Die Lady und der ruchlose Bastard

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London, 1871. Heiß brennt in Mick Trewloves Herzen der Wunsch nach Rache! Als Bastard eines Dukes wurde er aller Privilegien beraubt, die ihm eigentlich zustehen. Zwar hat er es aus eigener Kraft aus der Gosse zu einem der reichsten Männer Englands geschafft. Aber das kann das Unrecht nicht wieder gut machen! Er schmiedet einen ruchlosen Plan: Er wird den legitimen Sohn seines Vaters ruinieren - und dessen Verlobte verführen! Doch unerwartet weckt die wunderschöne Lady Aslyn Hastings sein zärtliches Verlangen. Mick muss sich entscheiden: Soll er an seinem Racheplan festhalten oder versuchen, die Liebe dieser sinnlichen Lady zu gewinnen?


  • Erscheinungstag 12.04.2019
  • Bandnummer 112
  • ISBN / Artikelnummer 9783733758646
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

London, 1840

Er hatte Angst. Größere Angst als je zuvor in seinen ganzen vierundzwanzig Jahren. Seit sechzehn Stunden sprach er nun schon gegen alle Vernunft dem Scotch zu und betete, dass die Tortur endlich ein Ende nahm, während seine Liebste schrie. Seltsam nur, dass es ihn mit unerwartetem Entsetzen erfüllte, als dann endlich Stille eintrat. Ohne den Blick von der Tür zu wenden, die zu ihrem Schlafzimmer führte, saß er stocksteif auf dem Stuhl mit der geraden Lehne im schwach beleuchteten Flur. Unfähig sich zu bewegen, wartete er einfach nur atemlos, lauschte und betete jetzt, da er kein Weinen hörte, dass das Baby tot zur Welt gekommen war.

Aber irgendwann ertönte es doch, das zornige Aufbegehren eines Geschöpfes darüber, dass man es in eine grausame Welt hinausgezwungen hatte. Es klang laut und kräftig, und er verfluchte den Himmel und die Hölle für diese grenzenlose Ungerechtigkeit.

Die massive Eichentür ging auf. Eine junge Bedienstete – verdammt, wie hieß sie doch gleich? Es fiel ihm nicht ein, es war ihm auch egal – knickste kurz. „Es ist ein Junge, Euer Gnaden.“

Er stieß einen Fluch aus und kniff die Augen zu. Das Geschlecht hätte keine Rolle spielen sollen, dennoch war diese Information für ihn wie ein heftiger Schlag gegen die Brust.

Er stellte sein Glas ab und erhob sich mühsam. Auf wackeligen Beinen wankte er in das Zimmer, das nach Schweiß, Blut und Angst roch. Das Kind hatte aufgehört zu schreien. Eingewickelt in eine mit dem Wappen des Dukes verzierten Decke lag es nun in den Armen einer anderen Bediensteten.

Sie lächelte ihn hoffnungsvoll an. „Ein prachtvoller Junge, Euer Gnaden.“

Ihre Worte erfüllten ihn nicht mit Stolz und spendeten auch keinen Trost. Vorsichtig trat er näher. Er sah den dichten schwarzen Schopf, genauso schwarz wie sein eigenes Haar, und das kleine verkniffene Gesicht. Es war schwer vorstellbar, dass etwas so Winziges die Ursache für so viel Schmerz, Kummer und Verzweiflung sein konnte.

„Möchten Sie ihn einmal halten, Sir?“

Er wusste, er wäre verloren, wenn er das tat, und schüttelte den Kopf. „Lassen Sie uns jetzt allein. Alle. Gehen Sie.“

Sie legte das Bündel in die Wiege, ehe sie der Hebamme und der anderen Bediensteten nacheilte und die Tür hinter sich schloss, während er sich jetzt dem stellen musste, was er in diesem Zimmer zu tun hatte, in dem die Schreie seiner Liebsten immer noch nachzuhallen schienen.

Leise und zögernd näherte er sich dem Himmelbett, in dem sie mit abgewandtem Gesicht lag und aus dem Fenster in die pechschwarze Dunkelheit hinaussah. Es schien geradezu passend, dass dieses Kind mitten in der Nacht zur Welt gekommen war, in dieser Residenz, in der sein eigener Vater seine Geliebte ausgehalten hatte. Beide gab es längst nicht mehr, dennoch war das Anwesen immer noch von Nutzen und sorgte dafür, dass keine Erinnerung an diese Nacht in seinem geliebten Besitz oder seinem Londoner Domizil herumspuken konnte.

Mit der Frau auf dem Bett verhielt es sich jedoch ganz anders. Wie sollte sie nicht von Geistern heimgesucht werden, nach all dem, was sie hatte ertragen müssen? Er hatte sie noch nie so blass und so leblos gesehen, jeglicher Freude und Träume beraubt. Als er nach ihrer Hand griff, überraschte es ihn nicht, dass sie eiskalt war. „Hast du ihn gesehen?“

Sie schüttelte matt den Kopf, eine kaum wahrnehmbare Bewegung. „Er ist ein Bastard. Du weißt, was du zu tun hast“, flüsterte sie heiser, ehe sie ihn mit Tränen in den Augen flehend ansah. „Für mich. Wir müssen ihn loswerden. Das weißt du.“ Sie schluchzte kurz auf, biss sich auf die Fingerknöchel und fing dann heftig an zu weinen.

Er setzte sich zu ihr auf das Bett, nahm sie in die Arme und wiegte sie sanft. Dieses Kind hätte niemals zur Welt kommen dürfen. Seine Existenz würde zu einer ständigen, gnadenlosen Qual für sie werden. „Scht, meine Liebste, sei unbesorgt. Ich werde mich darum kümmern.“

„Es tut mir leid, es tut mir so schrecklich leid.“

„Dich trifft keine Schuld. Wenn ich besser auf dich aufgepasst hätte …“ Er verstummte, seine Selbstvorwürfe schnürten ihm die Kehle zu. Er hatte nicht die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, um sie zu beschützen. Jetzt würde er alles tun, um ihr einen Skandal zu ersparen.

Er hielt sie im Arm, bis sie ruhiger wurde und in einen unruhigen Schlaf fiel. Dann nahm er das Baby aus der Wiege. Es. Es! Er wollte nicht an einen kleinen Jungen denken, nur an ein Geschöpf. Es sah ihn mit großen blauen Augen an. Er verließ mit seiner Last das Zimmer, ohne sich noch einmal umzusehen.

Noch nie hatte eine Fahrt in seiner Kutsche so lange gedauert. Es erschien ihm falsch, das Kind abzulegen, also behielt er es im Arm und spürte die ganze Zeit dessen Blick auf sich ruhen. Er wusste, dieser unverwandte Blick würde ihn bis in den Tod verfolgen.

Endlich hielt die Kutsche vor einem heruntergekommenen Haus am Stadtrand von London. Der dichter werdende Nebel, der um die Veranda waberte, ließ die Szenerie noch unheilvoller wirken. Zögernd schüttelte er den Kopf. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, plötzlich schwach zu werden. Er drückte das Baby an seine Brust, stieg aus und verscheuchte jeglichen Gedanken, damit ihm nicht bewusst wurde, was er da tat.

Er klopfte energisch an die Tür. Das jugendliche Aussehen der Frau, die ihm öffnete, erschreckte ihn. Er hatte sie sich ganz anders vorgestellt, aber vielleicht hatte er sich ja auch in der Adresse geirrt. „Ich suche die Witwe Trewlove.“

„Die steht vor Ihnen.“ Der Blick ihrer dunklen Augen fiel auf das Bündel in seinem Arm. Ihre Miene blieb unbeweglich, als wolle auch sie nicht daran denken, was hier gerade vor sich ging. „Zahlen Sie monatlich oder soll ich Ihren Bastard ganz bei mir aufnehmen?“

In ihrer Stimme schwangen weder ein Vorwurf noch eine Verurteilung mit. Er glaubte beinahe, so etwas wie Sympathie herauszuhören, Freundlichkeit. „Ganz.“

„Das macht dann fünfzehn Pfund.“

Er kannte die Höhe des Betrags. Er hatte ihre Anzeige Hunderte Male aufmerksam gelesen in den Monaten vor der Geburt. Dass Witwen außerehelich geborene Kinder bei sich aufnahmen, war gängige Praxis. Einer seiner Freunde gab alle seine Bastarde weg. Ein einmaliger Betrag, und man brauchte nie wieder an sie zu denken. Zumindest war das in der Theorie so. Er glaubte nicht, dass er dieses Kind jemals würde vergessen können.

Mrs. Trewlove nahm ihm das Kind so behutsam ab, als wäre es etwas ganz Kostbares, dann streckte sie die Hand aus. Er ließ den schweren Beutel auf ihre Handfläche fallen, und ihm wurde übel, als ihre Finger sich um den Blutzoll schlossen.

„Ich zahle Ihnen das Zehnfache von dem, was Sie verlangen. Ich möchte nicht, dass das da leiden muss.“

„Seien Sie unbesorgt. Ich werde mich gut um Ihren Bastard kümmern.“ Damit drehte sie sich um, ging in ihr Haus und schloss leise die Tür hinter sich.

