Eine Liebe auf Korfu

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Auch wenn er aussieht wie ein griechischer Gott, benimmt er sich wie ein englischer Snob: Benedict, Earl of Blakeney. Er lässt Alessas Herz höher schlagen, obwohl er doch einer der vornehmen Aristokraten ist, die sie verachtet. Sie liebt ihr einfaches, freies Leben auf der idyllischen Insel Korfu. Er hingegen lässt nichts unversucht, um sie nach England in den Schoß ihrer konservativen Familie zurückzubringen. Die Kluft zwischen ihnen scheint unüberwindbar. Bis Benedict aus Liebe zu Alessa zum Piraten wird ...


  • Erscheinungstag 16.03.2008
  • Bandnummer 0039
  • ISBN / Artikelnummer 9783863499587
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL
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Korfu – April 1817

Jemand versuchte einen Mord zu begehen. Offenbar direkt vor ihrem Haus … Kampfgeräusche waren zu hören, verzweifelte, keuchende Atemzüge.

Müde seufzte Alessa auf, drückte den Weidenkorb an ihre Hüfte und eilte um die Ecke, zurück zu einer dunklen Stelle, wo sie ihre Last vor neugierigen Blicken verstecken konnte. Um elf Uhr abends herrschte, bis auf den Radau vor ihrem Haus, tiefe Stille in den vertrauten Straßen der Stadt, und scheinbar waren sie menschenleer. Doch wie es schien, trieben sich zwielichtige Gestalten hier herum.

Zumindest eine befand sich auf dem kleinen Platz zwischen der Rückfront der Kirche Sankt Stefanos, Spiros Bäckerei und zwei Häusern, die so hoch emporragten, dass auch tagsüber nur ein paar Stunden lang Licht auf das Pflaster fiel. Alessa zog ein Messer aus der Scheide in ihrem Stiefel und verschmolz mit den nächtlichen Schatten.

Während sie in die schmale Gasse bog, sah sie den Widerschein der Laterne über Spiros Eingang. Auch durch die Kirchenfenster fiel Licht, und der Schein der Öllampe, die Kate bei Einbruch der Dunkelheit vor die Tür der gemeinsamen Behausung gestellt hatte, erhellte ein wenig die Szenerie.

Breite Schultern versperrten Alessa die Sicht. An die Wand gelehnt, stocherte der Mann mit einem Fingernagel in seinen Zähnen. Der Geruch nach Fisch, Knoblauch und ungewaschener Haut wehte ihr entgegen, so vertraut, dass sie kaum die Nase rümpfte. Natürlich, der Fischer Georgi, stets in der Nähe von Ereignissen zu finden, von denen er vielleicht profitieren könnte, ohne sich zu überanstrengen …

Lautlos schlich sie zu ihm und drückte die Messerspitze auf die schmutzige Stelle zwischen seiner Lederweste und dem Gürtel. Er zuckte zusammen und erstarrte.

Hérete, Georgi“, flüsterte sie ihm auf Griechisch ins Ohr und presste das Messer noch fester in den Fettwulst. „Ich glaube, Sie müssen verschwinden. Oder sollen die Männer von Sir Thomas, dem Lord High Commissioner, erfahren, was Sie tun, wenn Sie Ihr kaiki in mondlosen Nächten aufs Meer hinausrudern? Dafür würden sie sich brennend interessieren.“

Mit einem gemurmelten Fluch fuhr er herum, schob sich an ihr vorbei und stapfte davon. Sie wartete, bis seine Schritte verhallten, dann huschte sie zum Ende der Gasse.

Auf dem kleinen Platz kämpften zwei Männer. Den einen kannte sie. Petro, ein kraftvoll gebauter Gauner, schwenkte mit einer Hand einen Knüppel, mit der anderen ein Messer. Aber seinen Gegner, der die bösartigen Attacken abzuwehren suchte, sah sie zum ersten Mal. Zunächst nahm sie an, er würde ein Rapier schwingen. Doch wie sie nach wenigen Sekunden bemerkte, war seine einzige Waffe ein dünner Spazierstock, mit dem er das Messer wegschlug. Wohlweislich wich er dem Knüppel aus, der den Stock zertrümmern würde.

Der Mann kann fechten, dachte Alessa anerkennend und beobachtete, wie er blitzschnell den Spazierstock bewegte, seine flinken, tänzelnden Schritte. Trotzdem würde er seinen Angreifer nicht besiegen. Was sollte sie tun? Sicher war er ein Gentleman, denn er trug einen eleganten Abendanzug. Nur der Hut, der am Boden lag, und das zerzauste Haar beeinträchtigten die vornehme Erscheinung. Geschickt verteidigte er sich gegen seinen Widersacher.

Wäre nicht ausgerechnet Petro sein Gegner, hätte er womöglich eine Chance zu entkommen, und sie könnte ihn seinem Schicksal überlassen. Aber diesem blutrünstigen Schurken war ein englischer Gentleman – offenbar ein Neuling auf der Insel – nicht gewachsen.

Alessa schlich an der Mauer entlang zu den Eingangsstufen ihres Hauses, verärgert über diese Gewaltaktionen vor dem Fenster ihrer Kinder. Nun zwang der Fremde den bulligen Petro nach hinten. Oder, was eher zutraf, der tückische Halunke trat einen taktischen Rückzug an.

Und dann sah sie, was ihn dazu bewog. In den Schatten am Fuß des Brunnens verborgen, wartete das Wasserrohr wie ein Fallstrick auf einen achtlosen Fuß. Sie zwang sich, einen Warnruf zu unterdrücken, damit man nicht auf sie aufmerksam wurde. Und da strauchelte der Fremde auch schon und fiel auf ein Knie. Sofort hob er den Gehstock, den Petro mit seiner Keule beiseitestieß, um sie im nächsten Moment auf die Schläfe des Gentlemans zu schlagen.

Der Engländer brach auf dem Brunnensockel zusammen, und Petro beugte sich mit einem zufriedenen Grinsen zu ihm hinab. In seiner Hand glitzerte das Messer.

Nein, das war zu viel. Eine Bluttat vor ihrem Haus würde sie nicht dulden – nicht einmal, wenn es um einen lästigen, unvorsichtigen englischen Touristen ging.

Alessa drehte ihr Messer herum, stürmte zu Petro und schmetterte den Griff auf seinen Nacken, so wie man es ihr beigebracht hatte. Schmerzhaft vibrierte der Aufprall in ihrem Arm, und der Schurke fiel grunzend auf die Beine des Fremden hinab. Also musste sie sich jetzt um zwei Bewusstlose kümmern. Wenn der eine zu sich kam, würde er in mörderische Wut geraten. Und der andere würde wahrscheinlich nach Sir Thomas, dem Vertreter der Krone schreien, nach der Army, der Navy und seinem Kammerdiener. Oder ein Dieb, der zufällig vorbeikam, würde ihn umbringen, bevor er aus seiner Ohnmacht erwachte. Deshalb durfte sie ihn, den Gesetzen der Menschlichkeit zufolge, nicht hier liegen lassen, mochte er ihr auch noch so viele Unannehmlichkeiten bereiten.

