Die List der stolzen Schottin

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Schottland, 1498: Die junge Joanna Macdonald denkt gar nicht daran, sich still ihrem Schicksal zu fügen - auf Befehl des Königs soll sie ihren Erzfeind Rory MacLean heiraten, der einst ihren Großvater dem Tod ausgeliefert hat! Doch auch eine Flucht kommt nicht in Frage. Stattdessen verbirgt sie bei Rorys Ankunft auf ihrem Schloss ihre weiblichen Reize hinter der Verkleidung eines Stallburschen. So kann sie ihren verhassten Gegner beobachten, ohne sich zu erkennen zu geben! Joanna ahnt nicht, dass Rory ihr Versteckspiel sofort durchschaut - und ihrer Schönheit trotz der Maskerade erliegt. Bis jetzt war ihr Erbe für den breitschultrigen Clanführer Grund genug, sie zu heiraten. Jetzt brennt er vor Verlangen, das stolze Herz seiner widerspenstigen Braut zu erobern ...


  • Erscheinungstag 12.12.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733769420
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

September 1496
Finlagan Castle, Insel Islay
Innere Hebriden, Schottland

Rory MacLean stand auf dem Achterdeck der Sea Dragon und beobachtete, wie die Flammen aus den Zinnen von Finlagan Castle schlugen. Sein Blick folgte den Rauchschwaden, die sich gemächlich über den blauen Himmel ausbreiteten, und verweilte dann wieder voller Genugtuung auf dem schwarz verkohlten Gemäuer.

Es hatte sie eine Woche ständigen Beschuss aus ihren Kanonen gekostet, bis es ihnen endlich gelungen war, Finlagans Verteidigungsanlage zu durchbrechen. Doch als sie erst einmal innerhalb der äußeren Umwallung gewesen waren, hatten sie mit ihren großen zweihändigen Breitschwertern die Rebellen niedergemäht und die Inselfestung im Sturm genommen.

Rory wandte sich von den schwelenden Trümmern ab. Langsam und gleichgültig ließ er den Blick über die Gruppe von Gefangenen streifen, die an Deck standen und zu ihrem brennenden Bollwerk hinaufschauten. Neben ihm stand sein Erster Maat und Cousin Fearchar, ein Hüne mit hellblauen Augen, der fast zwei Meter maß. Obwohl nicht so ein Riese wie sein Cousin, überragte auch Rory mit einem Meter sechsundachtzig die meisten seiner Mitmenschen und hatte ebenso wie Fearchar bereits viele Male seine Stärke im Kampf bewiesen.

„Unsere Aufgabe ist erledigt“, sagte Rory. „Kehren wir zurück nach Edinburgh und machen dem König Meldung.“

Fearchar MacLean grinste. Der breite Spalt zwischen seinen Vorderzähnen verlieh ihm trotz seiner harten, vernarbten Gesichtszüge, seiner Furcht einflößenden Augenklappe und seiner hünenhaften Gestalt ein jungenhaftes Aussehen. „Ja, Captain! Aufgabe erledigt. Brechen wir auf!“, rief er jubilierend. „Wir wollen diese verräterischen Hurensöhne doch nicht länger auf ihre Hinrichtung warten lassen.“

Das Gerassel der schweren Ketten lenkte Rorys Aufmerksamkeit wieder auf die beiden Gefangenen, die gerade unter Deck gebracht wurden. Iain Mor, den Engländern bekannt als Sir John Macdonald, sollte dem Ankläger der schottischen Krone übergeben und desVerrats angeklagt werden. SeinVerwandter, Somerled Macdonald, der berüchtigte Red Wolf of Glencoe, würde wegen Mordes hingerichtet werden.

Rorys Blick traf den von Iain Mor. Der Hass, der in den müden, tief liegenden Augen brannte, konnte MacLean nicht mehr beunruhigen. Mit einem angewiderten Knurren spuckte der Laird von Finlagan Castle auf das Deck. „Der Rächer des Königs! Pah! Verdammt sei Eure niederträchtige Seele für das, was Ihr mit diesem Ort gemacht habt.“

Nicht der Spitzname, den ihm das schottische Volk gegeben hatte, und auch nicht Iain Mors Verachtung konnten Rorys Stolz über seine Heldentat trüben. Mit der Leichtigkeit einer gepanzerten Faust, die eine lahme Schnecke zerschlägt, hatte er gemeinsam mit seinen Halbbrüdern Lachlan MacRath und Keir MacNeil die Rebellion auf den südlichen Hebriden niedergeschlagen.

„Die Schuld für das, was auf dieser Insel geschehen ist, lastet auf Euren Schultern, nicht auf meinen“, erwiderte Rory kühl. „Ihr allein habt das Leben Eurer Familien und Clansleute riskiert, um einen Flüchtigen vor dem Gesetz des Königs zu schützen. Mit Verrätern habe ich kein Mitleid.“

Hochmütig hob Iain Mor das bärtige Kinn. „Wir haben für die Rechte des Oberhaupts der Glencoe Macdonalds gekämpft.“

„Der Red Wolf besitzt keine Rechte“, erklärte Rory ihm. „Die hat er an dem Tag verloren, an dem er Gideon Cameron getötet hat und vor dem Gesetz davongelaufen ist.“

Trotz der Eisen, die ihn banden, knurrte Somerled wie ein in die Enge getriebener wilder Bär. Der Red Wolf of Glencoe hatte eine große Hakennase, Schultern so breit wie ein Maßstock und einen mächtigen Brustkorb. Unter seinem dichten grauen Bart, hinter dem sich seine markanten Gesichtszüge verbargen, verzog er den Mund zu einem spöttischen Grinsen. „Wer seid Ihr denn, MacLean? Ein Nichts! Ein Bettler ohne Land! Mit keinem anderen Heim als diesem armseligen Schiff. Indem Ihr die Burgen ehrenwerter Männer zerstört, hofft Ihr doch nur, Euch vom Stachel Eurer Schande zu befreien. Ihr raffgieriger Bastard, Ihr könnt einem Macdonald nicht das Wasser reichen.“

Blitzschnell drückte Fearchar seinen Dolch an Somerleds Kehle. „Sprich nicht so zu einem MacLean, du armseliger Wurm!“, warnte er ihn. „Sei vorsichtig! Ich kann dir die Kehle schneller aufschlitzen, als ich einen Fisch filetiere.“

Rory legte die Hand auf den Arm seines Cousins. „Lasst den Kerl“, sagte er ruhig. „Wir wollen den König doch nicht um eine rechtmäßige Hinrichtung bringen. Bald werden sie beide hängen. Lasst sie jetzt unter Deck bringen.“

Nachdem die zwei Gefangenen abgeführt worden waren, blickte Rory übers Meer zu den beiden Kriegsschiffen, auf denen man auf seine Befehle wartete. „Gebt das Signal zum Ankerlichten“, sagte er zu seinem Ersten Maat. „Es wird Zeit, meinen jüngeren Brüdern zu beweisen, wer von uns der bessere Seemann ist“, fügte er mit einem bitteren Lächeln hinzu. „Schon vor Einbruch der Nacht werden beide Schiffe nur noch hoffnungslos in unserem Kielwasser segeln.“

Fearchar schüttelte so heftig den Kopf, dass seine hellblonde Mähne im Seewind hin und her peitschte. „Keir ist uns schon eine halbe Meile voraus, außerdem hat er alle Frauen und Kinder aus der Burg an Bord. Bei all dem Geschrei und Gezeter wird er jeden Zentimeter Tuch gesetzt haben, um schnell voranzukommen. Wir haben bestimmt keine Chance, die Raven einzuholen.“

„Weh mir“, rief Rory lachend, „wenn ich Keir als Ersten in den Hafen einlaufen lasse. Niemand segelt der Sea Dragon davon, nicht einmal mein arroganter kleiner Bruder.“

Auf den Befehl, die Leinen loszumachen, kletterten die Seeleute flink in die Wanten und lösten die Segel. Die Sea Hawk erwiderte das Signal der Sea Dragon und machte sich bereit beizudrehen. Die Black Raven, die etwas weiter entfernt lag, antwortete, indem sie die Bramsegel bereits in den Wind drehte.

„Langsam gegen den Wind nach Luv!“, befahl Rory dem Steuermann.

Mit vollen Segeln, hart am Wind, schoss die Sea Dragon vorwärts.

In geschlossener Formation segelten die drei Galeonen aus der Bucht von Islay hinaus auf die offene See. In wildem Wettrennen glitten die voll getakelten Segler durch das graue Wasser. Bruder kämpfte gegen Bruder. Der Segler durchschnitt die weißen Schaumkronen der Wellenberge. Die Segel bauschten sich prall im Wind. Gischt klatschte gegen das Tuch. Die Takelage knarrte. Die hohen Masten bebten. Jedes Mitglied der Mannschaft wusste, dass der Kapitän einem jeden von ihnen fünfzig Kronen extra zahlen würde, wenn ihr Schiff als erstes den Hafen erreichte.

Dann, nachdem ihre dem Untergang geweihte Fracht entladen und ihr Proviant wieder aufgefüllt war, setzten die drei Kriegsschiffe, im Auftrag von James IV. zum Schutz der schottischen Handelsleute vor holländischen und englischen Piraten bestimmt, wieder die Segel – in Richtung Kontinent und dem geheimnisvollen Beutegut, das dort auf sie wartete.

1. KAPITEL

Mai 1498
Kinlochleven Castle
Western Highlands

Fearchar ließ den Blick über die gewaltige, vierzig Fuß hohe Burgmauer schweifen und verzog verdrießlich das Gesicht. „Willkommen in Eurem neuen Heim, Laird!“

Rorys finstere Miene wurde noch finsterer, als er an der Befestigungsanlage hochblickte. „Wenn ich das hier sehe, überkommt mich ein verdammt eigenartiges Gefühl.“

Hätte er sich der Hoffnung hingegeben, dass die Kinlochlevens ihren zukünftigen Burgherrn mit feierlichen Spruchbändern und einem Freudenfest empfangen würden, dann wäre er bitter enttäuscht gewesen. Doch da ihm solche Fantastereien fremd waren, ritt er, die Hand am Heft seines Schwertes, mit mürrischem Blick über die heruntergelassene Zugbrücke.

Absolut kein Widerstand? Das irritierte ihn.

