Heiße Nacht im Orient-Express

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Ein Traum wird wahr: Kelsie verreist mit dem Orient-Express. Doch zu ihrem Schrecken ist Connor Black an Bord! Mit neunzehn war sie vor ihrer Trauung davongelaufen, nun holen die Gefühle für den attraktiven Arzt sie wieder ein. Bis zur Endstation - oder für immer?


  • Erscheinungstag 05.12.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729141
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Die Seemöwen schrien – aber vielleicht war er es auch selbst. Der zwölfjährige Connor sah die riesige Welle, die seine Mutter mitriss.

Er rannte zu ihr, aber es war zu spät.

Er hätte verhindern sollen, dass sie zurückging. Connor hatte die Worte auf der Zunge gehabt.

„Ich schau nur noch mal schnell nach Daddys Ring“, hatte sie gesagt. „Den muss ich im Felsenbecken verloren haben.“

Doch Connor wusste, dass die Flut kam. Nach der letzten großen Welle waren sie von den Felsen zum Strand gelaufen. Und jetzt …

„Pass auf deine Mutter auf“, hatte sein Dad gesagt. Aber Connor hatte versagt.

Er hätte ihr zurufen sollen: Nein! Geh nicht. Die Wellen sind zu hoch. Sie werden dich ins Meer ziehen. Du hast keine Zeit.

Die Welle … Dann noch eine …

Und dann waren da Leute, die schrien und halfen. Sie schafften es, seine Mutter zu erreichen. Sie werden sie retten.

Nein. Ein Mann trug Connors Mutter zum Strand. Sie war leblos, wie der Seetang, der in den Wellen hin und her trieb.

Während sie näher kamen, hing ihr langes Haar fast bis auf den Sand. Connor sah ihr Gesicht – und wusste, dass nichts mehr so sein würde wie vorher.

Er hätte sie aufhalten müssen. Er hatte es gewusst. Er hatte es gewusst.

Und jetzt, so wie sie dalag, da wusste er auch, dass etwas Furchtbares geschehen war.

Connor hatte die Anweisung seines Vaters missachtet. Seine Mutter lag im Sterben, und es war seine Schuld.

1. KAPITEL

Als Kelsie Summers in einer Gondel am Markusplatz vorbeiglitt, dachte sie an die weihnachtliche Messe im Markusdom am Abend zuvor. Bei der Erinnerung daran bekam sie unwillkürlich eine Gänsehaut. Die Lichterketten an der Seufzerbrücke hatten gestern Abend hell geleuchtet. Und obwohl sie jetzt ausgeschaltet waren, schmückten sie dennoch die Kanäle und Brücken auf dem Weg zum Bahnhof von Venedig.

Kelsies Koffer war vollgepackt mit Glaskrippen und fantastischen Weihnachtsschneekugeln für ihre Freunde.

Sogar in den unteren Fenstern der venezianischen Herrenhäuser entlang der Wasserwege standen herrliche Krippen und Engel aus Glas. Kelsie sah sie hinter sich in der Ferne verschwinden, als ihr Gondoliere sich unter der letzten Brücke hindurchduckte.

Es war das Ende der Traumreise ihres Lebens, und zwei zauberhafte Wochen lagen hinter ihr. Obwohl sie diese Reise eigentlich mit jemandem hatte machen wollen, der schon lange aus ihrem Leben verschwunden war, hatte Kelsie sie trotzdem in vollen Zügen genossen.

Der Bug des langen schwarzen Bootes stieß sanft an den Kai. Mühelos schwang der Gondoliere Kelsies Koffer auf den schmalen Holzsteg, während er dabei zugleich die Gondel ruhig hielt. Genau aus diesem Grund hatte Kelsie sich den kräftigsten Gondoliere von allen ausgesucht.

In ihren nicht besonders vernünftigen Schuhen stieg sie aus. Zu Ehren der bevorstehenden Eisenbahnfahrt hatte sie sich nämlich etwas schicker gekleidet als sonst. Fröhlich winkend stieß sich der Gondoliere mit seinem malerischen Strohhut wieder ab und überließ Kelsie sich selbst.

Über die Holzplanken zog sie ihren Koffer bis zu festem Boden, wobei sie ein kleines Schniefen unterdrückte.

