Das Zimmermädchen und der Earl

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Seine dunklen Locken, das markante Gesicht und dieser aufregend muskulöse Körper: Sehnsuchtsvoll beobachtet Esme, wie Stephen über das herrliche Anwesen schlendert. Dabei liegen Welten zwischen ihnen! Denn obwohl sie als Kinder zusammen gespielt haben, ist Esme nur das Zimmermädchen und Stephen der vermögende Earl, der Besitzer von Chatsworth Manor. Doch unerwartet flammt zwischen ihnen die alte Vertrautheit wieder auf. Und eine schicksalhafte Liebesnacht lang vergessen sie beide, was sie trennt – und genießen nur, was sie eint …


  • Erscheinungstag 04.04.2023
  • Bandnummer 072023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751518451
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Stephen Pemberton, Earl of Chatsworth, hasste es, manipuliert zu werden.

Aber er hatte keine Chance – seine Schwestern und seine Mutter hatten sich gegen ihn verbündet, und weder sein Bruder William noch sein Cousin Christophe schlugen sich auf seine Seite. Vielmehr waren sie auffallend ruhig, als Aurora verkündete, er sei derjenige, der nach Chatsworth Manor zurückkehren müsse, um die Neugestaltung des Parks zu Ehren seines verstorbenen Vaters zu beaufsichtigen.

Zwei Wochen sollte er vor Ort bleiben, hatte seine Mutter bestimmt. Zeit genug, um die Pläne zu begutachten und den Beginn der Arbeiten in die Wege zu leiten. Oh, und dann war ja auch das jährliche Stachelbeerfest im Ort – wäre es nicht wundervoll, wenn ein Mitglied der Familie sich dort blicken ließe?

Nein, es wäre keineswegs wundervoll, rebellierte er innerlich. Aber natürlich würde er hinfahren, denn auch sein Vater war stets dort gewesen und hatte als Jurymitglied die Torten, Puddings und Marmeladen bewertet, die beim Stachelbeeren-Wettbewerb aufgetischt worden waren. Selbstverständlich würde Stephen mit dieser Tradition nicht brechen. Und sobald er sich überzeugt hatte, dass die Bauarbeiten nach Plan liefen, würde er nach Paris zurückkehren. Dort war der Hauptsitz des Familienunternehmens Aurora, dessen Geschäftsführer er war. Mode, Kosmetik und Schmuck im Luxussegment – das war es, womit die Familie ihr Geld verdiente.

Er wusste ganz genau, dass die Überwachung der Baustelle nur ein vorgeschobener Grund war. In Wirklichkeit hatte die Familie offenbar beschlossen, dass er urlaubsreif war. Zuerst hatte er sich gesträubt. Doch dann hatte Aurora ihn streng über den Rand ihrer Chanel-Brille angesehen, und er hatte nachgegeben.

In den vergangenen Jahren hatte er einige Krisen in der Familie meistern müssen. Inzwischen war Ruhe eingekehrt, seine Geschwister waren verheiratet, und nun schien es, als würden sich alle auf ihn, den einzigen Single, konzentrieren. Ehrlich gesagt, gefiel ihm die Vorstellung, Paris und seine nervige Verwandtschaft eine Weile hinter sich zu lassen. Mochten sie ruhig glauben, ihn manipuliert zu haben – Stephen Pemberton tat nie etwas, das er nicht selbst wollte. Er hatte fest vor, die Ruhe auf Chatsworth Manor zu genießen und die Dramen der Familie auszublenden.

Und so freute er sich auf einen Kurzurlaub, als der Wagen wenige Tage später vor dem Herrenhaus hielt und der Chauffeur sein Gepäck aus dem Kofferraum lud.

Stephen atmete tief durch und spürte, wie eine tiefe Ruhe ihn übermannte.

Zu Hause. Von allen Häusern, die seine Familie weltweit besaß, fühlte er sich hier am meisten daheim.

Er ging den kopfsteingepflasterten Weg entlang auf das schwere Eichenholz-Portal zu. Doch niemand schien seine Ankunft bemerkt zu haben – die Tür blieb zu.

