Eine perfekte Familie

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Ein glanzvolles Familienfest wird für Olivia und ihren attraktiven Verlobten Caspar zum Tanz auf dem Vulkan. Explosive Enthüllungen, schockierende Geständnisse und heiße Flirts zerstören nicht nur das Bild der perfekten Societyfamilie - sondern beinahe auch Olivias Glück …


  • Erscheinungstag 15.12.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733769635
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

„Erzähl mir doch noch ein bisschen mehr von deiner Familie und diesem Geburtstag.“

Selbst jetzt, nachdem sie bereits ein halbes Jahr zusammen waren, erregte Olivia der lässig gedehnte Akzent Caspar Johnsons noch immer genauso wie sein hochgewachsener, schlanker, sehr männlicher Körper.

„Pass auf die Straße auf“, mahnte Caspar, als sie den Kopf wandte, um ihm ein kleines Lächeln zuzuwerfen, und fügte weich hinzu: „Und schau mich nicht so an, sonst …“

Sein freimütig geäußertes sexuelles Begehren war nur eins der Attribute, die Caspar in ihren Augen so sehr von all den anderen Männern unterschieden.

„Zu den Geburtstagen“, korrigierte sie ihn und fuhr dann fort: „Im Übrigen habe ich dir das alles schon hunderttausendmal erzählt.“

„Ich weiß“, räumte Caspar bereitwillig ein, „aber ich höre es doch so gern, und noch mehr Spaß macht es mir, dein Gesicht zu beobachten, wenn du von deiner Familie erzählst. Es kommt mir genauso vor wie damals, als du dich gegen eine Karriere als Strafverteidigerin entschieden hast“, neckte er sie. „Du kannst dir noch so viel Mühe geben, nichts von dem, was du denkst, preiszugeben, dein Gesichtsausdruck, vor allem deine Augen, verraten dich immer. Du kannst dich eben einfach nicht verstellen.“

Olivia Crighton verzog missbilligend das Gesicht, aber sie wusste, dass er recht hatte. Sie hatten sich kennengelernt, als sie im Anschluss an ihr Studium ein Seminar in amerikanischem Recht belegt hatte, wo er ihr Tutor gewesen war. Bald hatte sich herauskristallisiert, dass Caspar, der ebenso wie sie selbst aus einer Juristenfamilie stammte, sich genau wie sie entschieden hatte, nicht in die Familienkanzlei einzutreten, sondern seinen eigenen Weg zu gehen. Entschieden … nun, Caspar mochte die freie Wahl gehabt haben, wohingegen sie …

Es gibt noch eine Menge anderer Gründe, weshalb wir so gut zusammenpassen, versuchte sie, sich eilig abzulenken in der Absicht, den eben eingeschlagenen und viel zu gefährlichen Gedankenpfad schnellstmöglich wieder zu verlassen. Schließlich waren sie auf dem Weg zu einer fröhlichen Familienfeier, ganz gewiss nicht der geeignete Moment, um alte Probleme wiederzukäuen – Probleme, die überhaupt nichts mit ihnen beiden zu tun hatten. Sie waren aus ganz anderen Gründen zusammen, die über die Tatsache, dass sie demselben Berufsstand angehörten, weit hinausgingen und viel persönlicherer Natur waren. Das Blut stieg ihr in die Wangen, als sie sich an die gestrige leidenschaftliche Liebesnacht erinnerte.

Es war jetzt bereits über zwei Monate her, seit sie und Caspar beschlossen hatten zusammenzuziehen, eine Entscheidung, die zu bereuen keiner von beiden bisher Grund gehabt hatte – ganz im Gegenteil. Sie hatte ihrer Familie noch nichts davon erzählt, dass sie beabsichtigte, Caspar nach Amerika zu begleiten, wenn sein Lehrauftrag in London ausgelaufen war. Nicht etwa, dass irgendjemand Einwände erheben würde; immerhin war sie als weibliches Familienmitglied leicht entbehrlich, und kein Mensch erwartete von ihr, dass sie zum Gelingen des Familienunternehmens etwas beitrug. Ganz im Gegensatz zu den männlichen Familienmitgliedern, deren Rolle fast vom Moment der Empfängnis bereits festgelegt war.

Caspar konnte sich über diesen Aspekt ihrer Familiengeschichte gar nicht genug amüsieren, er hatte es zuerst gar nicht glauben wollen, dass heutzutage noch derart altmodische Familien existierten. Ihre Kinderstube und die ihrer ganzen Familie war so gänzlich verschieden von seinem eigenen Familienhintergrund. Seine Eltern hatten sich scheiden lassen, als er sechs war, und Olivia hatte sehr bald gespürt, dass er ein Mensch war, dem es nicht leichtfiel, Gefühle zu zeigen, was sein freimütig für sie geäußertes Begehren in ihren Augen noch wertvoller machte.

Sie wusste, dass er sie ebenso liebte wie sie ihn, aber sie waren beide durch leidvolle Erfahrungen in der Kindheit vorsichtig geworden und passten auf, nicht allzu viel von ihren Gefühlen preiszugeben. Olivia war in bestimmten Momenten durchaus klar, dass sie beide – jeder auf seine Art – Angst vor der Liebe hatten, aber eine andere Sache, die sie bereits früh gelernt hatte, war, dass es besser war, manche Dinge nicht allzu genau zu hinterfragen. Quälende Erinnerungen ließ man am besten ruhen und rührte nicht daran.

Bis auf die Tatsache, dass sie Caspar nach Philadelphia begleiten und dort mit ihm leben würde, hatten sie noch keine längerfristigen Pläne gemacht. Was ihre eigene berufliche Karriere anbelangte, würde sie von dem Schritt, nach Amerika zu gehen, wohl kaum profitieren, aber sie und Caspar waren sich einig gewesen, dass das, was sie miteinander verband, wichtig genug war, um ihm eine Chance zu geben. Doch eine Chance wofür? Sich zu etwas Dauerhaftem zu entwickeln oder die Chance zu sterben?

Olivia war sich noch immer nicht sicher, was sie wirklich wollte, und sie hatte den Verdacht, dass es Caspar nicht anders erging. Im Augenblick wussten sie nur, dass sie zusammen sein wollten, und dass ihre Beziehung für sie beide im Moment die oberste Priorität besaß.