Das Vermögen einer Erbin überließ man doch nicht widerstandslos dem Feind. Rory hatte nicht erwartet, dass die Macdonalds sich dem Dekret des Königs kampflos unterwarfen. Deshalb hatte er auch fünfzig Verwandte in seinem Gefolge, alle bewaffnet und bereit zu kämpfen, falls er sich mit Gewalt Zugang zu der Festung verschaffen musste. Sogar für den Fall, dass eine längere Belagerung erforderlich war, hatte er vorgesorgt. Dann wollte er aus Appin, der Burg seines Onkels, Verstärkung anfordern.

Es ist wahrlich nicht meine Idee gewesen, in ein Nest verräterischer Vipern einzuheiraten, dachte Rory. Den absurden Plan, die Glencoe Macdonalds auf friedlichem Wege unter die Autorität der schottischen Krone zu bringen, hatte James IV. ausgeheckt.

Nachdem sie den Torbogen passiert hatten und sich hinter den zweieinhalb Meter dicken Sandsteinmauern befanden, schien Fearchar dieselbe Unruhe wie sein Cousin zu verspüren. Angespannt schaute er sich nach allen Seiten um und ließ seinen Blick auf der Suche nach Anzeichen für einen Hinterhalt über die äußeren Burgmauern schweifen.

Aber die Bewohner von Kinlochleven gingen ruhig ihrer täglichen Arbeit nach und nahmen kaum Notiz von dem großen Reitertrupp. Der Schmied schwang seinen Hammer, am Feuer neben ihm stand sein kräftiger Lehrling. Der Küfer mit einem Alefass auf der Schulter ging gemächlich über den grasbedeckten Innenhof. Zwei Mägde rannten verschreckt in eine Scheune und blickten sich dabei so ängstlich um, als sei der Satan persönlich hinter ihnen her. Vom Backhaus wehte der verführerische Duft von frischem Brot herüber.

Keine Menschenseele entbot den Ankömmlingen ein Wort des Grußes.

Auf Rorys Zeichen stiegen seine Männer von den Pferden und folgten ihm in die düstere Eingangshalle des Wohnturms. Ein Mann, Anfang sechzig vielleicht, mit dünnem braunen Haar und krummem Rücken, schien hier auf ihre Ankunft gewartet zu haben, denn er erhob sich in dem Moment von einer geschnitzten Holzbank, als Rory und sein Gefolge die Halle betraten. Der Alte litt offensichtlich an einer Beinverwundung, denn er bewegte sich mit einem nicht zu übersehenden Hinken.

„David Ogilvy, Senneschall von Kinlochleven“, stellte er sich Rory mit einem knappen Gruß vor. Ein schneller Blick – nur erkennbar durch ein kurzes Heben der struppigen Brauen über den etwas hervortretenden Augen –, und er hatte die Stärke des Gegners taxiert. „Bitte folgt mir, Laird.“

Rory nickte. Mit schroffer Geste bedeutete er Ogilvy voranzugehen. Langsamen schlurfenden Schrittes führte der Burgvogt die Ankömmlinge über eine Steintreppe in die obere Halle des Gemäuers. Die Macdonalds standen abwartend in kleinen Gruppen beisammen – die Waffen in der Scheide. Nur ungefähr zwanzig von ihnen waren Krieger, die übrigen Bedienstete, unter ihnen auch ein paar männliche. Etwas abseits, am Rand der Versammlung, stand ein dünner, asketisch wirkender Priester. Die Hand hatte er schützend auf die Schulter eines Knaben mit auffallend schmutzigem Gesicht gelegt.

Bunte Fahnen und Wappen schmückten die Holzbogendecke, kostbare Gobelins bedeckten die Wände. Reich verzierte Schränke enthielten Silberkrüge und mit Juwelen besetzte Teller. Selbst die Böden waren mit herrlich dicken Teppichen von der Levante bedeckt, wie man sie auch in ottomanischen Harems finden konnte.

Am äußersten Ende der großen Halle saß eine Dame mittleren Alters mit goldbestickter Haube. Eine Handarbeit auf dem Schoß verfolgte sie angespannt, wie die Fremden sich ihr näherten. Dicht neben ihrem Stuhl stand ein Mädchen – ungefähr in dem Alter wie Rorys zukünftige Braut –, das eine fette Katze auf dem Arm hielt.

„Laird MacLean, willkommen auf Kinlochleven Castle“, grüßte die Frau, noch bevor Rory sie erreicht hatte. „Ich bin Lady Beatrix, Lady Joannas Cousine.“ Ohne ihm ihre Hand zum Gruß zu reichen, fuhr sie brüsk fort: „Es tut mir leid, dass mein Mann Euch nicht begrüßen kann. Der Brief des Königs erreichte uns erst gestern. Laird Ewen weilt auf Mingarry Castle und hat noch nichts von der beabsichtigten Verbindung erfahren.“

Während Rory als Antwort auf die unterkühlte Begrüßung kurz den Kopf neigte, musterte er das junge Mädchen aus den Augenwinkeln. Der König hatte ihm berichtet, dass die Erbin ihrem berüchtigten Großvater ähnlich sah. Ihre große Nase, der plumpe Körperbau und das krause Haar – die Ähnlichkeit mit Somerled Macdonald war unverkennbar.

Insgeheim hatte Rory immer gehofft, dass seine zukünftige Braut – natürlich klug gewählt – einmal hübsch anzusehen sei. Da er jedoch kein eigenes Land besaß, das er mit in die Ehe bringen konnte, stand es ihm nicht an, Gesicht und Figur des Mädchens zu beanstanden.

Das englische Blut in den Adern seiner zukünftigen Frau war für ihn eine weitere Enttäuschung. IhrVater, Alasdair Macdonald, hatte Lady Anne Neville geheiratet, die er wohl während einer Reise nach London kennengelernt hatte, wo er sich als Berater für Edward IV. gegen den verstorbenen König von Schottland, den Vater von James IV., hatte anwerben lassen wollen. Da seine zukünftige Braut ihr halbes Leben in Cumberland zugebracht hatte, musste Rory sich mit einer Frau vermählen, die nicht nur der Spross eines verräterischen Teufels, sondern auch noch eine englische Hexe war.

Nun war er hier in Kinlochleven, um – wie es sich für einen gehorsamen Vasallen des Königs und einen Bräutigam gehörte – seiner zukünftigen Braut das Brautgeschenk zu übergeben. Himmel, dachte Rory, während er an die prächtige Holzdecke blickte, ein hübsches Mädchen habe ich nicht erwartet und auch kein festliches Willkommen. Für eine Burg wie diese würden die meisten Männer glücklichen Herzens ein zahnloses, altes Weib heiraten. Entschlossen, das Schlimmste hinter sich zu bringen, wandte er sich an die junge Erbin.

„Laird MacLean, das ist meine Tochter, Lady Idoine“, stellte Beatrix sie vor.

„Milady“, grüßte Rory sie freundlich und lächelte zum ersten Mal seit Betreten der Burg.

Völlig verschreckt drückte Idoine die Katze so fest an sich, dass das gepeinigte Tier sie kratzte und miauend fortsprang. „Autsch“, schrie Idoine und versetzte dem davonhuschenden Fellball einen Tritt mit dem Seidenschuh. Wütend verfolgte sie, wie das Tier quer durch die Halle und dann zur Tür hinausflitzte.

Erleichtert schaute Rory sich um. „Und Lady Joanna?“, erkundigte er sich, da er keine weitere weibliche Person zwischen all den Männern und jungen Burschen entdecken konnte.

„Meine Cousine ist nicht hier“, antwortete Beatrix beinahe fröhlich.

Abrupt drehte sich Rory wieder zu den beiden Frauen um. „Nicht hier? Sagtet Ihr nicht, Ihr hättet die Nachricht des Königs gestern erhalten? Ich erwarte, dass die Jungfer ihren künftigen Ehemann begrüßt!“

Beatrix hielt Rorys grimmigem Blick stand, aber in ihren Augen entdeckte er ein verdächtiges Blitzen. Auf ihren Wangen bildeten sich dunkelrote Flecken. „Das s…ollte sie auch, Laird“, antwortete sie mit hoher, zitternder Stimme. „A…aber es ist nicht so. Nachdem man ihr den Brief vorgelesen hatte, ist Joanna sofort verschwunden.“

„Verschwunden?“

Wie zur Bestätigung schaute Beatrix zu ihrer Tochter. Idoine nickte heftig. „Sie ist fort, Laird.“

Rory trat einen Schritt näher, drohend stand er vor den beiden ängstlich zurückweichenden Frauen. „Wohin ist Lady Joanna? Nach Mingarry Castle?“

„Ich habe keine Ahnung, wo sich meine Cousine aufhält“, antwortete Beatrix. Vor Aufregung zitterten ihre beringten Finger so sehr, dass ihr der Stickrahmen auf den Boden fiel. Sie langte danach und sah dann ängstlich zu Rory auf. „Wir haben überall nach ihr gesucht, nachdem wir bemerkt hatten, dass sie fort war. Lady Joanna verschwindet häufig ohne Erklärung. Immer wenn sie etwas bedrückt. Man findet sie dann meist wie im Taumel durch den Wald oder durch irgendein Tal wandernd.“ Mit zittrigem Finger tippte sich Beatrix auf die Stirn. „Versteht Ihr? Joanna ist ein wenig einfältig. Der König hat Euch sicherlich schon gewarnt.“

„Ich erhielt keine derartige Warnung“, grollte Rory.

Fearchar, der direkt hinter ihm stand, trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. „Sollen wir die Burg durchsuchen?“

„Oh ja. Bitte!“, rief Beatrix. „Ich sorge mich immer um das arme Ding, wenn es verschwunden ist. Manchmal finden wir sie erst nach Tagen … halb verhungert und völlig verdreckt. Versteht Ihr, sie ist hilflos wie ein kleines Kind, wenn man sich nicht um sie kümmert.“

Fluchend zog Rory sein Schwert. Sofort folgten seine Männer seinem Beispiel, zeigten ihre blanken Breitschwerter und Dolche. Er drehte sich zu Lady Joannas Gefolgsleuten um. „Ich bin der MacLean!“ Laut schallte seine Stimme durch die stille Halle. „Auf Befehl König James’ von Schottland gehört diese Festung mir, ebenso wie alle Besitztümer und alle Schätze meiner zukünftigen Frau.“

Mit mürrischen Gesichtern beobachteten ihn die Macdonalds, machten aber keinerlei Anstalten, ihre Schwerter zu ziehen. In ganz Schottland war der Clan der MacLeans für seinen barbarischen Kampfeswillen bekannt. Beim geringsten Widerstand würden die herrlichen Teppiche in der Halle vom Blut der Macdonalds durchtränkt sein.