Es konnte ja wohl nicht sein, dass sie den Tränen nahe war, bloß weil es hier keinen Gentleman gab, der ihr mit dem großen Koffer behilflich sein konnte. Nein, das lag sicher daran, dass sie heute Venedig verließ und ihre Traumreise sich allmählich dem Ende zuneigte.

Moderne Frauen brauchen keine Hilfe von Männern, sagte Kelsie sich. Doch die Stufen zur Stazione di Venezia Santa Lucia waren hoch. Seufzend schaute sie auf ihren Koffer.

Ein venezianischer „Gentleman“ deutete mit einem nikotinverfärbten Finger auf den schmalen Gang neben dem Gebäude für diejenigen, die ihr Gepäck nicht die Treppe hinaufschleppen wollten. Kelsie dankte ihm mit einem Lächeln. Gelobt sei der Erfinder von Kofferrollen, dachte sie im Stillen, weil somit auch ihr Unabhängigkeitsbedürfnis befriedigt war.

Bei ihrer Ankunft in Venedig war sie voller Vorfreude durch den Haupteingang gegangen. Doch irgendwie erschien es ihr passend, dass sie nun durch den Seiteneingang wieder zur realen Welt und ihrer einsamen Wohnung in Sydney zurückkehrte, sechzehntausend Kilometer weit weg.

Mühsam zog sie den schweren Koffer in den Bahnhof hinein.

Allerdings stellte der Zug, den sie hier besteigen wollte, ein weiteres Highlight dar. Von dem letzten Teil ihrer großen Reise träumte Kelsie, seitdem ihr ein alter Jugendfreund vor langer Zeit erzählt hatte, dass seine englische Großmutter diese Fahrt jedes Jahr unternahm. Von Venedig nach London im Orient-Express, die luxuriöseste Bahnfahrt der Welt, das hatte schon in der Schule ihre Fantasie beflügelt. Und nun sollte dieser Traum endlich wahr werden.

Deshalb trug Kelsie heute ihre zweithöchsten Absätze und das neue, cremefarbene italienische Kostüm.

Gleis eins. Sie befand sich zur richtigen Zeit auf dem richtigen Bahnsteig. Also wo waren die blau- und goldfarbenen Luxuswaggons?

Sie blickte sich um. Hier sah es aus wie überall auf Bahnhöfen: grauer, kalter Betonfußboden, voll besetzte Bänke, Familien mit mehrteiligen Koffersets, die zusammengedrängt nebeneinander standen.

Doch schließlich entdeckte Kelsie ein kleines weißes Hinweisschild, sehr dezent und schlicht, mit der Aufschrift „Treffpunkt für den Venedig-Simplon Orient-Express“.

Connor Black beobachtete, wie die elegant gekleidete dunkelhaarige Frau ratlos die Schultern sinken ließ, als sie ihm den Rücken zuwandte. Sie schaute auf einen Koffer, der unglaublich schwer sein musste, denn er war beinahe noch größer als sie.

Seufzend stand Connor auf, um ihr seinen Sitzplatz anzubieten. Dabei schob er das seltsame Gefühl beiseite, dass er sie irgendwoher kannte. Natürlich nicht. Schließlich war er in Venedig. Und falls er ihr seinen Platz nicht anbot, würde seine Großmutter ihn so lange mit ihrem Silberknauf-Gehstock anstupsen, bis er es tat. Seine Gran war seine große Schwäche und die einzige Frau, die er wirklich liebte. Dummerweise wusste sie das auch ganz genau.

Er musste ein Lächeln unterdrücken, als sie beifällig nickte. Trotz ihres hohen Alters sah sie in ihrer pinkfarbenen Jacke, dem dazu passenden Rock und dem schneeweißen, frisch gestylten Haar wundervoll aus. Die rosafarbenen Kimberley-Diamanten, die sie am Arm und um den Hals trug, glitzerten in der hellen Beleuchtung. Connor wusste, dass er sie schrecklich vermissen würde, wenn sie einmal nicht mehr sein sollte. Wahrscheinlich war er auch nur aus diesem Grund hier.