Seufzend sperrte sie ihre Tür auf und rief: „Éla, Kate, bist du da?“

Im oberen Stockwerk erklangen Schritte, eine vollbusige Frau beugte sich über das Treppengeländer. „Aye, hier bin ich, Liebes. Soll ich dir mit dem schweren Wäschekorb helfen?“

„Nein, mit einem Mann. Ist Fred bei dir?“

„Gewiss, soeben hat er zu Abend gegessen. Macht dir jemand Schwierigkeiten. Vorhin habe ich irgendwas da draußen gehört … Fred!“

„Ja, Liebste?“ Ein dunkler Kopf erschien neben Kate. „Guten Abend, Alessa.“ Sie stiegen die Treppe herab, und Sergeant Fred Court ging zu den verkrümmten Gestalten, die er mit professioneller Sachlichkeit betrachtete. „Wen haben wir denn da?“

Kate, die Liebe seines Lebens, Alessas Freundin und Nachbarin, fragte besorgt: „Wer sind die beiden, Alessa? Könnten sie tot sein?“

„Nun, der eine ist ein englischer Gentleman, ein leichtsinniger Tourist, der hierher spazierte und von Petro und seinem Kumpan Georgi überfallen wurde. Nur der Himmel mag wissen, ob er tot ist. Jedenfalls hat Petro ihm kraftvoll genug seinen Knüppel auf den Kopf geschlagen. Der wird zumindest an einem steifen Nacken und einem Brummschädel leiden.“

„Am besten bringe ich den Engländer in die Residenz von Sir Thomas.“ Sergeant Court strich über sein stoppelbärtiges Kinn. „Lasst mich meine Jacke holen, dann trage ich ihn hin.“

„Nein, das würde eine halbe Stunde dauern“, protestierte Alessa, „und ihm nichts nützen, nachdem Petro ihn so brutal niedergeschlagen hat. Schaffen wir ihn in unser Haus.“

„Soll ich Seine Lordschaft verständigen?“ Fred stieß Petros schlaffen Körper mit einer Stiefelspitze zur Seite und bückte sich zu dem Opfer hinab.

„Spar dir die Mühe, morgen früh schicke ich Demetri hinüber. Und jetzt muss ich erst mal die Wäsche holen.“

Als Alessa mit dem Korb zurückkehrte, hatte der Sergeant sich den Engländer bereits über die Schulter geworfen und trug ihn die Treppe hinauf.

„Pass auf seinen Kopf auf, Alessa“, mahnte Kate und nahm ihr den Korb aus den Armen. „Allzu vorsichtig geht Fred nicht mit ihm um.“

Hastig stieg Alessa hinter dem Sergeant die Stufen hinauf und ergriff den pendelnden Kopf des Bewusstlosen, um ihn festzuhalten. Weiter unten beschmutzten Blutflecken das Geländer, das sie zusammen mit Kate weiß gestrichen hatte. Aber sie machte Fred keine Vorwürfe wegen seiner Nachlässigkeit, denn er bekundete einfach nur jene Verachtung, die fast alle Soldaten für ihre Herren und Meister hegten. Warum musste der leichtfertige Idiot auch mitten in der Nacht durch diese dunklen Gassen laufen, sich in Schwierigkeiten bringen – und hart arbeitende Leute behelligen?

„Leg ihn aufs Sofa.“ Sie schob einen Berg Flickwäsche und eine Fetzenpuppe vom abgewetzten Leder, dann wandte sie sich zu Kate, die ihr gefolgt war. „Schlafen die Kinder?“

„Wie Steine, dem Himmel sei Dank. Vor zehn Minuten habe ich nach dem Feuer gesehen“, fügte Kate hinzu und zeigte auf das Eisengitter, das die schwelende Asche im Ziegelherd schützte.

Alessa nahm ein Kissen und eine Decke aus dem Schrank und musterte den Fremden. Inzwischen blutete die Kopfwunde nicht mehr. „Ich werde ihn untersuchen. Wahrscheinlich hat er sich auch noch den Knöchel verstaucht, als er gestolpert ist.“

„Bringen wir’s hinter uns.“ Kate drehte sich zu ihrem Liebhaber um, der am Fenster stand. „Was siehst du denn, Fred?“

„Gerade taumelt Petro davon. Ich glaube, morgen wird er gar nicht mehr wissen, was passiert ist. Soll ich euch Mädchen helfen? Aber ich muss bald ins Fort zurückgehen.“

„Danke, mein Schatz, wir kommen schon zurecht.“ Kate begleitete ihn vor die Tür, um sich zu verabschieden, und ließ Alessa mit dem unfreiwilligen Gast allein.

Nachdenklich betrachtete sie ihn. Warum sah er so typisch englisch aus? Wegen seiner Haut, die nur leicht gebräunt war, vermutlich infolge der Schiffsreise? Nicht so dunkel wie die Gesichter der Mittelmeerbewohner. Sein Haar war braun. Also kein Schotte, dachte sie, denn sie hatte gehört, die wären Rotschöpfe. Und die im Old Fort stationierten Waliser hatten schwarze Haare. Durch das Haar des Fremden zogen sich helle, von der Sonne gebleichte Strähnen. Die unglaublich langen Wimpern, die auf den Wangen lagen, schimmerten goldbraun.

„Was für ein fabelhafter teurer Anzug …“ Kate, die mittlerweile zurückgekommen war, strich über das feine mitternachtsblaue Tuch seines Frackrocks. „Und so ein hübscher Bursche!“

„Ein Bursche? Wohl kaum.“ Ende zwanzig, schätzte Alessa, fast dreißig – alt genug, um es besser zu wissen. Und hübsch war das falsche Wort. Zu maskulin mit diesen markanten Zügen …

„Für mich schon. Immerhin bin ich ein paar Jahre älter als du. Sollen wir seinen Kopf verbinden oder ihn zuerst ausziehen? Ich habe eins von Freds alten Hemden heraufgebracht. Das kann er anziehen.“

„Danke. Schauen wir nach, wie schwer er verletzt ist.“ Mit vereinten Kräften entkleideten sie den Fremden bis auf sein Hemd und die Unterhose. Alessa hängte den Abendfrack und die Kniehosen aus Satin, die Seidenstrümpfe und das Krawattentuch über einen Stuhl. „Sicher war er heute Abend beim Lord High Commissioner – so elegant, wie er angezogen ist …“

„Der Fußknöchel gefällt mir gar nicht. Ist das Blut an seiner Hüfte?“

„Ja“, bestätigte Alessa grimmig. „Er ist auf den Brunnensockel gefallen. Hoffentlich hat er sich nichts gebrochen. Ziehen wir ihn vollends aus.“ Während sie das Hemd über seinen Kopf streifte, befreite Kate ihn von der Unterhose.

