Lady Lavinia – unterwegs in gefährlicher Mission

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London, 1871. Lady Lavinia ist in gefährlicher Mission unterwegs: Sie will einer lieblosen Pflegemutter ein Findelkind abkaufen, um es in ein Kloster zu bringen. Schon viele Kinder hat sie so vor einem grausamen Schicksal bewahrt. Doch diesmal gerät die schöne Adlige, obwohl kundig mit dem Degen, in einen Hinterhalt. Aus dem sie von Finn Trewlove, Bastardsohn eines Earls, gerettet wird! Groß, verwegen und gutaussehend, hat Finn ihr damals, als sie blutjung war, Herz und Unschuld geraubt. Aber warum ist er hier? Hat er sie nie aus den Augen gelassen? Und wie kann er es nur wagen, ihr einen ungeheuer schockierenden Vorschlag zu machen?


  • Erscheinungstag 21.08.2020
  • Bandnummer 124
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748678
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Prolog

Sie hatte überlebt.

Nachdem sie stundenlang vor schier unerträglichen Schmerzen geschrien hatte und nun schwer atmend und schweißgebadet dalag, überraschte diese Erkenntnis sie ein wenig. Die Hebamme hatte sie gewarnt, dass ihr Becken zu schmal für das Kommende sei, und sie mit der düsteren Aussicht erschreckt, sie könnte ihr Leben lassen. Doch all die quälenden Ängste, die Strapazen und jeder Zweifel verblassten, je lauter der entrüstete Schrei wurde, das durchdringende Weinen, das das Schlafzimmer erfüllte. Es zeugte davon, dass das Kind gesund und wohlauf war. Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen, als unverhofft Freude ihr Herz überlaufen ließ und jede Faser ihres Wesens ergriff. Wie konnte ein so kleines Geschöpf derart gewaltige Gefühle auslösen?

„Ist es ein Junge?“, wollte sie wissen. Man ließ sie nicht einen einzigen Blick auf das Kind werfen, sondern reichte es, nachdem die Hebamme es rasch in eine gestärkte weiße Leinenwindel gewickelt hatte, sogleich ihrer Mutter. In schwarze Trauerkleidung gewandet, das Gesicht zur Maske erstarrt, glich ihre Mutter einem garstigen Ghul, als sie das Kind steif und ohne jede Regung entgegennahm.

„Mutter.“ Flehend streckte sie die Arme aus und bewegte die Finger wie ein Bettler, der um Münzen heischt. „Bringen Sie es mir. Lassen Sie mich selbst sehen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist.“

Ohne auch nur in ihre Richtung zu schauen, wandte sich die Frau, die sie selbst zur Welt gebracht hatte, hastig ab – ihre Absätze klackerten resolut und verstörend, während sie zielstrebig auf die geschlossene Tür zustrebte.

Das Grauen, das sie befiel, drohte ihre Welt zusammenbrechen zu lassen. Trotz ihrer Entkräftung wollte sie sich aufsetzen und aus dem Bett steigen, doch starke Hände, viel zu viele Hände, packten sie und hielten sie so unnachgiebig fest wie Eisen den Gefangenen. „Mutter, nein! Bitte nehmen Sie mir nicht das Kind weg! Bitte. Ich werde auch folgsam sein und nie wieder sündigen. Bitte! Ich flehe Sie an! Tun Sie das nicht!“

Eine junge Bedienstete öffnete gehorsam die Tür.

Tränen brannten ihr in den Augen und strömten über ihre Wangen. „Nein! Haben Sie Mitleid! Lassen Sie es mich wenigstens einmal …“

In den Armen halten. Die Worte erstarben ihr auf den Lippen, als ihre Mutter wie ein Racheengel eine Spur der Verwüstung hinterlassend durch die Tür rauschte und im dunklen Korridor verschwand, mitsamt dem kostbaren Bündel. Die Tür fiel mit einem unheilvollen Klicken zu, das auf ewig in ihrer Seele nachhallen würde. Mit letzter Kraft versuchte sie sich noch freizukämpfen, um ihrer Mutter nachzueilen und sie daran zu hindern, das Undenkbare zu tun – das Kind jemandem zu geben, der es unmöglich so innig lieben konnte, wie sie es tat. Doch die zurückliegenden Stunden hatten ihr einiges abverlangt, und sie war zutiefst erschöpft und geschwächt.

„Na, na, meine Liebe“, sagte ein Dienstmädchen begütigend. „Beruhigen Sie sich. Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.“

Herzzerreißend schluchzend sank sie verzweifelt auf die Matratze nieder, während das, was von ihrem jungen empfindsamen Herzen übrig geblieben war, in winzige Splitter zerbarst, die sich nie wieder zusammenfügen würden.

1. KAPITEL

Whitechapel

Anfang November 1871

Schaudernd zog sich Lady Lavinia Kent die Kapuze ihrer Pelisse über den Kopf. Die mitternächtliche Luft hatte erstmals etwas Frostiges an sich, und Lavinia war sich nicht sicher, ob dies dem Übergang des Herbstes in den Winter zu schulden war. Vermutlich lag es an der Gefahr, die ihr drohte. Sie war eine Frau mit einer Mission, schon seit August, als sie ihr luxuriöses aristokratisches Leben aufgegeben hatte, um sich etwas Erfüllenderes zu suchen als das Dasein, das ihr in die Wiege gelegt worden war, ohne sie oder ihre Wünsche zu berücksichtigen.

Obwohl ihre derzeitige Mission Gefahren barg, die unerkannt in schattigen Winkeln lauerten, verspürte sie keinerlei Angst. Was sie anspornte, war eine Berufung, die vor einem Jahrzehnt dank eines Jungen begonnen hatte, der an der Schwelle zum Mannesalter gestanden hatte. Sie hatte ihn kennengelernt, als sie selbst gerade erst zur Frau herangereift war.

Es hatte sich um den Bastard eines ihr unbekannten Lords gehandelt, der trotz seiner adeligen – wenn auch befleckten – Herkunft in jeder Hinsicht als ihrer nicht würdig angesehen worden war. Er wusste, wer sein Vater war, hatte ihr dies jedoch nie verraten. Noch heute erinnerte sie sich an die Traurigkeit in seiner Stimme, als er ihr gestanden hatte, dass er nicht das Geringste über die Frau wisse, die ihn geboren habe. Er habe keinerlei Erinnerung an sie, weil er ihr gleich nach der Geburt genommen worden und einer Pflegemutter übergeben worden sei. Seine Geschichten über seine Erfahrungen hatten sie mit einer Welt in Berührung gebracht, von der sie bis dahin nichts gewusst hatte, einer Welt, durch die sie sich nun bewegte. Sie schloss die unbehandschuhten Finger fester um den kalten geschnitzten Wolfskopf an dem Gehstock, der auf diesen nächtlichen Ausflügen ihr ständiger Begleiter war und ihr Mut machte. Durch besagten Jungen hatte sie die Wahrheit über Pflegemütter erfahren, die Profit aus der Aufnahme von Kindern schlugen, und welche Gräuel oftmals damit einhergingen. Sie hatte erfahren, dass die Frauen, gemeinhin Witwen, ihre Dienste per Annonce anboten. Seit Kurzem war sie dazu übergegangen, gezielt nach solchen Annoncen zu suchen, der betreffenden Frau zu schreiben, sich mit ihr zu treffen und ihr Geld anzubieten. Nicht etwa, damit sie ein Kind aufnähme, wie Lavinia zuvor in ihrem Brief angedeutet hatte, sondern um sie dazu zu bewegen, ihre derzeitigen Schützlinge in Lavinias Obhut zu geben. Mit dem Segen der Barmherzigen Schwestern, die sie aufgenommen hatten, brachte sie die Kinder in deren Findelhaus. Sie bedauerte, nicht die Mittel zu haben, um ein eigenes Heim gründen zu können, denn das Findelhaus würde bald voll sein – und was dann?

Die Frauen, zu denen sie Kontakt aufnahm, bestanden darauf, sich nachts mit ihr zu treffen, in den finstersten Gassen und Hinterhöfen, zu später Stunde, wenn die Straßen bedrohlich wirkten und nichts zu hören war, bis auf das Trappeln und Piepsen der Ratten, dann und wann ein von zu viel Bier verwaschenes Lied, gelegentlich ein grunzender Laut und manchmal ein schriller Schrei. Und ständig, immerzu, war da das Gefühl, beobachtet zu werden.

Prompt stellten sich ihr die feinen Nackenhärchen auf. Sie verharrte jäh und horchte. Den Wolfskopf umklammernd, hob sie blitzschnell den Stock, packte mit der anderen Hand das untere Ende und zog den Degen halb aus der geschickt getarnten Scheide, während sie herumwirbelte und mit wachsamem Blick die Umgebung absuchte. Niemand war zu sehen, bis auf einen Bettler, wie sie vermutete, der zusammengerollt in einem Hauseingang auf der anderen Straßenseite lag. Sie erspähte ihn erst jetzt, weil er aus der Richtung, aus der sie gekommen war, in seiner Nische nicht zu erkennen gewesen war. Erst von hier aus konnte sie ihn sehen – und das auch mehr schlecht als recht. Sie wartete, beobachtete, lauschte und hörte ihn gelegentlich rasselnd schnarchen. Nachdem sie ihn für harmlos befunden hatte, schob sie den Degen zurück in die Scheide und setzte ihren Weg fort.

Sie war überglücklich gewesen, als sie die Waffe in einem Pfandhaus entdeckt hatte, und erleichtert darüber, dass der Pfandleiher als Bezahlung die Ohrgehänge akzeptierte, die sie an dem Tag getragen hatte, an dem sie hätte heiraten sollen. Mit neunzehn hatte sie Fechten gelernt, hatte die Herausforderung geliebt, und sie focht inzwischen recht versiert. Ihr Bruder hatte sie nur ein einziges Mal herausgefordert. Da er ein schlechter Verlierer war, hatte er es nicht gut aufgenommen, besiegt zu werden, wenngleich er ihr überrascht zugestanden hatte, dass sie den Sport meisterlich beherrsche. Für sie indes war es stets mehr als ein Sport gewesen. Für sie war es ein Weg gewesen, zu überleben und bei Verstand zu bleiben in einem Umfeld, das einen leicht um den Verstand brachte.