„Also, was ist jetzt mit deiner Familie?“, drängte Caspar, der neben ihr auf dem Beifahrersitz ihres kleinen robusten Ford saß – ein Geschenk ihres Großvaters zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag. Sie erinnerte sich daran, dass Max, ihr etwa gleichaltriger Cousin, von Gramps zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag einen schnittigen Sportwagen bekommen hatte.

Die Familie … tja, wo sollte sie da anfangen? Bei David und Tiggy, ihren Eltern? Ihren Großeltern Ben und Sarah? Oder ganz am Anfang, bei ihrem von seiner Familie verstoßenen Urgroßvater Josiah, der die Kanzlei in Haslewich gegründet hatte, um für sich und seine von seiner Familie verachteten Frau eine neue Existenz aufzubauen?

„Wie viele Familienmitglieder nehmen an dieser Geburtstagsparty teil?“, riss Caspar sie aus ihren Gedanken.

„Schwer zu sagen. Es hängt davon ab, wie viele der Cousins und Cousinen zweiten Grades sie eingeladen haben. Aber der engste Familienkreis wird natürlich da sein. Gramps, Mum und Dad, Onkel Jon und Tante Jenny, Max, ihr Sohn, und meine Großtante Ruth. Und vielleicht kommen ja auch noch ein paar von der Chesterbande.“

Sie warf einen Blick auf das Autobahnschild, an dem sie vorbeifuhren. „Nur noch ein paar Ausfahrten“, sagte sie, „dann sind wir zu Hause.“

Weil sie sich auf den Verkehr konzentrierte, fiel ihr nicht auf, dass er leicht die Stirn runzelte, als sie „zu Hause“ sagte. Für ihn war zu Hause immer dort, wo er gerade lebte. Aber für sie …

Sie bedeutete mittlerweile schon eine ganze Menge für ihn, diese hübsche, kluge Engländerin. Anders als die Frauen, die er vor ihr kennengelernt hatte, schien sie ihn immer an die erste Stelle zu setzen, und das war sehr wichtig für ihn – ein gerechter Ausgleich für das, was ihm während seiner Kindheit so sehr gefehlt hatte, wo er sich nicht selten wie ein unerwünschtes Paket gefühlt hatte, das vom einen zum anderen geschickt wurde.

Familien … er hegte ein grundsätzliches Misstrauen gegen sie, aber glücklicherweise war dieser Aufenthalt nur von kurzer Dauer, und anschließend würden er und Olivia nach Amerika fliegen, um dort ihr eigenes Leben zu leben – nur sie beide, ganz allein.

1. KAPITEL

„Jon, hast du eine Minute Zeit?“

Jonathon Crighton schaute von der Akte vor ihm auf und runzelte leicht die Stirn, als er sah, dass sein Zwillingsbruder David seine Schulter massierte. „Stimmt irgendwas nicht?“, fragte er.

„Nicht wirklich, es zieht nur ein bisschen. Wahrscheinlich habe ich mir beim Golfspielen am Sonntag eine kleine Zerrung geholt. Ach, dabei fällt mir ein, dass wir beide ja nächsten Monat zum Captain’s Cup runterwollten, aber Tiggy regt sich ein bisschen auf, weil ich wegfahren will, deshalb muss ich möglicherweise passen.“ Nachdem Jonathon genickt hatte, fuhr David fort: „Ich wollte dir eigentlich nur Bescheid sagen, dass ich ein bisschen früher gehe. Wir sind heute Abend bei den Buckletons zum Essen eingeladen, und hier gibt es ja nichts Dringendes mehr.“

Nein, das gab es wirklich nicht, wenn man von den beiden Testamenten, die noch ausgearbeitet werden mussten, ebenso absah wie von der Eigentumsübertragung für die Hawkins-Farm und einer Menge anderer kniffliger Patentrechtsfälle, die in letzter Zeit zunehmend ihren Weg von Davids Schreibtisch auf den seinen fanden, weil David einfach die Zeit fehlte, sich damit zu befassen.

Es war nie geplant gewesen, dass sie beide in die Familienkanzlei einsteigen sollten; David war eigentlich zu Höherem, nämlich zum Strafverteidiger, auserkoren gewesen, und schon lange bevor sie beide die Schule verlassen hatten, redete ihr Vater bereits ständig davon.

Doch all das hatte sich in dem Sommer, als David mit Tiggy nach Haslewich zurückgekehrt war und verkündet hatte, dass sie ein Kind erwarteten, schlagartig geändert. Niemand hatte David jemals mehr daran erinnert, dass er die Hoffnungen seines Vaters auf eine Zulassung als Strafverteidiger enttäuscht hatte, genauso wenig wie die Schulden, die David in London gemacht hatte und für die sein Großvater großzügigerweise aufgekommen war, jemals Erwähnung gefunden hatten oder der verräterisch süße, Übelkeit verursachende Geruch, der durch die Türritzen des Zimmers drang, das David und Tiggy in Queensmead, dem Familiensitz, bewohnten, bevor man für sie ein neues Zuhause gefunden hatte.

Die Arrangements, in die Familienkanzlei einzusteigen, waren schnell getroffen – wenngleich auch nicht als vollwertiger Anwalt, denn dafür war David nicht ausreichend qualifiziert, aber Jon bezweifelte, dass sich heute überhaupt noch irgendjemand daran erinnerte. Als der von seinem Vater bevorzugte Bruder war automatisch klar, dass David in der Firma der Seniorpartner sein würde, was weder Jon noch David niemals infrage gestellt hatten.

Als Jonathon seinen Bruder jetzt anschaute und die ersten unübersehbaren Anzeichen von Schlaffheit in dessen Zügen entdeckte, die Unfähigkeit, seinem, Jons, Blick standzuhalten oder auch, dass Davids ehemals muskelgestählter Körper eindeutig anfing, aus den Fugen zu gehen, bewirkten diese kleinen Unzulänglichkeiten nicht etwa, dass Jon seinen Bruder jetzt weniger liebte, sondern er liebte ihn dafür nur umso mehr. Seine Liebe war von einer Unbedingtheit, die so stark war, dass sie manchmal richtiggehend schmerzte. Allerdings hätte er nicht einmal im Traum daran gedacht, jemals irgendwem davon zu erzählen, und er wusste instinktiv, dass Davids Gefühle ihm gegenüber nicht von der gleichen Intensität waren.

Während Jon seinen Bruder beobachtete, der sich noch immer die schmerzende Schulter massierte, wurde ihm bewusst, dass er automatisch die Bewegungen des Bruders nachahmte, obwohl seine Schulter völlig schmerzfrei war.