An seiner Hüfte zeigte sich eine Platzwunde, aus der Blut sickerte. Der Knöchel war eindeutig verstaucht, aber nicht gebrochen.

„Sehr hübsch …“, seufzte Kate.

„Um Himmels willen, du bist praktisch eine verheiratete Frau. Und ich ziehe einen Jungen groß. Also dürfte uns der Anblick eines nackten Mannes nicht aus der Fassung bringen …“ Nun ja, dieser Engländer ließ sich wirklich nicht mit einem schmächtigen Achtjährigen vergleichen, eher mit den perfekten Körpern der klassischen Statuen in der Residenz von Sir Thomas, des Lord High Commissioners.

„Jedenfalls ist er gut gebaut, besonders da unten …“

„Wage es bloß nicht, das auszusprechen, Kate Street! Schäm dich! Jetzt bist du eine respektable Frau. Und ich … ich kümmere mich nur aus medizinischen Gründen um ihn.“ Die Wangen erhitzt, legte Alessa das Krawattentuch auf den Körperteil, den ihre Freundin bewunderte, und beendete die Untersuchung. „Nichts gebrochen, da bin ich mir sicher. Aber ich fürchte, morgen kann er noch nicht aufstehen. Jetzt lege ich einen Heilumschlag auf seine Hüfte.“

Kate warf die Unterwäsche des Fremden in einen der Wassereimer, die an der Wand standen. Dann wandte sie sich zum Wäschekorb. „Soll ich das andere Zeug auch einweichen?“

„Ja, bitte.“ Alessa beobachtete, wie die Freundin die feine Wäsche der Damen aus der Residenz von Sir Thomas – eine wertvolle Einkommensquelle, nichts davon durfte beschädigt werden – in die Eimer warf. Aber Kate ging sehr behutsam mit den Dessous aus kostbarer Seide und Spitze um.

Alessa nahm eine Salbe, Bandagen und ein altes Hemd aus dem Schrank, das sie in Streifen riss. Die Kopfwunde zu verbinden fiel ihr nicht schwer. Aber die schlanken Hüften mit einer Bandage zu umwinden – diese Aufgabe trieb ihr erneut das Blut ins Gesicht. Schließlich kniete sie nieder und schiente den verstauchten Knöchel.

Mit Kates Hilfe zog sie dem Bewusstlosen das Hemd des Sergeanten an. Endlich lag er züchtig verhüllt unter der Decke auf dem Sofa, den Kopf auf dem Kissen.

„Bleibst du bei ihm?“ Kate trank einen Schluck gewässerten Wein aus dem Becher, den Alessa ihr gereicht hatte. „Wenn du willst, verbringe ich die Nacht hier oben.“

„Nicht nötig, danke. Mit diesem Knöchel wird er nicht über mich herfallen.“ Erbost starrte Alessa den Patienten an. „Aber er ist zweifellos ein Ärgernis – noch ein Maul, das wir beim Frühstück stopfen müssen.“

„Im Lauf des Tages wird Sir Thomas ihn sicher abholen lassen“, prophezeite Kate zuversichtlich. „Wer immer der Gentleman sein mag, der Lord High Commissioner wird nicht wünschen, dass feine englische Pinkel in diesen Hintergassen herumlungern. Gute Nacht.“

Nachdem Kate das Zimmer verlassen hatte, schloss Alessa die Tür und schob den Riegel vor. Dann widmete sie sich ihren spätabendlichen Pflichten – saubere Kleidung für den nächsten Tag zurechtlegen, Demetris Schiefertafel finden, Doras Handarbeit glätten, damit die Nonnen nicht zu sehr erschraken, wenn sie die Leistung des Mädchens begutachteten, nachsehen, ob genug Holz neben dem Herd lag …

Beinahe fühlte sie sich zu müde, um zu schlafen, zu rastlos, um es zu versuchen.

Von dem Sofa – dessen Nähe sie gemieden hatte – erklang ein tiefer Seufzer, und sie zuckte zusammen. Doch der Mann war immer noch bewusstlos. Zögernd ging sie zu ihm. Warum irritierte er sie so sehr? Weil er das verkörperte, dem sie am allerwenigsten traute? Er war ein Engländer, offensichtlich ein Aristokrat – und ein Mann.

Aber ich will nicht ungerecht sein, entschied sie, setzte sich und schaute ihn forschend an. Vielleicht war er weder ein Engländer noch ein Aristokrat, was sie allerdings wegen seiner Aufmachung bezweifelte. Und nicht alle Männer waren schlecht. Nur sehr viele. So oder so, sie würde ihm vorsichtig und argwöhnisch begegnen, und sie wollte ihn möglichst schnell loswerden.

Wenn sie bloß nicht dieses seltsame Bedürfnis empfinden würde, ihn zu berühren, über sein goldbraunes Haar zu streichen, die muskulösen Arme unter ihren Fingern zu spüren … Und diese sinnlichen Lippen … Verwirrt und erschrocken presste sie ihre Hände im Schoß zusammen. Hexerei. Nicht, dass sie daran glaubte, was immer die alte Agatha, die Nachbarin auf dem Land, auch erzählt hatte. Nein, der einzige Zauber war die Wirkung eines attraktiven, mysteriösen Fremden auf eine erschöpfte junge Frau, die schon längst die Hoffnung aufgegeben hatte, irgendwo einen passenden Mann zu finden.

„Selbst wenn es einen gäbe, Sie wären es sicher nicht“, teilte sie ihm mit, stand auf und holte den Krug, in dem sie Wasser auf dem Herd warm gehalten hatte.

Im Schlafzimmer blieb sie eine Zeit lang bei der Tür stehen und betrachtete die Szenerie. Zumindest hier war alles normal, in diesem Raum herrschte vorübergehender Friede. Hinter einem Wandschirm lag Demetri auf zerknüllten Laken, wie sie nur ein achtjähriger Junge zerwühlen konnte, wenn er im Traum gegen Piraten kämpfte. Zusammengerollt schlief Dora auf der anderen Seite des breiten Bettes. Nur ihre Nasenspitze war unter den zerzausten schwarzen Locken zu sehen.

Behutsam berührte Alessa die Gesichter der schlummernden Kinder. Dann schlüpfte sie aus ihren Kleidern, wusch sich und kroch neben dem schlafenden Mädchen ins Bett.

Die tiefen Atemzüge der beiden erzeugten einen beruhigenden Rhythmus, der ihr half, in einem traumlosen Schlaf zu versinken.