Sie schüttelte die unschönen Gedanken ab. Was zählte, war die Zukunft. Einen Schritt nach dem anderen zu machen. Zu vergessen, was sich nicht vergessen ließ. Also konzentrierte sie sich auf die Gegenwart und ihre Umgebung und hielt sich vor Augen, dass sie wachsam bleiben musste, wenn sie bei der anstehenden Begegnung Erfolg haben wollte.

Für gewöhnlich waren auf den Straßen Menschen unterwegs, die den Abend über in Pub oder Schenke gezecht hatten, aber das heutige Treffen war später als üblich angesetzt und sollte in einer Gegend stattfinden, die verlassener war, als es Lavinia behagte. Doch nichts konnte sie von ihrem Ziel abbringen. Es war alles, was sie noch hatte, alles, was sie wollte. Es gab ihr Auftrieb und Kraft sowie einen Grund, sich morgens aus dem Bett zu quälen.

Sie näherte sich der Kreuzung, die in dem Schreiben erwähnt wurde, in dem ihr Zeitpunkt und Ort des Treffens mitgeteilt worden waren. Die Kreuzung überqueren, rief sie sich ins Gedächtnis, eine ungute Ahnung unterdrückend. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit darauf, sich genauestens an die Anweisungen zu halten, die in kaum leserlichem Gekrakel niedergeschrieben worden waren. Danach in die erste Gasse links einbiegen und diese bis zur Mitte gehen …

Sie verharrte da, wo das Licht der Straßenlaterne endete. Weiterzugehen würde bedeuten, in undurchdringliche Schwärze einzutauchen. Ihr Mut und ihre Verwegenheit hatten Grenzen.

Möglichst verstohlen schaute sie sich in der engen Gasse um, eingezwängt zwischen Backsteingebäuden, deren Fenster dunkel und deren Räume vermutlich unbewohnt waren. Es war durchaus üblich, dass die Treffen in heruntergekommenen Gegenden stattfanden, in denen die Abwicklung ohne Zeugen erfolgen konnte. Für den Fall, dass sie beobachtet wurde, riss sie sich zusammen, um nicht zu zeigen, dass ihr mit einem Mal Bedenken wegen des Arrangements kamen.

Sie achtete darauf, ruhig zu atmen, obwohl ihre Handflächen feucht wurden und sie das laute Pochen ihres eigenen Herzschlags vernahm. Mehr als einmal hatten die Schwestern ihr davon abgeraten, allein auszugehen, aber sie konnte ihr Anliegen nicht umsetzen, wenn sie sich wie ein verschüchtertes Kind versteckte. Sie hatte in den vergangenen acht Jahren viel zu viel Zeit in Abgeschiedenheit verbracht und ihre wahren Wünsche und Sehnsüchte nicht nur vor sich selbst, sondern auch vor anderen verheimlicht. Sie hatte es satt, hatte die Vergangenheit hinter sich gelassen. Nun fing sie neu an, fest entschlossen, ein Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu führen.

Aus ebendiesem Grunde hatte sie vor fast drei Monaten einen anständigen Mann vor dem Altar in St. George’s stehen lassen. Für den Duke of Thornley hatte es sich durchaus bezahlt gemacht, dass sie ihn verschmäht hatte, denn jüngst hatte er eine Frau geehelicht, die er von Herzen liebte. Als Lavinia ihn das letzte Mal getroffen hatte – heimlich und um ihn um Verzeihung zu bitten –, war er über Gillian Trewlove regelrecht ins Schwärmen geraten. In seiner Stimme hatte die tiefe Hingabe eines Mannes gelegen, der einer Frau mit Haut und Haar verfallen ist. Es hatte Lavinia nicht verwundert, kurz darauf von der Vermählung der beiden zu erfahren. Mit Gillian Trewlove hatte er es besser getroffen als mit einer Frau, die er nicht lieben konnte, die er mit der Zeit gar verachtet hätte, wenn ihm erst die Wahrheit über sie zu Ohren gekommen wäre. Für ihre Fehler und Schwächen in der Vergangenheit verachtete sie sich oft genug selbst.

Sie hörte ein Scharren, dann Schritte. Als sie herumwirbelte, sah sie sich einer großen, korpulenten Frau gegenüber. Sie hatte sich ihren Hut, der dem eines Bauern ähnelte, tief in die Stirn gezogen, sodass er einen Gutteil ihres Gesichts überschattete. Das Trappeln weiterer Schritte ertönte, und noch zwei Frauen erschienen in der Gasse, die eine so dünn wie ein Zündholz, die andere baumlang. Mit nichts als dem undurchsichtigen Dunkel im Rücken fühlte Lavinia sich von den dreien bedrängt. Verabredet war sie mit nur einer Frau.

„Ich bin hier, um mich mit D. B. zu treffen.“ Sie war recht zufrieden mit sich, weil es ihr gelungen war, ruhig und fest zu sprechen.

„Letzte Woche haben Sie sich mit Mags getroffen. Gleich morgens is’ sie eingelocht worden. Wird wohl als Engelmacherin baumeln“, meinte die Korpulente.

Das musste bedeuten, dass die Obrigkeit sie bereits des Mordes an mindestens einem der ihr anvertrauten Kinder überführt hatte.

„Ich kenne keine Mags.“ Ihr waren nur die Initialen der Frauen bekannt. Ob Mags die M. K. war, die ihr vergangene Woche gegen fünf Pfund drei kleine Kinder übergeben hatte? Die meisten Pflegemütter, die kommerziell arbeiteten, erhielten einen einmaligen Pauschalbetrag, wenn der uneheliche Nachwuchs von einem Elternteil oder jemandem abgeliefert wurde, der der Mutter nahestand und ihr die Schande ersparen wollte. Oh, einige wenige zahlten wöchentlich – diejenigen, denen das Wohl des Kindes am Herzen lag. Aber viele entrichteten lieber eine einmalige höhere Summe und verschwanden in der Erwartung – und vor allem in der Hoffnung –, nie wieder von dem Kind zu hören. In Ermangelung weiterer Zahlungen wurden diese Kinder häufig vernachlässigt. Irgendwann starben sie und wurden sang- und klanglos in einem anonymen Grab verscharrt, sodass niemand von der schändlichen Tat der Pflegemutter erfuhr. Für viele sah ein Säugling wie der andere aus. Wer hatte schon den Überblick, wie viele Kinder in einem Haushalt lebten, vor allem, wenn das verschwundene Kind rasch durch ein neues ersetzt wurde? „Ich habe sie gewiss nicht angezeigt. Mir geht es allein um die Kinder und deren Wohl.“

„Behaupten Sie.“

„Ich bin kein Mensch, der lügt. Spreche ich mit D. B.?“

„Selbst kurze Wörter klingen aus Ihrem Mund piekfein. Wird Sie aber auch nicht retten. Wir können’s uns nicht leisten, dass Sie uns das Geschäft kaputt machen.“

Geschäft. Ihr drehte sich der Magen um bei der Bestätigung dafür, dass diese Frauen Kinder als Ware betrachteten, geboren von unbekannten Müttern und verschachert an Frauen wie diese, die die Kinder nicht liebten. „Mir ist gleich, wer Sie sind und was Sie tun.“ Das stimmte nicht ganz. Es war ihr keineswegs gleich; andernfalls wäre sie nicht hier. „Ich möchte bloß die Kinder, und ich bezahle dafür, sie Ihnen abzunehmen.“

„Ihr Geld nehmen wir uns sowieso … nach Ihrem Leben.“

Im Nu hatte Lavinia ihren Degen gezogen und schwang ihn, sodass die Stahlklinge im Licht der fernen Straßenlaterne aufblitzte. „Keinen Schritt näher.“

Die vierschrötige Frau lächelte, wobei sie dunkle Lücken entblößte, wo Zähne hätten sein sollen. „Haben Sie schon mal ’nen Degen geführt, Kleine? Schon mal gespürt, wie er in Haut und Muskeln dringt, immer tiefer, bis zum Knochen? Wissen Sie, wie es ist, wenn das Fleisch vom Stahl zerfetzt wird und reißt und Sie das den ganzen Arm hinauf fühlen?“

„Trauen Sie sich, finden Sie es heraus.“ Lavinia ging in Stellung, die Holzscheide umklammernd, um notfalls eine zusätzliche Waffe zu haben. Sie ließ den Degen durch die Luft sausen, als zeichnete sie ein X, eine einzige fließende Bewegung, und das bedrohliche Zischen der Klinge in der Stille war Musik in ihren Ohren. Sie hatte den Degen noch nie in Fleisch fahren lassen, hätte jedoch keine Hemmungen, diesen widerwärtigen Kreaturen, die von der Verzweiflung anderer lebten, Schmerz zuzufügen. „Aber das werden Sie nicht, habe ich recht? Weil ich weder hilflos noch verletzlich oder verängstigt bin. Weil ich nicht im Mindesten so bin wie die, denen Sie gemeinhin den Tod bringen.“

Die Korpulente schaute ihre Gefährtinnen an, ehe sie unerwartet vorstürmte, während die anderen beiden zurückwichen. Lavinia bezweifelte, dass sie es der Fairness halber taten, sondern vermutete eher Rückgratlosigkeit dahinter. Sie legte es nicht darauf an zu töten, sofern es nicht notwendig war – schließlich war sie keine Barbarin. Daher führte sie einen Aufwärtsstreich aus und zog der Frau die Klinge über das ungeschützte Gesicht, womit sie ihr die Wange aufschlitzte und den Hut vom Kopf fegte. Die Frau, die sich am Elend anderer bereicherte, schwankte kreischend rückwärts, eine Hand auf die Wunde gepresst. Wütend funkelte sie Lavinia an. „Kommt schon, Mädels! Die kriegen wir, wenn wir zusammen auf sie losgehn!“

„Nicht ohne ein paar weitere Blessuren, möchte ich wetten“, ließ sich eine tiefe Stimme aus dem undurchdringlich jenseits des Laternenlichts liegenden Dunkel vernehmen.

Lavinia erstarrte, wagte aber nicht, sich umzudrehen und den Blick von den Frauen abzuwenden.