„Entwaffnet sie!“, befahl Rory. „Durchsucht alle Gebäude innerhalb der Burgmauern. Und bringt mir sofort jedes verdammte Weib von Kinlochleven in diese Halle.“

Wie eine vom Wolf getriebene Herde verstörter Schafe kamen nach kurzer Zeit aus allen Richtungen die Frauen und Mädchen in die Halle gelaufen. Viele hatten offensichtlich Angst vor dem großen, wild aussehenden MacLean, einige weinten und verbargen ihr Gesicht hinter ihrer Schürze, andere hielten in mütterlicher Fürsorge ihre verschreckten Kinder an der Hand oder drückten die Halbwüchsigen eng an ihre Röcke.

„In einer Reihe aufstellen!“, befahl Rory, während er sein Schwert zurück in die Scheide schob.

Die Hände auf dem Rücken verschränkt, marschierte er an den Reihen der Frauen entlang. Er war auf der Suche nach einem Mädchen von ungefähr siebzehn Jahren mit der Hakennase und den wirren Locken des Red Wolf – und dem leeren Blick einer Schwachsinnigen.

In allen Größen, in allen Formen standen sie da. Große, schlanke Hausmädchen mit aufgeworfenen Lippen und spitzem Kinn; die Köchin und ihre Tochter, beide rund wie Heustadel; ältere Frauen, die gewohnt waren, Leinen zu nähen und Wäsche zu bleichen; Milchmädchen mit Grübchen in den prallen Wangen und rauen Händen als Beweis ihrer Tätigkeit; hakennasige Hexen, die dem Spinnen und Weben nachgingen, und junge Mädchen mit frischen, sommersprossigen Gesichtern und langen Zöpfen, die die Enten und Gänse hüteten.

Vor jeder einzelnen Bediensteten blieb Rory stehen und fragte sie nach ihrem Namen und ihrer Stellung im Haushalt. Die meisten schluchzten so herzzerreißend, dass er kaum ein Wort verstehen konnte. Wenn er sie bat, ihre Antwort zu wiederholen, schlugen sie die Augen nieder, als ob sie dem Satan persönlich Rede und Antwort stehen müssten.

„Oh mein Gott“, sagte er leise zu Fearchar. „Was für eine Herde plärrender, furchtsamer Weiber. Diese Jammerei kann einen ja zur Verzweiflung bringen.“

„Das stimmt“, erwiderte sein Cousin grinsend. „Aber zehn von denen zusammen sind nicht so schlimm wie ein einziges Weib der MacLeans.“

Es war klar, dass keine der weinenden Frauen die Herrin dieser prachtvollen Burg sein konnte. Der König hatte Rory berichtet, dass die Großeltern seiner zukünftigen Braut mütterlicherseits der Marquess und die Marchioness of Allonby waren, deren Erbin sie zusammen mit ihrer Tante war. Als Teil ihres Erbes hatte Lady Joanna Allonby Castle in Cumberland erhalten. Begriffsstutzig oder nicht, auch Lady Joanna würde all die selbstgefällige Arroganz besitzen, die im englischen Adel so fest verwurzelt war.

„Sind das alle?“, fragte Rory. Fearchar nickte mürrisch.

Rory ging zurück zu Idoine, die sich ängstlich an den Arm ihrer Mutter klammerte. Eingehend musterte er das Mädchen. Die mittelgroße, junge Frau mit den groben Gesichtszügen sah aus wie neunzehn. Sie konnte aber auch jünger sein. Hart gearbeitet hatten ihre Wurstfinger noch nie. Das Kleid, das sie trug, war kostbar. Die roten Samtärmel und der Hermelinbesatz waren der Garderobe einer Königin würdig.

Seiner intensiven Musterung hielt Idoine nicht stand. Sie schlug beide Hände vor den Mund, um ihr schrilles, verängstigtes Kichern zu unterdrücken. Furcht glänzte in den wässrigen blauen Augen. Enttäuscht musste Rory feststellen, dass Idoine die einzige Frau auf der Burg war, die nach Alter und Rang als Braut infrage kam. Allerdings besaß sie keine deutliche Ähnlichkeit mit dem Red Wolf of Glencoe. Es konnte jedoch auch eine nur allzu offensichtliche List sein, und das mahnte ihn zur Vorsicht.

Der Irrtum ließ sich möglicherweise nicht korrigieren, falls er aus freien Stücken die falsche Dame heiratete. Wenn er die Jungfer einmal im Bett gehabt hatte, war er womöglich ohne Rücksicht auf ihre wahre Identität verpflichtet, den Ehevertrag einzuhalten. Die augenscheinlich ehrliche Furcht des Mädchens war durchaus verständlich, wenn man bedachte, mit welchem Zorn er reagieren könnte, wenn er später herausfand, dass er getäuscht worden war.

Rory entschied sich blitzschnell. Da die Verwandtschaft seiner zukünftigen Braut ihn sowieso für den Satan persönlich hielt, wollte er auch als solcher handeln. Jäh riss er ein vielleicht zweijähriges Kind der Mutter aus dem Arm. Er zog seinen Dolch und hielt ihn dem unschuldigen Kind an den Hals. „Der Kleine stirbt, wenn Lady Joanna sich nicht sofort zu erkennen gibt“, erklärte er der erstarrten Versammlung und wiederholte seine Drohung noch einmal auf Englisch, da er nicht wusste, ob die Jungfer von Glencoe ihrer gälischen Muttersprache nach so vielen Jahren bei ihren englischen Verwandten in Cumberland noch mächtig war. Falls sie ihn in ihrem Versteck hörte, musste sie sich nun ganz gewiss zu erkennen geben.

Fearchar verschränkte die Arme vor der Brust und starrte gleichgültig geradeaus, obwohl er genauso fassungslos über Rorys brutale Ankündigung war wie der Rest seiner Männer. Das Gesicht mit den vielen Narben und der schwarzen Augenklappe, die gelangweilte Miene, die der Riese zur Schau stellte, mussten auf die Macdonalds wirken, als ob es bei den MacLeans gang und gäbe wäre, kleinen Kindern aus purer Freude den Kopf abzuschlagen.

Bedrückende Stille herrschte in der Halle, nur unterbrochen von den unterdrückten Schluchzern der verängstigten Mutter. Regungslos standen die Macdonalds da und starrten auf ihn. Jede einzelne Gewalttat, die ihnen über den Rächer des Königs zu Ohren gekommen war, musste ihnen in diesem Moment durch den Kopf gegangen sein.

Eine quälend lange Weile sagte niemand ein Wort. Dann löste sich in der hintersten Ecke der Halle von seinem Platz neben dem Priester ein dreckiger Bursche. Die Wangen rußig schwarz, die dunkelblauen Augen vor Furcht weit aufgerissen, hielt er seine schmutzige Hand in einer kläglichen Bitte um Gnade in die Höhe. Er öffnete den Mund, brachte aber vor lauter Angst kein Wort heraus.

„Wartet!“, schrie Beatrix. „Wartet! Ich werde Euch die Wahrheit sagen. Verschont das Kind!“

Rory drehte sich um. Beatrix packte ihre Tochter am Arm und zerrte das sich wehrende Mädchen zu ihm in die Mitte der Halle. „Das ist Lady Joanna“, erklärte sie atemlos. „Meine Tochter Idoine ist bei ihrem Vater auf Mingarry Castle.“

Rory reichte der Mutter ihr Baby zurück und erlaubte ihr mit einem gnädigen Kopfnicken, sich zu entfernen. Natürlich hatte er nie vorgehabt, dem Kind Gewalt anzutun.

Joanna lehnte sich erleichtert gegen Pater Thomas. Das Herz schlug ihr in ständigem Stakkato bis zum Hals. Verkleidet als Hausbursche, mit ausgefranstem Plaid, zerlumptem Hemd, löchrigen Strümpfen und einer tief über die Ohren gezogenen Strickmütze, unter der sie ihr langes Haar verbarg, beobachtete sie das makabre Spiel des MacLean. Irgendwie faszinierte sie der Mann. Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, wie verwegen und männlich er war. Doch dann rief sie sich zur Ordnung. Hatten ihre Lehrer sie nicht gewarnt, dass auch Luzifer vor seinem Fall ein bildschönes Mannsbild gewesen war?

Mit weit über einen Meter achtzig überragte der MacLean die meisten seiner Gefolgsleute. Alle MacLeans waren riesige, Furcht einflößende Kerle, aber ihr Anführer besaß eine nahezu diabolische Ausstrahlung. Wenn auch ein gnädiges Schicksal den Sea Dragon, wie man ihn nannte, mit goldblondem Haar und grünen Augen beschenkt hatte, so legte er dennoch jene Hinterlist und Skrupellosigkeit an den Tag, vor der man sie immer gewarnt hatte.

Joanna war sich recht sicher gewesen, dass er auf ihre List hereinfallen und sofort nach Mingarry Castle aufbrechen würde, um seine verschwundene Braut einzufordern. Nachdem sie gestern Morgen den Brief des Königs gelesen hatte, in dem ihr befohlen wurde, den Clanführer der MacLeans zu ehelichen, war sie zunächst fassungslos gewesen. Doch dann hatte sie eine grenzenlose Empörung empfunden und einen Entschluss gefasst.

Sie dachte daran, weshalb und wie es dazu gekommen war, dass sie jetzt hier in Lumpen vor dem mächtigen MacLean stand. Beatrix und Idoine hatten, die Hände im Schoß gefaltet, auf einer großen Truhe am Fußende ihres Bettes gesessen. Neben den beiden stand an der einen Seite Pater Thomas und an der anderen Maude Beaton, Joannas ehemalige Kinderfrau und heutige Gesellschafterin. „Ihr wundert euch wohl, weshalb ich euch heute Morgen in meine Kammer bestellt habe“, hatte sie begonnen, als sie die verwunderten Blicke ihrer Lieben sah. Mit zwei Fingern hielt sie die Stück Pergament wie ein widerliches Insekt in die Höhe, das sie gerade vom Saum ihrer Robe entfernt hatte. „Diese Nachricht kommt vom König“, erklärte Joanna. „Von diesem Schurken, der mich unter seine Vormundschaft gestellt hat. Von diesem Schurken, der meinen Großvater hat hängen lassen, nachdem man ihn zuvor fälschlicherweise des Mordes und des Verrats bezichtigt hatte. Dieser James Stewart informiert mich mit diesem Schreiben, dass er einen Bräutigam für mich ausgewählt hat.“

„Oh Gott, nein!“, jammerte Beatrix händeringend. „Das darf nicht sein, meine Liebe! Du wirst Andrew heiraten … auch wenn es noch etwas dauert, bis wir den Dispens aus Rom bekommen.“

„Sie darf meinen Bruder nicht heiraten, wenn der König etwas anderes befiehlt“, erklärte Idoine mit einem sorglosen Schulterzucken.