„Es sieht ja wohl so aus, als würde sich das Wetter bis zum Wochenende halten“, kommentierte David, während er sich zum Gehen wandte. „Die Frauen werden aufatmen. Ach, übrigens, Max hat mich gestern Abend angerufen. Er kommt morgen von London rauf.“

„Ja“, stimmte Jon zu. Max mochte zwar sein Sohn sein, aber das engere Verhältnis hatte dieser zu David. Jon hegte den Verdacht, dass Max viel lieber David zum Vater gehabt hätte. Die beiden waren sich sehr ähnlich, sie hatten dieselbe extrovertierte Art, dieselben Bedürfnisse, dieselbe Sucht nach Glanz und Ruhm, dieselben Talente – und dieselben Schwächen. Jon runzelte die Stirn. Mit einem Mal musste er daran denken, dass früher, vor langer Zeit, Jenny Davids Mädchen gewesen war.

„Livvy hat sich schon für heute Abend angekündigt“, fuhr David gerade fort und runzelte jetzt ebenfalls die Stirn. „Sie bringt diesen Amerikaner mit. Ich bin mir nicht ganz sicher … hör zu, ich glaube, ich mache mich jetzt besser auf den Weg“, schloss er hastig, als das Telefon zu läuten begann. „Ich habe Tiggy versprochen, rechtzeitig da zu sein, und sie ist sowieso schon völlig durch den Wind, weil ihre Schuhe für Samstag, den Tag der großen Feier, noch nicht da sind … na, du kennst sie ja.“

Max verzog das Gesicht, als die Tür seines Büros ins Schloss fiel. Es war schon fast sechs, und jetzt sah es ganz danach aus, als ob er mindestens noch zwei Stunden Arbeit vor sich hätte. Er warf einen angewiderten Blick auf die Unterlagen, die ihm Bob Ford auf seinen Schreibtisch gelegt hatte.

Es war kein Geheimnis, dass er nicht unbedingt zu den Lieblingen des Kanzleivorstehers gehörte, ein Vermächtnis aus seiner Referendariatszeit, als Bob unglücklicherweise mit angehört hatte, wie er dessen leichtes Stottern nachäffte.

Max zuckte die Schultern.

Er hatte die hochgewachsene und muskulöse Gestalt seines Vaters und seines Onkels geerbt, und die Jahre, während derer er an der King’s School und später in Oxford Rugby gespielt hatte, waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Durch den regelmäßigen Sport hatten sich seine Muskeln in einer Art und Weise entwickelt, auf die er insgeheim sehr stolz war.

Er genoss es, wenn die Frauen ihm aus dem Augenwinkel diskret einen zweiten Blick zuwarfen und ihm manchmal alles andere als diskret ihre Vorschläge unterbreiteten. Ebenso, wie er es genoss, in den Augen seiner Mitspieler den Neid aufflammen zu sehen, wenn er nach einem harten Squash- oder Rugbyspiel unter die Dusche trat. Es verschaffte ihm einen Vorteil, und jeder Vorteil war von Nutzen, wenn es darum ging, im Leben der Sieger zu bleiben, wie Max sehr genau wusste. Und Max hatte vor zu siegen. Er würde sich nicht wie sein Vater mit der Rolle des Zweitbesten zufriedengeben. Nein, Max brauchte sich nur Onkel David anzuschauen, um genau zu wissen, was er wollte.

Er konnte sich zwar nicht mehr erinnern, wann ihm zum ersten Mal aufgefallen war, wie unterschiedlich die Leute seinen Vater und Onkel David behandelten, aber er erinnerte sich noch sehr gut daran, wie er beschlossen hatte, dafür zu sorgen, dass ihn die Leute eines Tages wie seinen Onkel und nicht wie seinen Vater behandeln würden.

Die Erkenntnis, dass es ihm wesentlich lieber gewesen wäre, David zum Vater zu haben, kam erst später. Er genoss es, dass David ihn viel eher wie einen Sohn denn einen Neffen behandelte, und noch mehr genoss er es, dass David ihn ganz offensichtlich seiner eigenen Tochter Olivia, genannt Livvy, vorzog.

Es waren David und sein Großvater gewesen, die ihn vehement unterstützt hatten, als er seine Absicht, Strafverteidiger werden zu wollen, verkündet hatte.

Sein Vater hingegen hatte leise Bedenken angemeldet. „Dafür brauchst du aber einen erstklassigen Abschluss“, hatte er eingewandt. „Das wird nicht leicht werden, vergiss das nicht.“

„Hör auf, den Jungen zu entmutigen“, hatte sein Großvater Ben seinen Vater unterbrochen. „Es wird höchste Zeit, dass wir endlich auch einen Anwalt der Krone in unserem Zweig der Familie haben.“

„Ganz meiner Meinung“, pflichtete Max ihm bei und beschloss, aus der guten Laune seines Großvaters einen Vorteil für sich herauszuschinden, „aber ganz so leicht wird es auch wieder nicht werden. Ein Teilzeitjob ist nämlich nicht drin, solange ich in Oxford studiere, diese Zeit habe ich nicht – nicht wenn ich einen guten Abschluss machen will“, fügte er virtuos hinzu und legte anschließend eine kleine Kunstpause ein. „Und irgendwann werde ich mir wohl oder übel ein neues Auto kaufen müssen …“ Er hielt hoffnungsvoll inne, und ganz wie erwartet enttäuschte ihn sein Großvater nicht.

„Nun, ich bin mir sicher, dass wir da eine Lösung finden. Du bekommst ja noch ein bisschen Geld von deiner Großmutter, und was das Auto anbelangt, hast du nicht bald deinen einundzwanzigsten Geburtstag …?“

Später hatte er mit angehört, wie sich seine Eltern wegen des Vorfalls fast in die Haare geraten wären.

„Daran ist wieder einmal nur David schuld“, hatte er seine Mutter verärgert sagen gehört, „und Max ermuntert ihn auch noch.“

„Ja, ich weiß, aber was soll ich machen?“, hatte sein Vater erwidert. „Und du weißt ja, wie Dad ist.“

Das Problem mit seiner Mutter war, dass sie ständig glaubte, irgendeine eingebildete Moral hochhalten zu müssen, doch zu irgendwas wollte sie eben auch da sein. Immerhin war sie längst nicht so attraktiv wie Davids Frau Tiggy, die zu jener Art von Frau gehörte, bei deren Anblick einem Mann fast die Augen herausfielen. Jener Art von Frau, um die einen andere Männer beneideten. Er konnte sich noch lebhaft erinnern, wie irre das gewesen war, als David und Tiggy einmal statt seiner Eltern zu seinem Schulsporttag gekommen waren.