„Wer ist da?“, fragte die Anführerin und verengte die Augen.

„Das ist unwichtig. Ohnehin sagte mir das Kräfteverhältnis nicht zu, denn ich wage zu behaupten, dass die Dame und ich euch im Handumdrehen erledigen könnten. Sie scheint mir recht kampferprobt zu sein.“

Dass er das Wort „Dame“ betonte, ließ Lavinia aufhorchen. Das war kein Zufall gewesen, sondern eine Anspielung auf ihre Herkunft. Er wusste, dass sie von Stand war. Sein Tonfall sagte ihr zudem, dass er nicht viel davon hielt. Wie hatte er herausgefunden, wer sie war? Gehörte er zu den Männern, die ihr Bruder engagiert hatte, um sie aufzuspüren und zurückzubringen? Seine Stimme kam ihr vage vertraut vor, und dennoch …

„Ganz schön großspurig“, beschied ihm die Vierschrötige.

„Aber gerechtfertigt. Da kannst du jeden fragen, der sich mit mir angelegt hat. Nun denn, ich habe Verwendung für sie, also schert euch fort.“

Die Frau grinste höhnisch. „Nur zu, viel Spaß mit ihr. Aber wenn sie ihre Nase weiterhin in Dinge steckt, die sie nichts angehn, steht sie eines Tages ohne da.“

Bass erstaunt beobachtete Lavinia, wie die Frauen sich zerstreuten, weder anmutig noch leise, im Gegensatz zu dem Mann im Schatten, der sich lautlos näherte und ihr den Degen so geschickt abnahm, wie sie einem unaufmerksamen Kind einen Löffel entwendet hätte.

Sie fuhr herum. „Hören Sie …“ Die Vorhaltungen blieben ihr in der Kehle stecken, die mit einem Mal wie zugeschnürt war, als das ferne Licht enthüllte, was der Schatten verborgen hatte.

Der Mann stand da, als wäre er der Herr der Unterwelt, hart und gnadenlos, finster und bereit, Vergeltung zu üben. Er war so dunkel gewandet, dass er mit der Nacht zu verschmelzen schien. Der Saum seines Mantels umspielte in der leichten Brise seine Waden. Der Wind zauste ihm auch das lange blonde Haar, das ungezähmt herabfiel, da er keinen Hut trug. Einst hatte sie es genossen, sich die Strähnen dieses Haars um die Finger zu wickeln.

Er war hochgewachsen und ragte bedrohlich vor ihr auf. Kein Wunder, dass die Frauen das Weite gesucht hatten. Sie erinnerte sich daran, dass sie sich auf die Zehenspitzen hatte stellen müssen, um ihm die Arme um den Nacken zu schlingen. Er hatte ihr seinerseits die Arme um die Taille gelegt und sie so mühelos hochgehoben, als wöge sie nicht mehr als eine der bauschigen Wolken am Sommerhimmel. Wie sehr er ihr das Gefühl gegeben hatte … wertvoll zu sein.

Heute verübelte sie ihm, dass er ihr dieses Gefühl vermittelt hatte, dass sie ihm je zugestanden hatte, sie anzurühren.

Sie wusste, sie sollte dankbar für sein Auftauchen sein. Doch dass er vor acht Jahren aus ihrem Leben verschwunden – oder, genauer gesagt, einfach nicht mehr erschienen – war, versetzte sie in Rage und ließ sie vor Zorn erbeben. Sie musste sich Luft machen, nicht zuletzt, weil ihr seit Langem totes Herz just in diesem Augenblick dank seiner Nähe wieder zum Leben erwachte. Mochte es verflucht sein dafür, dass es ebenso verräterisch war wie er.

Er wog den Degen in der Hand, und sie wusste, dass er ihn auf Balance, Gewicht und Verarbeitung prüfte und keinen Makel finden würde. „Nicht sehr zweckmäßig. Degen, Messer, Pistole – sie alle können dir genommen und gegen dich verwendet werden. Besser ist, man lernt, die Fäuste als Waffe einzusetzen.“

Oh, wie dreist er war, mit ihr zu sprechen, als wäre sie ein aufmüpfiges Kind! „Was lässt dich glauben, ich hätte es nicht gelernt?“

Sie ballte eine Hand zur Faust und verpasste ihm einen Aufwärtshaken gegen den markanten Kiefer, den sie früher einmal mit Küssen übersät hatte. Er ließ den Degen fallen und taumelte zwei Schritte rückwärts. Sie war sich recht sicher, dass der Haken jeden anderen Mann niedergestreckt hätte, doch nicht ihn, sehnig, muskulös, groß und kräftig. Allerdings hatte der Hieb ihn vorübergehend aus dem Gleichgewicht gebracht, und mehr brauchte sie nicht, um flink ihre Waffe aufzuheben und mit festem Griff zu packen. Ehe er sich gefangen hatte, sprang sie vor und bohrte ihm die Degenspitze in das Leinenhemd, das zwischen den Mantelaufschlägen zu sehen war. Es befriedigte sie ungeheuer, dass er erstarrte, ja kaum zu atmen wagte, und sie abwartend beobachtete. Die Versuchung, ihn aufzuspießen und sich endlich an ihm zu rächen, ließ sie regelrecht beben. Er hätte es verdient dafür, dass er sich als ausgemachter Schuft erwiesen hatte. Immerhin hatte er ihr das Herz gestohlen und unter seinem Stiefelabsatz zermalmt, nachdem er bekommen hatte, was er wollte und was sie ihm freiwillig gegeben hatte, weil sie ihn über alles geliebt hatte.

Sie umschloss die Waffe fester, als Erinnerungen sie bestürmten, Erinnerungen an den gutmütigen, sanften Burschen von einst, in den sie sich verliebt hatte, als sie gerade einmal fünfzehn gewesen war.

2. KAPITEL

Auf den ersten Blick

London, 1861

Holt den Schlachter.“

Die Worte ihres Vaters hatten Lavinia eisige Kälte bis ins Mark gesandt. Nun stand sie neben der Pferdebox, die Stirn an die ihrer Stute Sophie gelegt, und strich ihr mit der Hand des unversehrten Arms über das prachtvolle weiße Fell. Sie hatte ihren Vater angefleht, nicht nach dem grässlichen Kerl zu schicken, der Sophie fortbringen würde.

„Ich behalte kein Pferd, das eine Dame abwirft“, hatte er streng entgegnet, bevor er hinüber zum Haus marschiert war.

Sie hatte gewusst, dass es sinnlos war, mit ihm zu streiten, und dennoch war sie ihm nachgerannt und hatte zu erklären versucht, was tatsächlich vorgefallen war – aber davon hatte er nichts hören wollen. Das Pferd sei gefährlich, und er werde nicht das Leben seiner einzigen Tochter aufs Spiel setzen. Er werde dieses Tier loswerden und ein anderes kaufen. Sein Ton hatte keinen weiteren Widerspruch geduldet.

Es war ungerecht, absolut ungerecht. Nicht Sophie war schuld gewesen. Wenn es irgendwem anzulasten war, dann dem Duke of Thornley – von seinen Freunden Thorne genannt. Er hatte Lavinia aufgefordert, mit ihm die Rotten Row entlangzureiten, und die Einladung auf ihren Bruder Neville ausgedehnt, der neun Jahre älter war als sie. Und er hatte Neville weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt als ihr. Zwar war sie Thorne schon bei ihrer Geburt versprochen worden, doch das hieß keineswegs, dass sie nicht umworben werden wollte, dass sie sich nicht danach sehnte, von ihm angehimmelt zu werden. Aber nein, die beiden hatten sich trotz ihrer Anwesenheit über irgendeine neue Spielhölle unterhalten, die angeblich als das Ding galt. Sie erörterten, wie sie diese ausfindig machen könnten, denn obwohl jeder darüber sprach, lag sie offenbar gut versteckt.

Wie stets hatten die beiden sie wie ein Kind behandelt, das bei Laune gehalten werden will, und nicht wie ein Mädchen, das dabei war, zur Frau zu erblühen. Seit einiger Zeit veränderte sich ihr Körper, machte sich bereit für Ehe und Geburt, und jüngst war ihr eine Zofe zugestanden worden. Eifersüchtig und gereizt hatte sie der normalerweise lammfrommen Sophie mit der Reitgerte einen saftigen Hieb auf die Kruppe verpasst in der Absicht, sie in wildem Galopp davonpreschen zu lassen. Es sollte so aussehen, als hätte sie die Kontrolle über das Tier verloren, damit ihr künftiger Bräutigam ihr nachjagen und sie retten konnte. Statt jedoch durchzugehen, war Sophie gestiegen und hatte sie abgeworfen. Sie war unsanft auf ihrem Arm gelandet, der noch unsanfter gegen einen Stein geprallt war. Der Schmerz, der sie durchschoss, hatte sie aufschreien lassen, und benommen hatte sie auf den weißen Knochen gestarrt, der gleich oberhalb ihres Handgelenks den sich rot verfärbenden Ärmel ihres hellgrünen Reitkostüms durchstoßen hatte.

Sie erinnerte sich – vermutlich bedingt durch den Schreck – nur noch vage daran, dass ihr Bruder sie hochgehoben und vor Thorne auf dessen Wallach gesetzt hatte. Thorne hatte sie fest an sich gedrückt und sein Pferd zu einem schnellen Galopp angespornt, um sie nach Hause zu bringen, während Neville ihre Stute eingefangen hatte. Obwohl es der schmerzhafteste Ritt ihres Lebens gewesen war, hatte sie Thornes Umarmung und Nähe genossen. Er hatte sie sogar ins Haus und bis hinauf in ihr Schlafzimmer getragen, als hätte sie sich ein Bein und nicht einen Arm gebrochen.

Er würde einen hervorragenden Ehemann abgeben, auch wenn er elf Jahre älter war als sie und es offenbar nicht eilig mit dem Heiraten hatte. Er hatte noch nicht offiziell um ihre Hand angehalten, aber ihre Väter hatten bei Lavinias Geburt einen Vertrag unterzeichnet, dem zufolge Thorne mit der Eheschließung Wood’s End erhalten sollte, ein kleines Anwesen, das an Thornes deutlich weitläufigeres Land grenzte. Somit stand ihre Zukunft unumstößlich fest, ganz ohne Poesie, Blumen oder große Gesten. Das gesamte Arrangement war enttäuschend nüchtern und entbehrte jedweder Leidenschaft und verzehrender Sehnsucht.