Beatrix warf ihrer Tochter einen wütenden Blick zu. Idoine war achtzehn und verärgert über die Tatsache, dass trotz ihres fortgeschrittenen Alters ihre Eltern noch keinen geeigneten Ehemann für sie gefunden hatten, obwohl sie bereits die Ehe ihrer jüngeren Verwandten arrangiert hatten.

Ewen Macdonald, Joannas Cousin, plante die Vermählung zwischen seinem sechzehnjährigen Sohn Andrew und der Erbin und neuen Clanführerin. Doch nach kanonischem Recht waren Braut und Bräutigam zu nahe verwandt, sodass ein päpstlicher Dispens erlangt werden musste, bevor die Eheschließung stattfinden konnte.

„Ich werde nicht heiraten, wie der König verfügt“, hatte Joanna erklärt und dabei das Schreiben vor den erstaunten Augen der Anwesenden erst in zwei Teile und anschließend sicherheitshalber in noch kleinere Stücke zerrissen. „Bevor ich das tue, stürze ich mich lieber von der höchsten Stelle der Befestigung.“

„Wen hat der König Euch denn als Ehemann ausgewählt, Milady?“, fragte Pater Thomas. Er schien absolut nicht beunruhigt, weder über die verräterische Geste noch über die heroische Drohung mit dem Freitod, denn wie alle anderen auf der Burg kannte der Priester Joanna schon seit ihrer frühesten Kindheit, noch bevor sie im Alter von sieben Jahren mit ihrer Mutter nach Cumberland gegangen war.

Joanna ließ die Pergamentschnitzel zu Boden fallen und trat mit dem Fuß darauf. „Nach diesem Schreiben sollte ich diese hundsgemeine, heimtückische Laus heiraten, die meinen unschuldigen Großvater gefangen genommen und seinen Henkern ausgeliefert hat.“

Schreckensbleich sprang Beatrix auf, nach Luft ringend hielt sie sich die Hände vor die Brust.

„Bei Gott, Ihr habt euch nicht verhört“, sagte Joanna, irgendwie beruhigt durch die erschrockene Reaktion der Anwesenden. „Man hat mich verlobt mit dem brutalen, lüsternen und abartigen Anführer des MacLean-Clans.“

„Oh Gott, steh uns bei“, murmelte Maude, schlug ein Kreuz und küsste inbrünstig das geweihte Bildnis der Heiligen Maelrubha, das sie flugs unter ihrem Mieder hervorgeholt hatte. Idoine starrte Joanna einen Moment lang völlig fassungslos an, dann blitzte plötzlich so etwas wie Freude in ihren kleinen Augen auf, und Joanna wusste genau, was ihre Cousine dachte: Gott sei Dank, dass es nicht mich getroffen hat. Und Beatrix, die endlich ihre Stimme wiederfand, jammerte: „Oh je, nun sind all unsere Pläne zunichte.“

Pater Thomas stand die Sorge um Joanna ins schmale Gesicht geschrieben. „Wie konnte der König Euch nur mit unserem Erzfeind verloben?“, fragte er kopfschüttelnd.

Joanna schnippte mit den Fingern. „Genauso einfach, wie er mich gegen meinen Willen zu seinem Mündel gemacht hat.“

„Du bekommst einen Ehemann mit Schwanz“, bemerkte Idoine mit einem süffisanten Lächeln, während sie eitel an ihrem Samtärmel zog und mit ihren dicken Fingern genüsslich über den weichen hellblauen Stoff strich.

„Psst!“, rief Maude sie zur Ordnung. „Macht die Dinge nicht noch schlimmer. Meine Herrin hat schon Kummer genug.“

„Ach, versucht doch nicht, die Wahrheit vor mir zu verschweigen“, wehrte Joanna bekümmert ab. „Was Idoine gesagt hat, ist doch kein Geheimnis. Ich weiß sehr wohl, was sich unter dem Plaid dieses abscheulichen Satans verbirgt.“

Alle Kinder der Macdonalds kannten die Geschichte von den MacLeans: Einst waren sie Seedrachen gewesen, hatten später menschliche Gestalt angenommen und waren in langen Schiffen mit Drachenköpfen am Bug von Norden kommend grausam plündernd und brandschatzend in Schottland eingefallen. Beim Feuer erzählte man sich die erschütternde Geschichte, dass seitdem alle Clanführer der MacLeans mit einem schuppigen Drachenschwanz geboren wurden. Kurz nach der Geburt wurde dem Säugling der Schwanz gekürzt, so dass sein Träger ihn unter seinem Plaid verbergen konnte. Bis auf den heutigen Tag trug deshalb auch jeder Anführer des verruchten Clans den Namen Sea Dragon.

Unruhig ging Joanna in der Kammer auf und ab; verzweifelt versuchte sie eine Lösung zu finden. Als Erbin zweier großer Familien hatte man sie gelehrt, dass sie heiraten musste, wen immer man für sie auswählte. Die galanten Ritter in den englischen Balladen, die die Troubadoure besangen, waren lediglich Ausgeburten ihrer Fantasie.

Das hier war die Realität.

Ebenso Realität wie jener grausame Tag im vergangenen Frühjahr, als Somerled Macdonald am Galgen in Edinburgh hing. Joanna verachtete James Stewart. Aber mehr noch als den Mörder ihres Großvaters hasste sie den Höllenhund, der ihn gefangen genommen und an den Galgen gebracht hatte.

„Was gedenkt Ihr zu tun, Milady?“, fragte Maude. Sie kreuzte die Arme vor der Brust und wartete seelenruhig ab. Joannas Gesellschafterin blieb wie immer sachlich und gefasst. Sie war stets wie der unerschütterliche Fels in der Brandung im sonst so risikoreichen Leben ihres Schützlings.

„Irgendwie muss ich Zeit gewinnen. Ich muss die Hochzeit mit dem MacLean hinausschieben, bis der Dispens aus Rom kommt.“

Idoine rückte ihre weiße Haube zurecht, lächelte kokett und wickelte mit gespielter Unschuld eine braune Locke um ihren Finger. „Sich offen dem Befehl des Königs zu widersetzen, wäre Verrat“, mahnte sie ihre Cousine.

„Dann werde ich es eben heimlich tun“, erklärte Joanna. Sie packte Pater Thomas am Arm. „Ruft sofort alle Burgbewohner in der großen Halle zusammen.“

„Was habt Ihr vor, mein Kind?“, fragte der Priester besorgt.

„Ich habe einen Plan, Pater. Aber er kann nur gelingen, wenn mir dabei alle Leute von Kinlochleven, angefangen vom kleinsten Jungen bis zum ältesten Großvater, helfen. Wenn nur einer nicht den Mund hält, bin ich verloren. Dann werde ich entweder wegen Verweigerung des königlichen Befehls als Verräterin hängen oder gezwungen, den MacLean zu heiraten.“

„Ich ließe mich lieber hängen“, erklärte Idoine freudestrahlend.

Joanna riss sich zusammen. Dort, in der Mitte der Halle, stand die Personifizierung des Bösen. Der Blick, mit dem er Idoine musterte, war so bestürzt, dass er selbst einen Leichnam zum Kichern gebracht hätte. MacLean schien wirklich zu glauben, dass Cousine Idoine seine zukünftige Braut war. Und von der Grimasse zu urteilen, zu der sich sein markantes Gesicht verzog, musste diese Vorstellung wie bittere Galle auf seiner gespaltenen Drachenzunge schmecken.

„Das ist Lady Joanna“, wiederholte Beatrix, die ihre Tochter fest an sich presste, damit sie nicht davonrannte. „Sie ist Eure versprochene Braut.“

„Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr!“, schrie Idoine hysterisch. Der Gedanke, zu einer Heirat mit diesem wilden Mann gezwungen zu werden, brachte sie fast um den Verstand. „Ich bin nicht Joanna!“ Sie versuchte sich loszureißen, aber ihre Mutter schubste sie zu MacLean.

„Sei still, du undankbares Frauenzimmer“, schnauzte Beatrix. „Willst du, dass er das kleine Kind ermordet, nur um dich vor einer ungewollten Heirat zu retten?“ Wütend zwickte sie Idoine ins Ohrläppchen.

Das junge Mädchen heulte laut auf vor Schmerz und Scham. Es rieb sich das Ohr und schaute sich mit Tränen in den Augen im Saal um. „S…sagt es ihm“, bat sie die Clanmitglieder. „S…. sagt ihm, dass ich nicht die Erbin bin, die er sucht. Sagt ihm, dass ich nicht die M…maid of Glencoe bin.“

Niemand rührte sich. Nicht ein Auge zuckte. Kein einziger Macdonald gab die Wahrheit preis.

Der verzweifelte Blick in den Augen ihrer Cousine brachte Joannas Entschlossenheit mehr ins Wanken, als der MacLean es jemals gekonnt hätte – selbst wenn er sie gefoltert, gerädert oder für den Rest ihrer freudlosen Tage bei schimmeligem Brot und brackigem Wasser in seinem Verlies in Ketten gelegt hätte. Obwohl Beatrix ihre eigene Tochter opfern wollte, damit ihre Nichte ihren Sohn Andrew heiraten konnte, durfte es Joanna nicht zulassen, dass Idoine das schreckliche Schicksal erleiden sollte, das für sie selbst – und nur für sie – bestimmt war.

Im Stillen bat Joanna um Gottes Hilfe, dass sie keine Schande über den alten, ehrwürdigen Namen der Macdonalds brächte. Mehr als alles andere wünschte sie, dass die Gefolgsleute ihres Vaters, einst alle mächtige Lords über die Inseln, stolz auf sie sein könnten.

Ja, sie war eine Macdonald. Ja, sie war mutig und unbesiegbar. Aber jetzt hatte sie höllische Angst.

In diesem Moment schmerzhafter Selbsterkenntnis begriff Joanna, dass sie sich lieber dem Beelzebub persönlich übergeben lassen wollte, als sich dem perfiden, teuflischen drachenschwänzigen MacLean zu ergeben.

Als sie dennoch vortreten wollte, griff Pater Thomas nach ihrer Hand. „Wartet ab, was jetzt geschieht“, wisperte er.