Nur ein paar Stunden später wurde sie vom Kreischen und Fauchen kämpfender Kater auf dem Dach der Bäckerei geweckt. Angespannt lauschte sie, ob auch die Kinder erwacht waren. Wie einen Liebhaber hielt sie ihr Kissen im Arm, eine Wange an die weichen Federn gedrückt. Ärgerlich legte sie es an seinen Platz, ans Kopfende des Bettes, wo es hingehörte. Nur der Himmel mochte wissen, was sie geträumt hatte. Je früher der Mann in die Residenz gebracht wurde, desto besser …

2. KAPITEL
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Weil sich das Bett nicht bewegte, musste er an Land sein. Und das war gut so. Da sollte er sein: im Bett, an Land. Aber es gab ein Problem – Benedict entsann sich nicht, wie er in sein Bett geraten war. Oder in ein anderes. Reglos lag er da. Diese heftigen Kopfschmerzen erklärten vielleicht, warum er sich nur ganz vage an die letzte Nacht erinnerte, denn sie wiesen auf einen unmäßigen Alkoholkonsum hin. An den erinnerte er sich ganz gewiss nicht …

Irgendjemand war im Zimmer. Bisher hatte er keinen Dienstboten eingestellt. Das wusste er. Und wenn er weibliche Gesellschaft gefunden hätte, könnte er sich zumindest dunkel daran erinnern. Also blieb nur die Möglichkeit übrig, dass sich ein Dieb hereingeschlichen hatte.

Allerdings ein erstaunlich geräuschvoller Dieb … Absätze tappten auf Bodenbrettern, Geschirr klirrte, jemand blies ihm warmen Atem ins Gesicht.

Und die eigenartigen Gerüche – Holzrauch, Kräuter, Seife, Essen. Eine Küche? Er öffnete die Augen und starrte in ein Kindergesicht, dessen Nase fast gegen seine stieß. Bestürzt wich das kleine Mädchen zurück, und da sah er ein zweites Kind. Beide hatten schwarze Haare, eine olivfarbene Haut, und die zwei braunen Augenpaare zeigten die gleiche Neugier.

„Jetzt ist er wach!“, quietschte das Mädchen aufgeregt.

„Habe ich nicht gesagt, du sollst nicht so nah an ihn herangehen? Nun hast du den Gentleman geweckt.“ Hinter ihm erklang eine klare, melodische Stimme. Und obwohl die Worte einen Tadel enthielten, gewannen weder Benedict noch die Kleine den Eindruck, die Frau würde ihr zürnen. Langsam begann sein wirres Gehirn zu arbeiten.

Diese Leute sprachen englisch. Also gebot die Höflichkeit ähnliche Bemühungen.

„Kalíméra“, sagte er.

„Oh, er kann Griechisch!“, kicherte das Mädchen.

Der Junge, der ihn eingehend musterte, stieß einen Redeschwall hervor, der anscheinend aus Fragen bestand.

Oh Gott, was jetzt? „Eh … Parakaló, miláte pio sigá …“

„Besonders gut spricht er nicht Griechisch“, konstatierte der Junge kritisch, in stark akzentuiertem Englisch. „Ich kann Englisch, Italienisch, Französisch und Griechisch, alles perfekt.“ Die unsichtbare Beobachterin lachte leise. „Nun ja, Französisch nicht so gut. Aber ich bin erst acht. Und er ist ein Mann.“

Diese Herausforderung nahm Benedict an. „Ich beherrsche Englisch, Französisch, Italienisch, Latein und Altgriechisch. Alles perfekt.“ Dann lächelte er wehmütig. Was mache ich eigentlich? Will ich mit einem Achtjährigen um die Wette prahlen?

„Meinen Sie das Griechisch, das die Helden gesprochen haben?“

„Ja“, bestätigte Benedict. „Wie Paris und Hektor und Achilles.“ Der Junge sperrte Mund und Nase auf. „Leider weiß ich nicht, wo ich mich befinde und wie ich hierher gekommen bin.“ Oder wieso ich nicht aufstehe, um das herauszufinden. So verkatert kann ich doch gar nicht sein. Benedict setzte sich auf, sank sofort wieder in die Sofapolsterung zurück und rang nach Luft. „Oh, verdammt!“

„Fluchen Sie nicht vor den Kindern!“ Jetzt war der Tadel unmissverständlich.

„Bitte verzeihen Sie.“ Er drehte sich um und versuchte die höllischen Schmerzen in seiner Hüfte und seinem Knöchel zu ignorieren. „Wie weh das tut, konnte ich nicht ahnen.“

„Erinnern Sie sich an die letzte Nacht?“ Endlich trat die Frau in sein Blickfeld, und er merkte etwas verspätet, dass er den Mund genauso aufriss wie vorhin der Junge, aber aus ganz anderen Gründen. Hastig presste er die Lippen wieder zusammen.

Dann holte er tief Atem. „An gar nichts erinnere ich mich. Und Sie hätte ich sicher nicht vergessen, Madam.“ Da müsste ich tot sein, dachte er und musterte die hochgewachsene, schlanke Frau, die vor ihm stand, die Hände in die Hüften gestemmt, das ovale Gesicht mit dem goldenen Teint voller Missbilligung.

Eine veritable griechische Schönheit … Der dunkle Nackenknoten betonte die stolze Kopfhaltung, die traditionelle Tracht der Insel mit dem weiten schwarzen Rock und der bestickten Bluse betonte die schmale Taille und verriet weibliche Rundungen.

Und dann fielen ihm ihre Augen auf. Griechisch? Diese strahlenden grünen Katzenaugen unter den schön geschwungenen Brauen? Gewiss nicht. Außerdem sprach sie akzentfrei englisch. „Offenbar sind Sie Engländerin.“

Sie antwortete nicht, aber ihre Miene bezeugte mühsam unterdrückten Ärger. „Stellt euch vor, Kinder, dann lasst den Gentleman in Ruhe.“

„Ich bin Dora. Und das ist Demetri.“ Mit spitzem Ellbogen stieß das kleine Mädchen den Bruder zwischen die Rippen. „Hör auf zu gaffen, Demi. Wenn er auch gesagt hat, er kann wie die Helden reden – das bedeutet nicht, dass er einer ist.“

Diese Mahnung wurde mit einem süßen Lächeln gemildert. Dann trippelte die Kleine davon und zog den Jungen hinter sich her.

„Würdest du bitte im Topf umrühren, Dora?“, rief die Frau ihr nach. „Und, Demetri – wir brauchen mehr Holz. Gestern Abend hast du nicht besonders viel ins Haus gebracht, óhi?“ Nun richtete sie ihre kühlen grünen Augen wieder auf Benedict. „Nennen Sie mich Kyria Alessa.“

Irgendwie gewann er den Eindruck, auch er hätte vernachlässigt, was „gestern Abend“ seine Pflicht gewesen wäre.