Kaum hatte sie auf ihrem Bett gelegen, hatte Thorne sich respektvoll entfernt und es den Dienstboten überlassen, sich um sie zu kümmern. Diese waren jammernd umhergeeilt, als hätte Lavinia bereits mit einem Bein im Grab gestanden. Obgleich sie wusste, dass ein Gentleman sich nicht im Schlafzimmer einer Dame aufhalten durfte, sofern er nicht mit dieser vermählt war, hatte es sie doch schwer enttäuscht, dass er nicht an ihrer Seite geblieben war. Der Arzt war geholt und der Knochen gerichtet worden – ein äußerst schmerzhafter Prozess –, und ihr Unterarm ruhte nun in einer Schiene, damit der Knochen bis zur Heilung fixiert war.

Leicht betäubt vom Laudanum, das ihr gegen die Schmerzen verabreicht worden war, hatte sie sich zu den Stallungen geschleppt, um sich zu vergewissern, dass Sophie nichts geschehen war. Just als sie eingetreten war, hatte ihr Vater seinen Beschluss verkündet.

„Es tut mir leid, so schrecklich leid, meine Süße“, flüsterte sie wieder und wieder, Tränen in den Augen. „Ich war unglaublich dumm, und nun sollst du dafür bezahlen.“

Wäre sie nicht durch den gebrochenen Arm behindert gewesen, hätte sie Sophie gesattelt und wäre davongeritten. Eine Fantasie, die den Umstand außer Acht ließ, dass sie in ihrem ganzen Leben noch kein Pferd gesattelt und keine Ahnung hatte, wie man das anstellte. Der Vorteil von Personal war, dass Arbeiten erledigt wurden, ohne dass sie sich den Kopf darüber zerbrechen musste, wie genau dies vonstattenging. Eine Ausnahme war das Schlachten von Pferden. Fasziniert von der Frage, wie sich London seiner zahlreichen alten und kranken Mähren entledigte, hatte Neville ein Schlachthaus besucht und ihr hinterher haarklein vom Grauen des Schlachtens und der Verarbeitung berichtet. Sie war erst sieben, er sechzehn gewesen, und einen vollen Monat lang war sie allnächtlich von Albträumen geplagt aus dem Schlaf hochgeschreckt. Und nun würde ein abscheulicher, hässlicher, buckliger Kerl Sophie holen, um ihr all jene unvorstellbaren Dinge anzutun, und es lag nicht in Lavinias Macht, sie zu retten.

„M’lady?“, sagte Johnny, einer der Stallburschen, leise hinter ihr. „Der Schlachter ist da. Wir müssen Sophie aus der Box holen.“

Innerlich zerrissen von ohnmächtigem Zorn, wilder Verzweiflung und abgrundtiefem Kummer, fuhr sie herum und erblickte einen Fremden, zweifellos der Schlachter. Nur war er weder hässlich noch alt, und er wirkte auch nicht so, als hätte er ein Herz aus Stein. Er war jung, höchstens sechs Jahre älter als sie. Das dunkelblonde Haar, das unter seiner braunen Schiebermütze zu sehen war, kringelte sich um den Kragen seiner schlichten braunen Jacke. Sein weißes Hemd und seine braune Weste waren sauber, wenn auch zerknittert, und sie argwöhnte, dass seine Kleider, bedingt durch seine Arbeit, am Ende des Tages nicht mehr derart makellos sein würden. Doch es waren seine braunen Augen, die sie bannten, Augen, die nicht wie die eines Mörders anmuteten.

„Wie kannst du nur?“, fragte sie ihn heiser, ihre Kehle rau und wie zugeschnürt von all den Tränen, die sie schluckte. „Wie kannst du sie nur umbringen? Sie ist nicht alt. Sie ist nicht bösartig. Sie hat mich nicht absichtlich abgeworfen.“

„Wir tun bloß, wofür wir bezahlt werden.“ In seiner Stimme schwang Resignation mit, als wäre es nicht das erste Mal, dass er sich derartigen Vorwürfen stellen musste.

„Gewiss kannst du sie verschonen.“

Mit einem Nicken wies er auf ihren Arm. „Hat sie das getan?“

„Nein, der Boden, auf dem ich beim Sturz gelandet bin.“

„Also hat sie Sie abgeworfen.“

„Aber es war nicht ihre Schuld. Ich habe sie absichtlich angetrieben. Für gewöhnlich ist sie lammfromm.“

„Das stimmt“, pflichtete Johnny ihr bei.

„Mein Vater ist unerbittlich. Er will mich nicht anhören.“ Sie trat einen Schritt auf ihn zu. „Aber du verstehst das doch sicherlich. Verschone sie.“

„Wir riskieren, unsere Lizenz zu verlieren, wenn wir einen Kunden hintergehen.“

„Aber du hintergehst meinen Vater nicht, wenn er nichts davon erfährt. Du schlägst nur dem Tod ein Schnippchen. Wie wunderbar das wäre.“

„Tut mir leid, M’lady. Wenn Sie jetzt bitte beiseitetreten.“ Er machte Anstalten, sich an ihr vorbeizuschieben.

Sie ballte ihre unversehrte Hand zur Faust und versetzte ihm einen Hieb gegen die Schulter, wobei sie sich selbst vermutlich mehr wehtat als ihm. Er war hart wie Fels, aber wenigstens hielt er inne und schaute auf sie hinab. Er überragte sie um mehrere Zoll. Sollte er sie in seine starken Arme schließen – was sie ihm natürlich niemals gestattet hätte –, würde ihr Scheitel ihm gerade einmal bis an die Schlüsselbeine reichen. „Sie wird nicht leiden. Ich habe ein Händchen für Pferde, deshalb kann ich dafür sorgen. Das Ende kommt schnell. Sie wird es gar nicht merken.“

„Du bist ein Ungeheuer! Wie kannst du das tun?“

„Haben Sie eine Ahnung, wie viele Pferde es in London gibt? Glauben Sie, die Leute wollen auf Schritt und Tritt über verrottende, stinkende Kadaver stolpern? Was wir tun, ist notwendig.“

Dass er sich verteidigte, brachte sie umso mehr auf, weil sie wusste, dass er recht hatte. Ihr war klar, dass jemand sich um die alten und kranken Tiere kümmern musste. „Aber Sophie verrottet und stinkt nicht und steht auch nicht kurz vor dem Tod.“

„Das hätten Sie bedenken sollen, bevor Sie sie angetrieben haben.“

Seine Worte brannten stärker als ihre Hand nach dem Hieb. „Du bist abscheulich!“

Ihren Wutausbruch ignorierend, ging er an ihr vorbei, öffnete die Tür der Box, streifte Sophie eine Seilschlinge über den Kopf und zog sie fest, wobei er ihr liebevoll den Hals rieb. „Dann komm, meine Hübsche.“

Er führte sie hinaus. Lavinia stürzte vor und schlang ihrer Stute die Arme um den Hals. „Es tut mir so leid, Sophie, so furchtbar leid. Ich werde dich niemals vergessen. Ich werde dich immer lieben, mein süßes Mädchen.“ Sie schaute den jungen Mann an. „Bitte sorge dafür, dass sie sich nicht ängstigt.“

In seinen braunen Augen glommen Mitgefühl und Traurigkeit auf. „Ich werde ihr das schönste Wiegenlied singen, das je gesungen wurde.“

„Das wird ihr gefallen.“ Nachdem sie Sophie auf den Hals geküsst und ein letztes Mal ihren Duft eingeatmet hatte, trat sie zurück. Ihr krampfte sich die Brust zusammen, und der Schmerz hätte sie am liebsten aufschreien lassen.

Sie schaute zu, wie er Sophie zu einem Fuhrwerk mit hölzernem Aufbau führte. Wahrscheinlich waren nicht alle Pferde in der Lage, auf eigenen Beinen an ihren Bestimmungsort zu gelangen, und dieser Wagen, der wie eine schlichte kleine Hütte auf Rädern wirkte, gestand ihnen einen Rest Würde zu. Er trieb Sophie die Planke hinauf und schloss die halbhohe Tür hinter ihr. Das Letzte, was Lavinia von ihrem geliebten Pferd sah, war die Kruppe und der Schweif, während es abtransportiert wurde, um kurzerhand hingerichtet zu werden wie eine der todgeweihten Gattinnen von Henry VIII.

Während das Fuhrwerk behäbig durch die Straßen Richtung Schlachthof rumpelte, rutschte Finn Trewlove unbehaglich auf dem hölzernen Bock hin und her, die Hände missmutig um die Zügel gekrampft. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass er zu einem feudalen Haus beordert worden war, um ein kerngesundes Pferd abzuholen. Den feinen Herrschaften gefiel es nicht, wenn eine Stute ihr kostbares Töchterlein abwarf oder ein Wallach ihren hochgeschätzten Erben in den Hintern biss. Dennoch machte es ihn rasend, wenn ein guter Gaul aus solch selten dämlichen Gründen getötet werden sollte.

Aber er hatte der Kleinen die Wahrheit gesagt. Ihm wurden zehn Schilling dafür bezahlt, dass er das Tier in den Himmel beförderte, und wenn herauskäme, dass er das nicht getan hatte, könnte der Vorsteher des Schlachthauses seine Lizenz verlieren und Finn nicht nur seine Anstellung, sondern auch jede Chance darauf, anderswo Arbeit zu finden. Denn wer würde ihm noch trauen, nachdem er gesetzlich geregelte Anweisungen missachtet hätte? Einen Kunden zu betrügen war verboten. Sich ein Pferd anzueignen, das geschlachtet werden sollte, war Diebstahl. Er würde nicht riskieren, ins Gefängnis zu wandern, ganz gleich, wie hübsch das Mädchen war, und egal, wie grün ihre Augen leuchteten – die schönsten, die grünsten Augen, in die er je hatte blicken dürfen. Auch wenn sie ihn wütend angefunkelt hatte, obwohl sie lieber auf sich selbst wütend sein sollte. Dummes Ding, das Schicksal eines Pferdes zu besiegeln, indem es dieses quälte! Und dann flehte sie ihn auch noch an, das Tier zu verschonen. Als hätte er eine Wahl.

