammen, und er strich mit dem Daumen über die Falte dazwischen. Einmal, zweimal, bis sie sich glättete. Er zeichnete die Konturen ihres Gesichts nach, die Wölbung ihrer Wangenknochen, die sanfte Kurve ihres Kiefers. Ihre volle Unterlippe, die so weich war wie in seiner Erinnerung.

„Ich habe vor, dieser Mann zu sein.“

5. KAPITEL

Hattie hatte die Shelton Street zweiundsiebzig in der Absicht aufgesucht, ihren Ruin herbeizuführen, und ihr hätte bewusst sein sollen, dass sich der Verlust der Unschuld durchaus angenehm gestalten könnte.

Das indes war ihr nie in den Sinn gekommen. Im Gegenteil, sie war davon ausgegangen, dass es eine nüchterne Angelegenheit werden würde. Etwas, das man erledigte. Das nur ein Mittel zum Zweck war.

Doch als dieser Mann sie berührte – dieser geheimnisvolle, attraktive, verstörende Mann, der sie stärker anzog, als ihr lieb war –, konnte sie an nichts anderes als ebenjenes Mittel denken.

Dieses ungemein genüssliche Mittel.

Autor

Sarah MacLean
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