Er eilte zurück zu seiner Kutsche, stieg ein und schlug gegen das Dach. Als sich das Gefährt zügig in Bewegung setzte, ließ er seinen Tränen freien Lauf und kam sich wie ein Ungeheuer vor. Er konnte nur hoffen, dass sein Handeln in dieser Nacht seine Liebste gesunden ließ und sie ihm wieder so zurückbrachte, wie sie einst gewesen war.

Er selbst allerdings bezweifelte, ob er seinen Anblick im Spiegel je wieder würde ertragen können.

1. KAPITEL

London, 1871

Mick Trewlove waren die Cremorne Gardens nur allzu vertraut, doch er begrenzte seine Besuche dort prinzipiell auf die späteren Abendstunden, wenn die leichten Mädchen billiger zu haben waren, zwielichtiges Gesindel sein Unwesen trieb, die Dekadenz blühte und gedieh, betrunkene Männer gern Geheimnisse ausplauderten, und er selbst es denen heimzahlen konnte, die ihn früher einmal beleidigt hatten.

Aber so früh am Abend auf diesen Pfaden zu wandeln, wenn die Dämmerung gerade anbrach und die Dunkelheit der Nacht erst leise von kommender Verführung wisperte – das löste in ihm ein Gefühl aus, als wäre ihm sein maßgeschneiderter Anzug viel zu eng. Anständiges Volk genoss die harmlosen Vergnügungen des Abends; manchen reichte es auch schon, einfach nur müßig durch die Gärten zu flanieren, die dank der Themse üppig grün waren. Er konnte sich nicht vorstellen, selbst so wenige Sorgen zu haben und so entspannt zu sein, dass sein unbeschwertes Lachen die Luft erfüllte. Allerdings war er auch nicht gerade dafür bekannt, dass er gern lachte – wenigstens nicht vor Freude. Sein barsches Belfern machte die Leute meist argwöhnisch, vor allem, wenn es ihnen galt. Zu Recht. Normalerweise war das das Zeichen, dass er kurz davor war, Vergeltung zu üben.

„Warum folgen wir diesem Paar?“

Er hatte immer gewusst, dass die junge Schönheit an seinem Arm nicht dumm war, aber er hatte gehofft, sie würde von seinem eigentlichen Vorhaben abgelenkt werden, nachdem er endlich ihre Neugier auf die Gärten befriedigt hatte. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“

„Schwindler!“ Sie schlug mit ihrer freien Hand auf seinen Arm.

Er hatte nicht in Betracht gezogen, sie könnte in der Öffentlichkeit seinen hart erworbenen Ruf untergraben, gnadenlos zu sein. Allerdings waren seine Bekannten so früh am Abend wahrscheinlich noch gar nicht da.

„Eine ganze Reihe von Leuten ist an uns vorbeigegangen, und du hast ihnen nicht die geringste Beachtung geschenkt. Wenn uns jemand im Weg steht, erstarrst du und umrundest ihn eilig, als wäre er ein Hindernis für dich. Die Gaukler und Jongleure hast du völlig ignoriert, obwohl sie alles getan haben, um dich auf sie aufmerksam zu machen. Daraus habe ich geschlossen, dass der Grund, warum du mich hierher mitgenommen hast, nicht wie von dir behauptet ein Geburtstagsgeschenk war. Du dachtest wohl eher, du würdest weniger auffallen mit einer Frau an deinem Arm.“

„Mit einem Mädchen, Kleines.“

„Ich bin siebzehn. Alt genug, um zu heiraten.“

„Du heiratest aber nicht.“

„Eines Tages schon.“

„Es gibt weit und breit keinen Kerl, dem ich gestatten würde, dich zur Frau zu nehmen.“

„Das ist nicht deine Entscheidung.“

„Da ich dein ältester Bruder bin und du keinen Vater hast, ist sie das sehr wohl.“

Der kecke Fratz schlug ihm wieder auf den Arm. „Du versuchst mich nur abzulenken, damit ich dir nicht mit meinen Fragen auf die Nerven gehe. Darauf falle ich nicht herein.“

Das Paar vor ihnen blieb stehen, um einem kleinen Orchester zuzuhören, das eine sanfte, melancholische Weise spielte. Er hielt ebenfalls inne und sah hinunter in das triumphierende Gesicht seiner Schwester. „Du bist viel zu klug.“

Sie strahlte über dieses Lob und drückte seinen Arm. „Erzähl mir alles von den beiden.“

„Pst, sprich leise!“ Niemand brauchte mitanzuhören, was er sagte, und so zu erfahren, dass er tatsächlich ein reges Interesse an dem Paar hatte.

„Versprochen“, flüsterte sie. „Wer sind sie?“

„Er ist der Earl of Kipwick, der Sohn des Duke of Hedley – diesen Titel wird er eines Tages erben.“

„Er kommt mir irgendwie bekannt vor. Können wir auf die andere Seite gehen, damit ich ihn besser sehen kann?“

„Nein. Jedenfalls noch nicht.“ Er hatte keine Lust, dass sie den Earl zu genau unter die Lupe nahm und dahinterkam, warum Mick sich so für diesen ganz speziellen Lord interessierte.

„Kenne ich ihn?“

„Das bezweifle ich. Er verkehrt nicht unbedingt in unseren Kreisen.“

„In deinen denn?“

„Irgendwann … ja.“

„Und die Frau an seinem Arm? Sie ist ziemlich hübsch. Erzähl mir von ihr.“

Da er erst vor Kurzem auf sie aufmerksam geworden war, besaß er noch nicht sehr viele Informationen über sie, aber das würde sich mit der Zeit ändern. Wenn alles nach Plan verlief, würde sie ihm bereitwillig Einzelheiten verraten. „Sie ist Lady Aslyn Hastings, die Tochter des Earl of Eames, und das Mündel des Duke of Hedley, da ihre Eltern gestorben sind, als sie noch ein Kind war.“

Ein Schatten huschte über die Züge seiner Schwester. Sie war viel zu feinfühlig für die Welt, in der sie lebte. „Dann ist sie Waise, genau wie du.“

Sie war nicht wie er. Niemand war wie er.

„Weißt du, wie ihre Eltern gestorben sind?“, fragte Fancy. Sie wirkte bedrückt, vielleicht, weil auch sie ihren Vater nie kennengelernt hatte. Sie hatte sich jedoch immer Halbwaise nennen können, was viel freundlicher klang als der Begriff, der ihm selbst zugedacht wurde.

„Noch nicht.“ Doch irgendwann würde er jedes noch so kleine Detail über sie erfahren – ihre Vorlieben, ihre Abneigungen, ihre Träume, ihre Ängste.

„Sie ist wirklich hübsch. Ich denke immer, wenn jemand gut aussieht, ist er – oder sie in dem Fall – gegen Unglück gefeit.“

„Niemand ist gegen Unglück gefeit.“

Das Paar schlenderte weiter, es hatte wohl genug von der Musik. Fancy schloss sich an, als auch Mick sich mit zügigen Schritten in Bewegung setzte, um die beiden im dichter werdenden Gedränge nicht aus den Augen zu verlieren. Immer mehr Gaukler führten ihre kleinen Kunststücke vor in der Hoffnung, ein oder zwei Münzen zugeworfen zu bekommen.

„Also, warum folgen wir ihnen?“, wollte Fancy wissen.

„Ich suche eine Gelegenheit, die Bekanntschaft des Earls zu machen.“

„Und warum?“

„Weil ich vorhabe, ihm alles zu nehmen, was ihm lieb und teuer ist – einschließlich der Dame an seiner Seite.“

Lady Aslyn Hastings wurde das Gefühl nicht los, dass sie beobachtet wurde. Wenn sie ganz ehrlich war, hatte sie dieses Gefühl allerdings ständig. Vielleicht lag das an dem übervorsichtigen Duke und seiner Gattin oder an all den düsteren Warnungen vor den Gefahren des Lebens, mit denen die Duchess of Hedley sie ständig überhäufte. Die Duchess verließ ihre Residenz niemals und ermunterte Aslyn, ihrem Beispiel zu folgen und ebenfalls in Hedley Hall zu bleiben. Dabei sehnte Aslyn sich nach mehr – nach der Unabhängigkeit derer, von denen nicht erwartet wurde, dass sie eine gute Partie machten; nach den unbeschwerten Momenten, die diejenigen genossen, die nicht von Pflichten erstickt wurden; nach den Vergnügungen, die einem in den nächtlichen Schatten geboten wurden.

Und diese Schatten wurden jetzt rasch dunkler. Die ersten Straßenlaternen wurden angezündet, doch sie brachten nur spärlich Licht in die zunehmende Finsternis. Aslyn hoffte, Kip überreden zu können, dass sie weit über den Zeitpunkt hinaus in den Gärten blieben, an dem anständige Leute nach Hause gingen. Sie wollte einen Blick auf das unanständige Treiben erhaschen, das in den Klatschzeitungen erwähnt wurde, die sie las, wenn niemand sie beobachtete. Ins Detail waren sie nicht gegangen, aber es hatte ausgereicht, Aslyns Fantasie anzuregen.