Die hatte er nicht. Auf dem Schlachthof erwartete man ihn mit dem Pferd und den zehn Schilling. Das Pferd würde mit einem einzigen Axtstreich getötet werden. Gemeinhin zog er Trost aus dem Wissen, dass das Ende rasch und gnädig erfolgte.

Doch diese Kleine, verflucht sei sie! Noch immer sah er ihre tränennassen Augen vor sich. Sie hatte Skrupel in ihm geweckt, was seine derzeitige Beschäftigung anging. Er wurde anständig bezahlt, aber er hatte nicht vor, sein Leben lang Pferde zu schlachten. Er war einundzwanzig, hatte ein hübsches Sümmchen angespart und würde bald zu Höherem aufsteigen. Doch ganz gleich, wie weit er aufsteigen mochte, der Kummer in jenen grünen, grünen Augen würde ihn auf ewig verfolgen.

Um kurz vor Mitternacht stand Finn bei den Stallgebäuden des protzigen Anwesens, das dem Earl of Collinsworth gehörte. Zu seinen Füßen lag sein Lederranzen mit den Gerätschaften, die er für Einbrüche benötigte. In seiner Jugend hatte er sich mit einigen Burschen eingelassen, die einen ungesunden Einfluss auf ihn ausgeübt hatten. Er war fünfzehn gewesen, als seine Mum davon erfahren und ihm mit ihrem Rohrstock beinahe die Haut vom Hintern geprügelt hatte – und das trotz der Hosen, die sein empfindliches Körperteil geschützt hatten. Sie habe ihn nicht aufgenommen, als ihn keiner hatte haben wollen, und ihn all die Jahre ernährt, nur damit sie zusehen könne, wie er im Kittchen verfaule oder am Galgen baumele. Um sie zu beschwichtigen, hatte er dem Einbrecherdasein abgeschworen, seine erstandenen Werkzeuge jedoch ebenso behalten, wie er sich das erworbene Geschick bewahrt hatte. Man wusste nie, ob man das eine oder andere noch einmal brauchte.

Er beobachtete das Haus schon seit einigen Stunden, um herauszufinden, welches ihr Schlafzimmer war, doch das Mädchen hatte kein einziges Mal aus dem Fenster geschaut. Anhand des Lichts, das bisweilen zwischen den Vorhängen hindurchfiel, hatte er die infrage kommenden Fenster auf acht eingrenzen können. Aber da er die Größe der Räume nicht kannte, wusste er nicht, ob er mit dieser Zahl richtiglag. In einem solch riesigen Haus dürften manche Zimmer mehr als ein Fenster haben. Hecken säumten die Mauern, doch kein Baum stand nah genug, um hinaufzuklettern und einen Blick hineinzuwerfen.

Daher die Werkzeuge. Er würde einbrechen.

Er hatte überlegt, morgen Nachmittag vorbeizukommen und darum zu bitten, mit dem Mädchen über das Schicksal des Pferdes sprechen zu dürfen. Letztlich hatte er jedoch entschieden, dass ein heimliches Treffen klüger sei, weil absolut niemand außer ihr erfahren durfte, was er getan hatte. Ein Lord, der ein Pferd in den Tod schickte, weil es seine Tochter aus dem Sattel geworfen hatte, mochte es nicht gut aufnehmen, dass Gesindel wie er mit ebendieser Tochter reden wollte. Vor allem, da Finn hoffte, ihr kleines Treffen werde darauf hinauslaufen, dass sie mit ihm käme. Noch beim Bier in der Schenke seiner Schwester war ihm seine Begründung vollkommen einleuchtend erschienen. Allerdings schwante ihm, dass er sich am Morgen, wenn er wieder einen klareren Kopf hätte, in jeder Hinsicht wie ein Tölpel vorkommen würde.

Aber dem würde er sich morgen stellen. Derzeit zählte, dass er nicht zu betrunken war, um sich lautlos ins Haus zu stehlen. Er hatte beobachtet, wie die Lichter eines nach dem anderen erloschen waren, bis nirgends mehr auch nur ein Schimmer zu sehen war. Deshalb war er sich recht sicher, dass sich die Bewohner, darunter die Dienstboten, endlich schlafen gelegt hatten. Je prächtiger ein Haus, desto besser eignete es sich für einen Raub, denn ein Großteil des Gebäudes lag nachts verlassen da, und ein Dieb konnte sich gefahrlos durch die Räume bewegen und sich die Taschen füllen, ohne einer Menschenseele zu begegnen.

Er warf sich seinen Ranzen über die Schulter, zog sich die Mütze tief in die Stirn und schlich auf das gewaltige hochherrschaftliche Haus zu. In solch einem Haus hatte er vor, eines Tages zu leben, wenn er älter wäre und etwas aus sich gemacht hätte. So sehr er seine derzeitige Arbeit auch hasste, er liebte den Umgang mit Pferden und hoffte, mit etwas Glück irgendwann ein Gestüt aufbauen zu können, um die edlen Tiere zu züchten und zuzureiten. Es war nicht gerade ein glanzvoller Traum, aber ihm ging es vor allem darum, sein eigener Herr zu sein und für sich selbst zu wirtschaften, statt jemand anderem zu dienen. Doch träumen konnte er ein andermal. Jetzt galt es achtzugeben, damit er nicht erwischt wurde.

Am Dienstboteneingang stellte er leise seinen Ranzen ab, machte ihn auf und entnahm ihm eine kleine Laterne, die auf drei Seiten verkleidet war und nur an der vierten eine kleine Öffnung aufwies, die ein wenig Licht durchließ. Nachdem er die Kerze im Innern mit einem Streichholz angezündet hatte, hielt er die Laterne ans Türschloss und stellte erleichtert fest, dass er es mühelos würde knacken können. Er besaß die entsprechenden Werkzeuge, um Fenster aufzustemmen oder Glas zu schneiden, wenn aufhebeln nicht funktionierte, aber ein Schloss zu knacken war immer die klügere Wahl, vor allem in diesem Fall. Für eine unverschlossen vorgefundene Tür würde ein vermeintlich nachlässiger Dienstbote ins Gebet genommen werden, aber das war besser, als einen eindeutigen Hinweis darauf zu hinterlassen, dass jemand unerlaubt eingestiegen war. Er holte das Etui mit den Dietrichen hervor, und keine Minute später war er im Haus. Er ließ seinen Ranzen auf der Eingangstreppe stehen, da er keine Schätze mitgehen lassen würde.

Obwohl es ihn in den Fingern juckte, hier eine Vase und dort eine Schmuckdose einzustecken, während er lautlos durchs Haus streifte, die Laterne vor sich hochhaltend. Dann und wann fiel das Licht auf Nippes, den sicherlich niemand vermisst hätte. Die feinen Leute besaßen haufenweise Schnickschnack, als könnten sie mit einem Haus voller unnützer Dinge die Tatsache überdecken, dass in ihrem Leben etwas Entscheidendes fehlte. Nach so manchem seiner Raubzüge war das Verschwinden von silbernen Kerzenständern, Schmuckstücken oder Figürchen überhaupt nicht bemerkt worden. Die Polizei war gar nicht erst geholt worden. Das wusste er, weil er ein diebisches Vergnügen daran gehabt hatte, das betreffende Haus im Auge zu behalten, um zu sehen, ob am folgenden Morgen Hektik ausbräche. Er hatte sich etwas darauf eingebildet, mit dem Diebstahl davongekommen zu sein, und schließlich gar geglaubt, der größte Einbrecher der Geschichte werden zu können – bis seine Mum von seinen Umtrieben erfahren und ihnen ein rasches Ende gesetzt hatte.

Hätte sie es nicht getan, würde er nun nicht durch dieses Haus pirschen und die breite Treppe hinaufsteigen. Er stellte sich vor, wie die Tochter des Earls die Stufen hinabschritt, in einem kleegrünen Ballkleid, das zu ihren Augen passte. Vermutlich wäre ihre Tanzkarte voll, kaum dass sie den Ballsaal beträte. Er wusste alles über Bälle, denn die waren gut für das Einbrechergewerbe, vor allem, wenn die Gäste über Nacht blieben. Das bedeutete umso mehr Schmuck, den man einheimsen konnte, weil selten abgesperrt wurde, wenn die Leute spät schlafen gingen und zu müde waren, um Sorgfalt walten zu lassen. Sein alter Bandenboss hatte ihn ein paar Bälle auskundschaften lassen, ehe er ihm befohlen hatte, eines der Häuser auszurauben. Es war die zugleich furchtbarste und aufregendste Nacht seines Lebens gewesen. Bis jetzt. Sein Herz schlug wie wild, nicht etwa vor Angst, sondern vor Aufregung.

Oben angekommen, ging er einen Korridor entlang. Vor der ersten Tür hielt er inne, presste ein Ohr ans Holz und lauschte. Lautes Schnarchen, männliches Schnarchen. Hinter der nächsten Tür nichts als Stille. Vermutlich die Herrin des Hauses, aber er musste sich vergewissern. Langsam, ganz langsam entsperrte er die Tür und öffnete sie Zoll um Zoll. In feinen Häusern fanden sich selten knarrende Scharniere, weil die Dienerschaft darauf achtete, sie regelmäßig zu ölen.

Auf halbem Weg zum Bett erhaschte er einen Blick auf die Dame, die darin lag – mit unfein geöffnetem Mund und faltigem Hals und mindestens so alt wie seine Mum. Er zog sich so lautlos wie hastig zurück und schloss die Tür hinter sich. Vor seinem geistigen Auge glich er das, was er über die Verteilung der Zimmer in Erfahrung gebracht hatte, mit den Fenstern ab, durch die Licht hinaus ins Dunkel gefallen war. Die nächsten drei Türen überging er und öffnete behutsam die vierte. Er wusste sogleich, dass er das richtige Schlafzimmer gefunden hatte, denn es roch nach ihr: blumig, aber nicht aufdringlich süß. Ein ungewöhnlicher Duft, den er nur einmal eingeatmet hatte, als er an ihr vorbeigegangen war, um zu ihrer Stute zu gelangen. Seitdem hatte dieser Duft ihm zugesetzt, bis zu diesem Augenblick, da er ihn erneut wahrnahm und Ruhe von ihm Besitz ergriff.