Eigentlich hätte er in der Nähe seiner Klinik sein sollen. Ein Paar, mit dem er schon seit Jahren arbeitete, stand kurz vor der Geburt seines ersten Kindes. Connie Wilson erlebte eine besonders schwierige Schwangerschaft, und alle Beteiligten saßen wie auf glühenden Kohlen, bis das Baby sicher entbunden worden war. Daher hatte Connor den Wilsons versprochen, rund um die Uhr für sie erreichbar zu sein.

Es wäre also besser, näher am Geschehen zu sein, anstatt die nächsten dreißig Stunden in einem Zug zu sitzen und eine Achtzigjährige zu begleiten, die lieber zu Hause sitzen und stricken sollte. Doch allein bei der Vorstellung musste er schon lachen. So etwas würde seine Großmutter nie tun.

Mehrmals blickte die Grande Dame betont zu der Frau mit dem Koffer hinüber, und Connor nickte.

Von hinten sprach er die Frau an. „Verzeihung. Darf ich Ihnen meinen Platz anbieten, Madam?“

Die Frau drehte sich um, ihre Blicke trafen sich, und Connor erstarrte. Himmelblaue Augen. Eine Stupsnase. Und dieser Mund. Damals noch ein unreifer Junge, hatte er zwei Jahre gebraucht, um diesen Mund aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Gesichtszüge, die allzu deutlich hervortraten, während alle anderen Gesichter nur noch verschwommen wirkten.

Vor fünfzehn Jahren. Kelsie Summers.

„Oder vielleicht möchtest du lieber stehen?“, sagte er gedämpft. Denn seine Großmutter mit ihren Adleraugen hatte seine Reaktion sehr wohl bemerkt.

Völlig perplex starrte Kelsie ihn an. Sie musste unwillkürlich schlucken und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Ja, ganz recht, du solltest ein schlechtes Gewissen haben, weil du mich auf dem Standesamt hast sitzen lassen, dachte Connor grimmig.

Widerstrebend zeigte er auf den Sitz neben seiner Großmutter.

Kelsie wäre am liebsten in dem grauen Betonboden versunken, oder noch besser in den trüben Kanälen Venedigs, die vermutlich irgendwo tief unter dem Bahnhof hindurchführten.

Es war das erste Mal, dass sie Connor wiedersah, seitdem sie damals weggelaufen war.

Sie hatte ihm einen Brief geschrieben, in dem sie zu erklären versuchte, warum sie glaubte, sein Leben zu zerstören, wenn sie ihn heiratete. Sie hatte jemanden gebeten, ihm den Brief zu geben, und ihn von der nächsten Straßenecke aus beobachtet. Nervös war er auf und ab gegangen, während er auf sie wartete. Kelsie hatte sich sein besorgtes Gesicht tief eingeprägt, weil sie wusste, dass sie ihn danach nie wiedersehen würde.

Als Teenager hatte sie sich mehr vom Leben gewünscht. Einen eigenen Beruf. Schon damals war sie vernünftiger gewesen als der romantisch veranlagte Connor. Durch das Beispiel ihrer Eltern war sie gewarnt. Connors Neigung, die Kontrolle zu übernehmen, war immer stärker geworden, und das hatte ihr nicht gefallen.

Er würde immer ihr Held bleiben. Doch je näher der Hochzeitstermin heranrückte, desto mehr war Kelsie davon überzeugt, dass sie nicht ihr ganzes Leben lang von Connor abhängig sein wollte. Sie wollte eine Frau sein, deren Ehemann stolz auf sie sein konnte. Bei seinem ausgeprägten Beschützerinstinkt wäre das jedoch niemals möglich gewesen.

Aber jetzt waren sie beide erwachsen. Vor ihr stand ein unglaublich attraktiver Mann mit leicht ergrauten Schläfen. Wo sind all die Jahre geblieben, fragte sie sich verwundert. Jedenfalls war er nicht mehr neunzehn, und sie waren damals sowieso beide viel zu jung gewesen, um heimlich zu heiraten. Alle hatten das gesagt. Auch ich habe mich verändert, dachte Kelsie, als er etwas ungnädig auf seinen Platz deutete.

„Danke“, sagte sie.