„Letzte Nacht wurden Sie draußen auf dem Platz von zwei Männern überfallen“, erklärte sie, „und Sie stolperten über das Wasserrohr. Dabei verstauchten Sie sich den Knöchel, danach stürzten Sie auf den Brunnensockel und wurden auf den Kopf geschlagen. Erinnern Sie sich nicht daran?“

„Soviel ich weiß, spielte ich in der Residenz des Lord High Commissioners Karten“, erklärte er, nachdem er sich etwas mühsam auf einen Ellbogen gestützt hatte. „Es war mein erster Abend auf der Insel, und Sir Thomas stellte mich einigen Gentlemen vor. Nach einer Weile wurde ich müde, entschuldigte mich und ging zurück …“ Die Stirn gerunzelt, versuchte er seine Gedanken zu ordnen. „Ich glaube, Sir Thomas wollte mir einen Lakaien mit einer Fackel zur Verfügung stellen. Doch die Nacht war klar, überall brannten Lichter. Und so lehnte ich sein Angebot ab.“

„Welch ein törichter Entschluss, in einer fremden Stadt … Wo wohnen Sie?“

„Im Fort – im Paleo Frourio.“

„Was um alles in der Welt haben Sie mitten in der Stadt gemacht, so spät am Abend?“

Mit dieser unfreundlichen Kritik verscheuchte sie die letzten Nebel aus seinem Gehirn. Allmählich geriet er in Wut. In seiner Brust entstand noch ein anderes Gefühl, das er vorerst nicht analysieren wollte, weil er zu verärgert war. „Die frische Nachtluft ermunterte mich wieder. Und so beschloss ich, die Stadt zu erforschen. Habe ich damit Ihr Missfallen erregt, Madam?“

Jede andere Frau seines Bekanntenkreises wäre vor diesem energischen Tadel errötend zurückgewichen. Aber diese nicht. Stattdessen hob sie die Brauen und lächelte, als müsste sie ein zurückgebliebenes Kind besänftigen. „Abgesehen von der Tatsache, dass Sie sich vor meinem Haus von zwei mörderischen Taugenichtsen überfallen ließen, dass Sie in einer fremden Stadt flanieren, Ihren Spazierstock mit dem Silbergriff schwenken und die Gauner mit Ihrer teuren Kleidung anlocken? Alles geschah vor dem Fenster meiner Kinder. Und ich muss mich mit den Konsequenzen herumplagen.“

Unbehaglich spürte er, wie das Blut in seine Wangen stieg. „Vermutlich muss ich Ihrem Ehemann für meine Rettung danken.“

„Ich bin nicht verheiratet.“

Also eine Witwe – eine sehr junge. Wie alt mochte sie sein? Vierundzwanzig? „Ich bedauere Ihren Verlust, Madam. Und wer hat mich vor den beiden Schurken bewahrt?“

„Nein, ich habe keinen Verlust erlitten“, erwiderte sie so unverblümt, dass er schockiert den Atem anhielt. „Und ich bin allein mit den beiden fertig geworden.“

„Sie?“, fragte er ungläubig.

Statt zu antworten, zog sie ein Messer aus ihrem Stiefel.

Indigniert und zugleich entsetzt, starrte Benedict die Waffe an. „Also haben Sie die beiden erstochen?“

„Natürlich nicht, ich bin keine Mörderin. Dem einen empfahl ich, er sollte verschwinden, oder ich würde dem Lord High Commissioner von seiner Schmuggelei erzählen. Den anderen schlug ich nieder.“ Sie drehte das Messer um und zeigte ihm den runden Griff. „Als er zu sich kam, stolperte er davon. Zunächst wollte ich Sie in die Residenz bringen lassen. Aber es war schon spät, und ich wusste nicht, wie schwer Sie verletzt waren. Außerdem fühlte ich mich erschöpft, und ich wollte mir all diese Umstände ersparen. Demetri wird auf dem Weg zur Schule in der Residenz Bescheid geben.“

„Danke.“ Mehr wusste er nicht zu sagen, vom Aufruhr höchst unerfreulicher Emotionen überwältigt. Da ihn eine Frau gerettet hatte, fühlte er sich gedemütigt. Sein geschundener Körper peinigte ihn. Zudem ärgerte ihn das Verhalten seiner Gastgeberin. Gleichzeitig, und das bedauerte er am allermeisten, erregte sie ihn.

Mit zornigen grünäugigen Hexen hatte er sich noch nie abgegeben – und auch nicht erwartet, eine Frau von dieser Sorte attraktiv zu finden. Aber diese Alessa interessierte ihn brennend – auf eine Weise, die er nicht verstand. Und das lag nicht nur an ihrer bemerkenswerten äußeren Erscheinung. Irgendetwas strahlte sie aus, das den Wunsch in ihm weckte, sie in seine Arme zu reißen und ihre kühle, verächtliche Miene mit heißer Leidenschaft zu besiegen.

Natürlich war das unvorstellbar. Wenn es um Frauen ging, befolgte er strenge Regeln: nur professionelle Gespielinnen oder erfahrene Damen aus gehobenen Gesellschaftskreisen. Und die junge Witwe mit ihren Kindern passte offensichtlich in keine dieser Kategorien.

„Das Frühstück ist fertig!“, erklang die Stimme der kleinen Dora in einer Ecke des Zimmers, wo er sie nicht sah. Er versuchte sich wieder umzudrehen, was der Schmerz in der Hüfte verhinderte.

„Habe ich mir etwas gebrochen?“ Nur mühsam verbarg er seine Sorge. Wie viele Ärzte mochte es auf dieser Insel geben? Würde er sein Leben lang hinken? Oder drohte ihm ein noch schlimmeres Schicksal?

„Nein.“ Als sie sich abwandte, schwang ihr schwarzer Rock und bot ihm den Anblick mehrerer Unterröcke und weißer Stümpfe über den kurzen Lederstiefeln. Einerseits wirkte dieses Kostüm exotisch und verlockend, andererseits sehr praktisch.

Nun folgte eine lebhafte Diskussion auf Griechisch. Er gab es auf, den Sinn der Worte zu ergründen. Entspannt lehnte er sich zurück. Dann tauchte der Junge wieder auf und schleppte einen Wandschirm hinter sich her, den er vor dem Sofa aufstellte. „Der gehört mir. Aber Sie können ihn ausleihen.“ Er stapfte davon, dann erschien er mit einer Schüssel voller Wasser, einem Handtuch und Seife, das alles deponierte er auf einem Stuhl neben Benedict. „Vor dem Frühstück müssen Sie Ihr Gesicht und die Hände waschen. Oh, das hätte ich fast vergessen.“ Grinsend drückte er ein Gefäß, über dem ein Tuch lag, in die Hände des Gastes. „Wenn Sie fertig sind, stellen Sie den Nachttopf einfach unter das Sofa.“

Also grollte Kyria Alessa ihm doch nicht so sehr, dass sie ihn zu der Frage gezwungen hätte, wie er seine menschlichen Bedürfnisse befriedigen sollte. Er schlug die Decke zurück. Erstaunt inspizierte er das fremde Hemd, das er trug. Seine Kleidung war mitsamt der Unterwäsche verschwunden, seine Hüfte äußerst professionell bandagiert. Irgendwie bezweifelte er, dass Demetri dieses Werk vollbracht hatte.