Geräuschlos wie eine Katze schlich er zum Bett, froh darüber, dass Sommer war und sie die schweren Bettvorhänge nicht zugezogen hatte. Behutsam stellte er die Laterne auf den Tisch neben dem Bett und drehte sie gerade so weit, dass die flackernde Flamme ihr Gesicht erhellte. Im Schlaf wirkte sie unschuldiger und sanfter als bei ihrer ersten Begegnung, als sie ihn wütend geboxt hatte. Ihr verletzter Arm war nach wie vor geschient und würde es noch wochenlang bleiben, nach allem, was er über Knochenbrüche wusste. Die leicht geschlossene Hand lag mit der Handfläche nach oben auf dem Kissen, während die andere Hand unter der Decke verborgen war. Ihr Haar, dessen Farbe ihn an gleißendes Mondlicht erinnerte, war geflochten. Der Zopf lag auf einer ihrer Schultern, und das sich kringelnde Ende ruhte verführerisch zwischen ihren kleinen Brüsten.

In sich hinein fluchend, riss er sich vom Anblick der Stelle los, die er nicht begaffen sollte, und verscheuchte Gedanken, die er nicht denken sollte. Sie war eine Dame, die Tochter eines Earls. Es wäre dumm zu glauben, zwischen ihnen könnte je mehr sein als eine zufällige Bekanntschaft, herbeigeführt dadurch, dass er ihr den Kummer nehmen wollte. Er berührte sie an einer ihrer zierlichen Schultern, überrascht, wie zerbrechlich sie sich anfühlte, so als dürfte er sie nicht zu fest anfassen, und schüttelte sie sacht. „M’lady?“

Langsam hob sie die Lider. Riss die Augen weit auf. Deutlich rascher öffnete sie den Mund, und eilig hielt er ihn ihr zu, bevor sie schreien konnte. „Schh. Ich will Ihnen nichts tun. Ich will nur von Sophie berichten.“

Sie blinzelte. Unter seiner Hand spürte er, wie ihr Mund sich entspannte. „Wenn Sie mir versprechen, nicht zu schreien, lasse ich Sie los.“

Sie nickte. Vorsichtig hob er die Hand, bereit, sie, falls nötig, sofort wieder zu senken.

„Du bist gekommen, um mir zu sagen, dass du sie umgebracht hast!“, spie sie ihm förmlich ins Gesicht, doch die Trauer in ihren Augen nahm ihren Worten die Schroffheit.

„Nicht ganz. Aber sie ist im Himmel, wenn man so will. Ich dachte, Sie möchten es sich vielleicht anschauen.“ Es hatte ihn ein Monatsgehalt gekostet, das Pferd vor seinem Schicksal zu bewahren, und er wollte in ihrer Miene sehen, dass es die Sache wert gewesen war.

Die Stirn gerunzelt, setzte sie sich auf und zog sich die Bettdecke bis unters Kinn. „Ich verstehe nicht.“

„Ich möchte Ihnen etwas zeigen, jetzt, heute Nacht. Ich habe meinen Wagen …“

„Du erwartest von mir, dass ich dich begleite, jemanden, den ich nicht einmal kenne? Jemanden, der sich in mein Schlafzimmer stiehlt?“

Überzeugt, dass sie nicht mehr versuchen würde zu schreien, richtete er sich auf. Es enttäuschte ihn, dass sie sich störrisch und unwillig gab. Er hatte das Ganze nicht durchdacht. Dass er eine Verbindung spürte und vom Grün ihrer Augen fasziniert war, bedeutete nicht, dass sie von ihm ebenso angetan war. „Ich wollte Ihnen nur zeigen, dass es ihr gut geht.“

„Versuchst du, mich zu ködern?“

„Wieso sollte ich das tun?“

„Weil du ein Bürgerlicher bist. Womöglich willst du mich hereinlegen. Oder, Gott bewahre, mich entführen, um von meinem Vater ein Lösegeld zu erpressen.“

Eine Vase zu stibitzen war eine Sache, aber einen Menschen? Hielt sie ihn wirklich für derart schändlich? Herrgott! Was zum Teufel tat er hier eigentlich?

„Schon gut. Es war eine dumme Idee.“ Er wandte sich ab.

„Warte.“

Er hätte es nicht tun sollen. Es war närrisch gewesen, überhaupt herzukommen, sich darum zu scheren, was sie von ihm hielt. Dem Drang nachzugeben, ihr beweisen zu wollen, dass er kein herzloser Bastard war – sondern nur ein Bastard. Der letzte Gedanke hätte ihn beinahe lachen lassen. Ruckartig drehte er sich wieder um. Hätte sie doch nur nicht so verlockend und ernst ausgesehen, wenn sie sich vorbeugte, sich ihm zuneigte.

„Weshalb kommst du nicht zu einer christlicheren Stunde?“, fragte sie.

„Weil das, was ich getan habe, ein Geheimnis bleiben muss. Würde man Ihnen erlauben, mich zu begleiten? Das bezweifle ich stark, aber selbst wenn, so würde man Sie nicht allein gehen lassen, sondern nur mit einem Tross von Anstandsdamen und Lakaien. Und was, wenn Ihr Vater Wind davon bekäme, dass Ihr Pferd nicht beseitigt wurde, wofür er bezahlt hat? Glauben Sie, er wäre glücklich darüber?“

„Nein, er wäre außer sich vor Wut. Er würde dir den Kopf abreißen.“

„Ganz recht. Daher blieb mir nichts anderes übrig, als bei Nacht und Nebel herzukommen. Es ist die beste Zeit, um Geheimnisse zu schmieden und zu wahren.“ Wenn niemand zusah.

Eine Minute zauderte sie noch, während er unsinnigerweise den Atem anhielt, als würde allein das sie dazu bringen, den ersehnten Entschluss zu treffen. Endlich nickte sie knapp. „Gib mir einen Moment, um mich anzuziehen.“

„Machen Sie schnell. Ich warte auf dem Korridor, aber wenn ich irgendwen höre, muss ich Fersengeld geben.“

„Ich werde mich beeilen.“

Er packte seine Laterne, verließ das Zimmer, schloss die Tür und lehnte sich an die Wand, um auf sie zu warten. Es war verrückt, völlig verrückt, ihr derart verfallen zu sein. Das konnte nicht gut enden, und doch war er fest entschlossen, seinen Plan in die Tat umzusetzen.

Sophie war nicht tot. Lavinia konnte es kaum fassen, wollte sich mit eigenen Augen davon überzeugen. Vermutlich war es töricht von ihr, jemandem zu trauen, der in ihr Haus, ja in ihr Schlafzimmer eingebrochen war. Aber hätte er die Situation ausnutzen wollen, hätte er sie im Schlaf überwältigen, betäuben und entführen können. Er war groß und breitschultrig, und wie unnachgiebig seine Muskeln waren, hatte sie gespürt, als sie ihn geboxt hatte. Er hätte problemlos mit ihr verschwinden können.

Während sie rasch ein schlichtes Kleid anlegte, bei dem sie keine Hilfe von ihrer Zofe benötigte, wurde sie gleichermaßen von freudiger Erregung wie von Panik befallen. Nie zuvor hatte sie etwas derart Gewagtes getan. Erwogen hatte sie es durchaus, doch wann immer sie sich Tagträumen darüber hingegeben hatte, sich mit einem Mann in die Nacht hinauszustehlen, hatte sie sich in Begleitung von Thornley gesehen – oder dies zumindest versucht. In Wahrheit waren die Züge des Mannes in ihrer Fantasie nie klar zu erkennen gewesen. Aber sich einen anderen an ihrer Seite vorzustellen als den, den sie heiraten würde, erfüllte sie mit Scham. Auch jetzt nagten Skrupel an ihr, weil sie ohne Anstandsdame einen Burschen begleiten würde, der nicht ihr Bräutigam war. Mit einiger Mühe gelang es ihr, das schlechte Gewissen zu bezähmen. Es war ja nicht so, dass sie vorhatte, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Er würde ihr nur zeigen, dass Sophie in Sicherheit war.

Sie glaubte ihm auch so, doch ihr war nach ein wenig Spaß, nach ein bisschen Abenteuer zumute. Und noch immer zürnte sie ihrem Vater und hatte Lust, zu rebellieren, auch wenn er es niemals erfahren würde. Sie würde es genießen, am Esstisch zu sitzen und zu lächeln in dem Wissen, dass sie ein delikates Geheimnis hütete. Nie zuvor hatte sie Geheimnisse gehegt.

Sie war unter ihren Freundinnen die Langweiligste, hatte nie pikante Gerüchte zu verbreiten. Auch diesen nächtlichen Ausflug würde sie nicht teilen können, doch sie könnte künftig auf Bällen ebenjenes wissende Lächeln zur Schau tragen. Die Leute würden sich fragen, was es damit auf sich haben mochte, und das würde ihr etwas Geheimnisvolles verleihen, sie faszinierender erscheinen lassen, vielleicht gar dazu führen, dass Thornley endlich auf gebührende Weise Notiz von ihr nähme.

Es tat diesem Ausflug durchaus keinen Abbruch, schoss ihr beim Öffnen der Tür durch den Kopf, dass ihr Begleiter ein solch ansehnlicher Filou war. Er stand da mit der Laterne in der einen und seiner Mütze in der anderen Hand. Sein Hemd war nicht zerknittert wie das, das er am Nachmittag getragen hatte, und jetzt erst ging ihr auf, dass er nicht nach Pferden, Stall und Mist gerochen hatte, als er ihr gerade im Schlafzimmer so nahe gewesen war. Er hatte gebadet, ehe er zu ihr gekommen war, und sich möglicherweise sogar rasiert. Auch sein Haar wirkte kürzer. Wenn ein junger Mann sich solche Mühe gab, hatte er doch gewiss keine unlauteren Absichten.

Er setzte seine Mütze auf und rückte sie zurecht. „Wir müssen ganz leise sein“, flüsterte er.