Er antwortete nicht, als sie sich setzte, sondern blickte lediglich zu der alten Dame im pinkfarbenen Designer-Kostüm hinüber. „Ich brauche einen Kaffee. Soll ich zwei holen, Gran?“

„Drei.“ Die alte Dame lächelte Kelsie zu. „Mit Zucker?“

Kelsie wurde rot. Connor hatte sicher keine Lust, ihr einen Kaffee zu besorgen. Sein Lächeln wirkte so bitter und sarkastisch, dass sie fast trotzig das Kinn hob. „Mit Milch und ohne Zucker. Vielen Dank.“

Connor ärgerte sich über sich selbst. Eigentlich wollte er nur flüchten, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Natürlich war er längst über Kelsie hinweg. Immerhin war das Ganze schon so lange her. Aber es hatte ihm dennoch einen Schock versetzt, und Kaffee schien ein guter Vorwand zu sein. Allerdings würde seine Großmutter sich jetzt durch nichts davon abhalten lassen, Kelsie auszufragen. Seufzend schüttelte er den Kopf. Gran würde alles an Informationen aus ihr herausholen, was sie konnte.

Zu spät. Mit schnellen Schritten ging er davon, wobei er seine Hand in der Hosentasche zur Faust ballte. Nun hatte er wirklich einen Kaffee nötig, um seine Bitterkeit hinunterzuspülen.

Seltsam, wie längst vergessen geglaubte Gefühle in ihm aufstiegen. Zorn hatte letztendlich die Kränkung ausgelöscht, dass Kelsie nicht zur Hochzeit erschienen war. Ausgerechnet der einzige Mensch, dem er je zutiefst vertraut hatte. Verdammt.

Erneut flammte Zorn in ihm auf, und Connor hielt inne. Inzwischen ein sehr rationaler Mensch, unterdrückte er seine negativen Gefühle energisch. Seit damals war viel Wasser den Bach hinuntergeflossen, und in Venedig gab es mehr als genug Wasser, um alles fortzuschwemmen. Ein sehr passendes Symbol, wie er fand.

Bestimmt lag es nur an dem Schock von eben. Eigentlich war es ja keine große Sache. Und bei diesem Gedanken fühlte er sich nach und nach wieder besser.

Als Connor Black davonging, schaute Kelsie ihm unbehaglich nach. Der Mann, der früher einmal ihr bester Freund gewesen war. So groß, so kerzengerade aufgerichtet, und er strahlte ihr gegenüber nur Verachtung aus. Sie hätte nicht gedacht, dass fünfzehn Jahre vergehen würden, bevor sie sich wiedersehen würden.

Die alte Dame lehnte sich zu ihr, wobei Kelsie den angenehmen Duft eines exklusiven Parfums wahrnahm. Dies musste also die Frau sein, die so gerne im Orient-Express reiste und von der Connor ihr früher erzählt hatte. Sie war der Grund, weshalb Kelsie diese Reise auf ihre To-do-Liste gesetzt hatte.

Neugierig sah die alte Dame sie mit ihren blassblauen Augen an. „Ich bin Winsome Black. Und wenn ich mich nicht irre, kennen Sie meinen Enkel Connor?“

„Kelsie Summers. Wir kannten uns mal, vor langer Zeit.“ Sie seufzte.

Winsome schnaubte hörbar. „Sie müssen Eindruck hinterlassen haben, weil ich selten einen emotionalen Ausdruck bei meinem Enkel sehe, und diesmal war es geradezu eine Grimasse.“

„Oh, herzlichen Dank.“ Kelsie lächelte ein wenig schief. Der arme Kerl hatte wirklich nicht sonderlich erfreut reagiert. Rasch warf sie noch einen Blick auf seine ungewöhnlich breiten Schultern, ehe er im Coffeeshop des Bahnhofs verschwand.

Er hatte sich verändert. Entschlossen verdrängte sie das Bild aus ihrem Gedächtnis. Bei den Mädchen war er immer sehr beliebt gewesen, und vermutlich ließ seine Frau ihn nur ungern aus den Augen.