Nach seiner Morgentoilette erwartete er, der Junge würde ihm etwas zu essen bringen. Doch es war Alessa, die den Wandschirm zur Seite schob und einen Becher und einen Teller auf den Stuhl stellte. Dann entfernte sie die Waschschüssel.

„Haben Sie mich ausgezogen und meine Wunden verbunden?“

„Ja“, bestätigte sie und lächelte, offenbar belustigt über seine sichtliche Verlegenheit. „Dabei hat mir Mrs. Street geholfen, meine Nachbarin. Es ist nicht so leicht, einen bewusstlosen Mann zu entkleiden und zu verarzten.“

Und das amüsiert Sie? „Vielen Dank, Kyria Alessa. Selbstverständlich müssen Sie mir gestatten, Sie für all die Mühe zu entschädigen.“ Wie ihre verengten Augen bezeugten, hatte er sie erneut erzürnt.

„Nicht nötig. Die Griechen betrachten es als heilige Pflicht, für fremde Besucher zu sorgen.“ Hoch aufgerichtet stand sie da, ihre Finger sittsam vor ihrer Schürze ineinandergeschlungen.

„Aber – Sie sind keine Griechin, nicht wahr?“

Auch diesmal ignorierte sie seine Frage nach ihrer Herkunft. „Nennen Sie mir Ihren Namen. Gleich wird Demetri zur Schule gehen, und vorher muss er Mr. Harrison erklären, wo Sie zu finden sind.“

„Harrison?“ Der Name kam ihm bekannt vor. Und dann erinnerte er sich. Allmählich kehrten die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden in sein Gedächtnis zurück. „Ach ja, Sir Thomas’ Sekretär. Kennen Sie ihn?“

„Ich kenne alle Leute in der Residenz“, erwiderte sie, ohne nähere Erklärungen abzugeben. „Also, Ihr Name, Sir? Oder haben Sie ihn vergessen?“

„Benedict Casper Chancellor. Mein Spitzname lautet Chance.“

Auf diese angedeutete Einladung ging sie nicht ein. „Und Ihr Titel?“

„Wieso glauben Sie, dass ich einen habe?“ Und wieso klingt ihre Stimme so angewidert? Beinahe könnte man meinen, sie würde mich fragen, ob ich an einer unanständigen Krankheit leide …

„Ihre Kleidung, Sir, Ihr Stil, die Art, wie Sie sich bewegen … Offensichtlich sind Sie ein gut situierter Mann. Alles an Ihnen weist auf einen englischen Aristokraten hin. Habe ich recht?“

„Gewiss, ich bin der Earl of Blakeney.“

„Nun sollten Sie Ihr Frühstück essen. Und danach ruhen Sie sich aus. Demetri wird Mr. Harrison bitten, heute Nachmittag eine Kutsche hierher zu schicken.“

„Sobald ich gegessen und mich angezogen habe, kann ich auf meinen eigenen Füßen zur Residenz gehen, vielen Dank.“

„Natürlich können Sie versuchen, aufzustehen – und zu gehen“, erwiderte sie betont höflich, was ihn erneut ärgerte. „Und wenn Sie es wünschen, humpeln Sie durch die Straßen in Satin-Kniehosen, dem drittbesten Hemd eines Sergeanten, ohne Strümpfe und Krawattentuch. Allerdings fürchte ich, Sir Thomas wäre nicht allzu begeistert über den Eindruck, den die englische Oberhoheit auf die heimische Bevölkerung machen würde.“ Sie ergriff den Wandschirm und ging zur Tür. „Wenn ich Dora zu den Nonnen gebracht habe, komme ich zurück.“

Nach einem kurzen Disput über eine verschwundene Kreide, dem Verbleib von Demetris Jacke und Doras Schultasche herrschte Stille im Zimmer.

Benedict warf die Decke beiseite. Auf die Lehne des Stuhls gestützt, versuchte er sich zu erheben. Die Anstrengung trieb ihm den Schweiß aus allen Poren. In heller Wut fluchte er, stand aber entschlossen auf, wenn auch unter starken Schmerzen. Diese dreiste Hexe hatte völlig recht, mit eigener Kraft würde er weder die Residenz noch das Old Fort erreichen.

Nun entdeckte er seinen ordentlich gefalteten Abendanzug auf einem Sessel. Darunter standen die Schuhe. Schwitzend und stöhnend hüpfte er auf einem Bein umher und suchte seine Strümpfe. Das alte Hemd wäre noch akzeptabel. Aber mit nackten Beinen unter den Kniehosen würde er sich lächerlich machen. An der Wand standen hölzerne Eimer, mit Wasser und weißen Kleidungsstücken gefüllt. Er griff in eines dieser Gefäße und hoffte seine Strümpfe zu finden, die er am Herd trocknen würde. Doch was er hervorzog, gehörte sicher nicht ihm – ein Hemdchen aus feinem Leinen mit Spitzenborten. Er warf es zurück, dann untersuchte er den Inhalt des nächsten Eimers. Nun fand er ein Negligé, das ihn an seine letzte Geliebte erinnerte – an die Nacht, in der er sich verabschiedet hatte. Eine richtige Frau, dachte er wehmütig. Feminin, aufmerksam, nachgiebig, stets bereit, alle seine Wünsche zu erfüllen. Und wie traurig war sie gewesen, als er seine Reise ins Mittelmeer angetreten hatte …

Stöhnend richtete er sich aus seiner gebückten Haltung auf. Und warum beeindruckte ihn die grünäugige Hexe mehr als die liebe, sanftmütige Jenny? Kaltes Wasser tropfte auf seine nackten Füße, seufzend warf er das Negligé in den Eimer zurück und hinkte zum Bett. So widerstrebend er es sich auch eingestand – wenn er diesem Albtraum entrinnen wollte, musste er sich erst einmal ausruhen.

Alessa stieg die Treppe hinauf. Wie sie voller Dankbarkeit feststellte, hatte Kate bereits die Blutflecken vom weiß gestrichenen Geländer gewischt. Die Freundinnen wechselten sich ab, das Treppenhaus sauber zu machen, was die verantwortungslose Familie, die im Erdgeschoss wohnte, stets versäumte. Durch die geschlossene Tür dieser Wohnung drang eine schrille Frauenstimme.

Zweifellos wurde Sandro beschimpft, weil er im Bett lag, statt in seinem Boot aufs Meer hinauszufahren. Unter den hart arbeitenden Fischern bildete er eine bemerkenswerte Ausnahme. Alessa lauschte an Kates Tür, doch sie hörte nichts. Wahrscheinlich war die Nachbarin bereits zum Marktplatz gegangen.