Sie nickte als Zeichen, dass sie verstand. Daraufhin tat er etwas überaus Befremdliches. Er nahm sie bei der Hand, als könnte er dadurch seine Gabe, sich lautlos zu bewegen, auf sie übertragen. Er trug keine Handschuhe, aber sie hatte sich welche aus schwarzem Leder übergestreift, weil eine Dame das Haus niemals mit unbedeckten Händen verließ. Trotz der Handschuhe spürte sie die Wärme seiner Haut.

Er bewegte sich vollkommen geräuschlos. Obwohl sie auf Zehenspitzen ging, gelang es ihr nicht, es ihm gleichzutun, was auf der Marmortreppe offenkundig wurde. Jeder ihrer Schritte klang fast wie ein Paukenschlag.

Nach wenigen Stufen blieb er stehen und reichte ihr die Laterne. „Halten Sie die.“

Lavinia nahm sie und hätte beinahe aufgeschrien, als er sie hochhob. Wie stark, wie muskulös seine Arme waren! Thornleys Umarmung verblasste angesichts der Erfahrung, von diesem stattlichen jungen Mann getragen zu werden, der mit ihr die Stufen hinabeilte. Der Vergleich tat Thorne unrecht, denn er hatte sie gehalten wie ein Gentleman, mit einem gewissen Maß an Distanz, weil es sich so gehörte, und nichts hatte in ihrer Welt mehr Gewicht als der Anstand.

Als sie einen weiteren mit Teppich ausgelegten Korridor erreichten, setzte er sie ab, nahm die Laterne wieder an sich, fasste sie bei der Hand und rannte mit ihr Richtung Küche.

Ehe sie Zeit hatte, über den Umstand nachzugrübeln, dass keine Dienstboten zu sehen waren, öffnete er eine Tür und führte sie nach draußen. Nachdem er die Tür leise geschlossen hatte, hob er einen Ranzen auf und schlug den Weg zu den Stallungen ein.

Sie blickte über die Schulter, sah jedoch in keinem der Fenster Licht aufleuchten. Sie hatten es geschafft! Sie waren unbemerkt hinausgelangt. Seltsam, aber diese Erkenntnis erfüllte sie mit einer diebischen Freude, sodass sie am liebsten einen Luftsprung gemacht und die Fersen zusammengeschlagen hätte, als wäre ihr etwas Außergewöhnliches gelungen. Bislang hatte sie nie ernsthaft erwogen, etwas zu tun, das sie nicht tun sollte, und nun stand ihr eine ganze Nacht voller Ungehorsam bevor.

In der Gasse stand das ungeschlachte Fuhrwerk, mit dem Sophie fortgebracht worden war. Nachdem er seinen Ranzen hinten hineingeworfen hatte, blies er die Laterne aus und stellte sie dazu. Wieder nahm er Lavinia bei der Hand, führte sie nach vorn, fasste sie bei der Taille und hob sie mühelos auf die harte Holzbank, die als Bock diente. Anschließend kletterte er seitlich am Wagen hinauf, stieg über sie hinweg, nahm die Leinen auf und ließ das Zweiergespann anziehen.

„Wie heißen Sie?“, fragte er. In der Stille der Nacht klang seine Stimme gedämpft und tief und beschwor allerlei Verheißungen herauf.

Fast hätte sie gelacht, ehe ihr bewusst wurde, dass sie einander nicht vorgestellt worden waren. Sie hätte gar nicht mit ihm reden, geschweige denn auf seinen Wagen steigen sollen. Jäh wurde sie von der beunruhigenden Ahnung befallen, dass sie nicht die Erste war, die dies getan hatte. „Lady Lavinia.“

„Vornehmer Name.“

„Ich bin eine vornehme Dame. Wie heißt du?“

„Finn.“

Sie hatte den Verdacht, dass er bei Weitem zu vielschichtig für einen solch schlichten Namen war. „Wie lautet dein Nachname?“

„Trewlove.“

Sie runzelte die Stirn. „Ich habe gehört, wie mein Bruder heute Nachmittag mit einem Freund über einen Trewlove und eine Spielhölle gesprochen hat. Ist das deine?“

„Sie gehört meinem Bruder. Aiden.“

„Er sagte, sie sei geheim.“

Im Licht der Straßenlaternen, die ihren Weg säumten, sah sie ihn mit den Schultern zucken.

„Es handelt sich nicht gerade um einen Herrenclub mit Konzession.“

„Aber wenn die Leute nicht hinfinden …“

„Oh, das tun sie. Den feinen Herrschaften gefällt er, gerade weil er verrufen ist. Das gibt ihnen das Gefühl, verwegen und wild zu sein und gefährlich zu leben.“ Er lachte leise. „Als ob sie wüssten, was es heißt, gefährlich zu leben.“

Sie ahnte, dass er es sehr wohl wusste. Vermutlich war es naiv von ihr, ihm zu vertrauen, und dennoch hatte sie sich seltsamerweise nie sicherer gefühlt. „Wieso hast du Sophie nicht umgebracht?“

Er zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht, als würde der Halbmond am samtschwarzen Himmel ihn blenden. „Keine Ahnung. Wäre schade um den Gaul gewesen. Aber Sie dürfen es Ihrem Vater auf keinen Fall sagen. Mein Lohnherr würde mich hinter Gitter bringen.“

„Hast du ohne seine Einwilligung gehandelt?“

„Nein, er hat es mir erlaubt, aber das würde er bestreiten, um sein Geschäft und seine Lizenz nicht zu verlieren. Wie gesagt, wenn wir unsere Arbeit nicht erledigen, werden wir angezeigt. Sie würden den Schlachthof schließen und jemanden finden, der verlässlicher arbeitet.“

Sie musterte sein Profil, vorwiegend vom Mondlicht erhellt, da die Laternen spärlicher wurden. Sie wollte nicht darüber nachdenken, dass er womöglich dabei war, mit ihr London, wenn nicht gar England zu verlassen. Weshalb verspürte sie keinerlei Unbehagen? Mit was für einem Zauber hatte er sie belegt? Sie sprach nur selten mit den Dienstboten und seltener noch mit Bürgerlichen, doch dieser Mann, der soeben dem Knabenalter entwachsen zu sein schien, faszinierte sie. „Warum gehst du einer solch grausamen Arbeit nach?“

„Ich sehe sie nicht als grausam an. Ein Tier von seinem Elend zu erlösen ist eine Gnade. Ich weiß mit Pferden umzugehen, kann mit ihnen reden, sie beruhigen. Ich schicke sie in den Pferdehimmel, ohne dass sie überhaupt merken, dass sie die Reise antreten.“

„Aber es gibt andere Möglichkeiten, Geld zu verdienen.“

„Irgendwer muss die unangenehmen Arbeiten erledigen, damit Leute wie Sie sich nicht damit abgeben müssen.“

Sie hörte eine Spur Verachtung heraus. Wahrscheinlich hatte sie diese verdient, denn sie lebte behütet und sicher. Wenn sie ehrlich war, würde sie gar so weit gehen zu behaupten, dass sie verwöhnt war. Beim Dinner hatte ihr Vater verkündet, er habe bereits ein neues Pferd für sie erstanden und es werde Ende der Woche gebracht. Es mangelte ihr nie lange an etwas.

„Wie geht es Ihrem Arm?“, erkundigte er sich. Das aufrichtige Interesse in seiner Stimme erstaunte sie, und im Geiste hörte sie ihn den Pferden ebenso einfühlsame Worte zuraunen.

„Er tut ein bisschen weh.“ Das Ruckeln des Fuhrwerks machte es nicht gerade besser, aber sie würde sich ganz gewiss nicht beschweren. „Man hat mir vor dem Schlafengehen eine Dosis Laudanum gegeben. Es benebelt den Verstand, was zweifellos der Grund dafür ist, dass ich dich begleite.“

„Sie sind mitgekommen, weil Sie Ihr Pferd sehen wollen. Ist der Knochen gebrochen?“

„Ja, es war schauderhaft. Er hat sich durch die Haut gebohrt. Aber ich bin nicht ohnmächtig geworden, sondern habe es heldenhaft ertragen.“ Sie war recht stolz auf sich, auch wenn die Wahrheit lautete, dass sie von dem Anblick wie betäubt gewesen war und ihren Arm eher wie einen Fremdkörper wahrgenommen hatte, obgleich der pochende Schmerz sie eines Besseren belehrt hatte.

In der fast vollkommenen Dunkelheit erhellte nur das Mondlicht das breite Grinsen, mit dem er sie bedachte. Nie hatte sie etwas Betörenderes gesehen. Offenbar übte das Laudanum eine sonderbare Wirkung auf sie aus, sodass sie sich von diesem jungen Mann und seinem sanftmütigen Charme angezogen fühlte. „Sie haben Schneid“, sagte er.

„Im Grunde nicht. Ich war noch nie so spät unterwegs, war nie mit einem Mann allein, den ich nicht einmal kenne. Allmählich beginne ich doch zu fürchten, dass mein Vater es herausfinden könnte.“

„Das wird er nicht. Ich kann Sie zurück ins Haus schmuggeln, ohne dass jemand es merkt.“

Sie dachte an seinen Ranzen. Das Haus wurde, wie sie wusste, abends gewissenhaft abgeschlossen, und doch war er hineingelangt. „Bist du auch ein Dieb?“

Diese Frage hätte sie eher stellen sollen.

„Das war ich früher einmal. Bis meine Mum es herausfand. Heute verdiene ich mein Brot auf ehrliche Weise.“ Grinsend sah er sie an. „Auf weit weniger spannende Weise.“

„Aber sicherer.“

„Das stimmt. Meine jetzige Arbeit wird mich niemals ins Kittchen bringen. Solange Sie unser kleines Geheimnis bewahren.“

„Das werde ich, versprochen.“ Schon aus eigenem Interesse. Zwar hatte ihr Vater sie noch nie den Riemen spüren lassen, so wie ihren Bruder, aber wenn er von diesem nächtlichen Ausflug erführe, mochte er durchaus Maßnahmen ergreifen, die ihr das Sitzen eine Woche lang verleiden würden.