Stirnrunzelnd hob er die Hand, um den Messing-Türklopfer zu bedienen. Doch dann ließ er sie wieder sinken. Dies hier war sein eigenes Haus, verdammt noch mal. Warum sollte er klopfen?

Also drückte er die Klinke hinunter und trat ein. Der Geruch von Holzpolitur begrüßte ihn und eine ungewöhnliche Stille.

Was machten die Hausangestellten eigentlich, wenn die Familie nicht hier war? Diese Frage hatte er sich noch nie gestellt. Jetzt fiel ihm ein, dass die Haushälterin Mrs. Flanagan erkrankt war. Seine Mutter hatte etwas in der Art erwähnt, als sie mit ihm über das Stachelbeerfest und den Landschaftsarchitekten gesprochen hatte. Plötzlich war er beunruhigt. Was, wenn Mrs. Flanagan etwas passiert war? Das durfte nicht sein – sie war schon auf Chatsworth Manor, seit er denken konnte.

„Stephen?“

Er fuhr herum. Erstaunt musterte er die Frau, die vor ihm stand. Es war keineswegs Mrs. Flanagan, aber die Ähnlichkeit mit der Haushälterin war unverkennbar.

„Esme?“

„Guten Abend, Mylord.“

Fasziniert beobachtete er, wie sie sich von ihrem Erstaunen erholte und sich ihre Miene in eine höfliche Maske verwandelte. Auch ihre Stimme klang nun anders. Es irritierte ihn, dass sie ihn Mylord nannte. Das hatte sie bisher nur ein einziges Mal getan. Damals war er dreizehn gewesen, doch er würde den Streit niemals vergessen, den sie beide damals ausgefochten hatten.

„Was machst du hier?“, wollte er wissen. Ihre Augenbrauen hoben sich, und ihm wurde klar, dass seine Frage nicht besonders freundlich geklungen hatte. „Ich meine … ich habe nicht erwartet, dich hier anzutreffen.“

„Ich kümmere mich um den Haushalt“, erklärte sie.

Stephen konnte den Blick nicht von ihr lösen. Als er Esme, die Tochter von Mrs. Flanagan, das letzte Mal gesehen hatte, war sie ungefähr zwölf gewesen, ein Jahr jünger als er. Sie waren zusammen aufgewachsen, und Esme mit ihren funkelnden grünen Augen, ihrem roten Haar und ihrer Abenteuerlust war seine liebste Spielkameradin gewesen.

Doch seither waren mehr als zwanzig Jahre vergangen. Er war aufs Internat gegangen, und sie … Was hatte sie eigentlich gemacht? Beschämt musste er zugeben, dass er es nicht wusste. Auf jeden Fall war sie sehr viel zurückhaltender, als er sie in Erinnerung hatte. Doch obwohl sie schlichte schwarze Kleidung trug und ihr rotes Haar in einen ordentlichen Knoten gebändigt hatte, war sie noch immer so hübsch wie als Kind. Ihre grünen Augen hatten ihr Strahlen nicht verloren, und auf ihrer Nase tanzten Sommersprossen.

„Haben Sie mich nun lange genug angestarrt, Sir?“

Missbilligend sah er sie an. „Nenn mich nicht Sir. Oder Mylord. Oder Lord Pemberton.“

„Und wie soll ich Sie dann ansprechen?“ Ihre Miene blieb ausdruckslos. „Sie sind Lord Pemberton, und ich bin eine Ihrer Hausangestellten.“

Natürlich hatte sie recht, aber es gefiel ihm dennoch nicht. „Esme, hör auf, mich zu siezen. Wir haben zusammen Sandburgen gebaut – solche Formalitäten können wir uns sparen.“

„Das ist lange her“, wandte sie ein, doch ihr Tonfall war wärmer geworden.

„Wo sind denn die anderen?“, wollte er wissen. „Warum hat niemand geöffnet?“ Suchend sah er sich um. „Bist du ganz allein hier?“

Sie seufzte. „Wir hatten niemanden von der Familie erwartet, deshalb sind alle anderen im Urlaub.“

„Außer dir.“

„Und dem Gärtner und den Stallknechten. Aber hier im Haus bin die nächsten zehn Tage nur ich, das stimmt.“

Das war ziemlich genau der Zeitraum, in dem er bleiben wollte. Die Aussicht, auf das Personal verzichten zu müssen, gefiel ihm gar nicht. Wie hatte seine Mutter diesen Vorschlag machen können, wenn sie gewusst hatte, dass das Personal frei hatte? Offensichtlich hatte sie es vergessen.