MacLean besaß das Gehör eines Fuchses. Er hatte das leise Flüstern gehört und drehte sich um. Aufmerksam sah er die beiden an. Lange musterte er Joanna – es kam ihr wie eine Ewigkeit vor –, dann blitzte plötzlich etwas in seinen Augen. „Priester“, rief er, „bringt mir eine geweihte Reliquie aus der Kapelle.“

Pater Thomas eilte davon und kam nach kurzer Zeit mit einem schmalen Goldkästchen zurück, in dem ein Fingerknochen des heiligen Duthan lag.

„Öffnet das Kästchen!“, befahl MacLean. Pater Thomas gehorchte, und der hünenhafte Krieger wandte sich an Idoine: „Legt Eure Hand auf die Reliquie und schwört bei dem Heiligen, dass Ihr nicht Lady Joanna seid.“

Idione hörte auf zu schluchzen, schluckte und holte laut Luft. Ihr Kinn zitterte, während sie mit flehentlichem Blick ihre Mutter ansah.

Im Saal herrschte erwartungsvolle Stille. Selbst die Engel in den Deckenbildern schienen den Atem anzuhalten.

Böse und warnend sah Beatrix ihre Tochter an. Zitternd vor Angst schaute Idoine kurz zu Joanna, dann wieder auf den despotischen Mann.

Was Joanna in dieser Sekunde in den Augen ihrer Cousine erkannte, sagte ihr alles, was sie wissen musste. Insgeheim sprach sie ein Dankgebet. Idoine hatte absolut nicht vor, sich zu opfern, nur damit ihr Bruder eine Erbin ehelichen konnte.

„Los“, befahl MacLean grimmig. „Schwört bei dieser heiligen Reliquie, dass Ihr nicht die Maid of Glencoe seid.“

Ihre Hand zitterte, als Idoine zwei Fingerspitzen auf den Knochen legte. „Ich schwöre“, flüsterte sie. „Ich schwöre, dass ich nicht die Maid of Glencoe bin. Beim heiligen Finger von St. Duthan schwöre ich, dass ich nicht Lady Joanna Macdonald bin.“

Ein kaum merkliches Lächeln huschte über die Lippen des Sea Dragon. „Ich glaube Euch nicht. Nur eine Macdonald würde auf den Knochen eines Heiligen einen Meineid schwören.“

Sein Ohrring glänzte im Schein der Kerzen so smaragdgrün, wie seine Augen jetzt vor Zufriedenheit glitzerten. Joanna beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, unfähig, die seltsamen Gefühle zu verstehen, die in ihrem Innern aufstiegen.

Um Gottes willen … dieser Mann besaß einen atemberaubenden Mund … und diese intelligenten Augen – sie versprachen Schlagfertigkeit und Humor.

Doch dann rief sie sich ein zweites Mal streng zur Ordnung: Auch Luzifer war vor seinem Fall ein schöner Mann gewesen.

Sie musste den MacLean so lange täuschen, bis Ewen zurückkam und sie und Idoine rettete.

Rory steckte den Dolch zurück in die Scheide. Er drehte sich um und musterte wieder argwöhnisch die Macdonalds. Sie versuchten ihn auszutricksen. Das war klar. Lady Idoine hatte die Wahrheit gesagt. Das Grauen in ihren Augen war echt. Rory war auch der verzweifelte Blick aufgefallen, den sie dem schmutzigen Burschen zugeworfen hatte – und dass der kein Junge war, sondern ein Mädchen, darauf wäre Rory jede Wette eingegangen.

Während der vermeintliche Junge auf seine ausgetretenen Schnallenschuhe blickte, entdeckte Rory unter der gestreiften Strickkappe, die die Haare versteckten, die feinen Gesichtszüge, die langen rotbraunen Wimpern – niedergeschlagen, um die erschrockenen blauen Augen zu verbergen –, die anmutig geschwungenen Brauen, die zarten Hände. Meine Güte, glaubten die Macdonalds denn wirklich, er würde die langen Wimpern und den reinen Teint unter dem Schmutz auf den Wangen nicht bemerken? Wer auch immer das Mädchen sein mochte, es war auf jeden Fall ein Schatz. Sollte das vielleicht die verschwundene Erbin sein?

Die Vorstellung, dass dieses zierliche, kaum über einen Meter fünfzig große Geschöpf dem mächtigen Somerled Macdonald ähneln sollte, schien wahnwitzig. Doch dann erinnerte sich Rory an die indigoblauen Augen des grauhaarigen Alten – das dunkelste Blau, das er je gesehen hatte. Augen genau so, wie dieser Bengel sie hatte. Und den wilden Clanführer hatte man in seiner Jugend wegen seines kupferroten Haares Red Wolf genannt.

Die erstaunliche – nahezu unglaubliche – Möglichkeit, dass Lady Joanna versuchen sollte, sich hier direkt vor seiner Nase zu verstecken, verblüffte Rory. Wenn das zutraf, dann wusste jeder auf dieser verdammten Burg von der Täuschung. Abermals ließ er seinen Blick über die versammelten Macdonalds schweifen. Konnte es möglich sein? Hatten sich all diese Leute gegen ihren neuen Laird verschworen?

In diesem Moment schaute der Junge auf. Ihre Blicke trafen sich. Die strahlend blauen Augen funkelten vor Vergnügen. Rory konnte es kaum glauben, dass eine englische Adelsfrau – eine Frau, die ein Vermögen erbte – in die Rolle eines Hausburschen schlüpfte. Was würde sie wohl machen, wenn er sie in die dreckigen Ställe verbannte?

Also gut, fürs Erste wollte er auf die List eingehen. Sollten sie doch glauben, dass er Idoine für seine zukünftige Braut hielt. Ein Bote sollte nach Mingarry Castle reiten, Ewen Macdonald über die Heirat informieren und sich gleichzeitig vergewissern, dass Lady Joanna sich dort nicht aufhielt. Solange war es ganz gewiss ein interessanter Zeitvertreib, die wahre Identität der kleinen Füchsin in dem Jungenhemd und Plaid herauszufinden.

„Entgegen meinem Plan, mit meiner zukünftigen Braut sofort nach Stalcaire zurückzureiten, werde ich die Rückkehr Eures Kriegsführers abwarten“, informierte er die Macdonalds. Lady Idoine schenkte er einen kurzen Blick. „Er kann Lady Joanna und mich dann auf die Burg meines Onkels begleiten, wo wir getraut werden. Als Euer neuer Laird übernehme ich von diesem Augenblick an die Verantwortung und die Privilegien von Kinlochleven.“

Idoine wollte protestieren, aber bevor sie nur ein Wort äußern konnte, hielt Lady Beatrix ihrer Tochter den Mund zu. Ein unzufriedenes Murren ging durch den Saal. Die wütenden Mienen der Macdonalds sagten ihm, dass sie erwartet hatten, der Clanführer der MacLeans würde Hals über Kopf nach Mingarry reiten, weil er glaubte, Lady Joanna bei ihrem Heerführer Laird Ewen zu finden.

„Fearchar, stellt Wachen ans Haupttor und an die Nebeneingänge“, befahl Rory. „Ohne unsere Genehmigung verlässt niemand die Burg, nicht einmal der niederste Hausbursche. Und sendet vier Männer nach Mingarry mit einer Einladung für Ewen Macdonald zur Hochzeit seiner Cousine.“

Fearchar nickte und verließ zusammen mit einigen breitschultrigen MacLeans den Saal.

Als Nächstes wählte Rory zwanzig unbewaffnete Krieger der Macdonalds aus. „Auf Befehl des Königs reitet ihr nach Stalcaire. Dort schwört ihr dem König Lehnstreue. Jeder, der dort nicht in den nächsten zwei Tagen erscheint, macht sich des Verrats schuldig und wird entsprechend behandelt. Ihr habt meine Erlaubnis, euch sofort zu entfernen.“

Während die Macdonald-Krieger resigniert abzogen, winkte Rory den Senneschall zu sich. David Ogilvy eilte so schnell herbei, wie es sein schlurfender Gang zuließ. „Der Kammerherr soll meine Sachen in die beste Kammer der Burg bringen lassen.“ Er blickte zu Beatrix und Idoine, die schmollend die Unterlippe hängen ließen. „Ich nehme an, dass dies den beiden Damen keine Unannehmlichkeiten bereitet.“

„Gewiss nicht, Laird“, erwiderte Beatrix spitz.

Dann winkte Rory den Geistlichen in der braunen Robe heran. „Ihr könnt die Reliquie zurück in die Kapelle tragen, Pater.“

„Pater Thomas Graham“, stellte sich der Priester vor.

„Und zündet eine Kerze vor dem Altar der Jungfrau an“, bat Rory, als der Priester sich entfernen wollte. „Mein Diener wird Euch eine Krone für den Opferstock bringen, sobald meine Satteltasche ausgepackt ist.“

„Aus welchem Anlass, Laird?“, erkundigte sich der Priester.

„Für das Hochzeitspaar“, erklärte Rory leicht ungehalten, denn er hielt den Zweck für offenkundig. „Damit Braut und Bräutigam alsbald im heiligen Stand der Ehe vereinigt und mit einer langen, fruchtbaren Lebensgemeinschaft gesegnet sind.“

Pater Graham krümmte seine schmalen Schultern, als sei ihm ein peinlicher Fehler unterlaufen. „Natürlich, Milord. Natürlich.“

2. KAPITEL

Als Rory spät am Abend seine neue Schlafkammer betrat, war er fast sicher, dass seine zukünftige Braut sich hinter dem Hausburschen namens Joey Macdonald verbarg. Nach dem Abendessen hatte der Junge – oder das Mädchen? – mit Seumas Gilbride, dem Verwalter von Kinlochleven, am Feuer gesessen und Backgammon gespielt. Bei jedem erfolgreichen Zug hatte der Junge – oder das Mädchen – laut gelacht. Dieses fröhliche, ein wenig heiser klingende Lachen, das so voller unbändiger Freude war, hatte Rory nur umso mehr in seinem Verdacht bestärkt.

Er öffnete die niedrige, geschnitzte Truhe, die am Ende des Vierpfostenbettes stand. Der Duft von Rosen kam ihm entgegen, verführerisch und erotisch. Die kostbaren, vornehmen Roben erinnerten ihn an eine verwöhnte englische Dame, deren Interessen sich nur um ihre eigene, oberflächliche Welt drehten. Das war also die Kammer seiner Braut, dies ihre elegante Garderobe. Er zog ein lavendelfarbenes Wollkleid mit Zobelbesatz aus dem Stapel der sorgfältig gefalteten Kleidungsstücke und betrachtete es. Winzig musste die Frau sein, der dieses Kleid gehörte. Höchstens bis zur Mitte der Brust ging sie ihm. In Gedanken stellte er sich Joey vor – seine Größe war für einen Zwölfjährigen gerade richtig, sie passte aber auch zu einem zierlichen siebzehnjährigen Mädchen.