Zum Glück – oder leider, je nach Standpunkt – hatte Aslyn immer eine äußerst rege Fantasie gehabt. Sie nahm an, dass die Musik, die nach zehn Uhr in den Gärten ertönte, wohl nicht in ihren Notenblättern zu finden und auch nicht die war, die Aslyn den Elfenbeintasten ihres Flügels entlocken durfte. Die Kleider der Damen, die mit den Herren spazieren gingen, enthüllten sicher mehr als nur den Ansatz eines Busens. Bestimmt schmiegten sich die Damen an ihre Begleiter, anstatt ihnen nur die Hand auf den Arm zu legen, so leicht wie ein Schmetterling, der sich auf einer Rosenblüte niederließ. Nichts von all dem würde schicklich und anständig sein. Hier jedoch stieß sie an die Grenzen ihrer Fantasie, denn sie konnte sich nicht recht vorstellen, was zu einem unschicklichen Verhalten gehörte. Presste ein Gentleman die Lippen auf die entblößte Schulter seiner Dame? Küsste er ihren Hals?

Und wie würde sich das anfühlen?

Trotz seines Interesses an ihr hatte Kip sich ihr gegenüber nie unangemessen verhalten und noch nicht einmal versucht, ihr einen Kuss zu rauben. Er respektierte sie, achtete sie und unterdrückte seine niederen Bedürfnisse, um sicherzustellen, dass sie in der Hochzeitsnacht unberührt war. So sollte es auch sein zwischen einem Mann und einer Frau, wie die Duchess ihr versicherte – wenn der Mann ihr aufrichtig zugetan war. Nur die moralisch Verwerflichsten würden versuchen, eine Dame vor der Ehe zu verführen.

Aslyn mochte gar nicht daran denken, wie es um ihre eigene Moral bestellt war, wenn sie darauf hoffte, dass Kip sie an diesem Abend um Erlaubnis bat, sie küssen zu dürfen, dass er seinen Handschuh auszog, ihre Wange berührte und ihr leidenschaftliche Koseworte ins Ohr raunte.

Sie war inzwischen zwanzig und noch nie geküsst worden; allerdings kannte sie auch kein anderes noch nicht verlobtes Mädchen, das schon einmal geküsst worden war. Junge Damen ihres Standes mussten ihre Tugend bewahren und allzeit über jeden Vorwurf erhaben sein. Trotzdem gab es Momente, in denen es ärgerlich war, sich moralisch einwandfrei verhalten zu müssen. Man durfte zwar unschuldig flirten, sich aber niemals zu etwas Fragwürdigerem verleiten lassen. Knöpfe mussten zugeknöpft, Schnüre fest verschnürt und Knöchel unter dem Rocksaum verborgen bleiben.

Sie hatte nicht vor, sich in eine kompromittierende Situation zu begeben, aber sie fragte sich oft, ob Kip all diese Regeln genauso lästig fand wie sie, ob er sich auch wünschte mehr zu tun, als einfach nur mit ihr spazieren zu gehen. Ihr schlechtes Gewissen regte sich, weil sie eigentlich dankbar sein sollte, dass er ein so besonnener, aufrechter Mann war und sie sich folglich nie gegen unschickliche Avancen zur Wehr setzen musste.

„Ich höre den Sirenengesang eines Soprans“, sagte Kip plötzlich und legte seine Hand ganz leicht auf ihre, die auf seinem Arm ruhte. „Wollen wir in die Richtung gehen?“

„Gern.“

Er sah sie an. Obwohl es inzwischen dunkler geworden war und seine Hutkrempe einen Schatten auf sein Gesicht warf, konnte sie seine attraktiven Gesichtszüge immer noch erkennen. Er hatte die leuchtend blauen Augen seines Vaters geerbt, dessen dichtes schwarzes Haar und das markante Grübchen am Kinn. Schon als Kind war sie davon fasziniert gewesen und hatte oft den Finger hineingesteckt, vor allem wenn sie ihn schlafend vorgefunden hatte. Mit zunehmendem Alter war es noch ausgeprägter geworden und ließ keinen Zweifel daran, dass er tatsächlich der Erbe seines Vaters war, obwohl das niemand wirklich in Frage stellte. Der Duke und die Duchess waren einander zutiefst zugetan, so sehr, dass es manchmal den Anschein hatte, als existierte außer ihnen beiden kein anderer Mensch auf der Welt.

„Amüsierst du dich gut?“, fragte er. „Gibt es noch etwas, das du gern sehen möchtest?“

Nichts, was sie hätte laut aussprechen dürfen, ohne einen missbilligenden Blick von ihm zu ernten, also behielt sie wie gewohnt ihre Gedanken für sich und lächelte ihn an. „Ich amüsiere mich in der Tat sehr gut. Es ist alles nur etwas harmloser, als ich es erwartet hatte.“ Sie hatte Wochen gebraucht, ihn zu überreden, mit ihr hierherzukommen, und ihr war klar, wie unwahrscheinlich es war, dass er das noch einmal tun würde. Die Duchess war strikt gegen diesen Ausflug gewesen und hatte befürchtet, irgendwelche Gefahren könnten dort auf ihr Mündel lauern. Kip hatte ein Großteil des Abendessens damit verbracht, seine Mutter zu überzeugen, dass er gut auf Aslyn aufpassen würde. Sie glaubte, nie mehr für ihn empfunden zu haben als in dem Moment, als er darum gekämpft hatte, ihr das zu ermöglichen, was sie sich wünschte – einen Abend in den Cremorne Gardens. Doch obwohl sie sich wirklich amüsierte, wurde sie das Gefühl nicht los, dass irgendetwas fehlte. „Warst du schon einmal in den Gärten, wenn es hier nicht ganz so zivilisiert zugeht?“

„Ein Gentleman spricht nicht über Dinge, die nicht für die Ohren einer jungen Dame bestimmt sind.“

Hatte er solche Bedenken auch in Bezug auf die Ohren einer älteren Dame? Sie konnte es kaum erwarten, endlich alt genug zu sein, um in das Wissen eingeweiht zu werden, das ihr jetzt noch vorenthalten wurde. „Also warst du hier.“

Er verdrehte seufzend die Augen. „Vielleicht …“

Er wurde so unerwartet nach vorn gestoßen, dass er mit den Armen ruderte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und sein Hut fiel zu Boden. Aslyn ließ hastig seinen Arm los, um nicht ebenfalls ins Straucheln zu geraten. Als sie einen leisen Aufschrei vernahm, sah sie sich um und entdeckte eine junge Frau mit entsetztem Gesichtsausdruck. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und sie hielt sich erschrocken die Hände vor den Mund.

„Sir, ich bitte aufrichtig um Verzeihung! Ich war so vertieft in meine Umgebung, dass ich gar nicht aufgepasst habe, wohin ich gehe. Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht wehgetan?“

Kip bückte sich, hob seinen Hut auf und strich darüber, um etwaigen Staub davon zu entfernen. Aslyn hatte erwartet, dass er ihn gleich wieder auf seinen dunklen Schopf setzen würde. Stattdessen hielt er in der Bewegung inne und betrachtete die junge Frau vor ihm zum ersten Mal genauer. Eigentlich war sie noch fast ein Mädchen, jünger als Aslyn, doch ihre Augen – von einer seltsamen goldenen Farbe, die ihn an eine Katze erinnerte – sprachen Bände und ließen den Schluss auf ein Leben zu, das nicht ohne Herausforderungen war. Trotz ihres hübschen fliederfarbenen Kleids und der bebänderten Haube machte sie den Eindruck, als wäre sie solchen Komfort nicht immer gewohnt gewesen. „Nichts passiert, Miss …?“

„Miss Fancy Trewlove.“

„Fancy? Was für ein ungewöhnlicher Name.“

„Meine Mutter hoffte, dass ich mit einem ausgefallenen Namen vielleicht einen vornehmen Mann finde, in einem vornehmen Haus lebe und kostbare Dinge besitze. Bislang haben sich ihre Hoffnungen zerschlagen, aber ich gebe Träume nicht so leicht auf. Und Sie, Sir? Darf auch ich Sie nach Ihrem Namen fragen?“

„Lord Kipwick.“

„Ach, du liebe Güte.“ Blass geworden, knickste sie tief und anmutig. „Mylord, bitte verzeihen Sie mir meine grenzenlose Ungeschicklichkeit.“

„Aber natürlich, schließlich ist ja nichts passiert. Meine Begleitung und ich waren genauso gefesselt von der heiteren Stimmung hier heute Abend. Aslyn, gestatte mir, dir Miss Trewlove vorzustellen. Miss Trewlove, Lady Aslyn Hastings.“

„Es ist mir ein Vergnügen“, sagte Aslyn und versuchte, sich nichts von ihrer Überraschung anmerken zu lassen, dass Kip sich solche Mühe gab, sie mit einer Bürgerlichen bekannt zu machen.

„Mylady.“ Die junge Frau knickste erneut. Es war ein formvollendeter Knicks.

Aslyn hätte wetten mögen, dass sie Unterricht darin gehabt hatte. Ihre Mutter verließ sich wohl nicht nur auf einen ausgefallenen Vornamen, um ihr eine vornehme Existenz ermöglichen zu können.