„Warum haben Sie sie absichtlich angetrieben?“, fragte er unvermittelt.

Sie hob eine Schulter. Die Wahrheit einzugestehen war ihr peinlich. „Wieso tut ein Mädchen etwas Unkluges? Ich wollte Aufmerksamkeit.“

„Von einem Ihrer vielen Verehrer?“

Sein Ton verwirrte sie ein wenig, denn sie meinte herauszuhören, dass die Vorstellung, sie könne Verehrer haben, ihn verstimmte. Merkwürdigerweise wollte sie nicht zugeben, dass Thornley ein Verehrer war, vielleicht, weil es sich genau genommen nicht so verhielt. Noch nicht. Zumal sie sich nicht gar so schuldig fühlte, sich auf einen Ausflug mit diesem jungen Mann eingelassen zu haben, wenn sie den Duke als reinen Freund hinstellte. „Ich habe keine Verehrer. Wenigstens noch nicht. Ich bin erst fünfzehn und hatte noch nicht einmal mein Debüt.“

„Fünfzehn“, murmelte er. „Ein Kind.“

Das verstimmte sie. „Ich bin kein Kind mehr, sondern fast erwachsen. Wie alt bist du?“

„Ein gutes Stück älter als Sie.“

„Wie viel älter?“

„Einundzwanzig.“

„So alt auch wieder nicht.“

„Alt genug“, erwiderte er leise.

Er bog auf eine sehr viel schmalere Straße ab. Vor ihnen ragte ein riesiges Gebäude auf. Der Name Trewlove prangte in weißen, im Mondlicht leuchtenden Lettern auf der Fassade. „Was ist das?“, fragte sie.

„Die Ziegelei meines Bruders.“

„Aiden besitzt eine Fabrik und eine Spielhölle?“

Wieder dieses amüsierte Grinsen. „Nein. Die Fabrik gehört meinem anderen Bruder Mick. Er bildet sich ein, er wäre ein Baumeister und könnte die übelsten Gegenden Londons in Nobelviertel verwandeln.“

„Wie viele Brüder hast du?“

„Drei.“

„Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, wie das ist. Wir sind nur zu zweit, mein Bruder und ich. Er ist neun Jahre älter als ich und will meistens nichts mit mir zu tun haben.“

„Möchten Sie das denn?“

Sie lachte über seine Direktheit. „Nein, im Grunde nicht. Sofern er sich einmal Zeit für mich nimmt, hänselt er mich gnadenlos.“

„Es ist eine Gesetzmäßigkeit, dass Brüder ihre Schwestern hänseln müssen.“

„Hast du Schwestern?“

„Zwei.“

Sie glaubte nicht, dass seine Hänseleien auch nur annähernd so nervtötend waren wie die ihres Bruders Neville. Eigentlich war sie froh über die Zeiten, in denen sie einander monatelang nicht sahen. Als er noch zur Schule gegangen war, zum Beispiel, oder wenn er sich im Auftrag ihres Vaters um eines der Familiengüter kümmerte, um sich anzueignen, was er eines Tages als Earl würde wissen müssen.

„Ich hoffe, du nimmst keinen Anstoß, aber du redest nicht wie ein Arbeiter.“ Zwar hatte seine Ausdrucksweise nichts von der Blasiertheit eines Aristokraten an sich, ließ jedoch ein gewisses Maß an Bildung erkennen – mehr, als sie bei jemandem erwartet hätte, der seinen Lebensunterhalt mit dem Schlachten von Tieren bestritt.

„Das verdanke ich meiner Schwester Gillie. Sie ist geradezu besessen davon, dafür zu sorgen, dass keiner von uns klingt, als kämen wir aus der Gosse. Sie ist fest davon überzeugt, dass wir es nur zu etwas bringen, wenn wir uns anständig ausdrücken können.“

„Und zu was willst du es bringen, Finn Trewlove?“

Zwinkernd grinste er sie abermals breit an. „Das bleibt abzuwarten, Lady Lavinia.“

Er brachte den Wagen zum Stehen, zog die Bremse an und stieg ab. Niemand war zu sehen, als er zu ihr trat und ihr die Arme entgegenstreckte. Sie rutschte hinüber, sodass er ihre schmale Taille umfassen konnte, während sie ihm ihre kleinen Hände auf die breiten Schultern legte. Langsam, ganz langsam, als hätte er alle Zeit der Welt, hob er sie hinunter, bis sie mit den Füßen den Boden berührte.

Einen flüchtigen Augenblick lang war ihr, als würde er sie eingehend mustern. Sie fragte sich, ob er sie je wieder loslassen werde, und wusste nicht recht, ob sie das wollte. Niemand hatte sie je so angeschaut, wie er es tat – voll lebhafter Neugier, als würde sie ihn faszinieren. Es war erregend, ein solches Maß an Aufmerksamkeit zu erfahren. Schließlich ließ er die Hände sinken und trat zurück. „Mein Bruder hat Wagen und Pferde für den Transport der Ziegel. Dort drüben.“

Sie folgte ihm zu einer großen Koppel – ohne richtiges Stallgebäude, wenngleich sie in der Ferne eine Art hölzernen Unterstand erahnte. Die Pferde auf der Koppel waren um einiges kräftiger als die in den Stallungen ihres Vaters, aber das war wohl auch nötig, wenn sie schwere Ziegelsteine zogen. Dann erspähte sie die edle weiße Stute mit der silbernen Mähne, und ihr Herz tat vor Freude einen solch gewaltigen Satz, dass es sie nicht verwundert hätte, wäre es ihr aus der Brust gesprungen. „Sophie! Hier, Mädchen! Hier, meine Süße.“

Sophie kam angetrabt, und Lavinia tätschelte sie, die Stirn an die des Pferdes gelegt. „Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen. Und nach heute Nacht werde ich das wahrscheinlich auch nicht, aber wenigstens bist du mir nicht gänzlich genommen worden. Ich werde wissen, dass du hier bist und mit deinen neuen Freunden umhertollst. Es tut mir leid, dass ich dich so schlecht behandelt habe, dass ich dich missbraucht habe, nur um jemandes Aufmerksamkeit zu erregen. Ach, süßes Mädchen, ich werde dich für alle Zeiten vermissen.“

Sophie warf den Kopf zurück und wieherte, und Lavinia bildete sich ein, dass sie jedes Wort verstanden hatte und zum Ausdruck brachte, wie sehr sie ihre Herrin vermisste. Dann galoppierte die Stute davon.

Von Seligkeit und Erleichterung übermannt, drehte sich Lavinia zu Finn um. „Danke, dass du sie gerettet hast.“

In ihrer überschwänglichen Freude schlang sie ihm, ohne auch nur einen Moment nachzudenken, die Arme um den Nacken und küsste ihn.

3. KAPITEL

1871

Finn erinnerte sich an ihren ersten Kuss, als läge er erst wenige Minuten und nicht etwa Jahre zurück. Er hatte nur einen flüchtigen Augenblick lang gewährt, und doch hatte Finn das Gefühl gehabt, als hätte sie ihn mit ihren Lippen versengt. Es war beileibe nicht sein erster Kuss gewesen, und er bevorzugte die ausgiebigen, bedächtigen, sinnlichen Küsse, die eher einem Festmahl als einem kleinen Happen glichen. Flüchtig nur hatte sie seinen Mund mit ihrem gestreift, und doch hatte ihn das zurücktaumeln lassen wie ihr flinker Haken gerade eben.

Anscheinend hätte sie ebenso gut wie er darauf verzichten können, dass sie einander wiedersahen. Wobei er ihr keinesfalls auf die Nase binden würde, wie sehr es ihn schmerzte und aufwühlte, ihr nach all der Zeit gegenüberzutreten.

Da die Degenspitze genau zwischen zwei Rippenbögen saß, wagte er nicht, sich zu rühren. Nur empfindliches Fleisch und kein schützender Knochen trennte die Klinge von ihrem Ziel. Der Stahl bebte kaum merklich, und er sah ihre Hand leicht zittern. Gern hätte er sie aufgefordert, doch endlich zu beenden, was sie vor acht Jahren begonnen hatte, und ihm das Herz endgültig zu durchbohren.

Sie atmete so flach wie er, offenbar ebenfalls angespannt, während sie einander mit Blicken maßen.

Er hatte nicht vorgehabt, sich zu zeigen, aber ebenso wenig hatte er warten wollen, bis Blut vergossen wurde oder der Zwist ausuferte und nur noch mit Mühe hätte geschlichtet werden können. Obwohl er versucht gewesen war, zu beobachten, wie gut sie sich gegen drei Gegner zu verteidigen verstand. Aber er war ehrlich gewesen. Die Ungleichheit der Kontrahentinnen hatte ihm nicht gefallen.

Wobei sie inzwischen kräftiger zuschlug als damals, an jenem Tag, da er ihr Pferd abgeholt hatte. Er fragte sich, wer ihr beigebracht hatte, zu kämpfen – und verspürte eine Woge der Eifersucht, als er sich ausmalte, wie irgendein gesichtsloser Kerl die Hand um ihre schloss und ihr zeigte, wie man die Faust ballen musste, um nicht zu riskieren, sich die Finger zu brechen.

Ob derselbe Jemand sie gelehrt hatte, einen Degen zu führen? Es hatte ihn beeindruckt, wie geschickt und selbstsicher sie die Waffe handhabte, und von ihr beeindruckt zu sein ärgerte ihn ebenso sehr wie die Erinnerung an ihren ersten Kuss. Er würde bestimmt nicht alles wieder wachrufen, bis hin zu ihrem letzten Kuss, der sie beide auf ewig hätte einen sollen – zu spät war ihm klar geworden, dass sie ihm damit etwas vorgemacht hatte, so wie mit allem, was zwischen ihnen gewesen war.

Autor

Lorraine Heath
Lorraine Heath wurde in England geboren, zog jedoch als Kind mit ihren Eltern in die USA. Geblieben ist ihr eine tiefe Zuneigung zu beiden Ländern. Die Charaktere in ihren erfolgreichen Romanen werden oft als besonders lebensnah bezeichnet, was die New York Times-Bestseller-Autorin auf ihre im Psychologiestudium erworbenen Kenntnisse zurückführt. Lorraine...
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