„Ah, diese Kelsie sind Sie also! Wie interessant.“ Die Augen der alten Dame leuchteten auf, sodass Kelsie sich wünschte, sie wäre Connor gefolgt. Offenbar konnte man ihr den Gedanken ansehen, denn Winsome fasste sie am Arm. „Gehen Sie nicht. Ich werde ganz brav sein. Aber in zwei Tagen ist Weihnachten. Da könnten Sie doch vielleicht ein bisschen Nachsicht mit der Neugier einer alten Dame haben.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, begann Winsome sogleich mit ihrem Kreuzverhör. „Sind Sie verheiratet?“

Kelsie ergab sich in das Unvermeidliche und wappnete sich so gut es ging. „Nein.“

„Warum nicht? Eine junge, attraktive Frau wie Sie muss doch ihre Chancen gehabt haben“, meinte Winsome.

Achselzuckend erwiderte Kelsie: „Ich habe den Mann, den ich liebte, nicht geheiratet. Also wollte ich auch keinen anderen heiraten.“

Winsome machte eine zweifelnde Miene. „Nun ja, das klingt irgendwie sinnvoll.“

„Außerdem liebe ich meine Unabhängigkeit und meine Arbeit.“ Kelsie ärgerte sich über ihren verteidigenden Ton. Schließlich hatte sie es nicht nötig, sich zu rechtfertigen.

„So jemanden kenne ich auch.“ Kopfschüttelnd fuhr sie fort: „Und Sie sind auch nicht verlobt?“ Fragend sah sie Kelsie an.

Diese hob das Kinn. „Nein.“ Ihr Leben war gut so, wie es war.

Winsome lehnte sich zurück. „Connor ist auch nicht verheiratet.“ Sie bemerkte Kelsies abweisenden Blick und setzte hinzu: „Ich höre ja schon auf.“

„Also haben Sie die wichtigsten Informationen wohl bereits bekommen“, erklärte Kelsie. Und sie hatte sogar selbst etwas preisgegeben. Wieso war Connor nicht verheiratet?

„So funktioniere ich eben, meine Liebe“, gab Winsome zurück.

„Na, dann bin ich ja gewarnt“, meinte Kelsie.

„Er ist beruflich sehr eingespannt.“ Die alte Dame lächelte. „Und da kommt er gerade.“

Sobald Connor sie erreicht hatte, reichte er Kelsie einen Becher Kaffee, ohne sie anzusehen, und ignorierte ihren Dank.

Winsome nahm ihren Becher ebenfalls entgegen und seufzte. „Ich muss sagen, ich bin enttäuscht vom Wartebereich des berühmtesten Zuges der Welt.“ Ihre Augen glitzerten belustigt.

Connor warf einen Blick auf das kleine weiße Hinweisschild auf dem Betonboden. „Ich auch. Wenn ich könnte, würde ich ihn für dich herholen, Gran.“ Er schnippte mit den Fingern.

Wie herbeigezaubert, erschien plötzlich eine junge Frau in einem goldgesäumten königsblauen Rock und einer ebensolchen Jacke mit Stehkragen. Auf High Heels stöckelte sie über den Bahnsteig auf sie zu, wobei sie einen hohen Empfangsschalter auf Rädern vor sich herschob. Eine zweite, ebenso adrett gekleidete junge Frau schob einen abgedeckten Gepäckwagen.

Kelsie blinzelte ungläubig. Auf dem Wagen befand sich kein Gepäck, sondern eine komplette Büro-Ausstattung.

Die Hostess wies ihre Assistentin an, einen dicken dunkelroten Teppich auszurollen, der mit einem blaugoldenen Emblem versehen war. Was dann folgte, war die reinste Magie.

Innerhalb von Sekunden entstand ein großer, kreisförmiger Wartebereich auf dem kahlen Betonboden: der wunderschöne Empfangsschalter aus Eichenholz, der dasselbe Emblem trug, zwei Topfpalmen auf Rädern, dazu auf dem Schalter ein Namensschild mit Goldrand sowie eine Kugelvase mit echten Rosen.

Die junge Hostess öffnete eine Schachtel mit Aufklebern, ehe sie sich an die verblüffte Menge wandte. „Wer ist der Erste?“ Sie lächelte und wurde gleich darauf von dem allgemeinen Andrang der Passagiere verdeckt.

Kelsie und Winsome blieben sitzen, bis der erste Ansturm vorbei war. „Jetzt verstehe ich, warum Sie mit ihm zusammen reisen“, flüsterte Kelsie, und Winsome nickte.