Der alte Harris, sein Sportlehrer, war knallrot angelaufen und hatte sich benommen wie ein Idiot, als Max ihn Tiggy vorgestellt hatte.

Auch konnte er sich noch gut erinnern, wie sein Vater und seine Mutter an einem Schulfest teilgenommen hatten, und wie wütend und beschämt er sich beim Anblick des dicken Bauches seiner Mutter gefühlt hatte. Mit vierzig Jahren war seine Mutter noch einmal schwanger mit seinem kleinen Bruder Joss geworden. Sie hatte kein Recht, in ihrem Alter … Sie machte sich zum Gespött der Leute und ihn mit dazu.

Bei dem Gedanken an seine Eltern presste Max die Lippen ganz fest zusammen, seine Mutter schaute ihn manchmal so komisch an …

Seine Mutter musste verrückt sein, wenn sie sich einbildete, er würde eines Tages so enden wie sein Vater, ein Mann, der immer nur die zweite Geige spielte, für ein zweitklassiges Gehalt in einem zweitklassigen Familienunternehmen in einer zweitklassigen Stadt arbeitete. Ohne Onkel David mit seiner charismatischen Ausstrahlung wäre die Kanzlei schon vor Jahren vor die Hunde gegangen. Nur weil sein Onkel einen blöden Fehler gemacht hatte und …

Es war ein Fehler, den Max nicht wiederholen würde. Oh, er hatte auch vor, Spaß im Leben zu haben, und das nicht zu knapp, aber ebenso würde er aufpassen, dass er nicht in dieselbe Falle tappte wie sein Onkel.

Deshalb hatte Max dafür gesorgt, dass er Oxford mit einem guten Abschluss verließ, um schließlich in einer angesehenen Kanzlei unterzukommen.

„Noch immer hier, alter Junge? Ich dachte eigentlich, du wolltest heute früher Schluss machen.“

Max verspannte sich, als Roderick Hamilton sein Zimmer betrat. Roderick war seit etwas über zwölf Monaten sein Vorgesetzter. Sie waren zur selben Zeit in Oxford gewesen, hatten jedoch nicht in denselben Cliquen verkehrt; Rodericks Eltern waren sehr wohlhabend und verfügten über einflussreiche Beziehungen. Sein Onkel war der Senior dieser angesehenen Kanzlei, was zweifellos der Grund dafür war, dass er seinem Neffen nach Abschluss des Referendariats eine frei gewordene Soziusstelle angeboten hatte, während man Max nur vorübergehend Unterschlupf gewährte, bis sich auch für ihn die Möglichkeit, irgendwo in eine Kanzlei einzusteigen, bieten würde.

Max hatte nie das Bedürfnis verspürt, sich Freunde zu machen; seine Kommilitonen waren Konkurrenten, Hindernisse, die überwunden werden mussten, aber Roderick verabscheute er aus tiefstem Herzen.

„Mmm … der Wilson-Brief. Echtes Pech“, bemerkte Roderick mitfühlend, während er eine Unterlage von Max’ Schreibtisch nahm, einen Blick darauf warf und sie anschließend wieder hinlegte. „Schade, dass du keine Zeit hast am Wochenende“, fügte er dann hinzu. „Ma schmeißt eine Party für meine Schwester und hat mich gefragt, ob ich nicht noch ein paar nette Jungs auftreiben kann.“

Max hob den Blick nicht von den Akten, die er zu studieren vorgab. Keine Frage, Roderick versuchte, sich über ihn lustig zu machen; es war völlig undenkbar, dass Rodericks Mutter bei dem sorgfältig geplanten Ball mit den handverlesenen Gästen, der dazu diente, ihre Tochter in die Gesellschaft einzuführen, einen Gast akzeptieren würde, der nicht schon seit Monaten auf ihrer Gästeliste stand.

„Zweifellos wirklich verdammt schade“, gab er zurück, ohne Roderick eines Blickes zu würdigen. „Aber dieses Wochenende feiern mein Vater und mein Onkel ihren fünfzigsten Geburtstag.“

„Ah, sag mal, du hast doch sicher schon von dem alten Benson gehört, vermute ich“, bemerkte Roderick, womit er fraglos auf den eigentlichen Grund seines „Besuchs“ zu sprechen kam.

Obwohl Max damit gerechnet hatte, konnte er spüren, wie sich sein Körper anspannte in der Anstrengung, die Wut, die schon den ganzen Tag über in ihm kochte, im Zaum zu halten.

„Ja, hab ich“, stimmte er zu.

„Wenn er geht, wird in der Kanzlei eine Soziusstelle frei“, teilte Roderick ihm unnötigerweise mit.

„Ich weiß“, erwiderte Max in neutralem Ton, nur um etwas zu sagen.

„Hast du vor, dich zu bewerben?“

Max konnte deutlich spüren, wie ihm unaufhaltsam die Zügel entglitten. „Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.“

„Dann würde ich es an deiner Stelle aber schleunigst tun, alter Freund“, warnte Roderick ihn. „Man kommt heute nicht mehr so ohne Weiteres in eine Kanzlei rein, und ich habe gehört, dass die Interessenten bereits Schlange stehen. Was dich allerdings nicht hindern sollte, ebenfalls dein Glück zu versuchen. Immerhin hast du dein Referendariat hier gemacht und arbeitest jetzt schon seit … lass mich überlegen … einem guten Jahr hier, stimmt’s? Himmel, wo ist bloß die Zeit geblieben … na, ich glaube, ich werd jetzt mal besser gehen, ich habe Ma versprochen, ihr heute Abend zu helfen. Viel Spaß noch mit dem Wilson-Brief“, fügte er gedehnt hinzu, während er bereits auf den Flur hinausging.

Max wartete, bis er sich sicher sein konnte, dass Roderick wirklich gegangen war, bevor er das Schreiben, das er eben gelesen hatte, zusammenknüllte und mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, in die am weitesten entfernte Ecke des Zimmers feuerte. Verfluchter Roderick, er sollte sich zum Teufel scheren, und sein gottverdammter Onkel gleich mit dazu.