„Und wo ist deine Mutter? Wie geht es ihr?“

„Sie war sehr krank. Hör zu, warum machst du es dir nicht in der Bibliothek gemütlich, ich bringe dir einen Kaffee und erzähle dir das Wichtigste. Marjorie hat noch einen Victoria Sponge Cake gebacken, bevor sie gestern in den Urlaub gegangen ist.“

In Erwartung des lockeren, gefüllten Biskuits – sein Lieblingskuchen – meldete sich sein Magen. „Ich hatte noch keinen Lunch. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gern vorher ein Sandwich essen.“

„Kein Problem.“

Sie wandte sich zum Gehen, und während er ihr nachsah, dachte er daran, wie oft sie als Kinder gemeinsam Streiche ausgeheckt hatten. Damals hatte sie keinen Gedanken daran verschwendet, dass er irgendwann den Titel seines Vaters erben würde. Es schien ihm hundert Jahre her zu sein, dass er dieser sorglose Junge gewesen war.

„Esme?“

Fragend drehte sie sich um. Er fand es seltsam, dass er nun ihr Chef war und sie auf seine Anordnungen wartete.

„Es ist sehr schön, dich zu sehen.“

Ihr Lächeln schien den Raum zu erhellen. „Das finde ich auch, Stephen.“

Dann bog sie rechts ab und ging hinunter in die Küche.

Stephen schlug den Weg zur Bibliothek ein. Esme als Haushälterin. War Mrs. Flanagan so krank? Warum hatte ihre Tochter den Job übernommen? Und weshalb hatte ihm niemand etwas gesagt?

Das Tablett, das Esme von der Küche in die Bibliothek trug, war voll beladen mit Kleinigkeiten zum Lunch. Normalerweise kündigten die Pembertons ihr Kommen immer an, doch dass Stephen kommen würde, hatte Esme nicht gewusst, und sein Auftauchen hatte sie völlig aus dem Gleichgewicht gebracht.

Aber sie würde es allein schaffen. Auf keinen Fall würde sie jemanden vom Personal aus dem Urlaub zurückbeordern.

Die Bibliothek war für sie der schönste Raum des Hauses. Die Bücherregale waren deckenhoch, die Möbel aus glänzend poliertem Holz, die Vorhänge aus schwerem Brokat. An der Stirnseite sorgte ein Kamin an kalten Tagen für behagliche Wärme. Es gab sogar ein kleineres Regal nur mit Kinderbüchern, vor dem Ohrensessel für die Kleinen standen. Nach der Schule hatte sie sich oft dorthin zurückgezogen, um Hausaufgaben zu machen oder eines der Bücher zu lesen. Lord Pemberton hatte ihr ausdrücklich erlaubt, sich in der Bibliothek zu bedienen.

Cedric Pemberton war ein großzügiger Mann gewesen, und sie würde nie vergessen, dass er ihrer Mutter, die sie allein großziehen musste, ermöglicht hatte, hier auf Chatsworth Manor zu arbeiten. Für ihn war es selbstverständlich gewesen, dass die kleine Esme mit seinen Kindern spielte.

Inzwischen waren sie alle erwachsen, und es war undenkbar, dass nicht jeder die Rolle einnahm, die ihm gebührte. In diesem Gedanken wurde Esme bestärkt, als sie die Bibliothek betrat und Stephen an dem großen Schreibtisch sitzen sah, an dem auch der alte Lord Pemberton immer Platz genommen hatte.

Mit seinen dunklen Locken, den wie gemeißelt wirkenden Gesichtszügen und den breiten Schultern sah er ausgesprochen gut aus, stellte sie fest. Natürlich hatte sie ihn immer mal wieder auf Fotos in den Klatschblättern gesehen oder in Interviews des einen oder anderen Wirtschaftsmagazins. Aber es war lange her, dass sie ihm persönlich begegnet war.