Während Alessa die restlichen Stufen hinaufstieg, läutete die Kirchenglocke, und sie zählte die Schläge. Neun Uhr. Also hatte Seine Lordschaft sie nicht allzu viel Zeit gekostet. Zwei Stunden blieben ihr noch, um für die Wäsche zu sorgen. Danach würden die üblichen Besucher erscheinen, bevor die Stadt im Mittagsschlaf versank. Wahrscheinlich würde sich der Earl bis drei Uhr gedulden müssen, ehe Mr. Harrison Dienstboten hierher schickte und ihn abholen ließ. Meistens dauerte es eine Weile, bis die Engländer sich an die mediterrane Gepflogenheit gewöhnten, in den heißesten Stunden des Tages zu ruhen. Aber Sir Thomas Maitland, der auf Malta und in der noch schlimmeren Hitze auf Ceylon Erfahrungen gesammelt hatte, akzeptierte diese Tradition nur zu gern.

Vor ihrer Tür blieb Alessa stehen. Ihr Herz schlug viel schneller, als es der Weg nach oben rechtfertigte. Wovor fürchtete sie sich? Er war auch nur ein Mann. Immerhin … Mochte er letzte Nacht auch leichtsinnig gewesen sein – nachdem er in einer fremden Umgebung erwacht war, mit beträchtlichen Schmerzen, hatte er eine bewundernswerte Haltung bewahrt.

Wie sie sich reumütig eingestand, hatte sie ihn viel zu unfreundlich behandelt. Dafür müsste sie sich entschuldigen. Nach einem tiefen Atemzug öffnete sie die Tür.

3. KAPITEL
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Lord Blakeney saß auf dem Sofa, so von Kissen gestützt, dass er ins Zimmer schauen konnte. Das war zuvor nicht möglich gewesen.

„Sind Sie aufgestanden?“, fragte Alessa mit scharfer Stimme und vergaß ihre guten Absichten. Ärgerlich ließ sie den Blick durch den Raum schweifen, um weitere Anzeichen seiner Aktivitäten zu suchen.

„Natürlich …“, erwiderte er gedehnt und beobachtete ihr Gesicht. „Ich habe Ihr Tagebuch gelesen, Ihr Geld im Versteck hinter dem Ziegelstein im Herd entdeckt und schmutzige Fingerspuren auf all den hübschen Dessous hinterlassen, die in diesen Eimern eingeweicht sind.“

Die ersten beiden Teile seiner sarkastischen Antwort ignorierte sie, denn sie führte kein Tagebuch. Und ihre Ersparnisse hatte sie in den Knoblauchzöpfen verborgen, die an den Deckenbalken hingen. Aber die letzten Worte des Earls … „Was haben Sie mit der Wäsche gemacht?“

„Ich dachte, ich würde meine Strümpfe finden.“

„Die bekommen Sie, sobald sie sauber sind“, entgegnete sie in jenem brüsken Ton, den sie anschlug, wenn Demetri ihr irgendetwas abzuschwatzen versuchte. „Wieso konnten Sie das Zimmer durchqueren?“

„Ich bin auf einem Bein gehüpft.“

Was sicher sehr mühsam gewesen war … Widerstrebend bewunderte sie seine Willenskraft. „Brauchen Sie etwas?“ Sie stellte ihren Marktkorb ab und erinnerte sich an den Entschluss, ihn freundlicher zu behandeln. „Tut mir leid, dass ich heute Morgen so … kurz angebunden war, Sir. Ich habe mich geärgert, weil Sie direkt vor meiner Tür in diese Keilerei verwickelt wurden.“

„Mir tut es auch leid. Und Sie haben mich zu Recht gemaßregelt. Wie Sie sagten, ich hätte es besser wissen müssen. Um Ihr Verständnis zu erlangen, kann ich nur meine Müdigkeit anführen, die Freude, nach mehreren Tagen auf einem Schiff wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren und – so lächerlich es klingen mag – auf den warmen Abend.“

„Ach, der warme Abend, Sir?“ Alessa nahm ihren flachen Strohhut ab, hängte ihn an einen Haken neben der Tür und griff nach ihrer Schürze.

„Würden Sie mich Benedict nennen?“, bat er lächelnd.

Du bist ein Charmeur. Und das weißt du auch. Ich sollte mich weigern … „ Also gut, Benedict.“ Sie verknotete die Schürzenbänder hinter ihrem Rücken und merkte, dass der Earl ihre Brüste betrachtete, die sich bei der Bewegung deutlich unter der bestickten Bluse aus dünnem Leinen abzeichneten. Hastig kehrte sie ihm den Rücken und füllte zwei Becher mit dem stark geharzten Rotwein aus dem Norden der Insel. Dann fügte sie eine großzügig bemessene Menge Wasser hinzu und reichte ihm einen Becher. „Sie wollten mir erklären, wieso der warme Abend Sie zu so sträflichem Leichtsinn verleitet hat.“

Dankend nahm er den Becher entgegen und nippte daran. Zu Alessas geheimer Belustigung zog er die Brauen hoch, gab jedoch keinen Kommentar ab. Beim nächsten Schluck war er etwas vorsichtiger. „Leider benahm ich mich wie ein Urlauber. Die pittoreske Szenerie, die lächelnden Gesichter, die malerischen schmalen Straßen, die milde Luft … Und die Sterne, wie Diamanten auf schwarzem Samt. Wer sollte in einer solchen Atmosphäre mit Gefahren rechnen?“

Skeptisch verdrehte sie die Augen, und er lachte.

„In Marseille oder Neapel wäre ich auf der Hut gewesen. Aber hier ging ich das Risiko ein. Dafür wurde ich bestraft – infolge Ihrer Hilfe nicht so hart, wie ich es verdient hätte.“

Alessa stellte einen Kessel auf den Herd und goss Wasser hinein. Dann nahm sie einzelne Wäschestücke aus den Eimern. „Lautet Ihr Spitzname ‚Chance‘, weil Sie dem Risiko gern eine Chance geben?“

„Nein, das ist einfach nur eine Abkürzung von ‚Chancellor‘. In Wirklichkeit bin ich sehr vernünftig und respektabel.“ Als sie die Stirn runzelte, seufzte er. „Offenbar glauben Sie mir nicht.“

„Wenn Sie die Wahrheit sagen, unterscheiden Sie sich von den meisten englischen Gentlemen, die ich kenne. Keine Zechgelage bis zum Morgengrauen?“

„Niemals, obwohl ich edle Weine zu schätzen weiß – in Maßen.“

„Keine glamourösen Geliebten? Keine Orgien?“

Aha … Jetzt stieg das Blut in seine Wangen.