Es war jetzt mehr als acht Monate her, seit Max zum ersten Mal das Gerücht zu Ohren gekommen war, dass man Clive Benson eine Richterstelle angeboten hatte. Es war in Chester gewesen, als er den Chester-Zweig der Familie besucht hatte; immerhin musste man in diesem Geschäft alle Quellen ausschöpfen, die einem zugänglich waren. Und seitdem hatte er sich abgestrampelt wie nie in seinem Leben, um nur alles richtig zu machen und so sicherzustellen, dass er die freie Stelle bekam, wenn es so weit war.

Am vergangenen Mittwochmorgen, als die Sekretärin ihn zu einer Besprechung zum Senior gerufen hatte, war Max insgeheim davon ausgegangen, jetzt offiziell von der frei werdenden Stelle unterrichtet zu werden, und er hatte damit gerechnet, zu hören, dass man sie ihm anbieten würde.

Stattdessen hatte er nach viel Herumdruckserei und Räuspern zu hören bekommen, dass man sich nach langer Diskussion unter den Partnern entschieden hätte, es sei an der Zeit, sich an die Regeln gegen Frauendiskriminierung zu halten, und dass man es zumindest in Erwägung zöge, eine Anwältin mit in die Kanzlei hineinzunehmen. Was allerdings nicht heißen solle, dass die Entscheidung bereits gefallen sei, wurde Max nachdrücklich versichert. Man würde alle Gesichtspunkte im Auge behalten, und die Qualifikation und Verdienste aller Bewerber würden entsprechend gewürdigt werden, selbstverständlich.

„Selbstverständlich“, hatte Max zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorgestoßen, aber er wusste doch genau, was das, was er eben gehört hatte, bedeutete, und Roderick wusste es nicht minder. Wie sollte er es auch nicht wissen?

Es war jetzt zu spät für Max, sich zu wünschen, seinem Großvater gegenüber den Mund weniger voll genommen zu haben; es war noch nicht lange her, da hatte er herumgetönt, die aller Wahrscheinlichkeit frei werdende Teilhaberstelle praktisch schon in der Tasche zu haben. Es wurde auch höchste Zeit, weil Gramps langsam ungeduldig wurde, dass er nach mehr als einem Jahr noch immer nur auf Angestelltenbasis arbeitete. Zu seiner Zeit wäre so etwas unvorstellbar gewesen, man machte sein Referendariat, und anschließend begann man sofort, als gleichwertiger Partner in einer Kanzlei zu arbeiten. Aber die Zeiten hatten sich geändert, und Teilhaberstellen waren nicht mehr so leicht zu bekommen.

Max hatte im letzten Jahr jeden Mist gemacht, den sie ihm auf den Schreibtisch geknallt hatten. Nur indem er ganz fest die Zähne zusammengebissen hatte, war es ihm gelungen, den manchmal fast überwältigenden Drang zu bekämpfen, ihnen ihren Kram vor die Füße zu schmeißen und ihnen zu sagen, dass sie sich zum Teufel scheren sollten.

Er hatte sich ausbeuten lassen bis aufs letzte Hemd, und was hatte er davon, wenn er jetzt nicht in die Kanzlei einsteigen konnte? Gut, er könnte natürlich immer noch in die Industrie gehen; dort würde er zumindest ein angemessenes Gehalt beziehen. Aber er hatte sich schon lange gegen eine Laufbahn als Firmenanwalt entschieden, weil er wusste, dass Onkel David und sein Großvater alle Hoffnungen auf ihn setzten. Beide erwarteten von ihm, dass er eine große Karriere als Strafverteidiger machte, an deren Ende die Berufung zum Richter stehen sollte. Und das war etwas, das er sich für sich selbst auch erhoffte.

Er wollte es, ja, er hungerte förmlich danach, ersehnte es sich aus tiefstem Herzen, und bei Gott, er würde es auch schaffen, und weder eine Frau noch ein Antidiskriminierungsgesetz würden sich ihm bei der Erreichung dieses Ziels in den Weg stellen.

Es gab nur einen einzigen Weg, mit der Situation jetzt klarzukommen, und Max kannte ihn genau, aber zuerst musste er herausfinden, um wen es sich bei der hoffnungsvollen Kandidatin für die freie Stelle handelte. Die Frage war nur, wie.

Max grübelte noch immer darüber nach, welchen Kurs er am besten einschlagen sollte, als er zwei Stunden später in sein Auto stieg und gen Norden bretterte.

„So, hier wären wir. Das ist mein Zuhause.“

„Sehr beeindruckend“, brummte Caspar, während Olivia den Wagen zum Stehen brachte und sich in ihrem Sitz umdrehte, um ihn anzuschauen.

„Ach, da ist ja Tiggy“, verkündete sie, als sie sah, wie die Haustür aufging und ihre Mutter heraustrat, um sie zu begrüßen.

Caspar sagte nichts, als er sich umwandte, um einen ersten Blick auf Olivias Mutter zu werfen. Dass sie ihre Mutter bei deren Spitznamen nannte, war nichts Ungewöhnliches in der Gesellschaftsschicht, in der er aufgewachsen war, aber ein ganz bestimmter Unterton, der sich stets in Olivias Stimme einschlich, wenn sie von ihrer Mutter sprach, veranlasste ihn, sich Tiggy Crighton genauer anzusehen.

Rein körperlich betrachtet waren sich Mutter und Tochter sehr ähnlich; Olivia hatte die Schönheit von ihrer Mutter geerbt einschließlich der hohen Wangenknochen. Doch im Gegensatz zu der Schönheit ihrer Mutter, die auf eine seltsame Weise leer wirkte, hatte Olivia eine starke persönliche Ausstrahlung, die es fast unwichtig erscheinen ließ, dass sie schön genug war, um einem Mann den Atem stocken zu lassen. Neben ihrer Tochter wirkte Tiggy wie ein hübsches, aber nichtssagendes Gemälde.

Caspars erste Regung beim Anblick von Olivias Mutter war Enttäuschung. Warum das?, fragte er sich, während er ausstieg und darauf wartete, dass Olivia sie miteinander bekannt machte. Was hatte er erwartet … was erhofft, falls er sich überhaupt etwas erhofft haben sollte? Vielleicht hatte er gehofft, dass sich ihre Mutter – trotz des sorgfältig neutralen Tons, den Olivia stets anschlug, wenn sie von ihrer Mutter sprach – als mehr oder weniger dasselbe herausstellen würde, was ihre Tochter war.