Sie bezweifelte, dass Stephen ahnte, wie viel ihr die Freundschaft mit ihm als Kind bedeutet hatte. Als er aufs Internat geschickt worden war, hatte sie ihn schmerzlich vermisst.

„Der Lunch“, sagte sie und musste sich fast auf die Zunge beißen, um kein „Sir“ hinterherzuschicken. Er duzte sie wie selbstverständlich, ihr aber kam die vertraute Anrede nur schwer über die Lippen.

Er ließ den Blick über das Tablett schweifen und sah dann auf. „Warum hast du keine Tasse für dich mitgebracht?“

„Es ist nicht mehr wie in alten Zeiten“, erklärte sie. „Ich gehöre jetzt zum Personal.“

„Es fühlt sich seltsam an, mich mit dir darüber zu unterhalten, was du für mich tun wirst“, gab er zu.

Esme seufzte. „Ist schon okay.“ Sie zog sich einen Sessel heran und setzte sich. „Kommt in nächster Zeit noch jemand von der Familie?“

Stephen gab einen Löffel Zucker in seinen Kaffee – keine Milch, das würde sie sich fürs nächste Mal merken – und rührte um.

„Unwahrscheinlich“, sagte er. „Charlotte ist in Richmond, während Jacob einen Auftrag in der Türkei hat. Bella und Burke sind gerade erst von ihrer Hochzeitsreise zurück, und Sophie versucht gerade, ein bisschen Schlaf nachzuholen. Die Nächte mit dem Baby sind noch anstrengend.“ Er schüttelte sich ein bisschen theatralisch. „Alle heiraten und bekommen Kinder. Die Nächsten, die verkünden, dass sie Nachwuchs bekommen, sind wahrscheinlich Will und Gabriella.“

Damit griff er nach einer Serviette und einem Sandwich.

„Dich reizt das gar nicht?“

„Nicht wirklich.“ Hungrig biss er in das Brot.

„Spannend – immerhin bist du der Erbe.“

Beinahe unmerklich wurde sein Blick härter. Doch Esme sah es und fragte sich, was dahintersteckte.

„Dadurch, dass meine Geschwister vorpreschen, nimmt mir das ein bisschen Druck.“ Er wischte sich mit der Serviette über den Mund und sah sie mit einem zynischen Ausdruck an. „Ich bin ein gebranntes Kind – mein Leben ist gut, wie es jetzt ist.“

Zweimal waren seine Hochzeitspläne gescheitert, erinnerte sie sich. Vor ungefähr vier Jahren war die Verlobung mit Bridget Enys in die Brüche gegangen. Die Gründe waren nie öffentlich geworden. Der größere Skandal aber war die Beinahe-Trauung mit Gabriella Baresi, die ihn direkt vor dem Alter hatte stehen lassen und wenig später seinen Bruder William geheiratet hatte. Auch wenn er diesen Schlag mittlerweile überwunden zu haben schien, wusste Esme von ihrer Mutter, wie Stephen am Anfang getobt und gelitten hatte. Wahrscheinlich war es am besten, das Thema zu wechseln.

„Erzähl mir von deiner Mutter“, bat Stephen. „Ist sie sehr krank?“

Wortlos nickte Esme. Die Arbeit lenkte sie ab, aber sobald sie zur Ruhe kam, ergriff die Sorge um ihre Mutter von ihr Besitz. „Sie hat Brustkrebs und ist operiert worden. Jetzt bekommt sie eine Chemotherapie.“ In ihrem Hals bildete sich ein Kloß, sie schluckte schwer. „Und obwohl es ihr schlecht geht, macht sie sich immer Sorgen um Chatsworth Manor. Das Haus ist ihr so sehr ans Herz gewachsen – es ist wie ein zweites Kind für sie.“

„Und da kommst du ins Spiel“, vermutete er lächelnd.

Wenn er lächelte, veränderte sich seine gesamte Ausstrahlung. Plötzlich wirkte er so vertraut, dass ihr Herz einen Satz machte. Sie versuchte, locker zu bleiben, und nickte. „Mein Chef hatte zum Glück Verständnis dafür und hat mir eine Auszeit zugebilligt. Ich habe hier so oft ausgeholfen, dass ich das Haus und die Abläufe ziemlich gut kenne.“

Wie schwierig es für sie war, dass sie für die anderen Hausangestellten immer nur „Marys Tochter“ war und niemand sie wirklich ernst nahm, erwähnte sie nicht.