Er legte das Kleid zurück auf den Stapel und ging an den Tisch, auf dem allerlei weiblicher Krimskrams lag. Dann zog er eine Schublade auf, wühlte darin herum, holte eine silberne Bürste heraus und ging mit ihr ans Licht. In den Borsten hing eine seidige Haarsträhne, im Schein der Kerze glänzte sie wie gehämmertes Kupfer.

Blaue Augen und rote Haare!

Er war so verdammt sicher gewesen, dass Lady Joanna genauso sauertöpfisch und hässlich wie Idoine aussehen würde. Bislang war ihm gar nicht der Gedanke gekommen, dass seine Braut auch eine Schönheit sein könnte.

Kalte Wut packte ihn, während er grüblerisch auf den Gobelin an der Wand starrte. Am liebsten hätte er die kleine Lügnerin übers Knie gelegt, ihren zerrissenen Kilt hochgezogen und ihr den Hintern versohlt, bis sich von ihrem Gebrüll die Balken bogen. Doch schon den Versuch, ihr diese wohlverdiente Strafe zu verpassen, würden die Macdonalds bestimmt unterbinden. Keinen einzigen Schlag auf ihren blanken, kleinen Hintern würden sie ihm erlauben. Sie würden alle zusammenlaufen und Stein und Bein schwören, dass Joey der Hausbursche sei.

Herrjeh, selbst der Priester machte bei dem Betrug mit.

Wütend sank Rory auf die Bettkante, um sich Stiefel und Strümpfe auszuziehen. Doch dann hielt er inne. Nicht nur die Macdonalds können eine solch idiotische Maskerade spielen, überlegte er grimmig, während er sich auf der Matratze ausstreckte und nachdenklich auf den seidenen Betthimmel blickte. Bislang hatten sie auf seine Kosten gelacht, nun wollte er den Spieß umdrehen.

Meine Güte, dachte er, was für ein Satansbraten! So eine List zu versuchen!

Mit körperlicher Züchtigung kam sie viel zu leicht davon. Viel befriedigender wäre es, wenn er so lange auf ihre Täuschung einging, bis das Gleichgewicht wiederhergestellt war.

Er stand noch einmal auf und goss sich aus dem Krug, der auf dem Tisch stand, ein Glas Porter ein. In Gedanken vertieft drehte er den Glashumpen und blickte in die dunkelbraune Flüssigkeit. Er freute sich richtig darauf, Lady Joanna zu beweisen, wer Kinlochleven wirklich beherrschte. Den Hausburschen wollte er unter seine Fittiche nehmen, und alle Macdonalds sollten sich nur damit beschäftigen, wie sie ihre Herrin vor der Entdeckung schützen konnten, ohne gleichzeitig ihre wahre Identität preiszugeben.

Rory lächelte erwartungsvoll. Seine Rache würde gründlich sein, das versüßte nur das Warten.

Erschrocken setzte Rory sich auf. Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Ohne sich zu entkleiden, war er auf der Bettdecke eingeschlafen, und nun plagten ihn Gewissensbisse.

Er hatte sie aus ihrer Schlafkammer vertrieben. Wo mag Lady Joanna wohl ein sicheres Nachtlager gefunden haben? fragte er sich besorgt. Bestimmt nicht bei den Frauen. Ein Knabe, der abends in die Kammern der Frauen ging und erst beim Morgengrauen wieder herauskam, fiel auf. In den Ställen? Nein, viel zu gefährlich. In der großen Halle bei seinen Kriegern? Niemals! Herrjeh, wo nächtigte sie?

Mit der Kerze in der Hand verließ er die Kammer und stieg hinunter ins Erdgeschoss. Seine Soldaten schnarchten, der eine oder andere wälzte sich ächzend und brummend im Schlaf auf seiner Binsenmatte. Dann vernahm Rory leise männliche Stimmen und folgte ihnen über die lange Galerie.

Zwei Macdonalds blickten erschrocken auf, als Rory in die Küche kam. Seumas und Jock Kean, der Stallmeister, saßen am roh gezimmerten Küchentisch und spielten im Licht einer Talgkerze Karten. Als sie ihn erkannten, sprangen sie sofort auf. Verstört sahen sie ihn an.

„M…milord?“, fragte Seumas mit einem allzu breiten Lächeln von einem Backenbart zum anderen. „Braucht Ihr etwas?“

Jock warf einen schnellen Blick zur Feuerstelle. Rory sah ebenfalls hinüber. Dort vor dem Herd lag in einen rotblauen Tartan gewickelt fest schlafend Joey.

„Nichts“, erwiderte Rory. „Ich konnte nur nicht schlafen. Und bevor ich einen der Diener wecke, dachte ich, ich könne selbst in der Küche nach etwas Essbarem sehen.“ Er blickte auf die Trionfikarten auf dem Tisch. „Für ein gutes Kartenspiel bin ich immer zu haben. Wenn ich darf, würde ich gerne mitspielen.“ Ohne auf eine Einladung zu warten, stellte er seine Kerze auf den Tisch und ließ sich auf der Bank gegenüber Seumas nieder.

„Aber sicher, Laird. Selbstverständlich“, sagte Jock, und die beiden Männer setzten sich wieder.

Rory zog eine Krone aus seiner Felltasche und warf sie zu den Münzen in der Mitte des Tisches. „Ihr bleibt lange auf.“

„Ja, wie Ihr“, meinte Jock, während er mit steifen Fingern die Karten mischte. „Wir konnten auch nicht schlafen. Deshalb dachten wir, wir sollten uns die Zeit mit einem harmlosen Spiel vertreiben.“

Die drei hatten noch nicht lange gespielt, als Kinlochlevens Senneschall in die Küche gehinkt kam. Beim Anblick seines neuen Laird blieb er erschrocken stehen und rieb sich die Augen.

„Ihr konntet wohl auch nicht schlafen“, meinte Rory mit einem kurzen Nicken, während er seine Karte abwarf.

Verlegen nestelte der buckelige Mann an den Falten seines Plaids, das er sich vermutlich im Dunkeln allzu hastig übergeworfen hatte. Aus den Augenwinkeln sah er kurz zur Feuerstelle hinüber, blickte in die bestürzten Gesichter seiner Vertrauten und schob sich auf die Bank neben Rory.

Seumas streckte sich und gähnte. „Ach, ich geh ins Bett“, erklärte er und sammelte seinen Gewinn ein. „Entschuldigt Ihr mich, Milord?“

An der Tür stieß er fast mit Pater Thomas zusammen. „Um Himmels willen …“ Erschrocken hielt der Priester inne. Ein schneller Blick auf den schlafenden Joey, dann nickte er höflich. „Guten Abend, Laird.“

Lächelnd betrachtete Rory König, Königin und Buben in seiner Hand. Wachwechsel, dachte er. Seine letzten Zweifel waren ausgeräumt, als auch Jock sich entschuldigte und Seumas hinterhertrottete und Davie und Pater Thomas sich zu ihm an den Tisch setzten, um die Nachtwache zu übernehmen. Gab es etwas Unauffälligeres als zwei Männer, die in der warmen Küche bei einem freundschaftlichen Kartenspiel saßen, während der Hausbursche am Feuer schlief?

Rory legte sein Kartenblatt auf den Tisch, stand auf, ging zu dem Holzstapel neben dem Herd und nahm ein Scheit.

„Lasst mich das machen, Laird“, bot sich Davie sofort an und rutschte bereits mühsam von der Bank, um zur Feuerstelle zu humpeln.

„Bleibt nur sitzen. Ich schau schon nach dem Feuer“, sagte Rory. Er hockte sich neben die schlafende Gestalt, schürte die Glut erst mit dem Feuerhaken und legte dann ein Holzscheit darauf.

Im Schein des aufflackernden Feuers glänzte Lady Joannas helle Haut. Aller Schmutz war entfernt, das hübsche Gesicht war sauber geschrubbt, ein Hauch von Sommersprossen lag über der wohlgeformten Nase. Der Mund mit den weichen, hellroten Lippen war im Schlaf leicht geöffnet, die langen seidigen Wimpern ruhten auf den Wangen. Die Strickmütze war durch eine baumwollene Nachtmütze ersetzt, wie sie für gewöhnlich die Frauen trugen. Im Schlaf war sie verrutscht und gab rote Haarsträhnen preis.

Verdammt und zugenäht! Hielten die ihn für blind? Direkt vor ihm lag das Mädchen in seiner ganzen weiblichen Unschuld.

Er stand auf und drehte sich um. Ihre beiden Gefolgsleute hatten sich von ihren Sitzen erhoben und beobachteten ihn mit sorgenvollen Blicken.

„Der Knabe schläft den Schlaf des Gerechten, nicht wahr?“, bemerkte Rory leise lachend.

„Wahrhaftig“, antwortete Pater Thomas todernst.

Rory wischte sich den Staub von den Händen, ging zum Tisch zurück und nahm sein Tarotblatt wieder auf. „Wenn Ihr bereit seid, lasst uns endlich anfangen zu spielen. Aber seid gewarnt, es wird Euch schwerfallen, mich zu täuschen.“

Die beiden Macdonald-Männer blickten sich an, als teilten sie eine heimliche Freude. „Oh ja, Laird, Ihr seid zweifelsohne ein ganz gerissener Kerl“, antwortete Davie, und dabei strahlten seine Glubschaugen wie zwei kleine Leuchtfeuer. „Aber um einen Macdonald auszutricksen, müsst Ihr verdammt früh aufstehen.“

„Das freut mich zu hören“, erwiderte Rory grinsend. „Allzu schnell mag ich Euch zwei nämlich nicht schlagen. Ein leichter Sieg macht keine Freude.“

„Hast du es den Männern gesagt?“, fragte Rory, als Fearchar am nächsten Morgen zu ihm in die Bibliothek kam. Auf dem Tisch lagen die Baupläne von Kinlochleven. Während das Innere des Wohnturms mit Kostbarkeiten ausgestattet war, die eher einem englischen Herrenhaus als einer schottischen Burg Ehre machten, mussten die äußeren Wehranlagen dringend repariert und verstärkt werden. Rory beabsichtigte, neue Pläne zeichnen zu lassen, Maurer und Steinmetze zu engagieren und die Festung so schnell wie möglich zu renovieren.