„Livvy, Darling … endlich … Oh Liebes, schau doch bloß … deine Nägel, und deine Haare! Und diese Jeans …! Oh Darling …“

„Tiggy, das ist Caspar“, unterbrach Olivia ihre Mutter ruhig. „Caspar, das ist meine Mutter.“

„Tiggy, Sie müssen mich unbedingt Tiggy nennen“, verkündete sie in dem leicht atemlosen Tonfall, den – wie sie wusste – so viele Männer so unglaublich sexy fanden. „Kommt rein. Es tut mir leid, aber dein Vater und ich sind gerade am Gehen“, sagte sie zu Olivia, während sie sie ins Haus drängte. „Wir sind bei den Buckletons zum Dinner eingeladen …“

Der Parkettboden war auf Hochglanz gewienert, und Caspar hatte im ersten Moment das Gefühl, einen Blumenladen zu betreten. Überall standen riesige Bodenvasen und Schalen mit kunstvollen Blumenarrangements herum, auf einem runden, ebenfalls auf Hochglanz gebrachten großen Tisch in der Mitte des Zimmers, auf den beiden kleinen Tischchen, die vor zwei imposanten georgianischen silbergerahmten Spiegeln standen.

„Ich finde Blumen schrecklich wichtig“, hörte er Tiggy neben sich sagen, als sie bemerkte, wie er seine Umgebung aufmerksam studierte. „Sie machen ein Haus gleich viel lebendiger und verwandeln es in ein Heim“, plapperte sie atemlos weiter, und dann: „Oh Jack, nein, untersteh dich, dieses Tier hier reinzubringen. Nimm die Hintertür. Du kennst die Regeln.“

Caspar runzelte die Stirn, als er einen etwa zehnjährigen Jungen in Begleitung eines etwas übergewichtigen Golden Retriever in der Tür, die noch immer offen stand, auftauchen sah.

„Nun, wenn ihr gerade am Gehen seid, lasst euch von uns nicht aufhalten“, hörte er Olivia zu ihrer Mutter sagen. „Ich nehme an, dass wir in meinem Zimmer schlafen. Wir …“

„Oh Liebes … Schätzchen, es tut mir schrecklich leid, darüber wollte dein Vater ganz kurz mit dir reden. Nicht, dass es uns etwas ausmachen würde, natürlich, aber dein Großvater … du weißt doch, wie altmodisch er ist und wie viel Wert er darauf legt, was die Leute von ihm denken. Dein Vater befürchtet einfach, dass er nicht allzu begeistert sein wird von dir und Caspar … na ja, vor allem, weil doch die Chester-Familie auch kommt, und dein Vater …“

„Versuchst du, mir zu sagen, dass ihr von Caspar und mir erwartet, dass wir in getrennten Zimmern schlafen?“, unterbrach Olivia ihre Mutter ungläubig. „Aber das ist doch …“ Sie schüttelte den Kopf, ihre Augen verdunkelten sich vor Ärger, und ihre Stimme nahm einen schroffen Ton an. „Nein, das kommt ja gar nicht …“

Caspar berührte sie leicht am Arm. „Es ist schon okay, ich verstehe. Getrennte Zimmer sind in Ordnung“, sagte er leichthin zu Tiggy.

Olivia schüttelte den Kopf und warf ihm einen bedauernden Blick zu. Die Intensität ihrer Liebe zu ihm machte ihr manchmal ein bisschen Angst. Liebe war ein Wort, das man bei ihr zu Hause sehr oft im Munde führte, was jedoch das Gefühl selbst anbelangte, war sie sich nicht ganz sicher, ob sie es richtig verstand – sie wusste nur, dass es sie verletzlich und wachsam machte.

Sie war ihm praktisch vom ersten Augenblick an hoffnungslos verfallen gewesen. Und welcher Frau wäre es anders ergangen? Über einsachtzig groß, mit breiten muskulösen Schultern, hatte er von einem indianischen Vorfahren die kantigen Gesichtszüge geerbt zusammen mit dem bronzefarbenen Teint und – das war das Bezwingendste von allem – schwarzen Haaren und dunkelblauen Augen.

Olivia war in seinen Vorlesungen nicht in der Lage gewesen, den Blick von ihm abzuwenden – und anderen war es nicht anders ergangen. Als er sie gefragt hatte, ob sie Lust habe, mit ihm auszugehen, wäre sie fast in Ohnmacht gefallen, aber sie war zumindest noch imstande gewesen, klar genug zu denken, für ihr erstes Rendezvous einen belebten Ort vorzuschlagen, um der Versuchung – falls sie denn auf sie zukommen sollte –, schnurstracks mit ihm ins Bett zu gehen, widerstehen zu können.

Die Versuchung kam, und sie widerstand ihr nicht, aber Sex war nicht alles, was sie voneinander wollten.

Oh ja, sie hatte ihn begehrt, ganz richtig – und sie tat es noch immer – doch jetzt liebte sie ihn sowohl mit dem Verstand als auch mit dem Herzen. Er war ihr Liebhaber, ihr Mentor, ihr bester Freund … ihr Ein und Alles, und sie konnte sich ein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen, es war ihr schleierhaft, wie sie all die vielen Jahre ohne ihn hatte leben können, und irgendwie wusste sie, dass er eine schmerzhaft klaffende Lücke hinterlassen würde, wenn er eines Tages nicht mehr da wäre.

Er war ihre Welt; durch ihn wurde sie erst zu einem ganzen Menschen, und doch fiel es ihr schwer, ihm zu sagen, wie viel er ihr bedeutete. Das war weitaus schwieriger, als ihm zu sagen, was für eine Wirkung er in körperlicher Hinsicht auf sie ausübte, denn Olivia war Gefühlen gegenüber sehr misstrauisch, sie konnte sie nur sehr schwer zulassen und noch schwerer zeigen. Ihre Mutter war sehr gefühlvoll, das sagte jeder, weshalb sie – auch darüber war man sich mehr oder weniger einig – besondere Rücksichtnahme verdiente.

Schon als Kind war sich Olivia dieser Sonderstellung sehr deutlich bewusst gewesen, die ihre Mutter aufgrund ihrer Empfindsamkeit einnahm, und die immer auf Kosten anderer Menschen zu gehen schien. Alle anderen mussten stets gesunden Menschenverstand beweisen und ihre Gefühle im Zaum halten, als ob man auf diese Weise versuchte, die Hochs und Tiefs der Mutter auszugleichen.