„Orgien? Gewiss nicht.“

War er tatsächlich so konventionell? Jedenfalls ertrug er ihre freimütigen Fragen mit erstaunlicher Geduld. Wie würde er ihre Geschichte beurteilen, wenn sie so kühn wäre, ihm alles zu erzählen? Sie ergriff ein Messer und schabte Streifen von einer graugrünen Olivenölseife.

„Soll ich Ihnen helfen?“, schlug Benedict vor. „Ich fühle mich unbehaglich, wenn ich hier sitze, während Sie so hart arbeiten.“

„Danke. Vielleicht können Sie diese Aufgabe übernehmen.“ Alessa setzte sich auf die Sofakante und reichte ihm eine Schüssel, das Messer und die Seife. „Für meine Wäsche brauche ich möglichst dünne Streifen, die sich gut im Wasser auflösen.“

„So?“ Benedict begann an dem Seifenstück zu schaben.

„Sehr gut.“ Weil sie seinen muskulösen Schenkel an ihrer Hüfte spürte, stand sie rasch auf.

Wie nett und umgänglich er ist, dachte sie und begann seine Strümpfe zu schrubben. In nur zwölf Stunden hatte sich ihre Abneigung in Sympathie verwandelt. Und wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Nur wegen eines attraktiven Profils, ausdrucksvoller brauner Augen und eines offenherzigen Wesens? Nimm dich in Acht, ermahnte sie sich, dieser Mann ist die verkörperte Versuchung …

Die Kirchenuhr schlug elfmal, und Alessa schaute zu Benedict hinüber. Mit Seifenspänen gefüllt, stand die Schüssel vor dem Sofa am Boden. Nun beschäftigte er sich damit, aus dem restlichen Seifenstück ein Tier zu schnitzen. Als er ihren Blick spürte, hob er den Kopf. „Kein besonders gelungenes Kunstwerk, nicht wahr?“

Die Augen zusammengekniffen, inspizierte sie die formlose Schnitzerei. Zum Glück war sie daran gewöhnt, kindliche Bemühungen um künstlerische Leistungen taktvoll zu loben. „Oh, ein sehr hübsches Schwein. Vielleicht müsste es noch ein Bein bekommen. Aber man darf nicht zu kritisch sein.“

„Danke. Allerdings zwingt mich meine Ehrlichkeit, Ihnen zu erklären, dass es ein Pferd sein soll.“

Lachend schob sie den Wandschirm vor das Sofa. „Ich erwarte … Kundschaft. Vielleicht würde Ihre Gegenwart die Leute in Verlegenheit bringen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht …“

„Meine Existenz geheim zu halten? Gar nichts.“

Voller Dankbarkeit lächelte sie ihn an. Dann eilte sie aus dem Raum, um das Schlafzimmer in Ordnung zu bringen. Wie ihr soeben bewusst geworden war, hatte sie das Sofa, das sie normalerweise benutzte, ihrem Gast überlassen. Deshalb musste sie die intimere Umgebung des Schlafzimmers wählen, und ihre Besucher durften keine persönlichen Gegenstände sehen.

Benedict sank in die Kissen hinab und machte es sich so bequem wie möglich. Sollte er versuchen, ein wenig zu schlafen? Eine gute Idee, wie er fand – falls er nicht schnarchte, was zweifellos die Aufmerksamkeit der „Kundschaft“ erregen würde. Wahrscheinlich erwartete Alessa einige Damen, die ihr Dessous zum Waschen bringen wollten. Oder vielleicht arbeitete sie auch als Änderungsschneiderin. Inmitten solcher typisch weiblicher Aktivitäten wäre ein Mann sicher unwillkommen.

Da man ihm niemals vorgeworfen hatte, er würde schnarchen, durfte er es gewiss wagen, die Augen zu schließen, oder? Während er darüber nachdachte, klopfte es an der Tür, und er lauschte den flinken Schritten Alessas, die den Besuch eintreten ließ.

„Kalíméra, Alessa.“

„Kalíméra, Spiro. Ti kánis?“

Abrupt setzte Benedict sich auf. Ein Mann? Erstaunt über seine spontane Reaktion, legte er sich wieder hin. Vermutlich lebten in dieser Stadt Junggesellen, die keine Dienstboten hatten. Und so brauchten sie jemanden, der sich um ihre Wäsche kümmerte. Alessa sprach in schneller griechischer Umgangssprache. Nach der Begrüßung verstand er kaum ein Wort. Aber irgendetwas an ihrem vertraulichen Ton störte ihn. Nun wurde die Tür geöffnet, dann eine andere, und die Stimmen entfernten sich. Waren die beiden im Schlafzimmer verschwunden?

Benedict setzte sich wieder auf. Jetzt lauschte er ungeniert. Das Gespräch verstummte, und er hörte nur mehr ein rhythmisches Knarren. Ein Bett? Sie wird doch nicht … Nein! Sein Entsetzen irritierte ihn. Warum regte er sich auf? Natürlich war es Alessas gutes Recht, ihren Lebensunterhalt so zu verdienen, wie es ihr gefiel. Das ging ihn nichts an. Und doch …

Nun, vielleicht irrte er sich. Dieser Spiro könnte ein schadhaftes Bettgestell reparieren. Und ich bin der Prinzregent, dachte Benedict grimmig.

Nach ein paar Minuten hörte er die Geräusche nicht mehr, nur Stimmen, und die beiden kamen ins Wohnzimmer zurück. Mühsam drehte er sich zur Seite und spähte durch einen Spalt zwischen den Teilen des zusammenklappbaren Wandschirms. Spiro war ein stämmiger Mann in mittleren Jahren – mit feuerroten Wangen. Kein Werkzeugkasten. Was immer er hier getrieben haben mochte, er hatte keine Möbel instand gesetzt.

Auch Alessas Gesicht war leicht gerötet. Erbost beobachtete Benedict durch den schmalen Spalt, wie sie ihr Haar glättete, dann klopfte es wieder an der Tür. Diesmal erschien ein jüngerer Mann, der sein linkes Bein nachzog und ebenfalls ins Schlafzimmer geführt wurde. Keine Geräusche drangen herüber.

Nach ein paar Minuten klopfte es wieder an der Tür, jemand trat ein, und ein Sessel quietschte. Offenbar hatte der Neuankömmling Platz genommen, um zu warten.

Großer Gott, wie viele Kunden werden denn noch auftauchen? Nun erklang ein atemloser Schrei im Schlafzimmer. Benedict streckte sich auf dem Sofa aus und vergrub seinen Kopf unter den Kissen. Von alldem wollte er nichts mehr hören.

Autor

Louise Allen

Louise Allen lebt mit ihrem Mann  – für sie das perfekte Vorbild für einen romantischen Helden – in einem Cottage im englischen Norfolk. Sie hat Geografie und Archäologie studiert, was ihr beim Schreiben ihrer historischen Liebesromane durchaus nützlich ist.

Foto: ©  Johnson Photography

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