„Sie wissen alle Bescheid.“ Mit einem fröhlichen Strahlen in dem einen wasserblauen Auge stemmte er grinsend die Hände in die Hüften. „Erst wollten sie es kaum glauben, aber dann konnte ich sie doch überzeugen.“

„Sie kennen meinen Befehl? Keiner darf sie anfassen.“

„Ich habe sie gewarnt“, versicherte Fearchar. „Wer das Mädchen belästigt, ist des Todes.“

Zufrieden massierte sich Rory Nacken und Schultern. Er ging über den Teppich zu dem schmalen Fenster, schaute hinaus auf den Küchengarten und genoss einen Moment lang die bukolische Szenerie. Lady Joanna Macdonald schleppte in ihrer Verkleidung als Hausbursche ein großes Bündel Wäsche irgendwohin. Auf ihrem Weg durch die Reihen von Erbsen und Zwiebeln blieb sie stehen und sprach zu dem kleinen Jungen, den Rory am Tag seiner Ankunft angeblich hatte töten wollen. Die Mutter schaute kurz auf, lächelte glücklich über die fröhlich gurgelnden Laute ihres Jüngsten, dann pflückte sie weiter die grünen Erbsen, die sie in ihrer Schürze sammelte.

Fearchar legte seine großen, vernarbten Hände auf die Baupläne und stützte sich mit seinem beträchtlichen Gewicht auf den Tisch. „Was ist los? Weshalb seid Ihr so mürrisch? Was beunruhigt Euch? Die Tatsache, dass das Mädchen die Enkelin von Somerled Macdonald ist, oder die Erkenntnis, dass es Euch genauso wenig heiraten will wie Ihr sie.“

Rory trat vom Fenster zurück und lehnte sich gegen die Wand. „Vielleicht beides, vielleicht auch keines von beidem“, gestand er. „Vielleicht liegt es ja nur daran, dass ich immer vorhatte, mir meine Braut selbst auszusuchen, und nie daran gedacht habe, dass ich einmal eine per königlichem Dekret aufgezwungen bekomme.“

„He? Ihr habt Euch doch nicht Hals über Kopf in ein hübsches Gesicht und ein nettes Lächeln verliebt? Habe ich da vielleicht etwas verpasst? Ein Kerl sollte immer einen klaren Kopf behalten, nie überstürzt dem Drängen seines Herzen nachgeben – oder gar dem seiner Lenden.“

Rory lachte nur über das anzügliche Grinsen seines Cousins. Sie wussten beide, dass Rory viel zu pragmatisch war, um an romantische Liebe zu glauben. Die Wahl seiner Braut würde er niemals auf alberne Mythen gründen, die von Barden und liebeskranken Mädchen weitergetragen wurden.

„Wenn es das ist, mein Freund“, sagte Fearchar, „was Euch beunruhigt, dann eilt zurück nach Stalcaire und bittet den König, seine Order noch einmal zu überdenken.“

Rory verschränkte die Arme vor der Brust und schnitt eine resignierende Grimasse. „Das wäre nur Zeitvergeudung. Ich habe alles versucht, James diesen törichten Plan auszureden. Ich habe ihm gesagt, dass Lady Joanna die Enkelin des verstorbenen Marquess of Allonby ist. Und da die Nevilles dem englischen Thron immer sehr nahestanden, hat die Jungfer mit Sicherheit auch deren feurige Loyalität zu Henry Tudor geerbt. Durch keines meiner Argumente ließ sich der König umstimmen. Er hat sich einfach geweigert, mir weiter zuzuhören, als ich ihm erklärte, dass es für einen MacLean unmöglich sei, eine Macdonald zu heiraten. Er ist sogar der Ansicht, es sei ein Opfer für ihn, mir zu erlauben, die Seefahrt an den Nagel zu hängen und das prosaische Leben eines Landbesitzers zu führen.“

„Na ja, der König hat ja auch verdammt gute Gründe für diese Eheschließung. Das wisst Ihr doch. Lady Joannas Titel und Besitz wird durch die eheliche Verbindung mit Euch bei den MacLeans in sicheren Händen sein und so dem Zugriff ihres missratenen Heerführers Ewen Macdonald entrissen. Nicht um die Loyalität des Mädchens – ob Sassenach oder nicht – ist der König besorgt, sondern nur um die ihres zukünftigen Ehemannes. Ihr englischer Stammbaum macht die zukünftige Allianz natürlich noch wünschenswerter. Durch Eure Heirat wird die schottische Krone einen Stützpunkt in Cumberland gewinnen.“

„Der politische Vorteil für James IV. und Schottland ist mir bekannt“, erwiderte Rory scharf. „Aber habt Ihr vergessen, dass der Großvater dieser jungen Dame Gideon Cameron ermordet hat? Ich habe einen brillanten Mentor und Verbündeten verloren. Und warum? Nur wegen der Bosheit und Habgier eines streitsüchtigen alten Mannes.“

„Wenn das Mädchen willens ist zu vergessen, dass Ihr es wart, der den Red Wolf gefangen genommen und dem Henker übergeben hat“, erwiderte Fearchar, „dann sollte es Euch auch gelingen, den Mord an Eurem Ziehvater zu verzeihen. Lady Joanna hat wirklich nichts zu tun mit dieser unseligen Affäre.“

„Sie ist eine Macdonald. Das allein brandmarkt sie.“

Die Stirn in wütende Falten gelegt, kam Fearchar um den Tisch. „Es wird höchste Zeit, dass Ihr endlich eine Braut bekommt“, schimpfte er. „Ihr werdet nun mal auch nicht jünger. Und ein verheirateter Mann braucht Besitztümer, die er seinen Nachkommen hinterlassen kann.“

Rory unterdrückte einen Fluch. Man musste ihn nicht daran erinnern, dass er kein Land besaß. Seit er alt genug war, die ganze Bedeutung dieser fatalen Angelegenheit zu begreifen, wusste er auch, dass er als Oberhaupt des MacLean-Clans eines Tages eine Erbin heiraten musste. Nur so konnte er seinen landlosen Gefolgsleuten eine Heimat geben, denn sonst würden sie alle als gebrochene Männer enden oder gezwungen sein, sich als Söldner in fremden Ländern zu verdingen.

In den Jahren, in denen Rory treue Dienste auf See geleistet hatte, hatte er ein beträchtliches Vermögen erworben. Wegen seiner Loyalität zum König hatte er gehofft, eines Tages mit den Besitztümern belohnt zu werden, die einst Somerled Macdonald gehört hatten. Ein Traum, nicht viel mehr als eine Illusion. Kein Gewinn ohne Preis – und je größer der Gewinn, desto höher der Preis.

„Unzählige Männer würden ihren rechten Arm geben, um mit Euch zu tauschen“, erinnerte Fearchar ihn. „Außerdem braucht das Mädchen einen starken Mann, der ihren Besitz vor denen schützt, die ein argloses Weib übervorteilen wollen. Als ihr Ehemann seid Ihr der Laird über tausende Hektar Land, über Pächter und Vieh, über Getreidekammern und Kornmühlen, über Schmieden und Steinbrüche. Mein lieber Freund, ein solches Angebot schlägt man doch nicht so leichtfertig aus.“

„Ach ja, alles ist perfekt.“ Rory zog verächtlich die Mundwinkel herunter. „Ich bekomme eine Braut, die auf der einen Seite von einer langen Reihe schottischer Verräter und auf der anderen von unserem uralten Feind abstammt. Oh verdammt, ich weiß nicht, was schlimmer ist: dass sie eine halbe Macdonald oder dass sie eine halbe Sassenach ist.“

Fearchar schlug Rory fest auf die Schulter. „Das Mädchen kann nun wirklich weder was dafür, dass sie halbe Engländerin ist, noch dass ihr Großvater der Red Wolf of Glencoe war.“

Unwillkürlich musste Rory lachen. „Hübsch ist sie ja. Das will ich gar nicht leugnen. Und sie riecht auch verdammt gut.“

Fearchar sah ihn amüsiert an. „Himmel, wie wollt Ihr das wissen? So nahe seid Ihr der Jungfer noch nie gekommen.“

„Ihr Parfüm hing noch in ihrem Kopfkissen“, gestand Rory grinsend. „Die Maid von Glencoe mag ja von einer langen Reihe von Verrätern abstammen, aber sie duftet wie der Rosengarten meiner Mutter.“

Nicht nur das Kissen, das ganze Bett – Matratze, Oberbett und Vorhänge –, alles war mit dem berauschenden Duft einer von Blüten überrankten Laube erfüllt. Er war in der Nacht mit dem Gefühl aufgewacht, neben ihm läge ein süßes, molliges Weib, und mit einem Hahnenkamm, der einem Seemann alle Ehre machte, der zehn Monate keinen Landgang gehabt hatte. Am Morgen hatte er der Haushälterin barsch befohlen, das Bett frisch zu beziehen und die Kammer gründlich zu lüften.

Rory nahm den Brief, den er geschrieben hatte, bevor Fearchar gekommen war. Er bestäubte das Schreiben mit Sand, faltete es und siegelte es mit seinem Ring. Danach legte er den Brief zu einem Paket und mehreren anderen Briefen. Alles band er mit einem Faden zusammen.

„Schickt mir Arthur“, sagte er zu Fearchar. „Mein Diener muss etwas zur Sea Dragon bringen. Auf dem Weg kann er in Stalcaire ein paar Briefe und ein Paket abliefern, das ein Kleid von Lady Joanna enthält. Lady Emma soll danach die Maße für das Brautkleid nehmen. Auf dem Rückweg kann Arthur dann Lady Emma und meinen Onkel zusammen mit Lachlan und Keir nach Kinlochleven begleiten.“

Fearchar sah ihn überrascht an. „Eure Familie kommt hierher?“

Grinsend lehnte sich Rory gegen den Tisch. „Wir feiern die Hochzeit, sobald sie hier eintreffen. In der Zwischenzeit zeigen wir dem Clan der Macdonalds, dass die MacLeans auch ein paar Tricks auf Lager haben. Wenn alle Burginsassen sich verschwören können, um Lady Joannas Identität geheim zu halten, dann können wir sie auch ein paar Tage lang in dem Glauben lassen, dass wir nicht entdeckt haben, dass ihr Hausbursche meine süße kleine Braut ist.“

Fearchar nickte zustimmend. „Ihr wollt ihnen also ihren Betrug mit gleicher Münze heimzahlen.“

„Richtig“, gab Rory zu. „Vor allem aber sollen sie sich in Sicherheit wähnen. Solange sie überzeugt sind, dass wir glauben, Joey Macdonald sei der Hausbursche, werden sie nicht versuchen, Joanna heimlich aus Kinlochleven fortzuschaffen. Ich will nicht eines schönen Morgens aufwachen und feststellen, dass sie über alle Berge ist. Bis die Eheversprechen abgegeben sind, habe ich vor, meine hinterhältige kleine Braut im Auge zu behalten.“ Zu Joannas Ärger machte der Sea Dragon keinerlei Anstalten, die Burg zu verlassen. Er schlief in ihrem Bett, aß ihre Vorräte und erteilte Befehle, als sei er der König von England. Und als ob das noch nicht genug wäre, trieben sich seine Männer in der gesamten Festung herum. Sie praktizierten Schwertspiele im Burghof, marschierten auf den Wehranlagen auf und ab, stellten ihr Vieh in den Scheunen unter und lungerten wie ausgehungerte Flegel um das Backhaus.