In diesem Augenblick kündigten das unverwechselbare Geräusch eines Dieselmotors und das Rattern von Eisenrädern auf den Gleisen die Ankunft des weltberühmten Zuges an. Alle hielten inne, um ihn zu betrachten.

Glänzende blaue Waggons mit goldfarbenen Zierleisten, goldfarbener Aufschrift sowie blitzblanken Glasscheiben kamen näher, bis die Bremsen kreischten und der Zug zum Stehen kam.

Kelsie war erleichtert über die Ablenkung. Dies bot ihr den perfekten Vorwand, um etwas Abstand zu Connor zu gewinnen. Sie wandte sich an Winsome. „Darf ich meinen Koffer hierlassen, damit ich mir das Ganze ein bisschen genauer anschauen kann?“

„Selbstverständlich“, antwortete die alte Dame.

Ohne Connor anzusehen, stand Kelsie schnell auf und ging mit ihrem Kaffeebecher an dem gesamten Zug entlang. Durch die Fenster erhaschte sie einen Blick in längst vergangene Zeiten. In jedem Abteil gab es eine kunstvoll gestaltete Sitzbank, dazu einen kleinen Tisch mit Spitzendeckchen, eine elegante rosa Lampe sowie eine hohe, schlanke Kristallvase mit einer zarten Orchidee. Überall schimmerte die herrliche dunkle Holzvertäfelung mit ihren wunderschönen Intarsien im sanften Licht. Kelsie konnte es gar nicht abwarten, ihr eigenes kleines Abteil zu sehen.

Abgesehen davon, dass sie sich sehnlichst wünschte, vor dem frostigen Blick des Mannes flüchten zu können, den sie vor fünfzehn Jahren hatte sitzen lassen.

Auf der Wartebank hob Winsome Black interessiert die Augenbrauen. „Sie ist sehr apart.“

„Hmm.“ Connor wollte weder an Kelsie Summers denken noch über sie sprechen. Dennoch schaute er unwillkürlich zum Bahngleis hinüber. Sie war noch immer so schlank, wie er sie in Erinnerung hatte. Aber inzwischen hatte sie weibliche Rundungen bekommen, die jedem männlichen Wesen auffallen mussten.

„Wenn du mir deine Fahrkarte gibst, kann ich die Koffer aufgeben“, sagte er. „Es wird sicher eine Weile dauern, bis alle Passagiere eingecheckt haben und das Gepäck eingeladen ist.“

Seine Großmutter hatte es ihm nicht gestattet, sich um die Tickets zu kümmern. Das war Connor nicht gewohnt. Außerdem wusste er, dass sie regelmäßig alles Mögliche verlor. Wenn ich die verdammten Dinger endlich in der Hand habe und wir beide im Zug sitzen, bin ich heilfroh, dachte er.

Kelsie hatte früher auch ständig irgendwas verloren. Entschlossen verbannte er diesen Gedanken. Doch sein Ausdruck war offenbar so finster, dass Winsome in Gelächter ausbrach.

„Und falls ich es nicht tue, reißt du mir den Kopf ab?“, gab sie amüsiert zurück.

„Was?“

„Dir die Tickets geben. Du willst wirklich immer alles unter Kontrolle haben.“ Sie warf ihm einen durchdringenden Blick zu. „Aber gerade eben hast du wohl an was anderes gedacht, oder?“

Connor hatte ganz vergessen, wie leicht sie ihn durchschaute. „Nein.“ Er nahm die Fahrkarten, die sie ihm hinhielt. „Danke“, fügte er trocken hinzu. Die Reise könnte ziemlich anstrengend werden, wenn seine Großmutter beschloss, ihn die ganze Zeit über aufzuziehen.

Er reihte sich in die Schlange ein, hinter einer jungen Frau, die in einem viel zu großen, knöchellangen Trenchcoat aus den Vierzigerjahren geradezu versank. Den Pelzkragen hatte sie bis über die Ohren hochgeschlagen. Als sie Connor flüchtig ansah, konnte er lediglich ihre Nase unter einer dunklen Sonnenbrille erkennen. Und das dichte schwarze Haar, das sie streng von der hohen Stirn nach hinten gekämmt hatte.