„Wird deine Mutter … wird sie wieder gesund?“

Esme gelang ein schwaches Lächeln. In Stephens Stimme schwang echte Sorge mit, und das rührte sie. Der Gedanke, dass ihre Mutter für ihn mehr war als nur die Haushälterin, war ein kleiner Trost. Als sie Kinder waren, hatten sich Esme und Stephen nach der Schule oft in der Küche herumgetrieben, und es war ein ungeschriebenes Gesetz gewesen, dass Mary Flanagan auch dem Sohn des Earls kein schlechtes Benehmen durchgehen lassen würde.

„Das hoffe ich“, sagte sie ehrlich und räusperte sich. „Eine Garantie gibt es nicht, aber die Überlebenschancen bei ihrer Art von Krebs sind gut, über achtzig Prozent.“

Stephen griff nach dem Kuchenteller, dann hielt er inne, nahm das Messer und schnitt das große Stück durch. „Lass uns teilen, Marjories Sponge Cake ist einfach unwiderstehlich.“

Kurz war sie in Versuchung, denn niemandem gelang ein Victoria Sponge wie der Köchin. Doch es wäre nicht richtig, mit dem Earl of Chatsworth in der Bibliothek zu sitzen und ein Stück Kuchen zu teilen – unabhängig davon, wie lange sie sich schon kannten.

Ihre Mutter würde schon einen Anfall bekommen, wenn sie nur wüsste, dass sie sich so ungezwungen unterhielten. Die Grenze zwischen Personal und den Pembertons war für sie in Stein gemeißelt.

„Ich sollte mich wieder an die Arbeit machen“, sagte sie. „Wir haben alle Betten abgezogen und die Matratzen gelüftet, deshalb wird es einen Moment dauern, ein Schlafzimmer für dich herzurichten.“

„Es ist nur Kuchen, Esme.“

„Und du bist der Earl, Stephen. Wir sind nicht mehr acht und klettern nach der Schule auf Bäume.“

Blitzartig veränderte sich seine eben noch so entspannte Miene. Er wirkte verärgert – offensichtlich war er es nicht gewohnt, dass ihm jemand widersprach.

Doch dann fing er sich wieder. „Du hast dich immer höher hinauf getraut als ich“, gab er zu.

„Ich war ziemlich beweglich und flink damals“, erinnerte sie sich lachend. „Dafür warst du auf dem Fahrrad schneller.“

„Längere Beine“, sagte er nur und teilte mit der Gabel ein Stück vom Kuchen ab.

Die hatte er auch heute noch. Seine Größe machte ihn – neben all den anderen attraktiven Attributen – ausgesprochen männlich. Und da sie selbst fast einen Meter achtzig maß, wusste sie es zu schätzen, einen Begleiter zu haben, der auch dann noch größer war als sie, wenn sie High Heels trug.

Sie wischte den Gedanken energisch beiseite und stand auf. Schließlich wurde sie nicht dafür bezahlt, dass sie mit ihrem Arbeitgeber in Erinnerungen schwelgte.

„Mmm, wie ich das vermisst habe.“ Schwärmerisch schloss er die Augen und genoss den Kuchen. „Komm, Esme, ein winziges Stück.“

Von der Gabel, die seine Lippen berührt hatte. Als sie daran dachte, wurde ihr beinahe schwindlig. Für ihn bedeutete das vermutlich nichts, für sie aber war es eine Nähe, die sie nicht zulassen sollte. Doch er ließ nicht locker, und so beugte sie sich vor und aß das Kuchenstück von der Gabel.

Es war himmlisch. Sie hatte lange schon keinen Kuchen mehr gegessen. Unwillkürlich schloss sie die Augen.

„Siehst du? Köstlich, oder?“, meinte er zufrieden.

„Wirklich unglaublich. Und jetzt gehe ich und beziehe ein Bett für dich“, sagte sie lächelnd. Sie musste einen klaren Kopf behalten – er war ein attraktiver Mann, und er war der Earl. Dass sie gemeinsame Kindheitserinnerungen hatten, machte es für sie nicht einfacher, Abstand zu halten.