Als Joanna über den unteren Burghof ging, hörte sie den riesigen Spießgesellen des Dragon nach ihr rufen. Fearchars hellblondes Haar, der Vollbart, der goldene Ohrring, die Narben, die schwarze Augenklappe, der massige, riesige Körper – das alles erinnerte sie an einen Wikinger. Als Kind hatte ihr Maude von den Nordmännern erzählt, die einst eine Plage an der Küste Schottlands gewesen waren.

„Du sollst sofort zum MacLean kommen, Bürschlein“, brüllte Fearchar. „Wenn du dir keine fangen willst, dann läufst du besser so schnell du kannst in den Wohnturm.“

Joanna nickte und machte sich auf den Weg. Sie flitzte mitten durch eine Schar von Enten und Gänsen, die ihr flügelschlagend und erbost schnatternd auswich. In einem Kilt zu rennen ist wesentlich leichter als in einer langen Robe, dachte Joanna, während sie zum oberen Burghof hetzte, zu der Tür, die zum Wohnturm führte. Sie erreichte den offenen Durchgang zum Hauptturm, hastete vorbei an Seumas, der ihr erschrocken nachblickte, schlitterte über den Steinboden der Vorhalle und kam direkt vor dem Sea Dragon zum Stehen.

Breitbeinig, die Hände in die Hüften gestützt, stand MacLean da. Eine goldene, ziselierte Nadel hielt das schwarz-grün gemusterte Plaid an der Schulter über dem weiten safranfarbenen Hemd. Seine blank gewienerten Schuhe schmückten goldene Schnallen, die zu den Rosetten an seinen karierten Strümpfen passten. Die Scheide seines langen Dolches zierte ein wunderschönes keltisches Muster.

Wahrhaftig, das Bild eines Hochland-Lairds! Und wieder war dieser Laird wütend.

Seine wettergegerbten Gesichtszüge besaßen die Ausstrahlung einer frisch geschärften Axtklinge. Ein erregendes Gefühl von Bewunderung und gleichzeitig Angst vor dem nahezu unbezwingbaren Feind durchrieselte sie. Als schön würde man ihn nie beschrieben haben. Der wilde Krieger, der da vor ihr stand, erinnerte sie eher an Phrasen wie Ehrfurcht gebietend oder beängstigend imposant.

„Wünscht Ihr mich zu sprechen, Milord?“, fragte sie und dankte dem Himmel zugleich mit einem Stoßgebet, dass ihre Stimme tiefer war als die der meisten Frauen. In den Jahren ihres Aufenthalts auf Allonby Castle in Cumberland hatte sie von ihrer Tante Clarissa mehr als einmal zu hören bekommen, dass sie eine Stimme wie eine alte Whiskeyvettel habe.

„Ja!“ Seine Antwort klang wie das grollende Drohen eines entfernten Donners. „Da hinein“, sagte er mit einer Kopfbewegung in Richtung der kleinen Bibliothek, in der er seinen Schreibtisch eingerichtet hatte.

Joanna schluckte ein paarmal, versuchte etwas zu antworten, brachte aber kein Wort heraus. Es gab eben keinen plausiblen Vorwand, um nicht allein mit ihm zu sein. Deshalb nahm sie all ihren Mut zusammen, ging mit zitternden Knien voran in das Drachenlager. Mitten auf dem edlen indischen Teppich, den sie aus Cumberland mitgebracht hatte, blieb sie stehen, steckte die Daumen hinter den Gürtel und wartete auf das nahende Unheil. Sie biss die Zähne zusammen, damit sie nicht aufeinanderschlugen, und blickte dem Kriegsherrn ins Gesicht. Dabei musste sie den Kopf in den Nacken legen, denn groß war sie nicht, maß nicht viel mehr als einen Meter fünfzig und hatte mit ihren siebzehn Jahren auch wenig Hoffnung, noch zu wachsen. Gütiger Gott im Himmel, dachte sie. Der Blick aus diesen Augen ist ja so frostig kalt, dass er Loch Leven selbst im Sommer zum Einfrieren bringt. Dennoch, schwor sie sich, er mag mir drohen, womit er will, nie und nimmer gebe ich meine wahre Identität preis.

Mit heißen Eisen konnte er sie brennen! Bei den Daumen an den Dachsparren aufhängen! An Händen und Füßen gefesselt in den Burggraben werfen! Welche Höllenqualen seinem abscheulichen Hirn auch einfielen, nie und nimmer wollte sie ihm verraten, dass sie die Maid war, an der sich dieser lüsterne MacLean mit seinen gierigen, rohen Händen vergreifen wollte. Niemals!

Rory beobachtete das Mädchen. Sie strengt sich ja mächtig an, mutig zu sein. Doch trotz der Schmutzschicht in ihrem Gesicht ist es ihr nicht gelungen, die Sommersprossen auf Nase und Wangenknochen zu verbergen, fand er und musste an sich halten, um nicht über ihre Tollkühnheit zu lächeln.

„Wie heißt du, Bursche?“, fuhr er sie grimmig an.

„Joey Macdonald.“

„Wer sind deine Eltern?“

Lady Joanna straffte die Schultern, ihre dunkelblauen Augen glänzten rebellisch. „Ich habe keine Eltern … und auch keine Großeltern.“

„Du bist also eine Waise?“

„So nennt man wohl für gewöhnlich ein Kind ohne Eltern“, antwortete sie aufsässig.

Rory ahnte, weshalb sie sich so ungebührlich benahm. Die Fragen schmerzten sie. „Wer waren denn deine Eltern, Bürschlein?“, fragte er deshalb in nicht so strengem Ton.

„Mein Vater starb bei Stirling in der Schlacht gegen den alten König. Meine Mutter starb vor zwei Jahren.“

„Dein Vater war also ein Verräter.“

Das Mädchen ballte die Hände zu Fäusten. „Mein Vater war ein Held!“, erklärte sie stolz. „Er hat acht Männer getötet, bevor ihn das Kanonenfeuer von den Bergen erwischte.“

Joanna musste sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, als sie ihren Vater verlor. Und wäre der Mann nicht im Kampf gestorben, hätte man ihn sowieso zusammen mit dem Rest der Rebellen gehängt. Doch das wollte Rory seiner zukünftigen Braut nicht auch noch erklären. Irgendwie rührten ihn ihr Stolz und ihre Beharrlichkeit. Er dachte an seine eigene Kindheit. Im Alter von acht Jahren war er von einem Anhänger Stewarts in Pflege genommen worden. Einsam war er gewesen, hatte sich ständig vor den anderen Jungen beweisen wollen und sich genauso unverschämt verhalten wie Joanna. Er musste Gideon Camerons Geduld wirklich auf eine harte Probe gestellt haben.

„Ich habe daran gedacht, dich Fearchar zu übergeben, damit er aus dir einen guten Krieger macht.“ Er schwieg eine Weile und verfolgte, wie Joanna ein paarmal entsetzt schluckte. Das zerlumpte Hemd war viel zu groß für die zierliche Figur, und das fadenscheinige rot und blau karierte Plaid konnte einem ausgewachsenen Mann gehört haben. Selbst die ausgetragenen Schuhe waren viel zu groß. „Die rigorose Disziplin meines Gefolgsmannes mag ja äußerst lehrreich sein“, fuhr er dann lächelnd fort, „aber ich bin mir nicht sicher, ob du überhaupt das Zeug zu einem guten Krieger hast.“

In dem Moment tauchte Jock Kean an der Türschwelle auf. „Ihr habt nach mir geschickt, Laird?“

Rory nickte und bedeutete dem Mann einzutreten. „Neben deinen Pflichten im Haus“, wandte Rory sich wieder an Joanna, „wirst du nachmittags unter der Aufsicht des Stallmeisters im Stall arbeiten. Deine erste Aufgabe wird heute sein, die Ställe auszumisten.“

Jock trat ein paar Schritte näher und nahm seine grobe Wollmütze von der Glatze. Die Augen in dem runden Gesicht blitzten fröhlich, als er Joanna prüfend anschaute. „Dann nehme ich das Bürschlein mal unter meine Fittiche“, sagte er freudestrahlend. „Ich passe auf, dass er immer was zu tun hat und keinen Ärger bekommt.“

Mit vor der Brust verschränkten Armen stand Rory da und wartete, ob die Sassenach-Erbin nun endlich ihr Geheimnis verriet.

Doch Joanna drängte sich näher an den glatzköpfigen, vergnügten Gnom und richtete ihre großen blauen Augen auf Rory. „Ich werde Jocks Befehlen gehorchen, Laird“, versprach sie. „Ausmisten kann ich … und mit Pferden kann ich auch gut umgehen … ganz bestimmt.“

„Worauf wartest du dann noch?“, brüllte er sie an. „Raus! In die Ställe! An die Arbeit mit dir!“

Sie verbeugte sich tief. „Sehr wohl, Milord“, antwortete sie mit gesenktem Kopf und einer Spur von Spott in der Stimme. „Danke, Milord.“

Leider sah Rory nur die Strickmütze mit den Mottenlöchern, aber er hätte schwören können, dass die freche Göre grinste.

Bevor Joanna wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, erschien an der Tür Maude Beaton, die man mittlerweile als das ehemalige Kindermädchen der verschwundenen Erbin identifiziert hatte. Sie knickste, als Rory sie fragend ansah. „Pardon, Milord“, begann sie leise, „der Bursche wird in der Spülküche gebraucht.“

„Joey wird in den Ställen arbeiten“, antwortete er ärgerlich. „Und, Weib, unterbrecht mich nicht noch einmal, wenn ich mit jemandem spreche. Egal, welchen Grund Ihr habt.“

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