„Ich hoffe, ich habe Ihnen Ihren Spaziergang nicht verdorben. Mein Bruder sagt immer, ich solle langsamer gehen, aber hier gibt es so viel zu sehen, dass ich Angst habe, etwas zu verpassen, und dann bin ich völlig abgelenkt durch diese Zerstreuungen.“ Sie drehte sich leicht um. „Nicht wahr, Mick?“

„Das bist du in der Tat.“

Ein Schauer überlief Aslyn beim Klang dieser tiefen Stimme, und sie starrte den Mann unwillkürlich an, der jetzt durch die anbrechende Dunkelheit näher kam, lautlos wie aufkommender Nebel, als beherrschte er die Nacht. Aslyn wusste ohne jeden Zweifel, dass er zu den Menschen gehörte, die sich hier in den Gärten herumtrieben, wenn die anständigen Leute längst zu Bett gegangen waren. Seine Kleidung war von bester Qualität, edle Stoffe und glänzende Knöpfe. Sie vermutete, dass er einen Leibschneider hatte, denn sein schwarzer Mantel saß perfekt um seine breiten Schultern. Sein gewelltes nachtschwarzes Haar war länger als es die neueste Mode verlangte und kräuselte sich um seinen Kragen. Sein dichter Bart war sorgfältig gestutzt; sie war sich sicher, dass er viel Mühe darauf verwendete. Es waren jedoch seine dunklen Augen, die sie in ihren Bann zogen. Sie strahlten Ernst und eine gewisse Feierlichkeit aus. Sein Blick fiel auf sie und wirkte fast wie eine körperliche Berührung.

„Mick, erlaube mir, dir Lord Kipwick und Lady Hastings vorzustellen.“

„Ich glaube, Fancy“, sagte er mit einer so heiseren Stimme, als hätte er einen Großteil seines Lebens brüllend verbracht, „dass es in gehobeneren Kreisen eher üblich ist, dass ich ihnen vorgestellt werde.“

„Natürlich. Wahrscheinlich hätte ich während des Anstandsunterrichts besser aufpassen müssen, aber die Lehrerin redete so eintönig, dass mir immer schnell langweilig wurde und dein Geld für diese Stunden somit leider vergeudet war.“

„Wir brauchen nicht so förmlich zu sein“, warf Kip rasch ein und fegte damit für ihn ganz untypisch Regeln beiseite, die er sonst einhielt, als wären sie göttliche Gebote. „Aufgrund der bisherigen Unterhaltung mit Miss Trewlove nehme ich an, Sie sind Mick Trewlove.“

Aslyn verbarg nur mit Mühe ihr Erschrecken, dass Kip diesen Mann anscheinend kannte, dieses Geschöpf der Nacht, diesen Bürgerlichen. Noch mehr erstaunte es sie, dass er offenbar ein Gespräch mit jemandem anstrebte, der unter seinem Rang war. Wie die meisten Adeligen pflegte Kip Leute, die ihm nicht ebenbürtig waren, etwas von oben herab zu behandeln.

Der Herr zog mit großer Geste seinen Hut. „Der bin ich. Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mylord, Mylady.“

„Ich habe schon von Ihnen gehört, Mr. Trewlove.“

Aslyn fragte sich, woher Kip diesen Gentleman kannte, was Mick Trewlove getan haben mochte, um Kips Aufmerksamkeit zu erregen. Nichts Gutes, vermutete sie.

„Nichts Gutes, vermute ich.“

Ihr stockte der Atem, als er ihren Gedanken aussprach. Sie hoffte, dass man ihr nicht ansah, was sie gedacht hatte, und der Mann nicht merkte, dass er zwar ihre Neugier geweckt hatte, sie ihm aber dennoch nicht traute. Vielleicht war es aber auch eher so, dass sie selbst sich nicht traute, denn wenn sie ehrlich war, faszinierte er sie über alle Maßen. Noch nie zuvor war sie jemandem begegnet, der so hoheitsvoll auftrat als herrschte er über alles, was er ins Auge fasste. Seine imposante Ausstrahlung war gleichermaßen beunruhigend und aufregend.

„Ganz im Gegenteil. So viel ich weiß, haben Sie einen guten Riecher dafür, Männern zu einem Vermögen zu verhelfen.“

Er zuckte die Achseln und senkte leicht den Kopf auf eine Art, die bei den meisten Leuten wohl bescheiden gewirkt hätte, aber Aslyn spürte instinktiv, dass in diesem herrlich großen, breitschultrigen Mann kein Fünkchen Bescheidenheit steckte. Etwas Wildes, Ungezügeltes ging von ihm aus, das sie innerlich erbeben ließ – zu ihrer Schande. Noch nie hatte sie so eindeutig körperlich auf einen Mann reagiert. Sie wollte seinen Bart berühren und sich vergewissern, ob er sich wirklich so weich anfühlte wie er aussah. Gleichzeitig hatte sie das starke Bedürfnis, zu flüchten und sich zu schützen, so wie es ihr die Duchess immer wieder gepredigt hatte, sollte sie einem gefährlichen Mann begegnen. Sie wusste instinktiv, dass dieser Mann wirklich sehr gefährlich war – auf eine Weise, die sie nie in Betracht gezogen hätte.

„Manchmal werden unsere Bemühungen von finanziellem Erfolg gekrönt“, erwiderte er. „Nur wenige Männer prahlen mit Misserfolgen.“

„Lassen Sie uns nicht über Geschäfte sprechen!“, bat Miss Trewlove. „Das Feuerwerk beginnt gleich. Ich habe gehört, es soll ganz herrlich sein, und ich erlebe es heute zum ersten Mal. Ich möchte es auf keinen Fall verpassen. Mylord, Sie wissen nicht zufällig, von welcher Stelle aus es am besten zu sehen ist?“

„Doch, das weiß ich.“

Miss Trewlove verschränkte die behandschuhten Hände und hüpfte vor ihm auf und ab wie ein Hündchen, dem man einen Leckerbissen angeboten hatte. „Wären Sie so freundlich, mir diese Stelle zu zeigen?“

„Es ist mir ein Vergnügen, Ihnen diese Ehre zu erweisen. Wenn Sie das Feuerwerk noch nie miterlebt haben, müssen Sie es so gut wie möglich sehen können.“

Und er würde ebenfalls mitkommen, dieser Mann, der sie beobachtete, als wolle er bis auf den Grund ihrer Seele blicken. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie ihn in ihrer Nähe haben wollte. Eine innere Stimme sagte ihr, dass es für sie sicherer war, wenn er zurückblieb. Sie hatte keine Angst, dass er ihr irgendetwas antun könnte, trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, als würde er einen Anspruch auf sie erheben. Eine absurde Vorstellung. Sie kannte ihn nicht, er war ein Bürgerlicher. Nach diesem Abend würden sich ihre Wege nie wieder kreuzen.

„Aslyn?“

Sie sah abrupt zur Seite, und der Bann war gebrochen. Überrascht stellte sie fest, dass Kip ihr die Hand hinhielt.

„Wollen wir?“

„Ja, natürlich.“ Sie zwang sich, zu ihm zu gehen und ihm die Hand auf den gebotenen Arm zu legen, obwohl sie viel lieber stehen geblieben wäre und weiterhin Mick Trewlove betrachtet hätte. Sie hatte noch nie einen Man gesehen, der so wenig von seinen Gefühlen oder Gedanken preisgab. Die Keckheit seiner Schwester schien ihn nicht zu stören, aber schließlich war sie ja auch keine Geliebte, die mit einem anderen Mann flirtete. Aber geflirtet hatte sie ganz eindeutig mit Kip; bestimmt wollte sie das Terrain sondieren, ob Kip vielleicht der vornehme Mann war, den ihre Mutter sich für sie wünschte. Er jedoch war bereits versprochen. Die offizielle Verlobung war zwar noch nicht bekannt gegeben worden, aber ganz London – ja, sogar ganz Großbritannien – wusste, zu wem er gehörte, wen er irgendwann heiraten und zu seiner Countess machen würde.

Aslyn spürte, wie Miss Trewlove und ihr Bruder ihnen folgten. Wieder hatte sie das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden. Sie wollte sich umdrehen und nachsehen, ob sein Blick wirklich auf ihr ruhte. Stattdessen ging sie weiter und fragte sich, was sie getan hätte, wenn er und nicht Kip ihr den Arm geboten hätte. Sie fürchtete sich beinahe vor der Antwort. Irgendetwas an ihm zog sie an. Sie verstand diese Anziehungskraft nicht und war sich auch nicht sicher, ob sie sie verstehen wollte.

2. KAPITEL

Mick war hin- und hergerissen. Einerseits war er wütend, weil Fancy die Sache selbst in die Hand genommen hatte, andererseits spendete er ihr insgeheim Applaus für ihre Genialität. Weil sie ihm die von ihm angestrebte Bekanntschaft ermöglicht hatte, würde sie jetzt mindestens eine Woche lang kaum zu ertragen sein.

Doch während er dem Paar zum Feuerwerk folgte, konnte er den Ärger auf seine Schwester genauso wenig am Köcheln halten wie den Blick von der Frau vor ihm abwenden. Sie war nicht so, wie er erwartet hatte. Adelige Damen pflegten hochmütig und unnahbar zu sein. Sie sahen ihn meist an, als wäre er Straßenschmutz, den sie von ihren Schuhen abstreifen mussten.