„Du versetzt mich wirklich in Erstaunen“, hatte Caspar ihr einmal gesagt, nachdem sie Wochen damit verbracht hatte, nach einem bestimmten Buch zu fahnden, von dem sie wusste, dass er es sich wünschte, um es ihm dann beiläufig auf den Schreibtisch zu legen. „Du machst so etwas, aber mir zu sagen, dass du mich liebst, schaffst du einfach nicht.“

„Du weißt, dass ich es tue“, hatte sie erwidert.

„Ja“, pflichtete er ihr lachend bei, „trotzdem wäre es nett, es auch einmal aus deinem eigenen Mund zu hören.“

„Ich weiß“, gestand Olivia, aber sie hatte sich dennoch nicht überwinden können, den kleinen Satz zu sagen … und sie konnte es bis heute nicht, nicht einmal in den leidenschaftlichsten Augenblicken.

„Ich kann es immer noch nicht fassen“, sagte sie fünfzehn Minuten später zu ihm, nachdem ihre Eltern das Haus verlassen hatten und ihr Bruder Jack zu einem Freund gegangen war. Sie war eben aus ihrem alten Zimmer in den kleinen Raum unter dem Dach gekommen, wo Caspar seinen Koffer auspackte. „Sie hätten dir wenigstens das Zimmer neben meinem geben können.“

„Es ist doch nur für ein paar Tage“, erinnerte Caspar sie und fügte neckend hinzu: „Und mir macht es nichts aus, im Gegenteil, ich freue mich schon jetzt darauf, endlich mal wieder allein schlafen zu können. Weißt du eigentlich, dass du dich im Schlaf ständig herumwälzt?“, erkundigte er sich scherzhaft betrübt. „Es ist schon Monate her, seit ich zum letzten Mal richtig geschlafen habe.“

„Genau zwei Monate, sechs Tage und … acht Stunden“, gab Olivia liebevoll zurück und zählte die Stunden an ihren Fingern ab, während Caspar sie angrinste. „Es ist völlig lächerlich, dass Mum und Dad von uns erwarten, dass wir in getrennten Zimmern schlafen“, fuhr sie fort und setzte sich auf das Fußende des schmalen Betts.

Caspar hatte zu seinem Bedauern bereits feststellen müssen, dass das Bett auf jeden Fall zu kurz für ihn war, und trotz seiner gegenteiligen Behauptung wusste er schon jetzt, dass ihm Olivia schrecklich fehlen würde. Und das nicht nur wegen dem Sex. Deswegen am allerwenigsten.

Er war zweiunddreißig Jahre alt und hatte bereits vorher guten Sex gehabt, doch der Unterschied zu jetzt lag darin, dass er zuvor noch nie richtig verliebt gewesen war, nie geliebt hatte, dass er sich gar nicht hatte vorstellen können, dass es diese Art Liebe, wie er sie jetzt mit Olivia erfuhr, überhaupt gab. Er hatte als Kind mit ansehen müssen, wie seine Eltern von einer Partnerschaft in die andere gestolpert waren, ein Umstand, der ihn vorsichtig gemacht hatte. Er hatte es geschafft, nicht in die Falle einer von Anfang an zum Scheitern verurteilten Frühehe zu tappen, und war davon ausgegangen, dass er irgendwann in den Dreißigern heiraten würde, was ihm und seiner Partnerin dann noch genug Zeit geben würde, sich für Kinder zu entscheiden, falls beide es wollten.

„Es ist ja nur, weil mir das alles so verdammt verlogen vorkommt“, beschwerte sich Olivia. „Das ist es, was mich so wütend macht. Es ist immer wieder dasselbe. Gramps braucht nur die Stimme leicht zu erheben, dann stehen sie alle stramm.“

„Vom moralischen Standpunkt aus betrachtet …“, begann Caspar, aber Olivia schüttelte den Kopf.

„Das hat mit Moral überhaupt nichts zu tun. Gramps will einfach nur, dass alle Welt nach seiner Pfeife tanzt. Er interessiert sich nicht die Bohne für mein Seelenheil“, erklärte sie wütend. „Das hat ihn nie interessiert. Nur wenn ich ein Junge gewesen wäre …“ Sie brach ab und schüttelte ein zweites Mal den Kopf; um ihre Lippen spielte ein bedauerndes Lächeln. „Da siehst du es, ich bin kaum hier, und schon fängt es an. Dabei habe ich mir bei meinem Weggang von zu Hause geschworen, diesen ganzen Mist hinter mir zu lassen.“

„Du hast aber selbst gesagt, dass du keine Lust gehabt hättest, in die Familienkanzlei einzusteigen“, erinnerte er sie.

„Ja, ich weiß“, räumte sie ein. „Allerdings wäre es mir entschieden lieber gewesen, ich hätte die Wahl gehabt. Gramps und Dad haben alles getan, um mich davon abzubringen, Jura zu studieren. Tante Jen war die Einzige, die mich unterstützt und ermutigt hat. Oh, und Tante Ruth natürlich. Du wirst sie beide mögen, und Onkel Jon auch.“

„Den Zwillingsbruder deines Vaters?“

„Mmmm … obwohl sie sich eigentlich gar nicht ähnlich sind – bis auf das Äußere natürlich, Onkel Jon ist …“ Sie hielt mitten im Satz inne.

„Was ist Onkel Jon?“, drängte Caspar, aber Olivia schüttelte nur den Kopf.

„Ich kann es nicht richtig erklären. Du wirst es selbst sehen. Es ist immer irgendwie, als stände er im Schatten – in Davids Schatten – und doch …“

Wieder unterbrach sie sich und zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. „Er scheint sich ständig zurückzunehmen und Dad den Vortritt zu lassen. Er stellt David auf ein Podest, genau wie alle anderen auch. Aber Gramps ist am schlimmsten. Alles dreht sich um Dad und Tiggy, und doch kommen mir die beiden manchmal fast unwirklich vor, wie Pappfiguren …“ Sie erschauerte leicht.

„Früher als Kind hat mich dieser Gedanke richtig erschreckt, und ich habe mich gefragt, warum ich die Einzige bin, die es sieht.“ Sie verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln. „Du hast ja vorhin selbst gehört, was Tiggy über Blumen gesagt hat und dass sie ein Haus erst richtig wohnlich machen. Alle Leute bewundern den guten Geschmack meiner Mutter und brechen in Begeisterungsrufe über die Einrichtung hier aus, und zugegeben, es ist ja wirklich alles perfekt, aber es ist kein Zuhause. Tante Jennys Haus ist ein Zuhause. Hier komme ich mir immer vor wie … auf einem Filmset … oder in einem Musterhaus, die richtigen Möbel, die richtigen Farben, die richtigen Blumen.“ Wieder verzog sie missbilligend das Gesicht.