„Natürlich.“ Von einem Moment auf den anderen war er wieder förmlich, als hätte es die Vertrautheit zuvor nie gegeben. „Ich werde hierbleiben und noch ein bisschen arbeiten. Dinner um sieben, Frühstück um acht? Um neun kommt morgen der Gartenarchitekt.“

„Es wird alles pünktlich fertig sein. Soll ich euch für die Besprechung einen Kaffee bringen?“

„Das wäre nett, danke.“

„Ich mache nur meinen Job“, erwiderte sie schlicht. Auch wenn es mehr war als ihr Job, Haushälterin, Zimmermädchen und Köchin in einer Person zu sein. „Läute einfach, wenn du noch etwas möchtest. Dein Tablett räume ich später ab“, sagte sie, ehe sie die Bibliothek verließ. Am liebsten hätte sie geknickst, um ihn noch mehr in Rage zu bringen.

Sobald sie die Tür geschlossen hatte, ließ sie die Schultern kreisen und versuchte zu entspannen. Was hatte dieser Mann nur, dass er sie gleichzeitig so aus der Fassung bringen und ihr das Gefühl von Vertrautheit vermitteln konnte? Sie war die Tochter der Haushälterin und gleichzeitig eine alte Freundin des Familienoberhaupts. In diesem Moment hatte sie das Gefühl, nirgendwo richtig hinzugehören.

2. KAPITEL

Nachdem der Gartenarchitekt eine Stunde lang Stephen intensiv seine Pläne erläutert hatte, ließ er ihn um zehn Uhr mit einem ganzen Stapel Entwürfe in der Bibliothek zurück.

Aurora hatte ihm den Auftrag gegeben, einen traditionell englischen Garten anzulegen, und der Gartenplaner gehörte zu den besten seines Fachs – er war Teil des Teams gewesen, das den Sunken Garden am Kensington Palast entworfen hatte.

Eigentlich war alles bereits geklärt, das war Stephen im Gespräch mit dem Fachmann bewusst geworden. Die Details, die sie besprochen hatten – in erster Linie war es um die Kosten gegangen –, hätte er auch telefonisch von Paris aus regeln können. Ganz eindeutig hatte die Familie ihn für eine Weile loswerden wollen.

Gleichzeitig war ihm die Neugestaltung ein Herzensanliegen. Er tat es zu Ehren seines Vaters und für die ganze Familie, die seit dem Tod des alten Earls mehr als einmal kurz davor gewesen war, auseinanderzufallen. Nun war es seine Aufgabe, sie zusammenzuhalten.

Gedankenverloren legte er die Hände auf die Pläne. Earl und ältester Sohn zu sein, war für ihn eine Last. Er fühlte sich erschöpft. Zu viel war in den vergangenen Monaten auf ihn eingestürzt. Insbesondere das Drama um die Halbschwester Anemone, die plötzlich aufgetaucht war, machte ihm zu schaffen, auch wenn inzwischen alles vernünftig geregelt war. Aber noch immer fiel es ihm schwer, seinen Vater mit dem Mann in Einklang zu bringen, der seine Ehefrau betrogen und ein Kind mit einer anderen Frau hatte. Nahezu dreißig Jahre lang war dies ein gut gehütetes Geheimnis gewesen.

Wer war Cedric Pemberton? Bis er von der Existenz des unehelichen Kindes erfahren hatte, war Stephen davon überzeugt gewesen, dass sein Vater perfekt war. Und dieser Perfektion hatte er immer nachgeeifert. Nun war er dieser Illusion beraubt und fühlte sich seltsam haltlos.

Er war weit davon entfernt, nun alle guten Erinnerungen, die er mit seinem Vater verband, infrage zu stellen. Was Cedric getan hatte, war nur menschlich. Aber die Scheinheiligkeit schmerzte ihn. Der alte Earl hatte seinen Kindern immer eingeschärft, wie wichtig Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit seien. Zu wissen, dass er selbst nicht immer danach gehandelt hatte, ließ Stephen mit einer Menge Unsicherheiten zurück, auf die er seinen Vater nun nicht mehr ansprechen konnte.