„Buon giorno“, sagte er.

„Buon giorno“, antwortete sie leise und wandte sich ab.

Connor schaute weiter nach vorn zu einer älteren Dame, die im selben Alter war wie seine Großmutter. Allerdings schien sie offenbar nicht ganz gesund zu sein und wurde von einer jüngeren Frau begleitet.

Vielleicht wäre es eine gute Idee, Winsome mit jemand Gleichgesinntem abzulenken. Er warf ihrer Begleiterin einen prüfenden Blick zu. Sie hatte ein nettes Lächeln. Also selbst wenn seine Großmutter versuchen würde, ihn mit der jüngeren Frau zu verkuppeln, wäre das nicht allzu schlimm. Hauptsache, weit weg von Kelsie Summers.

Im Grunde genommen verstand Connor gar nicht, weshalb ihn die zufällige Begegnung mit seiner ehemaligen Jugendliebe so sehr beschäftigte. Schließlich hatte er ihr keineswegs all die Jahre nachgetrauert. Genauso wenig, wie er als Mönch gelebt hatte.

Andererseits hatte er aber auch niemand anderen gefunden, mit dem er sein Leben hätte teilen wollen. Ärgerlich schüttelte er diesen Gedanken ab. Eine feste Beziehung war das Letzte, was er gebrauchen konnte. Dazu hatte er gar nicht die Zeit.

Die Schlange bewegte sich langsam vorwärts, und er überlegte, wo die junge Frau vor ihm denn ihr Gepäck gelassen hatte.

Daraufhin warf Connor einen Blick zurück auf Kelsies Monstrum von einem Koffer. Es war das größte Gepäckstück, das er je gesehen hatte, und selbst sie könnte den wohl so schnell nicht verlieren. Er fragte sich, ob sie wusste, dass sie das Riesending nicht mit ins Abteil nehmen konnte, zuckte dann jedoch die Achseln. Das war nicht sein Problem.

Glücklicherweise ging es wieder etwas voran, sodass auch er sich weiterbewegen musste. Doch sobald er stehen blieb, schaute er noch einmal zurück. Der Koffer war noch da. Vermutlich würde ihn sowieso niemand stehlen.

Jetzt saß Kelsie wieder neben seiner Großmutter, und es sah aus, als würden die beiden sich prächtig unterhalten. Connor stöhnte. Er musste aufpassen, damit er die Tickets in seiner Hand nicht zerknitterte. Kelsie war immer eine gute Zuhörerin gewesen.

Entschlossen blickte er nach vorn.

Während er wartete, gingen seine Gedanken dennoch in die Vergangenheit zurück. Zu all den Plänen von damals, als er noch jung und dumm gewesen war. Pläne aus der Teenagerzeit, die man irgendwie nie vergessen konnte. Kelsie war die Einzige, der er von seinen Plänen erzählt hatte, weil sie damals ein so wesentlicher Teil seines Lebens gewesen war.

Kelsie zu heiraten war immer der wichtigste Plan gewesen.

Dann, Arzt zu werden.

Und der dritte: Gemeinsam nach Venedig zu fahren und mit dem Orient-Express zu reisen, wenn sie es sich leisten konnten. Denn das war ihr großer Traum gewesen.

Idiotisch. Kopfschüttelnd kehrte Connor in die Gegenwart zurück, als die Schlange sich erneut vorwärtsbewegte. Aber zumindest seine anderen Pläne hatten sich erfüllt.

Als Reproduktionsmediziner war er in der Forschung zur künstlichen Befruchtung tätig und galt als anerkannter Experte auf diesem Gebiet. In den vergangenen fünfzehn Jahren hatte er sehr viel zu tun gehabt. Insofern war es kein Wunder, dass er noch nicht geheiratet hatte.

Seine Großmutter zweifelte bereits daran, dass er noch eine Frau finden würde, ehe sie starb.

Autor

Fiona McArthur

Fiona MacArthur ist Hebamme und Lehrerin. Sie ist Mutter von fünf Söhnen und ist mit ihrem persönlichen Helden, einem pensionierten Rettungssanitäter, verheiratet. Die australische Schriftstellerin schreibt medizinische Liebesromane, meistens über Geburt und Geburtshilfe.

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