„Ursprünglich war es Gramps’ größter Wunsch, dass Dad sich zum Strafverteidiger qualifiziert, weißt du, aber irgendetwas ging schief. Ich habe nie genau erfahren, was vorgefallen ist. Tiggy hat mir immer nur ihre Version der Geschichte erzählt – wie sie sich kennengelernt haben, dass er in einer Band gespielt und sich auf den ersten Blick in sie verliebt hat. Sie haben in Caxton Hall geheiratet – das war damals Mode. Tiggy war bereits schwanger mit mir, was laut Tiggy der Grund dafür war, dass sie sich entschieden haben, nach Haslewich zu ziehen. Dad wollte angeblich, dass seine Kinder hier aufwachsen, weshalb er – noch immer Originalton Tiggy – seine Pläne, sich als Strafverteidiger zu qualifizieren, aufgab … Das ist zumindest das, was mir immer erzählt wurde, und Gramps hat es mir wohl nie verziehen, dass ich sozusagen die Karriere meines Vaters zerstört habe. Er hätte so wahnsinnig gern einen Anwalt der Krone in der Familie gehabt.“

„Aber hast du mir nicht erzählt, dass es einen gab? Deinen Großonkel Hugh?“

„Richtig, Hugh war Kronanwalt“, stimmte Olivia zu. „Er wurde letztes Jahr sogar zum Richter ernannt, aber Hugh gehört nicht richtig zur Familie, zumindest für Gramps nicht. Er ist nur sein Halbbruder. Gramps Vater Josiah hat nach dem Tod seiner ersten Frau noch einmal geheiratet, und aus dieser Ehe stammt Hugh.

Obwohl Gramps das niemals zugeben würde, bin ich überzeugt davon, dass er immer ein bisschen eifersüchtig auf Hugh war. Ellens Familie war sehr wohlhabend, und Gramps Vater war – zumindest nach allem, was Tante Ruth erzählte – Hugh gegenüber stets großzügiger als ihnen beiden.

Ellens Familie hat Hugh das Studium finanziert, während Gramps die Familienkanzlei übernehmen musste – außer ihm gab es niemanden, der das tun konnte. Ich habe den Verdacht, er ist noch immer enttäuscht, dass Dad kein Strafverteidiger geworden ist, und deshalb setzt er jetzt alle Hoffnungen in Max.“

„Ah, Max.“

„Du kannst ihn nicht leiden, stimmt’s?“, fragte Olivia.

„Du etwa?“, gab Caspar trocken zurück.

„Wir waren uns noch nie sehr zugetan, schon als Kinder nicht. Oh, ich weiß, dass alle denken, ich sei nur eifersüchtig, weil Max Dads Liebling ist, doch das ist nicht wahr. Ich finde ihn einfach nur nicht sonderlich liebenswert. Aber mit dieser Ansicht stehe ich natürlich allein auf weiter Flur. Tiggy findet ihn wundervoll. Er flirtet schrecklich mit ihr, und sie merkt gar nicht, dass er sich insgeheim nur lustig über sie macht. Wahrscheinlich fängt sie mit dir auch irgendwann an zu flirten. So ist sie nun mal, sie kann nichts dafür.“

Olivia machte eine Pause, in der sie nach den richtigen Worten suchte, um diese Schwäche ihrer Mutter zu erklären, doch dann gab sie es auf und sagte stattdessen ruhig: „Manchmal, wenn ich sehe, wie Tante Jenny Max beobachtet, werde ich den Verdacht nicht los, dass sie ihn auch nicht sonderlich mag, aber das täuscht natürlich, immerhin ist sie ja seine Mutter, und Mütter lieben ihre Kinder immer.“

„Tun sie das wirklich?“, fragte Caspar trocken. „Da bin ich mir gar nicht so sicher. Was jedoch mit Sicherheit nicht stimmt, ist, dass Kinder ihre Eltern in jedem Fall lieben. Man hört ja immer wieder von Jugendlichen, die ihre Eltern umbringen.“

„Mmmm … ich habe kürzlich von einem Fall gelesen …“

Und damit waren sie mittendrin und begannen über die Straftat, die Olivia eben erwähnt hatte, zu fachsimpeln.

Verstrickt in eine angeregte Unterhaltung, ist sie noch schöner, musste Caspar, der sie nicht aus den Augen ließ, einräumen. Am schönsten jedoch war sie, wenn sie in seinen Armen lag, ihn anschaute und sich ihm mit Leib und Seele hingab.

„He, Caspar“, beschwerte sie sich, als sie merkte, dass ihre Ausführungen nicht seine volle Aufmerksamkeit hatten, „was treibst du denn da?“

„Nur die Matratze testen“, erklärte er.

„Warum?“

„Na, was glaubst du“, gab er weich zurück und wandte sich zu ihr um, um sie zu küssen, bevor er fragte: „Was meinst du, wie viel Zeit wir haben, bis deine Eltern wieder zurück sind?“

„Mein Bett ist breiter“, flüsterte Olivia zwischen zwei Küssen.

„Mmmmh …“, murmelte er abgelenkt und saugte an ihrem weichen Hals. „Du kannst es mir später zeigen.“

Er gab ein lustvolles Aufstöhnen von sich, während er ihr die Träger ihres Tops von den Schultern streifte und anschließend begann, erst die eine und dann die andere Knospe mit seiner Zungenspitze zu liebkosen, wobei er spürte, wie sie vor Verlangen erschauerte.

Er konnte sich noch genau an das erste Mal erinnern, als sie in seinen Armen vor Lust erschauert war, unfähig, ihre Erregung vor ihm zu verbergen. Allein der Gedanke daran entfachte das Feuer in seinen Lenden.

„Wir haben … nicht einmal … zu Mittag gegessen“, keuchte Olivia zwischen zwei Küssen.

„Mmmm … wer braucht schon Mittagessen? Ich verspeise lieber dich stattdessen“, flüsterte Caspar.

Autor

Penny Jordan

Am 31. Dezember 2011 starb unsere Erfolgsautorin Penny Jordan nach langer Krankheit im Alter von 65 Jahren. Penny Jordan galt als eine der größten Romance Autorinnen weltweit. Insgesamt verkaufte sie über 100 Millionen Bücher in über 25 Sprachen, die auf den Bestsellerlisten der Länder regelmäßig vertreten waren. 2011 wurde sie...

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