„Du siehst aus, als trügest du die Last der ganzen Welt auf deinen Schultern.“

Er sah auf. Esme stand im Türrahmen, eine Kanne mit frischem Kaffee in der Hand.

„Nicht der ganzen Welt“, erwiderte er knapp und seufzte. „Aber schwer genug ist es trotzdem.“

Sie trat nun ganz ein und stellte die Kanne auf seinen Schreibtisch. „Ich wollte dich nicht stören. Läute einfach, wenn du noch etwas brauchst.“

Stephen fuhr sich mit der Hand über den Nacken. „Du könntest mir tatsächlich noch einen Gefallen tun.“

„Was denn?“, erkundigte sie sich.

„Begleite mich auf einem Ausritt übers Gelände.“ Es war eine spontane Idee, die ihm selbst erst wirklich bewusst wurde, als er sie ausgesprochen hatte. Doch jetzt wurde ihm klar: Es war genau das, was er brauchte. „Ich habe seit Monaten nicht mehr im Sattel gesessen.“

„Ich habe zu tun“, wehrte sie ab. „Vielleicht kann dich einer der Stallburschen begleiten, wenn du nicht allein reiten möchtest.“

Er wusste, dass es nicht richtig war, eine Angestellte in diese Situation zu bringen. Aber es war Esme, das war etwas anderes.

„Du bist doch früher immer mit mir ausgeritten“, wandte er ein.

„Da waren wir zehn. Das ist nicht vergleichbar.“ Sie hob das Kinn. „Meine Mutter würde durchdrehen, wenn ich so etwas tun würde.“

„Warum?“, wollte er wissen.

Doch sie schwieg, die Lippen trotzig zusammengepresst.

Es ärgerte ihn, dass sie ständig darauf pochte, wie sehr sich ihr Leben mittlerweile unterschied. Glaubte sie etwa, er wäre ein Snob geworden?

„Du weißt, warum“, sagte sie schließlich. „Es tut mir leid, Stephen, aber ich kann heute nicht mit dir ausreiten. Aber ich sorge dafür, dass eines der Pferde für dich vorbereitet wird.“

„Zu zweit würde es mehr Spaß machen.“

„Ich bin sicher, du musst nur zum Telefon greifen und wirst im Nullkommanichts eine Begleitung haben.“

Schwang da etwa Eifersucht in ihrer Stimme mit? Oder war es Geringschätzung? Egal was – es gefiel ihm. Einfach deshalb, weil sie – sosehr sie auch immer ihren unterschiedlichen Stand betonte – kein Problem damit hatte, ihre Missbilligung zu zeigen. Und das, obwohl er der Earl war. Es machte ihm sehr viel mehr Spaß als das eilfertige Nicken und „Ja, Chef, natürlich, Chef“, das er in Paris bei Aurora nur zu häufig erlebte.

„Das könnte ich“, räumte er ein. „Aber es wäre ermüdend und anstrengend, gesellig sein zu müssen. Und noch schlimmer – es könnte falsch interpretiert werden.“

Esme lachte auf, er war überrascht von dem Klang ihres Lachens. „Ich bin also nicht ermüdend und anstrengend?“ Sie hob eine Augenbraue. „Und du denkst, die Leute würden nicht darüber tratschen, wenn ich den Nachmittag zusammen mit dir verbrächte?“

Er mochte es, wie sie ihn herausforderte. Es war einfach erfrischend. „Wer sollte reden? Es ist doch niemand hier. Und wenn ich schon all die Dinge tun muss, die von einem Earl erwartet werden, wäre es nett zu wissen, dass ich wenigstens einen Freund an meiner Seite habe.“

Ihre Miene wurde weicher, als sie sich ihm näherte und ihn mit ihren funkelnden grünen Augen musterte. „Bist du einsam, Stephen?“

Er schnaubte verächtlich. „Natürlich nicht. Ich möchte nur einfach ganz zwanglos etwas unternehmen.“ Aber ihre Frage traf ziemlich genau ins Mark. Einsamkeit traf es nicht präzise, er wusste selbst nicht genau, was es war. Aber eines war klar: Mit ihr zu scherzen, ließ ihn seine Sorgen für einen Moment vergessen.