Lady Aslyn schien jedoch nicht so recht in dieses Bild zu passen. In ihren Augen, so blau wie der Sommerhimmel, hatte sich Neugier widergespiegelt, vielleicht sogar etwas noch Herausforderndes – Versuchung. Er faszinierte sie. Seit sie auf ihn aufmerksam geworden war, hatte sie ihn unentwegt angesehen, prüfend, mit leicht gerunzelter Stirn, als wäre er ihr ein Rätsel, das sie lösen musste. Er hätte die Hälfte seines Vermögens darauf gewettet, dass sie versucht hatte, ihn einzuordnen, sich zu fragen, woher sie ihn kannte. Es war unwahrscheinlich, dass sie die Verbindung herstellen konnte – nicht, bis er seinen Plan ausgeführt hatte. Dann würde sie die Wahrheit über ihn wissen; die Wahrheit über die, die sie für ihre Familie hielt, und die, die sie liebte. Diese Wahrheit würde sie vermutlich zum Weinen bringen und mit Scham und einem Gefühl der Demütigung erfüllen. Und ganz sicher erlosch dann jeglicher Funken des Verlangens nach ihm, das sie vielleicht jemals für ihn empfunden haben mochte.

Wäre er ein anderer Mann gewesen, hätte er vielleicht ein schlechtes Gewissen gehabt, aber er hatte frühzeitig gelernt, dass sich aus Bedauern kein Kapital schlagen ließ.

„Ich habe mich noch nie zuvor mit Adeligen unterhalten“, sagte Fancy leise. „Sie scheinen recht nett zu sein.“

„Halte dich nach diesem Abend von ihnen fern.“ Es war unbesonnen von ihm gewesen, sie mitzunehmen und sie auch nur einen Blick auf seine Opfer erhaschen zu lassen.

„Warum?“

„Weil er mit dir etwas im Schilde führt.“ Auch das war von Anfang an ganz offensichtlich gewesen. Er hatte Gier, Verlangen und Lust in den Augen des Earls gesehen und sich sehr beherrschen müssen, ihm keinen Kinnhaken zu verpassen.

„Du hast angedeutet, dass er sich für die Dame interessiert.“

„Sie ist die Art von Frau, die er heiratet. Du bist die Art von Frau, mit der er ins Bett geht.“

Ihre Augen weiteten sich, und sie wurde rot. „Und sie? Ist sie eine Frau, die du heiraten würdest?“

„Nie im Leben.“

Sie blieb stehen und zwang ihn damit, es ebenfalls zu tun. „Trotzdem hast du vor, sie ihm wegzunehmen. Was hat er getan, dass du so zornig auf ihn bist?“

Er war auf die Welt gekommen, behütet und geliebt. In Wahrheit jedoch war Mick gar nicht auf ihn zornig, er war eher ein Mittel zum Zweck, endlich Genugtuung zu erfahren. Allerdings hatte er nicht vor, seiner Schwester auch nur einen seiner Gründe zu nennen, denn dann würde sie böse auf ihn sein. Normalerweise war es ihm gleichgültig, was die Leute von ihm hielten, aber vom Tag ihrer Geburt an war sie das einzige reine Geschöpf gewesen, das ihn je geliebt hatte. Er hätte alles getan, um dafür zu sorgen, dass diese Reinheit niemals besudelt wurde. „Heute Abend genieße einfach nur das Feuerwerk.“

„Aber ich bin jetzt Teil deines Plans.“

„Nach dem heutigen Abend nicht mehr.“

„Ich habe es dir ermöglicht, ihre Bekanntschaft zu machen. Ich könnte noch mehr tun …“

„Du hattest vorhin recht, Fancy. Du solltest mir nur als Tarnung dienen. Was nach dieser Nacht passieren wird, ist nichts für eine empfindsame Dame wie dich.“ Nichts für jemanden, der nur einen Funken Anstand und Freundlichkeit besaß, aber sein Aufwachsen auf der Straße hatte dafür gesorgt, dass ihm diese lästigen und einengenden Charaktereigenschaften abgingen.

„Ich mag es nicht, wie du mich so einfach abservierst.“

„Ich serviere dich nicht ab, ich beschütze dich.“

Sie öffnete den Mund, eindeutig, um weiter zu protestieren, und erinnerte ihn an seinen früheren Hund, der auch keinen Knochen mehr hergegeben hatte, wenn er ihn erst einmal zwischen den Zähnen gehabt hatte. „Wir können jetzt auch gehen, wenn dir das lieber ist“, sagte er knapp, ehe sie weitere Einwände äußern konnte.

Sie machte ein enttäuschtes Gesicht, weil ihr klar wurde, dass es zwecklos war, mit ihm zu streiten. Männer mit weitaus mehr Lebenserfahrung kamen nicht gegen ihn an, wie dann also eine zarte junge Frau? „Ich möchte das Feuerwerk sehen.“

Er war beeindruckt, wie gut es ihr gelang, nicht beleidigt oder schmollend zu klingen. „Gut.“ Sie streckte ihm kurz die Zunge heraus, ehe sie losmarschierte; mit seinen längeren Beinen hatte er sie jedoch schnell eingeholt. Seltsam, dass sie nicht merkte, wie ihr kindliches Verhalten ihm nur bestätigte, dass sie einfach nicht für die Welt geschaffen war, in der er überlebte.

Kipwick und Lady Aslyn warteten auf einer freien Rasenfläche, von der aus sie ungehindert zum Himmel hinaufsehen konnten. Die Dame ging auf Fancy zu, um sie zu begrüßen, als wäre sie eine lange vermisste Freundin, wodurch der Earl und Mick allein zurückblieben. Er hätte die Gelegenheit nutzen sollen, sich seinen Feind genauer anzusehen, doch er konnte den Blick nicht von Lady Aslyns Profil abwenden, während sie sich lächelnd mit seiner Schwester unterhielt.

Ihre Gesichtszüge waren nicht vollkommen. Sie hatte eine leichte Stupsnase, als hätte sie sie sich als Kind immer wieder begehrlich an einer Schaufensterscheibe plattgedrückt. Ihre Wimpern waren ungewöhnlich lang, und er vermutete, dass sie im Schlaf wie kleine Fächer auf ihren Wangen ruhten. Ihre Augen – von einem ganz hellen, beinahe wasserklaren Blau – waren leicht mandelförmig, als würden sie an den Seiten von ihren hohen Wangenknochen nach oben geschoben. Dennoch verlieh ihr jede kleine Unvollkommenheit den Eindruck von Perfektion.

Ihre alabasterfarbene Haut war makellos, ohne auch nur die kleinste Sommersprosse, und Mick bezweifelte, dass sie sie je der Sonne aussetzte. Oder der Berührung eines Mannes, wenn man so wollte. Unter ihrem Hut hatten sich ein paar blonde gelockte Strähnen aus ihrer hochgesteckten Frisur gelöst. Er vermutete, dass sie auch das einzig Rebellische an ihr waren. Ihre Haltung und die etwas steifen Bewegungen ließen auf eine Frau schließen, die wusste, dass sie ständig unter Beobachtung stand und sich deshalb jederzeit beherrscht und anständig geben musste.

Er freute sich schon auf die Herausforderung, diese Beherrschtheit zu durchbrechen.

„Sind wir uns schon einmal begegnet?“, fragte Kipwick leise.

Mick ließ den Blick über den Mann schweifen, der ein paar Zentimeter kleiner und viel schmaler gebaut war als er. Allerdings hatte seine Lordschaft auch nie den Müll der Stadt beseitigen müssen, um ein paar Shilling zu verdienen, damit seine Familie nicht hungern musste. „Nein.“

Der Earl zog die buschigen Augenbrauen zusammen, sodass sich eine tiefe Falte zwischen ihnen bildete. „Sie kommen mir irgendwie bekannt vor. Ich könnte schwören, dass wir uns schon einmal über den Weg gelaufen sind.“

„Ich verkehre nicht in Ihren Kreisen, Mylord. Und Sie ganz sicher nicht in meinen.“

Kipwick wurde blass und wandte den Blick ab, was Mick nicht überraschte. Er hatte in den letzten paar Monaten genug über den Earl erfahren, um einen guten Eindruck gewonnen zu haben, welche Kreise er bevorzugte. Noch ehe der Sommer zu Ende war, würden sie sein Untergang sein.

„Obwohl es natürlich möglich ist, dass Sie mich einmal im Cerberus Club gesehen haben. Dort scheinen sich die verschiedensten Lebenswege zu kreuzen; er ist ein Ort, an dem gehobene und niedere Gesellschaftsschichten bereitwillig miteinander verkehren, weil ihr gemeinsames Interesse alle Schranken überwindet.“

„Ich kann mir kaum vorstellen, Sie dort gesehen zu haben, da ich dort nicht Mitglied bin.“

Mick wusste, dass Kipwick Erkundigungen über den Club eingezogen hatte und nie dort gewesen war. Die Erwähnung dieses Etablissements war nur ein Köder, der erste Schritt auf dem Weg, der den Earl in den Untergang führen sollte. „Eine Mitgliedschaft ist nicht erforderlich, nur ein prall gefüllter Geldbeutel.“ Er spürte deutlich, dass der Earl wachsam wurde. Das enttäuschte ihn. Er hatte auf eine Herausforderung gehofft oder zumindest darauf, dass Kipwick sich dagegen wehren würde, zum Schlachter geführt zu werden. Mick war im Leben nie etwas einfach zugefallen; er wollte keine Rache auf dem Silbertablett, ohne sie sich erarbeiten zu müssen.

„Ehrlich gesagt“, erwiderte Kipwick zögernd, „war ich mir gar nicht sicher, ob der Club überhaupt existiert. Keiner meiner Bekannten hat jemals zugegeben, in dieser Spielhölle gewesen zu sein.“

„Das wundert mich nicht. Die meisten Adeligen, die dort verkehren, sind von den ehrwürdigeren Clubs ausgeschlossen worden. Zuzugeben, dass man in den Cerberus Club geht, bringt einem wohl kaum einen besseren Ruf ein.“

„Sie glauben, man hat mich ausgeschlossen?“

Sein scharfer Tonfall verriet, dass er beleidigt worden war. Vielleicht verlief das Ganze ja doch nicht so einfach. „Nein, Mylord. Ich habe nur versucht, eine Antwort darauf zu finden, wo wir uns möglicherweise begegnet sein könnten. Sie wirken auf mich wie ein Mann mit einem scharfen Verstand, der am Spieltisch durchaus Erfolg haben kann, und dazu wie jemand, der einem Abenteuer nicht abgeneigt und auf der Suche nach unterschiedlichen Arten von Zerstreuung ist. Ich nehme an, Ihnen wird schnell langweilig.“

„Das alles schließen Sie nach einer kurzen Zufallsbekanntschaft?“

Nein, das alles schloss er nach monatelangen Nachforschungen, aber er durfte den Earl nicht misstrauisch werden lassen. „Richtig. Nur weil ich mich gern in einem etwas gewagteren Umfeld aufhalte, heißt das nicht, dass alle Männer das tun.“ Vor allem die nicht, die verhätschelt und verwöhnt waren und privilegiert lebten, mit Privilegien, die Mick hätte genießen sollen, zumindest teilweise. Eine richtige Schule, ein richtiges Zuhause, richtiges Essen und richtige Kleidung. Es störte ihn nicht, wie er sich als Mann durchs Leben schlug, aber als Junge hätte er nicht gezwungen gewesen sein dürfen, das zu tun, was er getan hatte, um überleben zu können. Dennoch gestattete er seiner Wut nicht, an die Oberfläche zu kommen und sich in seiner Haltung und seiner Stimme widerzuspiegeln. „Verzeihung, dass ich gedacht habe, wir könnten eine Gemeinsamkeit haben.“

„Sie haben mich nicht gekränkt. Ich bin nur neugierig, woher Sie das alles wissen.“

Und offenbar nicht sehr vertrauensvoll. Das verwunderte ihn.

„Sie stammen aus einer berühmten Familie. Ich habe Artikel in den Zeitungen gelesen.“

„Schenken Sie allen Familien Ihre Aufmerksamkeit?“

„Ja, und ich vergesse nie etwas. Ich bin Geschäftsmann. Ich weiß nie, wann sich vielleicht die Idee oder die Gelegenheit zu einem neuen Unternehmen ergibt. Auch bin ich sehr gut darin, einen Menschen richtig einzuschätzen, damit ich nicht an einen falschen Investor gerate.“

„Jetzt muss ich mich entschuldigen. Ich bin gelegentlich an Männer geraten, die versucht haben, meine Position auszunutzen. Das macht einen misstrauisch.“

„Es ist immer klug, Fremden mit Vorsicht zu begegnen.“

Kipwick schnaubte. „Das waren Freunde, oder wenigstens dachte ich das. Ich muss gestehen, ich bin neugierig, was den Cerberus Club betrifft, aber soweit ich verstanden habe, ist seine Adresse ein streng gehütetes Geheimnis.“

Mick zuckte lässig die Achseln. „Kommen Sie morgen Abend um zehn zum Eingang dieser Gärten, und ich bringe Sie hin.“

Der Earl begann zu lächeln. „Vielleicht tue ich das ja wirklich.“

Natürlich würde er kommen. Seine Schulden waren der Grund gewesen, warum er aus einem Herrenclub ausgeschlossen worden war, und jetzt stand er kurz davor, auch die Mitgliedschaft in einem anderen Club zu verlieren. Der Earl hatte eine fatale Neigung zum Glücksspiel; er neigte dazu, die Einsätze zu erhöhen, wenn die Gewinnchancen schlecht für ihn standen. Offenbar war er ein lausiger Kartenspieler, der nie vorausahnen konnte, wann das Glück sich gegen ihn wendete.

Eine Explosion unterbrach die Stille des Abends, und erst jetzt bemerkte Mick die roten und grünen Funkenbälle am Himmel. Er hörte, wie Fancy hörbar einatmete. Bestimmt erinnerte sie sich nicht mehr daran, dass er ihr ein Feuerwerk gezeigt hatte, als sie vier gewesen war. Sie hatte auf seinen Schultern gesessen, vor Freude gejubelt und ihm in ihrer Begeisterung den Hut vom Kopf gefegt. Jetzt applaudierte sie gesitteter, aber mit unveränderter Begeisterung.

Was ihn überraschte war, wie erfreut Lady Aslyn wirkte. Er musste sich unauffällig etwas zur Seite drehen, damit er weiterhin ihr Profil sehen konnte. Mit den Funkenreflexen auf ihrem Gesicht und ihrem strahlenden Lächeln war sie auf eine Art schön, die ihm vorher nicht aufgefallen war. Sie wirkte beinahe kindlich in ihrer Freude. Plötzlich wurde ihm klar, wie jung sie noch sein musste, nicht viel älter als Fancy. Unschuldig. Bestimmt hatte sie noch nie im Leben eine Sünde begangen.

Wäre er ein anständiger Mann gewesen, hätte er seinen Plan fallen lassen. Aber nachdem er sich aus der Gosse herausgekämpft hatte, in die er hineingestoßen worden war, war Mick Trewlove weder anständig noch jemand, der einfach aufgab, nur weil er ein paar Bestandteile seines Plans falsch eingeschätzt hatte. Er war bekannt dafür, ein sturer Hund zu sein. Die Sturheit hatte ihm Wohlstand und den Ruf eingebracht, rücksichtslos zu sein, wenn er etwas unbedingt haben wollte.

Gegenwärtig wollte er, dass man seinen Platz in der Welt anerkannte. Ohne diese Anerkennung war er einfach nur ein Schurke, aber mit ihr würde er zu einem der mächtigsten Männer in Großbritannien werden. Türen würden sich öffnen, die man ihm einst vor der Nase zugeschlagen hatte. Die Leute, die ihn vorher gemieden hatten, würden ihn dann mit offenen Armen empfangen.

Er war in seinen Planungen schon viel zu weit fortgeschritten, um sie jetzt einfach aufzugeben. Er war auf der Karriereleiter so weit nach oben gestiegen, wie es ihm möglich war. Um die höheren Sprossen zu erreichen, mussten andere hinunterstürzen – tief und aufsehenerregend, so wie die Funken eines Feuerwerks auf ihrem Weg nach unten erloschen. Er würde das bekommen, was ihm zustand. Und Gnade Gott all denen, die ihm dabei im Weg standen!

Aslyn merkte, dass Mick Trewloves Blick auf ihr ruhte. Das Seltsame daran war: Sie verspürte ein Prickeln am ganzen Körper, als berührte er sie mit den Händen und nicht nur mit seinen Blicken. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so auf einen Mann reagiert zu haben. Sie wollte sich gleichzeitig an ihn schmiegen und vor ihm fliehen. Es war ihr fast unmöglich, sich auf das wunderschöne Feuerwerk am Himmel zu konzentrieren.

Und sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil ihre Reaktion auf Kip, wenn er in ihrer Nähe war, im Vergleich dazu verblasste. Sie sagte sich, dass es daran lag, dass ihr der Freund aus der Kindheit so vertraut war. Sie kannte ihn schon fast ihr ganzes Leben, lebte bei seinen Eltern, nahm oft mit ihm zusammen die Mahlzeiten ein, ging mit ihm auf Bälle, und ihre Beziehung war so eng, dass man ihr erlaubte, auf eine Anstandsdame zu verzichten, wenn er sie begleitete, da man wusste, er würde die Situation nicht ausnutzen.

Sie vermutete, dass nicht einmal die strengste Anstandsdame Mick Trewlove davon abhalten konnte, wenn er einer Frau unschickliche Avancen machen wollte. Ohne Zweifel verstand er sich darauf, sie von der Matrone unbemerkt heimlich zu berühren oder einem willigen Mädchen einen Kuss zu rauben. Zu ihrem Entsetzen stellte sie fest, dass sie nichts dagegen haben würde, so ein Mädchen zu sein.

Großer Gott! Seit wann war sie so besessen von der Vorstellung, geküsst zu werden? Seit wann sehnte sie sich so danach, die Lippen eines Mannes auf ihren zu spüren und die Geheimnisse der Leidenschaft zu erfahren, die ihr bislang noch unbekannt waren? Sie war eine Dame, und Damen benahmen sich anständig. Sie ließen es nicht nur zu, dass sie in kompromittierenden Situationen erwischt wurden – nein, sie gerieten gar nicht erst in solche Situationen. Sie verursachten keinen Skandal und standen auch nicht im Mittelpunkt eines Skandals, der von jemand anderem verursacht wurde. Ganz sicher dachten sie nicht daran, einen Handschuh auszuziehen und mit bloßen Fingern den Bart eines Mannes zu berühren. Die Duchess wäre entsetzt gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass alle ihre Warnungen, wie leicht ein Mann die Grenzen des Anstands überschreiten konnte, bei ihrem Mündel weit in den Hintergrund des Bewusstseins geraten waren, wo sie nur wirkungslos an Aslyns Gewissen appellieren konnten.