„Nun, dann musst du allein zwanglos sein. Ich habe zu tun. Schließlich bezahlst du mich dafür, dass ich hier alles im Griff habe.“

„Ich könnte dir befehlen, mitzukommen. Schließlich bist du meine Angestellte.“ Am liebsten hätte er sich auf die Zunge gebissen, doch es war zu spät. Die Worte waren heraus.

„Das würdest du nicht tun“, erwiderte sie ungerührt. „Es ist nicht dein Stil. Manch einer mag glauben, du wärst so, aber das stimmt nicht. Geh schon, mach deinen Ausritt.“

„Das werde ich.“ Auf keinen Fall würde er sich davon abhalten lassen. Aber unwillkürlich musste er daran denken, wann ihm das letzte Mal jemand etwas abgeschlagen hatte. Es war Gabriella gewesen, an ihrem Nicht-Hochzeitstag. Konnte es sein, dass er ihr das immer noch nachtrug?

Nachdem Esme gegangen war, stand er auf und schenkte sich Kaffee nach. Dann fiel sein Blick auf die Kekse, die auf einem kleinen Teller neben der Kanne standen, und er lächelte. Seine Lieblingssorte. Hobnobs hatte Esme sie immer genannt.

Einmal – sie musste etwa sechs gewesen sein, er sieben – hatte sie einen Korb gepackt, weil sie geplant hatten, von zu Hause auszureißen. Mrs. Flanagan und Lady Pemberton hatten ihnen eröffnet, dass Esme nicht an seinen Musikstunden teilnehmen könne. Über diese Ungerechtigkeit hatten sie sich beide so sehr aufgeregt, dass sie nicht länger hierbleiben wollten. In ihrem Korb waren all die Leckereien gewesen, die sie am liebsten mochte: Sandwiches mit Erdnussbutter, eine Thermoskanne mit heißer Schokolade und – Hobnobs.

Sie waren den ganzen Weg bis ins Dorf gelaufen, wo Cedric sie schließlich aufgabelte. Stephen hatte Angst, riesigen Ärger zu bekommen, doch sein Vater hatte sich mit ihnen auf den Dorfplatz gesetzt, ein Erdnussbutterbrot gegessen und gesagt, es sei besser, wenn sie wieder mit nach Hause kämen, weil Mrs. Flanagan sich große Sorgen mache.

Heute fragte Stephen sich, ob sein Vater begriffen hatte, dass sie vor all den Regeln und Erwartungen davongelaufen waren. Nun würde er ihn niemals mehr danach fragen können. Oder danach, ob seine Affäre seine ganz persönliche Rebellion gegen sein beengtes Leben gewesen war.

Alles, was Stephen wusste, war, dass er selbst nicht denselben Fehler machen wollte.

Stephen genoss die Augustsonne auf seiner Haut. Es war sommerlich warm, aber nicht zu heiß. Er spürte die angespannten Muskeln des Pferdes, als sie im Galopp über die Felder preschten. Es war viel zu lange her, seit er sich das letzte Mal einen Nachmittag im Sattel gegönnt hatte. Nun zügelte er das Pferd etwas und klopfte ihm den Hals, als es in gemütlichen Schritt fiel.

Chatsworth Manor war umgeben von sanften grünen Hügeln, die von einem sich schlängelnden Bach geteilt wurden, der in einen kleinen Teich mündete. Dort stieg Stephen ab und ließ sein Pferd trinken. Eine wundervolle Stille umgab ihn, die Luft hier am Wasser war angenehm kühl, und er atmete zufrieden durch. Nichts war zu hören, außer dem leichten Rascheln der Blätter im Wind und dem Zirpen der Vögel. Kein Verkehr. Kein Telefonklingeln. Es war einfach … friedlich.

Autor

Donna Alward

Als zweifache Mutter ist Donna Alward davon überzeugt, den besten Job der Welt zu haben: Eine Kombination einer „Stay-at-home-mom“ (einer Vollzeit – Mutter) und einem Romanautor. Als begeisterte Leserin seit ihrer Kindheit, hat Donna Alward schon immer ihre eigenen Geschichten im Kopf gehabt. Sie machte ihren Abschluss in Englischer Literatur...

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