Nun ja, nicht ganz wirkungslos. Sie sollte solche Gedanken nicht in Bezug auf Mick Trewlove haben, wenn überhaupt, dann in Bezug auf Kip. Sie sollte sich danach sehnen, dass er die strengen Regeln der Gesellschaft brach und sie küsste. Es war vollkommen unsittlich, sich so des Fremden hinter ihr bewusst zu sein. Seit ihrem Debüt war sie vielen jungen heiratsfähigen Männern vorgestellt worden, aber keiner hatte ihr Interesse geweckt. Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit hatte immer nur Kip gestanden – bis jetzt. Und das war ziemlich beunruhigend.

„Das Feuerwerk ist einfach fantastisch“, flüsterte Miss Trewlove seufzend, als befürchtete sie, das Vergnügen der anderen an diesem Spektakel zu stören, wenn sie zu laut sprach. „Haben Sie so etwas schon öfter gesehen?“

„Ich bin zum ersten Mal in den Gärten.“

„Ihr Bruder scheint genauso schwierig zu sein wie meiner.“

Aslyn runzelte die Stirn. „Mein Bruder?“

Miss Trewlove warf einen vielsagenden Blick über ihre Schulter.

„Kipwick?“ Aslyn lachte überrascht auf. „Er ist nicht mein Bruder.“

Miss Trewlove blinzelte. „Aber Sie haben keine Anstandsdame dabei“, sagte sie ungläubig, als witterte sie einen Skandal.

„Ich bin das Mündel seiner Eltern. Er ist fast wie ein Bruder für mich.“ Noch während sie es aussprach, kam es ihr falsch vor, so über ihren zukünftigen Ehemann zu reden, fast als wäre er ein Neutrum für sie. „Ich meine, er ist natürlich mehr als das, aber er würde die Situation nie ausnutzen.“

„Mick meint, alle Männer tun das.“

„Kip nicht.“

„Sie Glückliche! Mein Bruder würde mich nie mit einem Mann ausgehen lassen, mit dem ich nicht verwandt bin. Aber wenn es nach Mick ginge, dürfte ich nie mit einem Mann ausgehen.“

„Wie viele Brüder haben Sie?“

„Vier. Und eine Schwester, die älter ist als ich und viel mehr Freiheiten zugestanden bekommt.“

Aslyn nickte diskret nach hinten. „Ist er der Älteste?“

Miss Trewlove nickte und verdrehte die Augen. „Und der Herrischste.“

Ja, das konnte sie sich gut vorstellen. Sie war die Gesellschaft von selbstbewussten Männern gewohnt, aber keiner von ihnen strahlte eine solche Selbstsicherheit aus, dass jede andere Charaktereigenschaft davon überlagert wurde. Mick Trewlove jedoch schon. Sie ging förmlich in Wellen von ihm aus, die alles um ihn herum umfassten – einschließlich ihrer selbst. Aslyn wollte davon erfasst, mitgerissen und verführt werden. All diese zügellosen Gedanken brachten ihr eine ganz neue Erkenntnis. Eine Frau hatte Bedürfnisse – sie hatte Bedürfnisse, die über einen höflichen Tanz und sittsame Spaziergänge im Park hinausgingen. Sie wollte Hände und Lippen dort spüren, wo sie nicht hingehörten; wollte die Selbstbeherrschung verlieren, ihre moralischen Bedenken …

Plötzlich merkte sie, dass die Leute um sie herum zu applaudieren begannen und sich langsam zerstreuten, das Feuerwerk war zu Ende. Ein seltsamer Geruch nach Rauch und noch etwas anderem hing in der Luft; vermutlich nach dem, was die Explosionen ausgelöst hatte. Sie atmete tief ein und fragte sich, ob auch explodierende Leidenschaft ihren ganz eigenen Duft hatte.

„Nun, wir sollten jetzt gehen“, sagte Kip. „Ich habe Mutter versprochen, dich vor zehn Uhr nach Hause zu bringen.“

„Aber bestimmt sind noch nicht alle Vergnügungen hier zu Ende?“

„Die, die du dir ansehen darfst, schon.“

Wären die Trewloves nicht gewesen, hätte sie vielleicht widersprochen, aber eine anständige Dame machte in der Öffentlichkeit keine Szene. Außerdem löste Mick Trewloves Anwesenheit einen Aufruhr in ihrer Fantasie aus, und wenn sie nicht aufpasste, brachte sie sich womöglich noch in Verlegenheit. „Es war reizend, Sie kennengelernt zu haben, Miss Trewlove.“

Die junge Frau lächelte. „Es war mir eine Ehre, das Feuerwerk mit Ihnen zusammen erleben zu dürfen.“ Sie knickste. „Mylord.“

„Miss Trewlove.“

Aslyn wandte sich Miss Trewloves Bruder zu und versuchte, sich nicht vorzustellen, welche Explosionen, kleine und große, er in einer Frau auslösen konnte. „Mr. Trewlove.“

Er hob ihre Hand an seine Lippen und sah ihr dabei unverwandt in die Augen. Durch den Handschuh hindurch spürte sie die Wärme und Stärke seiner Finger, seine heißen Lippen. „Lady Aslyn, vielen Dank, dass Sie so freundlich zu meiner Schwester waren.“

Sie konnte nur wortlos nicken und ihm ihre Hand entziehen. Was war nur mit ihr los? Während der Saison hatten schon viele Männer ihre behandschuhte Hand genommen und sogar geküsst, aber noch nie hatte sie dabei die Sprache verloren. Wie in Trance merkte sie, dass Kip ihren Arm nahm und sie wegführte.

Sich nicht noch einmal für einen letzten Blick auf Mick Trewlove umzudrehen, fiel ihr über alle Maßen schwer. Sie wusste nicht, warum die Tatsache, dass sie ihn nie wiedersehen würde, ihr das Herz so schwer machte, als hätte sie einen Verlust erlitten.

Während seine Kutsche durch die Straßen fuhr, starrte Mick aus dem Fenster und versuchte, sich auf sein bevorstehendes Treffen mit Kipwick zu konzentrieren und darauf, wie er am besten einen Vorteil aus dieser Begegnung ziehen konnte, doch seine Gedanken schweiften immer wieder zu Lady Aslyn ab – und zu seinen Plänen mit ihr. Diese erforderten etwas mehr Fingerspitzengefühl, denn sie würde sich wahrscheinlich nicht auf ein Rendezvous mit einem Schurken einlassen. Es würde etwas schwierig werden, dafür zu sorgen, dass sich ihre Wege immer wieder kreuzten, damit er sie irgendwann in seine Arme schließen konnte. Zu den gesellschaftlichen Anlässen, an denen sie teilnahm, wurde er nicht eingeladen. Wenigstens jetzt noch nicht, aber in naher Zukunft …

„Ich nehme an, du möchtest nicht, dass Mum den wahren Grund erfährt, warum du mich heute in die Gärten mitgenommen hast“, sagte Fancy, und ihr Tonfall warnte ihn, dass er für ihr Schweigen würde teuer bezahlen müssen. Er mochte sie immer noch für ein unschuldiges Kind halten, aber sie war schon immer viel zu raffiniert gewesen. Wenn er geschunden und geschlagen nach Hause gekommen war, hatte ihn zwar seine Schwester Gillie wieder zusammengeflickt, aber es war Fancy gewesen, die sich vor ihn gekauert und alles interessiert mitverfolgt hatte. Und hinterher hatte sie dann erklärt, sie brauche unbedingt Süßigkeiten, damit ihr Mund beschäftigt war und ihrer Mum nicht verraten konnte, was sie gesehen hatte.

Sie hatte großes Glück, dass er sie so sehr liebte. „Was verlangst du dafür?“, grollte er. Die meisten Männer wichen einen Schritt zurück, wenn er diesen Ton anschlug, aber sie lächelte nur.

„Eine Buchhandlung.“

Er runzelte die Stirn. „Du willst dir ein Buch kaufen?“

„Nein. Ich möchte eine Buchhandlung besitzen.“

Sein Lachen hallte durch das Gefährt. „Sei nicht albern. Noch innerhalb dieses Jahres wirst du verheiratet sein.“

„Noch vor Kurzem hast du behauptet, ich würde nie heiraten.“

„Nun ja, ich habe mich falsch ausgedrückt. Die Wahrheit ist, Fancy, dass es mein Ziel ist, dich gut verheiratet zu sehen. Ehrlich gesagt ist das der Wunsch aller.“

„Und der heutige Abend war ein Teil deines Ziels?“

Ein entscheidender Teil sogar. „Zerbrich dir nicht dein hübsches kleines Köpfchen darüber.“

„Bis ich irgendwann heirate, könnte ich doch eine Buchhandlung haben.“

„Fancy …“

„Du baust doch alle diese Häuser. Warum gibst du mir also keinen Laden? Du hast doch auch Gillie geholfen, ihre Schenke zu erwerben.“

„Bei Gillie ist das etwas anderes.“

„Warum? Weil du glaubst, kein Mann will sie haben?“

„Weil ich glaube, dass sie keinen Mann haben will. Sie ist viel zu selbstständig, ist es immer schon gewesen.“

„Ich möchte auch selbstständig sein.“

„Das wirst du auch. Du wirst eben verheiratet und selbstständig sein.“ Er sah aus dem Fenster. „Wir sind zu Hause. Lassen wir es dabei bewenden.“

Als die Kutsche vor dem heruntergekommenen Haus in einem der berüchtigtsten Viertel Londons anhielt, bedauerte Mick einmal mehr, dass seine Mutter sich weigerte, sein Angebot anzunehmen und in eine etwas luxuriösere Unterkunft umzuziehen. Er nahm an, dass ihre Weigerung auf zwei Gründen beruhte. Zum einen glaubte sie, nichts Besseres verdient zu haben als das Elend, das sie umgab; zum anderen hatte sie die irrationale Befürchtung, derjenige, der nach ihr in das Haus zog, könnte sich der Gartenarbeit widmen und dabei die dunklen Geheimnisse entdecken, die hinter dem Haus vergraben waren.

Mick war acht gewesen, als er daraufgestoßen war. Er hatte keinen neuen Strauch oder Busch pflanzen wollen, sondern nach verborgenen Schätzen gegraben. Was er gefunden hatte, war die Wahrheit über seine Vergangenheit gewesen.

Ehe sein Lakai die Kutschentür öffnen konnte, übernahm er das selbst, stieg aus und half dann seiner Schwester. Erst vor Kurzem war sie aus dem Internat zurückgekehrt, um hier zu wohnen. Er hatte ihr angeboten, für sie eine Wohnung oder ein Stadthaus in einem schöneren Viertel zu suchen, aber ihr hatte die Vorstellung nicht gefallen, dass ihre Mum allein lebte. Er hoffte sehr, Fancy konnte Ettie Trewlove mit der Zeit davon überzeugen, dass es im Interesse aller war, wenn sie ihre Sünden endlich hinter sich ließ.

Er klopfte gar nicht erst an, sondern öffnete einfach die Tür und überließ Fancy den Vortritt in die Wärme des Hauses. Obwohl es ihm von außen wirklich nicht anzusehen war, wirkte es von innen sehr einladend. Mick und seine Brüder hatten sich darum gekümmert, es völlig entkernt und so renoviert, dass ihre Ziehmutter allen Komfort genoss, auf den sie, wie sie fanden, einen Anspruch hatte. Der Vermieter hatte nichts dagegen gehabt, im Gegenteil. Als Mick ihn darauf angesprochen hatte, war er nur zu gern bereit gewesen, Mick seine ganzen anderen Häuser in der Gegend zu einem bescheidenen Preis zu überlassen. Irgendwann wollte Mick sie alle abreißen und neu bauen, aber dabei kamen dann unweigerlich die Skelettüberreste zum Vorschein, also ließ er sich Zeit.

Seine Ziehmutter lächelte ihnen entgegen und erhob sich aus dem orangegelben Brokatsessel am wärmenden Feuer. Seit Mick jeden Tag Kohle liefern ließ, musste sie sich nicht mehr darüber beklagen, dass ihr kalt war. Er wollte auch gern ein Mädchen für alles einstellen, das ihr zur Hand ging, aber das ließen wieder einmal ihre Ängste nicht zu. Er ertrug es nicht, wenn ihr die Tränen in die Augen stiegen – was jedes Mal der Fall war, wenn er eine Veränderung in ihrem Leben vorschlug.

Sie schlurfte in die kleine Küche. „Ich setze eben den Kessel auf.“ Wie immer bot sie ihnen Tee an.

„Für mich nicht“, sagte er sanft. „Ich gehe gleich wieder.“

Sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu. „Warum so eilig? Du warst in letzter Zeit nicht sehr oft hier.“

„Ich hatte viel zu tun.“

„Ein paar Minuten kannst du dir aber doch bestimmt Zeit nehmen.“

„Das kann er“, meinte Fancy und hängte ihr Schultertuch auf, ehe sie sich daranmachte, den Tee vorzubereiten. „Während ich das hier übernehme, überrede du ihn bitte, dass ich eine Buchhandlung haben sollte.“

Wenn sich die weiblichen Mitglieder seiner Familie gegen ihn zusammentaten, hatte er bereits verloren.

Seine Mutter setzte sich wieder in den Sessel und stellte die Füße auf die kleine Fußbank davor. „Sie hat Bücher von jeher geliebt. Das Leben wäre für euch alle sicher angenehmer gewesen, wenn ich besser lesen könnte, aber ich hatte schon immer Mühe, in den Buchstaben einen Sinn zu finden.“

Er nahm in dem Sessel gegenüber Platz und streckte die Beine aus. „Du hast gut für uns gesorgt.“

„Du musstest so hart arbeiten.“

„Die Arbeit macht mir Vergnügen.“

„Dieses Vergnügen würde ich auch gern kennenlernen“, rief Fancy aus der Küche. „Die Befriedigung, etwas geschafft zu haben.“

„Ich habe nicht ohne Grund dafür bezahlt, dass du auf eine anständige Schule gehen konntest – damit du den nötigen Schliff erhältst, um eine gute Partie machen zu können.“

„Warum kann ich nicht heiraten und eine Buchhandlung haben?“

„Das ist ein Argument“, stellte seine Mutter fest.

„Sie wird eine vornehme Dame und viel zu beschäftigt sein, um in einem Laden zu versauern.“

„Und wie soll sie den passenden vornehmen Gentleman kennenlernen?“

„Ich arbeite daran.“

Die Frau, die ihn großgezogen hatte, betrachtete ihn nachdenklich. Ihr früher schwarzes Haar war inzwischen fast vollständig grau geworden, und sie schwor, sie könne genau sagen, welcher ihrer Söhne für welche graue Strähne verantwortlich war. Mick befürchtete, dass die meisten auf ihn zurückzuführen waren. „Ich mache mir Sorgen um Gillie“, sagte sie leise und wechselte zu dem Thema, das ihr immer wieder einmal auf dem Herzen lag.

„Sie kann selbst auf sich aufpassen.“ Seine andere Schwester war über alle Maßen in sich gefestigt und unabhängig, das war sie schon als Kind gewesen. Vielleicht hätte er sie damals besser behüten sollen, aber zu der Zeit hatten sie alle einfach nur versucht, zu überleben.

„Aber eine Schenke zu führen …“ Sie verstummte, als wäre sie sich selbst nicht ganz sicher, was sie davon halten sollte.

Gillie führte sie nicht nur, sie war die Eigentümerin. Darum hatte Mick sich gekümmert. Keine seiner Schwestern sollte so unter der Fuchtel eines Mannes stehen wie einst ihre Mutter, dafür wollte er sorgen, um jeden Preis. „Ich gehe nachher bei ihr vorbei und sehe nach ihr.“

Die Erleichterung war ihr deutlich anzusehen. „Ich danke dir.“

„Und damit mache ich mich jetzt wohl auf den Weg.“ Er stand auf.

„Oh nein, das machst du nicht.“ Fancy erschien mit einem Tablett. „Ich habe gerade erst Tee für dich zubereitet.“

Er legte einen Finger unter ihr Kinn, hob ihr Gesicht an und zwinkerte ihr zu. „Warum sollte ich mich mit Tee zufriedengeben, wenn ich bei Gil Whisky bekomme?“ Er ging zu seiner Mutter, beugte sich über sie und küsste sie auf die Stirn. „Mach dir nicht zu viele Sorgen. Ich habe alles gut im Griff. Lass dir von Fancy vom Feuerwerk erzählen.“

Sie strich ihm liebevoll über die Wange. „Du warst von Anfang an ein Segen für mich.“

„Genau wie du für mich.“ Auf dem Weg zur Tür schob er die Hand in seine Jackentasche und befühlte den verblichenen und fadenscheinigen Stofffetzen mit dem Hedley-Wappen darauf; das Einzige, was noch von der Decke, in die er gewickelt gewesen war, als der Duke ihn dieser Frau übergeben hatte, übrig geblieben war.

3. KAPITEL

Aslyn streckte sich wohlig unter der warmen Bettdecke und beschloss, ihre Gereiztheit wegen Kip abzuschütteln. Es war nicht fair. Keine Viertelstunde, nachdem sie letzte Nacht von ihm zu Hause abgeliefert worden war, hatte er sie auf die Stirn geküsst, sich entschuldigt und war wieder gegangen – ganz sicher, um allen möglichen Lastern zu frönen. Glücksspiel, Trinken, möglicherweise auch Frauen. Während alle erwarteten, dass sie bald heirateten, hatte er ihr noch keinen Antrag gemacht, daher sollte sie sich wahrscheinlich nicht über seine Tändeleien ärgern.

Autor

Lorraine Heath
Lorraine Heath wurde in England geboren, zog jedoch als Kind mit ihren Eltern in die USA. Geblieben ist ihr eine tiefe Zuneigung zu beiden Ländern. Die Charaktere in ihren erfolgreichen Romanen werden oft als besonders lebensnah bezeichnet, was die New York Times-Bestseller-Autorin auf ihre im Psychologiestudium erworbenen Kenntnisse zurückführt. Lorraine...
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